Von der sozialen Bestimmung zum individuellen Schicksal

Philosophiegeschichte zur Geschlechterdifferenz

Der philosophische Diskurs über Frauen und die Geschlechterdifferenz befindet sich am Kreuzweg von Geschichte - des politischen Umbruchs und des wirtschaftlichen Wandels der Moderne — und der immerwährenden philosophischen Auseinandersetzung mit der Dualität von Körper und Geist, dem Gegensatz zwischen Natur und Zivilisation, dem Gleichgewicht zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Ich möchte im folgenden zeigen, in welcher Weise diese alten und traditionellen Fragen von Philosophen erörtert werden, die in der Zeit zwischen den letzten Jahren von Kant und den ersten Schriften von Freud schreiben.

Texte der Philosophen (In der Reihenfolge in der sie zitiert werden):

  • Gottlieb Fichtes sämtliche Werke, hg. vonJ. H. Fichte, Berlin 1845. Bd. 3.
  • Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, 1796, in: Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M.1993. Bd. 8; Anthropologie in pragmatischer Hinsicht,1798.
  • G. W. F. Hegel, Die Phänomenologie des Geistes, 1807; Enzyklopädie  der philosophischen   Wissenschaften.1817; Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821.
  • Friedrich Schlegel, Lucinde. 1799;  Über die Philosophie. An Dorothea, 1799.
  • Friedrich Schleiermacher, Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde, 1800.
  • Charles Fourier, CEuvres completes, insbesondere Theorie des quatre mouvements et des destineesgenerales, 1808 (dt.: Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen)-, Theorie de l'uniteuniverselle, 1822.
  • P. J. G. Cabanis, Rapports du physique et du moral del'homme, 1802 (dt.:  Über die Verbindung des Physischen und Moralischen in dem Menschen).
  • Jeremy Bentham, Constitutional Code, 1830.
  • James Mill, On Govemement, 1820; Encyclopedia Britannica, 1824.
  • W. Thompson, Appeal oj'One Half'ofthe Human Race,Women, against rhe Pretensions of the Other Half Men, 1825.
  • Arthur Schopenhauer, Metaphysik der Geschlechtsliebe, in: Die Welt als Wille und Vorstellung 11/2 (1819); Über die Weiber, in: Parerga und Paralipomena 1/2(1850), zit. nach: Züricher Ausgabe. Werke in zehn Bänden, hg. von Arthur Hübschier, Zürich 1977.
  • Sören Kierkegaard, Samlede vaerker (dt.: GesammelteWerke), insbesondere Enten - eller, 1843 (dt.: Entweder— oder).
  • Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums(1841), in: Werke in sechs Bänden, hg. von ErichThies, Frankfurt a. M. 1976.
  • Auguste   Comte, CEuvres completes, insbesondere Systeme de politique positive, 1851-1854; Catechismepositiviste, 1909.
  • Pierre Leroux, De l'egalite, 1848.
  • Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, 1844.
  • Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte(1844); Die deutsche Ideologie, 1845-46; Das Kapital,Erstes Buch, 1867.
  • P.-J. Proudhon, Systeme des contradictioris economiques,ou Philosophie de la misere, 1846 (dt.: Philosophie der Staatsökonomie oder Notwendigkeit des Elends); De la Justice dans la Revolution et dans l'Eglise, 7858; Lapornocratie ou les femmes dans les temps modernes, 1875(dt.: Von der Anarchie zur Pornokratie).
  • John Stuart Mill, Letters to Auguste Comte, 1899; Enfranchisement of Women, in: The Westminster Review, 1851 (in Zusammenarbeit mit Harriet Taylor);Subjection of Women, 1869 (dt.: Die Unterdrückung der Frauen).
  • Charles Secretan, Le droit de la femme, 1886.
  • J. J. Bachofen, Das Mutterrecht, Basel 186l.
  • Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, 1884,  in:  MEW,  hg.vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1962, Bd. 21.
  • Herbert Spencer, The Principles of Sociology, 1869;The Principles of Ethics, 1891.
  • Charles Darwin, The Descent of Man and the SexualSelection, 1871 (dt.: Die Abstammung des Menschenund die geschlechtliche Zuchtwahl).
  • Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches,1878; Die fröhliche Wissenschaft, 1882; fenseits von Gut und Böse, 1886, zit. nach: Werke in drei Bänden.hg. von Karl Schlechta, Frankfurt a. M./Berlin/Wien  1972.
  • Emile Durkheim, Textes, Band 2 und 3, 1975.
  • Sigmund Freud, Gesammelte Werke, insbesondere DreiAbbandlungen zur Sexualtheorie, 1905.
  • Otto  Weininger,   Geschlecht und Charakter,  Wien/Leipzig 1903.

Im 19. Jahrhundert wird die Menschheit in ihrer Geschichte wahrgenommen, und zwar in zweifacher Weise: zum einen im Hinblick auf den revolutionären Wandel und zum anderen im Hinblick auf die Idee, daß der Mensch selbst sich mit der Zeit verändere. Die alten Strukturen im Verhältnis von Mann und Welt lösen sich auf, und dies wirkt sich auch auf Frauen aus. Trotz aller Rigidität des Frauenbildes ist der Zerfall der alten Geschlechterordnung im 19. Jahrhundert real, und dies spüren auch die Philosophen. Die durch den historischen Wandel notwendig gewordene Neuformulierung des Geschlechterverhältnisses und das entstehende Bewußtsein einer möglichen Emanzipation der Frau und damit das Infragestellen der Ungleichheit der Geschlechter lassen philosophische Reflexionen entstehen, die bestimmte Gewißheiten verkünden oder eine Reihe von Ungereimtheiten ausstrahlen, in jedem Fall aber alle metaphysischen Register ziehen, um das Identische und das Andere in Gestalt des Geschlechterunterschieds auftreten und sich befragen zu lassen.
Das Infragestellen der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern folgt notwendig aus dem Postulat der neuen Ära, welches die individuelle Freiheit und die Autonomie des Subjekts begründet. Männer und Frauen gelten nun als vernunftbegabte Wesen. Das aber eröffnet die kontroverse Debatte, ob beide potentiell auch Subjekt sind. Wenn man vom autonomen und individuellen Subjekt ausgeht, dann stellt sich auf neue Weise die Frage nach den Geschlechterbeziehungen und nach dem Verhältnis von Körper und Geist für ein jedes der beiden Geschlechter. Damit aber steht gleichzeitig auch der Platz der Natur in der Welt des Menschen und die Bedeutung der »Andersartigkeit« in der Arbeit des Denkens auf neue Weise zur Debatte.
Die philosophische Diskussion über die Vorstellung von der Frau als Subjekt kreist um drei zentrale Themen, und jedes von ihnen gibt Anlaß zu ausführlichen Abhandlungen: erstens die Familie, verstanden sowohl als Herleitung aus der Heirat wie auch als Keimzelle der Gesellschaft; alsdann die Gattung, deren Fortbestand als Zweck des menschlichen Lebens angesehen wird; schließlich das Eigentum mit Arbeit und Freiheit als seinen Begleiterscheinungen.
Die Philosophen, selbstverständlich nur Männer, arbeiten sich ab an der Aussicht auf eine Emanzipation der Frauen, die notwendigerweise aus dem Entstehen des individuellen Subjekts folgen muß. Die anstehenden Fragen werden erörtert als Fragen der Beziehung zwischen zwei Lebewesen, zwei Subjekten, Mann und Frau. Dabei teilen sich die Philosophen in zwei Lager. Die einen rechnen a priori mit der Ausbildung harmonischer Beziehungen zwischen den Geschlechtern, die anderen setzen a priori auf Konflikt, die einen gehen von Frieden, die anderen von Krieg aus. Beide Gruppen allerdings denken nach über eine Definition der Liebe als Brennpunkt aller höheren Freuden des Lebens und Ursache tiefster Leiden. Fichte erklärt das Problem der Ungleichheit oder Gleichheit der Geschlechter zu einer Frage von höchster Dringlichkeit an der Schwelle zum 19. Jahrhundert.
In der Tat produziert das 19. Jahrhundert eine Fülle von neuen Texten über Frauen und die Geschlechterdifferenz. Beide Themen überschneiden sich, ohne sich zu decken. Ich habe meine Verwunderung über diese Texte, die ich hoffe mitteilen zu können, in der Darstellung produktiv umzusetzen versucht. Dabei mußte ich zwei Einschränkungen vornehmen. Ich habe mich erstens auf die sogenannten »großen« Philosophen konzentriert, eine Auswahl zu treffen war bei der Zahl von Texten, die für diese Thematik relevant sind, unerläßlich; zweitens habe ich meine Untersuchung auf den konkreten Gehalt der Geschlechterdifferenz beschränkt, d. h. auf das weibliche Subjekt und sein Verhältnis zum männlichen. Wie sich der Platz und die Rolle der Geschlechterdifferenz in der Gesamtheit einer jeden einzelnen Philosophie niederschlägt, kann allenfalls angedeutet, aber nicht ausgeführt werden. Um die Sache etwas zu vereinfachen, werde ich mein Hauptargument auf die Überschneidung von Politischem und Metaphysischem richten.

Die Familie, das Subjekt und die geschlechtliche Teilung der Welt

Die Philosophen des frühen 19. Jahrhunderts setzen an der Stelle an, wo die postrevolutionären Schriften des 18. Jahrhunderts aufgehört haben. Ihr Interesse gilt vor allem der Frage des Rechts. Dabei geht es nicht direkt um Frauenrechte, sondern vielmehr darum, ob das Verhältnis zwischen Mann und Frau (die Ehe) einen Rechtsstatus habe
oder nicht. Die Frage, ob die Frau im juristischen Sinne als Subjekt zu betrachten sei oder lediglich als Untergebene des Mannes — d. h. als freies Rechtssubjekt oder als Abhängige -, ist dabei von zweitrangiger Bedeutung. Fichte, Kant und Hegel können als Vertreter der Grundpositionen dieser Debatte gelten.
Fichte benennt die Problematik in aller Deutlichkeit: Anders als in den sonstigen Rechtsbeziehungen ist eine »Deduction der Ehe« aus dem Naturrecht nicht möglich. Denn »die Ehe ist gar nicht bloss eine juridische Gesellschaft, wie etwa der Staat; sie ist eine natürliche und moralische Gesellschaft« (Bd. 3, S. 304). Wenn sie dennoch innerhalb der Doktrinen des Rechts definiert werden müsse, so allein deshalb, weil die Ehe »notwendig« ist.
Die Ehe, so Fichte, sei eine »vollkommene Vereinigung«, die auf dem geschlechtlichen Instinkt beider Geschlechter beruhe und keinerlei Zweck außerhalb ihrer selbst verfolge; sie stelle nichts anderes als eine »Bindung« zwischen zwei Personen her. Diese Bindung sei Liebe, und »Liebe ist der innigste Vereinigungspunct der Natur und Vernunft«. Eben dieses Verhältnis zwischen Natur und Vernunft schaffe juristischen Raum. Das Gesetz greife nur in eine bereits bestehende Ehe ein. Noch bevor das Gesetz zum Zuge kommt, hat sich die Frau dem Mann in einem freien Akt unterworfen.
In diesem Punkt weicht Fichte eindeutig von der Position seines Zeitgenossen Kant ab, der die Ehe als einen »Vertrag« auffaßt. Für Kant ist die Ehe nicht »die natürliche Geschlechtsgemeinschaft (...) nach der bloßen tierischen Natur«. (Bd. 8, S. 390f.) Sie ist gesetzlich geregelt. Der wechselseitige Gebrauch der Geschlechtseigenschaften von Mann und Frau sei nur durch die Wechselseitigkeit eines rechtmäßigen Besitzanspruchs vertretbar. Deshalb ist ein Vertrag erforderlich. Daran schließe das Gesetz an und schreibe außerdem vor, daß der Mann befiehlt und die Frau zu gehorchen hat.
Hegel äußert einige Jahre später sein Entsetzen über Kants Theorie und beschreibt die Ehe als das »unmittelbare sittliche Verhältnis«, innerhalb dessen die »natürliche Lebendigkeit« in »eine geistige, in selbstbewußte Liebe, umgewandelt« werde. Die Ehe ist weder Vereinigung noch vertragliche Vereinbarung, sondern die Konstituierung »einer Person« aus zwei erwachsenen Partnern. Sie sei daher vor allem eine moralische Bindung. Das Recht interveniere erst, wenn eine Familie, im Sinne einer »Rechtsperson«, auseinanderbricht und jedes ihrer Mitglieder zu einer »unabhängigen Person« wird. Die Ehe findet im wesentlichen im Bereich der Sittlichkeit statt, sie ist wesentlich ein sittliches Verhältnis und mehr als die unmittelbare Vereinigung von natürlichen Individuen und ihren Instinkten. Der Mann als Familienoberhaupt ist die juristische Person.
Diese drei Philosophen haben unterschiedliche Ansichten über die Natur des Geschlechts, die Rolle des Rechts in den Beziehungen zwischen Mann und Frau und die Sittlichkeit, die sich in diese Beziehungen mischt. Nichtsdestotrotz sind sie sich völlig einig in ihrer Akzeptanz der weiblichen Abhängigkeit und der Selbstaufgabe der Frauen in Ehe und Familie. Gleichzeitig jedoch suchen Kant und besonders Fichte ihre Argumentation durch die entscheidende Aussage zu stützen, daß Männer und Frauen gleichermaßen freie und vernünftige Wesen seien. Für Kant wird diese Gleichheit durch die Wechselseitigkeit des rechtmäßigen ehelichen Besitzanspruchs garantiert, der wiederum als Beweis ihrer Freiheit auf der Einwilligung beider Partner basiert. Ein freies Wesen ist notwendigerweise ein vernünftiges Wesen. An anderer Stelle in seiner Anthropologie sagt Kant, es sei das Vernunftwesen in der Frau, das sie für ihre einzigartige Mission als Erhalterin der Art weihe. Die Abhängigkeit der Frau von ihrem Ehemann und ihre Unterordnung unter das Fortpflanzungsgebot seien demnach durchaus vereinbar mit Freiheit und Vernunft; sie stünden sogar im Einklang mit
der Gleichheit aller Menschen, insbesondere mit der zwischen Mann und Frau.
Fichte argumentiert mit der Strenge dessen, der ein Problem direkt angeht und sich nicht, wie manch anderer Philosoph, damit begnügt, die Schwierigkeiten nebenbei abzuhandeln: Die Frau behauptet (und schützt) ihre Würde als menschliches Wesen, indem sie Mittel zum Zweck wird (der darin besteht, den Mann zu befriedigen) und somit  aufhört, Zweck für sich selbst zu sein. Dies tut sie aus freien Stücken, Der Name für diese Handlung ist Liebe, »die Gestalt, unter welcher der Geschlechtstrieb im Weibe sich zeigt«, denn im Gegensatz zum Mann kann sich die Frau ihren geschlechtlichen Instinkt nicht selbst eingestehen, denn dazu müßte sie ihrer Würde entsagen. Die Würde der Vernunft erlegt der Frau auf, zur Erfüllung ihrer selbst ein Mittel zu werden. Es wäre falsch, hierin einen Zirkelschluß zu sehen. »Auf diese einzige Verschiedenheit gründet sich der ganze übrige Unterschied derGeschlechter.« (Ebd., S. 3090)
Von alldem kann abgeleitet werden, daß der Frau aufgrund ihrer Abhängigkeit keine eigenständige bürgerliche Persönlichkeit zukommt (Kant). Wenn sie als Staatsbürgerin anerkannt wird (worauf Fichte besteht), muß sie notwendigerweise dem Mann die gemeinsame Vertretung dieser Staatsbürgerschaft anvertrauen. Beide Philosophen nehmen die Existenz lediger erwachsener Frauen und Witwen wahr. Fichte gesteht diesen zwar eine Staatsbürgerschaft zu, ohne daß diese an einen Mann übergehen muß, doch er verweigert ihnen die Ausübung eines öffentlichen Amtes. Das öffentliche Amt einer Frau sei noch schlimmer als deren Partizipation am Staatsleben. Frauen hätten ihren Platz innerhalb der Familie; ihr Bereich sei der der Häuslichkeit.
Hegel bedenkt ausführlich diese Unterteilung in häusliche und öffentliche Sphäre, die er als Aufteilung in zwei Arten von Vernunft versteht: die eine zielt auf Autonomie und Universalität, während die andere in der Passivität und konkreten Individualität verharrt; die eine richtet sich auf den Staat, die Wissenschaft und die Arbeit, die andere
auf die Familie und die Entstehung des moralischen Bewußtseins. Antigone, Hegels bevorzugtes Beispiel, symbolisiert diese Aufteilung in das Gesetz des Mannes und das der Frau, das Gesetz des Staates und das der Familie, das menschliche Gesetz und das göttliche. Dem dialektischen Moment gemäß ist diese Aufteilung entweder harmonisch oder konfliktär. In jedem Fall aber ist es notwendigerweise ein Wechselspiel zwischen beiden Gesetzen überall dort, wo es um das Zusammenspiel zwischen Familie und Staat in der Gesellschaft insgesamt geht, wo sich die Person gegenüber dem zufälligen Individuum abzuheben beginnt.
Über die Gleichheit oder Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist folgendes zu sagen: Eine Frau kann Tochter, Ehefrau, Mutter oder Schwester sein; nur in der letztgenannten Beziehung zum Mann (erinnern wir uns an Antigone) kann sie als Gleichberechtigte gelten. Die Trennlinie zwischen Familie und Gemeinwesen darf nur vom Mann überwunden werden. Insofern kann der Mann in seiner Person die Universalität seiner Staatsbürgerschaft und Singularität seines Begehrens trennen und gleichzeitig beide realisieren. Das eröffnet eine Freiheit und Anerkennung des Selbst, zu denen die Frau keinen Zugang hat. Sie hat einzig die Universalität ihrer familiären Situation (als Ehefrau und Mutter), nicht jedoch die Singularität ihres Begehrens. Letztlich basiert die dialektische Gegenüberstellung von Familie und bürgerlicher Gesellschaft auf der positiven Repression von Weiblichkeit, welche allerdings nicht einfach verschwindet, sondern als »ewige Ironie der Gemeinschaft« fortbesteht.
Im Nachdenken über die Aufteilung der Räume zwischen Männern und Frauen vollzieht sich die Unterscheidung von weiblich und männlich. Fichte spricht vom »Gesetz der Trennung beider Geschlechter«. Diese gleichsam naturwüchsige Zweiteilung wird von anderen Philosophen ins Metaphysische gehoben. Werfen wir einen Blick auf Hegels philosophischen Umgang mit dem Geschlechterunterschied. Ausgehend von der geschlechtlichen Beziehung, Kopulation und Fortpflanzung, erarbeitet er ein Spiel der Anerkennung des Selbst im Anderen, des Mannes in der Frau und umgekehrt im Rahmen der Logik der Differenz, wobei der Sinn in der Herstellung von Einheit durch Differenz besteht. Alle Naturphilosophien, besonders die von Hegels Zeitgenossen Schelling, gründen auf der Vorstellung von Dualität und ihrer Auflösung in Einheit, insbesondere auf der Vorstellung von der Aufhebung des Spannungsverhältnisses zwischen Endlichem und Unendlichem. Die Scheidung der Natur in zwei Geschlechter spiegelt die Tatsache wider, daß das (endliche) Individuum im Dienste der (unendlichen) Gattung steht. Die Problematik dieser Trennung hat teil an einer weiterreichenden philosophischen Reflexion, worin sie gleichzeitig als Notwendigkeit für das Leben der Natur anerkannt und als Herausforderung für den idealistischen Blick wahrgenommen wird. Darin begründet sich die Arbeit der Dialektik. Die Metaphysik des 19. Jahrhunderts nährt sich vom Konzept der Dualität, von der Beziehung und Einheit der Gegensätze, worin die Geschlechterdifferenz eine der möglichen Darstellungen, vielleicht sogar eine grundlegende Metapher ist.
Um 1800 scheinen in Deutschland die Romantiker, allen voran Friedrich Schlegel, im Gegensatz zu den bislang erwähnten Philosophen vom Wind der Freiheit erfaßt worden zu sein. In seinem Brief Über die Philosophie, den er an seine Frau Dorothea richtete, wie auch in seinem Roman Lucinde verwirft Schlegel die normativen Vorstellungen seiner Zeit. Seine konsequente Ablehnung der Vorurteile gegen Frauen in bezug auf die Ehe und den weiblichen Intellekt gestatten es ihm, die weibliche Lust (sowohl die des Fleisches als auch die des Geistes) und die Gleichheit der Geschlechter hinsichtlich der Freiheit neu zum Thema zu machen. Schlegels moderner Diskurs löst seinerzeit einen wahren Skandal aus und behält später noch seine provozierende Wirkung. Der Theologe und Philosoph Schleiermacher verteidigt Schlegels Auffassungen und gibt seiner Hoffnung Ausdruck, daß die Frau sich von den Fesseln ihres Geschlechts befreien möge, wohingegen Kierkegaard noch vierzig Jahre später den Immoralismus dieser romantischen Schriften, die seine Zeitgenossen noch immer begeistern, angreift. Es ist nicht etwa nur »die Rehabilitierung des Fleisches«, die dem dänischen Philosophen ein Dorn im Auge ist. Die mit dieser romantischen Demarche in poetischer Gestalt vorgetragene Forderung ist für ihn zweifellos die weitaus größere Gefahr. Kierkegaard erkennt in der Tat scharfsinnig, wie brisant der von Schlegel betonte intellektuelle Austausch zwischen den Geschlechtern ist, der die Trennung zwischen Sinnlichkeit und Verstand unterläuft und so die Ehe unmoralisch und unreligiös werden läßt.
Das Bedürfnis nach Abschwächung des Widerspruchs zwischen Fleischlichem und Geistigem und der Wunsch, daß Mann und Frau gemeinsam »alle Stufen des Menschseins«, von der überschwenglichsten Sinnlichkeit bis zur höchsten Geistigkeit durchlaufen mögen, wog schwerer als die Begeisterung für die Fleischeslust auf der einen und die ausschließliche Verherrlichung des Geistes auf der anderen Seite. Der Gedanke, daß Parität im Austausch zwischen Mann und Frau gerade wegen ihrer geschlechtlichen Differenz herrschen könne (Geben oder Nehmen als eine einzige Form, ebenso wie Poesie oder Philosophie), ist schwindelerregender als die Erklärung der absoluten und gleichberechtigten Identität beider Geschlechter. Die Behauptung schließlich, die Differenz der Geschlechter sei nur ein äußeres Merkmal, ein »angeborener, naturgegebener Stand«, und dieser Unterschied müsse in einer Beziehung der Umkehrung überspielt werden (»nur sanfte Männlichkeit, nur selbständige Weiblichkeit ist die wahre und schöne«), treibt den Skandal auf die Spitze.
In Frankreich ist es Charles Fourier, der den Skandal auslöst. Er erhält allerdings erheblich weniger öffentliche Aufmerksamkeit. Bis 1830 bleiben seine Schriften nahezu unbekannt. Dann werden sie zur Quelle aller nachfolgenden libertären Theorien über Frauen. Das Denken Fouriers richtet sich mehr auf Freiheit als auf Gleichheit, mehr auf Befreiung als auf Emanzipation. Er verzichtet darauf, von den Rechten des Mannes auszugehen und den Gesellschaftsvertrag als Garanten für den Schutz des modernen Individuums einzuführen. Seiner Meinung nach verdecken die Menschenrechte die entscheidenden Dinge, zuallererst die Wirtschaft und offensichtlich das Recht auf Arbeit. Unterdrückung und Erniedrigung der Frau in der Zivilisation würden im Bild der Ehe, die Fourier heftig kritisiert, noch verdichtet. Noch vor aller moralischen Kritik der Ehe und der Vorurteile, mit der die Ehe in der modernen
Moral umgeben ist, betont er deren Krämerwirklichkeit und ökonomische Fundierung (Geld und Eigentum). Darin ist Fourier ein Wegbereiter, wie Marx wenig später anerkennen wird. Fourier läßt im übrigen keine Gelegenheit ungenutzt, um die Verantwortung der Philosophen anzuprangern, »die sich um die häusliche Ordnung nur dann kümmern, wenn sie die Ketten des schwachen Geschlechts anziehen wollen«. Die deutschen Rechtsphilosophen haben dem nichts entgegenzusetzen; aber auch andere, wie beispielsweise der Ideologe Cabanis, der eine wissenschaftliche Theorie der Ungleichheit der Geschlechter entworfen hat, derzufolge der Einfluß des Körperlichen auf das Moralische im wesentlichen die gesellschaftliche Rolle der Frau bestimmt.
Fouriers Utopie ist eine Utopie der Freiheit: der Freiheit der Frau als Individuum (nur ein Viertel der Frauen ist seiner Überzeugung nach für das häusliche Leben geeignet); der Freiheit, mit dem Mann in Wettstreit zu treten (Rivalität sei gesund, behauptet er im Gegensatz zu den meisten seiner Zeitgenossen); und der Freiheit, die ihre Verwirklichung in der »leidenschaftlichen Anziehung« und »Verbindung« zwischen Mann und Frau finde. Die sexuelle Beziehung solle nach Fourier weder zu einem Vertrag noch zu einem Bund führen und die Natur solle allein in der Spontaneität des Begehrens, aber nicht etwa als Grundlage der Familie ins Spiel kommen.
Fouriers Utopie ist auch eine soziale Utopie, da bei ihm der Fortschritt und das Glück der gesamten Menschheit in direktem Zusammenhang mit dem Freiheitsgrad der Frauen stehen. Das ist eine für das 19. Jahrhundert bedeutsame Formulierung. Die entscheidende Frage ist, ob die Entfaltung der Moderne die Frauen integriert oder nicht. In der
postrevolutionären Ära gehören Frauen zwar prinzipiell dazu, werden jedoch faktisch ausgeschlossen. Dieser Widerspruch setzt die Geschichte der Frauenemanzipation in Gang.
Auch die englischen Philosophen entwickeln in diesem Punkt widersprüchliche Positionen. Der Utilitarist Jeremy Bentham zögert, die Staatsbürgerschaft der Frauen zu definieren. Sobald die Identität der Individualinteressen für grundlegender erachtet werde als die Identität der Menschenrechte, sei das universelle Wahlrecht (der Kernpunkt der
Diskussion) keine Selbstverständlichkeit mehr. Denn die Interessen von mehreren Personen könnten dann auch von einer einzigen Person wahrgenommen werden. Die natürliche Unterordnung der Frau sei ebensogut ein Grund, den Frauen die politische Gleichberechtigung zu verweigern, wie sie ihnen zu gewähren. Nach anfänglichem Zögern gelangt Bentham allmählich dazu, das demokratische Prinzip des allgemeinen Wahlrechts zu befürworten. Im Gegensatz dazu schreibt James Mill, der zunächst demokratischer denkt als Bentham, in einem Artikel von 1820, vom Wahlrecht sollten diejenigen ausgeschlossen werden, deren Interessen unbestreitbar in denen anderer Individuen einbegriffen seien. Die Interessen einer Ehefrau (oder eines Kindes) seien unter denen des Ehemannes zusammengefaßt, und daher benötige sie kein eigenes Wahlrecht. Offensichtlich bieten also die utilitaristischen Philosophien mehr Spielraum, die Gleichheit der Geschlechter abzulehnen, als die Rechtsphilosophien. In die philosophische Debatte mischt sich schließlich auch William Thompson, ein Freund Benthams und Robert Owens, ein mit seinem Appeal of One Half of the Human Race, Women, against the Pretensions of the Other Half, Men, to retain them in political, and thence in civil and domestic slavery (Plädoyer einer Hälfte der menschlichen Rasse, der Frauen, gegen die Anmaßungen der anderen Hälfte, der Männer, sie in politischer, und damit in bürgerlicher sowie häuslicher Sklaverei zu halten).
Damit beginnt die Ära des Feminismus mit den Utopisten und mit John Stuart Mill, dem Sohn James Mills, auf dessen philosophisches Engagement für die Gleichheit der Geschlechter wir später zurückkommen werden.

Liebe, Konflikt und Metaphysik des Geschlechts

Bevor sich die Philosophen explizit der Frauenemanzipation zuwenden, um diese entweder mit Argumenten oder übellauniger Rhetorik abzulehnen oder sich auf theoretischer Grundlage für sie auszusprechen, gibt es eine Phase des Stillstands der Diskussion. In dieser Zeit wird statt dessen über Liebe, Verführung und Keuschheit, über die Metaphysik der Sexualität und die Dualität der Geschlechter sowie über eine ontologische Komplementarität, die ebensosehr im gesellschaftlichen Leben wie im Gattungsleben verwurzelt sei, verhandelt. Die aktuelle feministische Frage lauert währenddessen im Hintergrund. Schopenhauer, Kierkegaard oder Auguste Comte halten es für nützlich, diese Frage zumindest mit einigen Zeilen als absurd und nichtig abzutun. Für sie liegt das eigentliche Problem offensichtlich woanders.
Wirft man einen Blick auf die jeweiligen Biographien dieser drei Philosophen, so fällt auf, daß ihr Einstieg in das philosophische Denken mit ihrem Eintritt in das aktive Geschlechtsleben zusammenfällt. Bei allen drei Philosophen tauchen biographische Momente in ihren philosophischen Texten auf, wo es um ihren Widerstreit mit Frauen geht.
Schopenhauer bricht nach dem Tode seines Vaters endgültig mit seiner Mutter. Kierkegaard löst seine Verlobung auf spektakuläre Weise. Die Gegenwart des Privaten in beider Schriften ist über den anekdotischen Effekt hinaus von Interesse. Abgesehen davon, daß biographische Elemente zum Verständnis ihres Denkens beitragen können, ist wichtig, daß Philosophen auch geschlechtliche Wesen sind und ihr Leben als solche offenbaren. Auguste Comte ist hierfür ein exemplarischer Fall. Seine Frau Clotilde de Vaux und später auch seine Hausangestellte tragen ausdrücklich nicht nur zu dessen Gedanken über Frauen bei, sondern auch zu seinem philosophischen System insgesamt. Es könnte durchaus sein, daß sexuelle Beziehungen ein fester Bestandteil des philosophischen Erkennens sind.
Kierkegaards zahlreiche Texte über Liebe, Verlobung, Ehe, Eheleben etc. scheinen dies zu bestätigen. Diese Vermutung wird dadurch erhärtet, daß er sein Denken nicht nur aus der Sicht der menschlichen Gattung oder Menschheit im allgemeinen entwickelt, sondern auch aus der subjektiven Sicht des Individuums in seiner einzigartigen sexuellen Beziehung. Man könnte dies als die existentielle Dimension einer Philosophie bezeichnen, die die Hegelschen Absoluta hinter sich gelassen hat. Was Schopenhauer betrifft, so ist er sich dieser Neuerung völlig bewußt: »Statt sich zu wundern, daß auch ein Philosoph dieses beständige Thema aller Dichter einmal zu dem seinigen macht, sollte man sich darüber wundern, daß eine Sache, welche im Menschenleben durchweg eine so bedeutende Rolle spielt, von den Philosophen bisher so gut wie gar nicht in Betrachtung genommen ist.« (Bd. IV, S. 623)
Schopenhauer schreibt eine »Metaphysik der Geschlechtsliebe«. Ausgehend vom geschlechtlichen Instinkt, entwickelt sich die Liebe und findet ihren Ausdruck im individuellen Bewußtsein; sie gedeiht zwischen zwei Extremen: der Frivolität der Beziehung, der Liebesaffäre, und dem imperativen Interesse der Gattung, dem unerschütterlichen Willen der Natur. Genauer gesagt, ist die Liebe die Maske des geschlechtlichen Instinkts, eine List der Natur, damit diese ihr Ziel erreicht. Und das Individuum ist in dieser Angelegenheit der Geprellte, von der Illusion getäuscht. Der hinlänglich bekannte Pessimismus Schopenhauers läßt in diesem metaphysischen Text die Frage nach dem Individuum in der Schwebe. Man erfährt nur, daß es zu keiner Zufriedenheit gelangt. In anderen Texten wird das Individuum, egal ob Mann oder Frau, auf andere Weise abgehandelt: Während der Mann imstande ist, über den Willen der Natur hinauszugehen, um in einen Zustand der Askese einzutreten, in dem die Keuschheit reichhaltige Möglichkeiten verheißt, soll die Frau ausschließlich zur Erhaltung der Art geschaffen sein.
Trotzdem ist die Metaphysik der Geschlechtsliebe eine Betrachtung über das Verhältnis der Geschlechter zueinander, über die Entsprechung und Ergänzung von Mann und Frau. Über die List der Natur hinaus, die den Willen zum Leben, das grundlegende Prinzip der Schopenhauerschen Metaphysik, perpetuiert, teilen sich die Geschlechter ihre Verantwortung für die Nachkommenschaft: der Vater bestimmt den Charakter und Willen des Kindes, die Mutter dessen Intellekt. Es mag verwundern, daß die rationale Gabe ausgerechnet von der Frau vermittelt wird, wenn man bedenkt, wie häufig die Philosophen den Frauen die Vernunft abzusprechen und deren minderen Status eben damit zu rechtfertigen pflegten, daß der weibliche Verstand schwächer sei. Schopenhauer selbst bemerkt zu diesem Punkt, alle Philosophen hätten fälschlicherweise das metaphysische Prinzip, das unzerstörbar und ewig sei, im Intellekt des Mannes angesiedelt. In der Tat lebe und sterbe der Intellekt, der vom Gehirn abhängig sei, auch mit diesem.
Einzig der Wille sei übertragbar; nur der Wille der Natur, der Wille zum Leben, bleibe vom Tode verschont. Damit gibt Schopenhauer, der seine Metaphysik nicht im Ideenhimmel, sondern im Prinzip des ewigen Lebens durch Fortpflanzung festzumachen sucht, dem Konzept der Geschlechterdifferenz eine überraschende Wendung, indem er der Frau das zugesteht, was viele andere Philosophen ihr verweigerten.
Gleichwohl ändert sich sein Ton, sobald er nicht mehr über die Liebe, sondern über den Unterschied der Geschlechter und über die Metaphysik der Geschlechtsspezifizierung der Welt schreibt, wenn er Frauen als Objekte im Diskurs eines Mannes betrachtet; dann gewinnt das Misogyne die Oberhand. So besitzt für Schopenhauer die Frau, zwischen Mann und Kind situiert, bestenfalls eine vergängliche Schönheit, die lediglich eine jener Listen der Natur ist, um den Mann zu verführen und die Art zu erhalten. Aber die Frau kann nicht das schöne Geschlecht sein, sie kann keine Beziehung zum Schönen an sich geltend machen. Sie ist das andere, zweite Geschlecht, ohne jedwede Parität mit dem ersten. Und ihr schwacher Verstand existiert in einem Zustand der Unmittelbarkeit, zwischen Frivolität und Schicklichkeit.
Das Christentum germanischer Prägung hatte den Irrtum begangen, die Frau in den Stand einer »Dame« zu erheben, statt ihr einen Meister zu geben und die Polygamie einzuführen. Die Art und Weise, wie Schopenhauer die Metaphysik des Geschlechts von der Meinung über Frauen trennte, wird sich als höchst einflußreich erweisen. Darauf wird zurückzukommen sein. Mit Schopenhauers metaphysischer Sprache, in der die Frauen lediglich zur Erhaltung der Art dienen, wird den früheren rechtsphilosophischen Analysen des Geschlechterunterschieds der Boden entzogen. Durch eine solche Entpolitisierung des Problems verschwinden gewisse Stützen, beispielsweise das abstrakte Zugeständnis der Gleichheit der Geschlechter, das innerhalb des rechtsphilosophischen Rahmens fast selbstverständlich scheint. Damit kann sich der Frauenhaß ungehemmt entfalten und wird später noch zusätzlich ideologisch verbrämt.
Kierkegaard stellt die Ehe in den Mittelpunkt seines philosophischen Denkens. Er meditiert über Liebe - zunächst über die Liebe zum Anderen, danach über die Liebe zum Wahren (und darüber hinaus zu Gott) sowie über fleischliche und philosophische Erotik. Sowohl das sexuelle als auch das geschlechtsspezifische Begehren werden von ihm mit bemerkenswerter Eindringlichkeit befragt, beschrieben und nach allen Seiten hin beleuchtet. Kierkegaard bearbeitet im philosophischen Diskurs eine subjektivistische Position, indem er von seiner eigenen Geschichte ausgeht und sich anderer Subjektivitäten bedient (zuweilen benutzt er sogar Pseudonyme). Sein Werk kann in erster Linie als ein philosophisches Erkennen des menschlichen Begehrens verstanden werden. In dieser Hinsicht geht Kierkegaars neue Wege, sowohl in den Themen als auch im Stil seiner philosophischen Betrachtungen. Kierkegaard äußert sich kritisch über Schlegels Verherrlichung der romantischen Liebe in Lucinde. Sie sei auf Sinnlichkeit, jener Quelle falscher Ewigkeit, gegründet. Diese trügerische Liebe nähre bei Frauen zudem den verwerflichen Wunsch nach Emanzipation. Sie sei um so mehr eine Illusion, weil sie die grundlegende Bedeutung des Christentums für unsere Zivilisation ignoriere, insbesondere die der Feindschaft zwischen Körper und Geist. Die Spannung zwischen dem Sinnlichen und dem Geistigen präge unser Verhältnis zur Liebe und könne daher nicht außer acht gelassen werden. Deshalb bemüht Kierkegaard sich in ausführlichen Analysen von Verlobung und Ehe um eine Unterscheidung zwischen drei verschiedenen Ebenen, auf denen sich die Liebe entfalten kann: auf der Ebene des Ästhetischen ist die Liebe an den Moment, auf der des Ethischen ist sie an die Zeit und auf der des Religiösen an die Ewigkeit gebunden. Ohne sich selbst zu schaden, kann der Mensch nicht auf sein Verhältnis zur Ewigkeit verzichten; seine Endlichkeit ist nur in Anbetracht des Unendlichen erträglich - ein Paradoxon, das seinen konkreten Ausdruck im Konflikt zwischen Körper und Geist findet. Man kann somit Ewigkeit im Ästhetischen und im Ethischen finden (oftmals der Ehestand), und das Ästhetische im Religiösen. Das gelingt aber erst nach langwierigen Überlegungen, die zum Beispiel das Tagebuch des Verführers zu einem äußerst detaillierten Text über Liebesstrategien werden lassen. Kierkegaard kommt zu dem nicht überraschenden Schluß, daß eine der Möglichkeiten zur Versöhnung dieser widerstreitenden Impulse die Entscheidung für die Keuschheit sei.
Wie aber sieht Kierkegaard den Unterschied zwischen Mann und Frau? Wenn man ihn nicht in Form einer Regel, sondern im Diskurs über das Begehren zu erfassen versucht, ist der Unterschied wesentlich einfacher in seinen Wandlungen wahrnehmbar. Insofern ist das Vorhandensein des Weiblichen im Männlichen,  der Bisexualität des Menschen, Bestandteil des Zusammenspiels beider Geschlechter. Desgleichen kann es keine Verführung ohne gegenseitige Freiheit bzw. keinen Besitz des anderen ohne dessen Anerkennung geben. Dennoch weicht Kierkegaards Liebesdialektik lediglich in einem Punkt von der traditionellen Darstellung der Frau ab: Die Erhaltung der Art ist für die Ehe nur ein Zweck unter anderen, und damit beschränkt sich das Dasein der Frau nicht auf ihre Rolle bei der Fortpflanzung. Die Frau wird bei Kierkegaard zum »Traum des Mannes«, zur »Vollkommenheitin der Unvollkommenheit«, zur Natur, Erscheinung, Unmittelbarkeit sie ist all das, was den Mann daran hindert, direkten Kontakt zum Absoluten zu haben. Die Frau drückt das Endliche aus, der Mann läuft dem Unendlichen hinterher. Wenn die Schlange der Emanzipation Besitz von seiner Frau ergriffen habe, müßte das den Mut des Mannes brechen. Ihm bliebe nichts anderes, als sich auf einen öffentlichen Platz zu stellen und zu heulen, wie ein Künstler, dessen Werk zerstört wurde und der sich selbst nicht einmal mehr daran erinnern kann, was jenes darstellte.
Die Verschiedenheit der Geschlechter impliziert die Existenz des Anderen, und da der Mann das Subjekt des philosophischen Diskurses ist, muß dessen Objekt, das Andere, notgedrungen die Frau sein.
Das Paar, das aus dem Einen und dem Anderen, dem Mann und der Frau besteht, ist nicht von ungefähr von entscheidender Bedeutung für die Arbeit des metaphysischen Denkens. Die Vorstellung des Zwei-Seins - des Dualismus von Geist und Körper im Menschen, des Dualismus von Natur und Gott außerhalb des Menschen - hat ihren Ursprung im Konzept der geschlechtlichen Differenz. Das hat die Hegelsche Dialektik bereits hervorgehoben.
Mit Ludwig Feuerbach und Auguste Comte gelangen wir kurz vor der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Kritik der Metaphysik. Bei beiden ist der Geschlechterunterschied von grundlegender Bedeutung für ihr philosophisches System und die darin entwickelte Kritik.
Feuerbach ist ein entschiedener Kritiker der christlichen Religion, Auguste Comte der Prophet einer neuen Religion; beide jedoch gründen ihre Kritik auf der Mann-Frau-Dichotomie. In Das Wesen des Christentums stellt Feuerbach den Menschen als Geschlechtswesen dem christlichen Mann gegenüber, der asexuell bzw. kastriert sei. Er entlarvt die Religion als eine Produktion des Mannes, der Gott nach seinem Bilde geschaffen hat - ein Bild, in dem alle Besonderheiten, namentlich der geschlechtliche Unterschied, zugunsten einer universellen Leere weggelassen worden seien: »Das ehelose, überhaupt asketische Leben ist der direkte Weg zum himmlischen unsterblichen Leben, denn der Himmel ist nichts andres als das übernatürliche, gattungsfreie, geschlechtslose, absolut subjektive Leben. Dem Glauben an die persönliche Unsterblichkeit liegt der Glaube zugrunde, daß die Geschlechtsdifferenz nur ein äußerlicher Anflug der Individualität, daß an sich das Individuum ein geschlechtsloses, für sich selbst vollständiges, absolutes Wesen ist.« (Bd. 5, S. 200)
Die geschlechtliche Bestimmung ist hier »ein inniger, ein chemischer Bestandteil« des menschlichen Wesens. Ebenso ist das menschliche Wesen nichts ohne seinen Leib, der den »Grund, das Subjekt der Persönlichkeit« bildet. »Aber der Leib ist nichts ohne Fleisch und Blut... Aber Fleisch und Blut ist nichts ohne den Sauerstoff der Geschlechtsdifferenz. Die Geschlechtsdifferenz ist keine oberflächliche oder nur auf gewisse Körperteile beschränkte; sie ist eine wesentliche. Sie durchdringt Mark und Bein... Die Persönlichkeit unterscheidet sich wesentlich in männliche und weibliche Persönlichkeiten. Wo kein Du, ist kein Ich.« (Ebd., S. 109)
Im Gegensatz zum Christentum mit seiner Furcht vor der geschlechtlichen Differenz und dem Fleisch glaubt Feuerbach an wahre Differenz sowie deren Entsprechung, die Komplementarität von Ich und Du, von Männlichem und Weiblichem. Es ist offensichtlich, daß die Keuschheit für Feuerbach keine Tugend darstellt, wenn er über das aus dem christlichen Glauben hervorgegangene Zölibat für wenige, nämlich die Priester, und die Ehe für viele spottet: Die Ehe gestattet es, die Natur zu verleugnen, während man ihr Genüge tut, und von daher erklärt sich, warum das Mysterium der Erbsünde das Mysterium des geschlechtlichen Vergnügens ist. Alle Menschen werden in Sünde empfangen, weil sie in Vergnügung und Sinnesfreude empfangen werden. Einzig die Ehe erlaubt es den Christen, diesen Widerspruch zu ertragen. Feuerbach hat sich vom Konzept der Liebe und Ehe als Einrichtungen zur Fortpflanzung weit entfernt und die Bedeutung von Sinnlichkeit und Lust betont. Er hält aber fest an der Komplementarität der Geschlechter. Er bedient sich der traditionellen Opposition zwischen Männlichem und Weiblichem, Aktivem und Passivem, Denken und emotionaler Intuition, jedoch vor allem um aufzuzeigen, daß der Unterschied keinen Bestand haben kann ohne Vereinigung und Ergänzung um einer zukünftigen Harmonie willen. Der Gedanke der geschlechtlichen Dualität wird durch den der gegenseitigen Ergänzung aufgehoben, so daß die Freiheit beider Geschlechter ein streng geregeltes Spiel bleibt.
Die Vorstellung eines komplementären Paars findet sich auch im Denken Auguste Comtes, wo sie zugleich in gesellschaftlichen wie auch religiösen Kontexten erscheint. Die Biologie dient ihm dabei als verbindliche Grundlage für seine Argumentation. Die Berufung der positivistischen Philosophie auf die Naturwissenschaft ist bekannt. Gleichwohl sei daran erinnnert, daß die Biologie überhaupt erst in den 1840er Jahren als Wissenschaft anerkannt wird. Die Biologie bestätige endgültig die »Hierarchie der Geschlechter«, schreibt Comte 1843 an John Stuart Mill. Vor dem Hintergrund einer unwandelbaren Natur, in der der Frau das Gefühl und dem Mann der Intellekt zugeschrieben werden, verändert Auguste Comte im Laufe seines Schaffens das männlich-weibliche Paar. Er ändert die Definition der Frau, ohne damit sein differentielles System insgesamt wirklich zu modifizieren. In Comtes letztem Gesellschaftsentwurf werden Frauen nicht länger wie große Kinder behandelt, sondern zu Göttinnen erhoben, äußert John Stuart Mill während der Arbeit an seiner eigenen Abhandlung über die Unterwerfung der Frauen. Das ist etwa fünfundzwanzig Jahre später, nachdem seine umfangreiche Korrespondenz mit Comte aufgrund von Meinungsverschiedenheiten über die Frage der Gleichheit der Geschlechter unterbrochen worden ist.
Für Comte leben die Frauen in einem Stadium der radikalen Kindlichkeit; sie gehören der Familie, dem häuslichen Leben an, und diese basieren auf der Geschlechterhierarchie. Frauen sind dem Mann nicht gleichwertig, sondern dessen Begleiterinnen. Außer in mütterlichen Funktionen wirken sie als Quelle sozialer Empfindungen, und für den aufkommenden Positivismus haben sie eine Mission als geistliche Hilfskräfte zu erfüllen. Frauen verkörpern »das gefühlvolle Geschlecht« und sollen deshalb in der zukünftigen Religion eine Rolle spielen, also nicht völlig eingeschlossen nur im häuslichen Bereich leben. Dem Positivismus konnte man sich in der Tat ebensogut mit dem Kopf wie mit dem Herzen nähern.
Die Beziehung zwischen Comte und Clotilde de Vaux, deren Tod und der anschließend von Comte betriebene Kult um ihr Gedenken verändern diese Struktur nicht grundlegend; im Gegenteil, sie verleihen ihr eher neue Tragweite. Der Wandel vollzieht sich im wesentlichen in der Sprache: Die Frau, Tochter, Mutter und Schwester wird für den Mann zu einem »Engel« und für die Menschheit zu einer Göttin. Diese neue Religion, die das alte Christentum ersetzen soll, stellt die jungfräuliche Mutter in den Vordergrund. Der Gedanke von der geschlechtlichen Komplementarität gelangt damit zu einer hypertrophen Vorstellung vom Weiblichen.
Auguste Comte läßt sein privates Leben in seine Schriften einfließen, und keine post morte Analyse ist erforderlich, um dafür den Beweis anzutreten: Frauen stehen im Mittelpunkt seiner philosophischen Betrachtungen. Dieses ist wiederum nicht als Anekdote von Interesse, sondern im Hinblick auf Comtes Aussagen. Er selbst spricht von der
»grundlegenden Verbindung zwischen meinem privaten und meinem öffentlichen Leben«.  Mehr noch als die Existenz der Frau und des Weiblichen in der Philosophie macht sich die Verbindung zwischen Mann und Frau im Denken bemerkbar. Dieser Punkt kann nicht genug gewürdigt werden: »Mit Mann und Frau haben wir das gesellschaftliche Individuum«, befindet Saint-Simon und bahnt damit um 1830 den Weg für die Vorstellungen der utopischen Sozialisten, vor allem der Saint-Simonisten. Zu ihnen zählt auch Auguste Comte, der zu jener Zeit sein Sekretär ist. Die Darstellung des Paares folgt allerdings ebenso strengen Regeln wie im dualistischen Denken. Abweichungen jedweder Art erweisen sich als undenkbar. So findet sich bei Comte die Apologie der Ehe, das Verbot jeglicher Teilhabe von Frauen am öffentlichen Leben, die Zufriedenheit mit ihrem »heilsamen Ausschluß« vom gesellschaftlichen und politischen Leben, das ihnen nur über indirekte Partizipation zugänglich sein soll. Comte ist Moliere dankbar, daß dieser es so gut verstanden hat, gute Argumente für eine Einschränkung der Bildungsmöglichkeiten von Frauen zu liefern, und brandmarkt den entstehenden Feminismus als einen »Aufruhr« ohne Zukunft.

Autonomie, Emanzipation und Gerechtigkeit

Mitte des 19. Jahrhunderts scheinen sich die Einsätze zu klären; die politische und die philosophische Geschichte verändern die Problematik. Nach der Revolution von 1848 verläßt das Nachdenken über die Frauenfrage sowohl den Bereich des Rechts als auch den der Natur und entwickelt sich in Form eines Diskurses zum einen über Liebe,
menschliches Begehren und Transzendenz, und zum andern über die Metaphysik der Differenz. Das bedeutet eine Rückkehr zu Fragen der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und generell der Immanenz. Die sozialen Probleme und die Religionskritik treten in den Vordergrund, die Sorge über die Erhaltung der Art wird in den Hintergrund gedrängt.
Gleichzeitig erfährt die Misogynie der Philosophen im Kern einen Wandel. Das liegt zweifellos daran, daß sich die Emanzipation der Frauen konkret absehen läßt und daß der Feminismus als soziale und politische Bewegung zur öffentlichen Realität wird. Während Philosophen wie Pierre Leroux, Marx oder Mill sich wohlwollend über Frauen
äußern, schreiben sich andere wie Proudhon in die Tradition Kants und Schopenhauers sowie der französischen Revolutionsideologie ein, indem sie unentschieden sind zwischen dem völligen Ausschluß des weiblichen Geschlechts aus Gesellschaft und Politik und dessen Einstufung als unheilbringende Kraft. Das Infragestellen der Metaphysik zeitigt ambivalente und widersprüchliche Wirkungen auf die Vorstellungen über die Geschlechterdifferenz.
Pierre Leroux, einer der Theoretiker der Emanzipation, befaßte sich sowohl mit Rechtsfragen als auch mit Liebe, sexueller Identität sowie mit geschlechtlicher Differenz. Er kann als Übergangsfigur zwischen den älteren utopischen Sozialisten, den Anhängern Saint-Simons und Fouriers, und den Theoretikern der Revolution, Marx und Proudhon,
gewertet werden. Mit seiner Befürwortung der Religion ist Leroux noch ein Mann der Jahrhundertwende. Sein Appell an die Gerechtigkeit hingegen stellt ihn an die Seite der neuen Kämpfer. Unter dem zentralen Begriff der Liebe sucht er bestimmte neue Elemente in die Diskussionen seiner Zeit hineinzutragen.
Leroux betrachtet die Liebe weder als Sexualität und Fortpflanzung noch als Beziehung zwischen Begehren und Verfügung. Vielmehr definiert er sie als »Gerechtigkeit in ihrer göttlichsten Gestalt«. Gottes Gerechtigkeit könne nicht einfach Gleichgewicht sein, sondern müsse sich auf einen dritten Begriff, die Liebe, beziehen. Gott sei weder Mann noch Frau, wie die Anhänger Saint-Simons behaupteten: »Gott wird erst offenbar, wenn das Er und das Sie, die in ihm als Möglichkeit sind, durch ein drittes Prinzip, die Liebe, vereinigt werden; und dann, nur dann offenbaren sich die beiden Prinzipien, die ihr unterscheidet. Und gleichermaßen erweisen sich Mann und Frau nur dann als Geschlechter, wenn Liebe sie vereint. Vor der Liebe und dem Paar gibt es die Frau nicht; denn sie existiert nicht als Frau, sie ist nur menschliche Person.«
Verdeutlichen wir uns diese verschiedenen Punkte noch einmal: Es ist nicht die Metaphysik der Zweiheit, sondern der Triade, die Leroux für relevant erklärt. Das ist seine Antwort auf die Frage des Jahrhunderts, die Frage der Dialektik. Die Zweiheit findet unter Umständen in einem dritten Begriff zusammen. Mit Hilfe der Triade kann Pierre
Leroux zugleich die geschlechtliche Identität und die geschlechtliche Differenz begrifflich denken, und er kann darüber hinaus die Möglichkeit einer wirklichen Gleichheit zwischen Mann und Frau bekräftigen. Das ist das Neue und Interessante seiner Überlegungen. Er unterscheidet im Mann-Frau-Verhältnis zwei Sphären: die der sexuellen und
amourösen Beziehungen und die der sozialen Situation der Frauen als Individuen. Die erste Sphäre ist geprägt durch den Geschlechterunterschied, die zweite nicht. Das Weibliche ist eine Möglichkeit und nur eine von vielen Besonderheiten des Individuums. Es ist eine Möglichkeit, deren sich die Frau gewahr wird oder auch nicht; wenn ja, bringt sie diese gegebenenfalls zum Ausdruck, indem sie Ehefrau und Mutter wird. Infolgedessen muß zwischen der Frau, der Ehefrau und dem Menschen unterschieden werden. Erstere wird durch die Geschlechterdifferenz im Kontext der klassischen Komplementarität der Liebesbeziehung geprägt, die zweite macht die gesellschaftliche Realität dieses Ergänzungsverhältnisses offenkundig, wobei sie jedoch die »Parität« zwischen Mann und Frau respektiert; die dritte trägt lediglich der Ähnlichkeit beider Geschlechter Rechnung, insofern als beide Personen sind.
Es besteht ein zweifaches Interesse an dieser subtilen Unterscheidung: Zunächst gestattet sie es Leroux, die irreführenden Versprechungen der Gleichberechtigung zu kritisieren, und zwar sowohl die formale Gleichheit im Code civil, die in Wirklichkeit die Abhängigkeit der Ehefrau festschreibt, als auch die reale Gleichheit der Saint-Simonisten, die die freie Liebe predigen und in dieser die Frauen unterwerfen. Wahre Gleichheit sei aber eine Beziehung der Gerechtigkeit und Billigkeit, und diese erwachse nicht aus leeren Abstraktionen. Der Geschlechterunterschied und die Last der traditionellen Hörigkeit der Frau verböten simple Erklärungen und machten Präzisierungen erforderlich.
Da es für ihn die Liebe ist, die als der dritte Begriff die geschlechtliche Dualität transzendiert, kann Leroux den Krieg der Geschlechter, der zu seiner Zeit die Gestalt des offenen »Aufstandes« anzunehmen beginnt, nicht akzeptieren. Die Frau werde den Mann emanzipieren und umgekehrt; dies sei der egalitäre Horizont, der vor beiden Geschlechtern liege: für die Frau als geschlechtliches Wesen sei Gleichheit unwesentlich, für die Frau als Ehefrau und als Mensch hingegen unbedingt erforderlich.
Max Stirner zieht gegen Pierre Lerouxs Auffassungen zu Felde, die, wie er vermutet, auch von seinem Landsmann und Diskussionspartner Feuerbach geteilt werden. Er kritisiert an beiden Theoretikern deren Heiligsprechung der Liebe und Wiederherstellung des Göttlichen ungeachtet der von beiden vorgetragenen Kritik an Gott und Religion. Stirner kritisiert mit anderen Worten, daß deren Humanismus die Werte, die einstmals Gott anheimgegeben waren, nun einfach dem Menschen übergebe. Zu diesen Werten zählten vor allem anderen Liebe, Familie, Menschlichkeit, Männlichkeit und Weiblichkeit. Wenn man statt dessen zuerst das Individuum setze, was Stirner vorschlägt, dann werde deutlich, daß das Individuum zugleich einzigartig und egoistisch,... durch sein Selbst definiert sei, bevor es durch männliche und weibliche Werte bestimmt werde.
Menschen sind geschlechtlich festgelegt, aber weder Mann noch Frau gehorchen immer der »wahren Männlichkeit« bzw. der »wahren Weiblichkeit«. Das Geschlecht ist eine naturgegebene Eigenschaft, kein Ideal, das es zu erstreben gilt. Es ist in jedem einzelnen einmalig und unvergleichlich. Das ist für Feuerbach nicht nachvollziehbar, und in seinen
Diskussionen mit Stirner handelt er das von diesem propagierte Ich als ein »ergo nicht geschlechtlich festgelegtes Ich« ab. Stirner weiß dagegen sehr wohl, worauf er hinaus will. Indem er vorgebliche Werte zurückweist, gibt er dem einzigartigen Willen des Individuums den Vorrang. Weder die Gattung noch die Familie bestimmten den Zweck des einzelnen, Individuen sind eher sich selbst zugehörig als irgendwelchen über sie hinausgehenden Entitäten. Einzelne bilden keine Gesellschaften, ganz gleich ob als Ehe, Familie oder Staat. Da eine jede Gesellschaft Abhängigkeitsverhältnisse schafft, hält Stirner den »Verein der Einzigen« für die einzige Möglichkeit, Individuen auf interessante Weise zu verbinden.
Diese Betonung des unabhängigen Individuums verlagert den Schwerpunkt des Diskurses auf die Geschlechterdifferenz: Menschen sind geschlechtsbestimmt, sogar bis in ihr Denken hinein, allerdings drückt sich diese Geschlechtsbestimmung nicht in Gestalt von Komplementarität bzw. in der Zuweisung bestimmter Rollen aus. Der Dualismus als Konzept wird aufgegeben, und das abstrakte Menschheitskonzept des Humanismus stößt ebenfalls auf Skepsis. Wiederum hat sich ein Wandel in der Diskussion über Geschlechterbeziehungen vollzogen. Jetzt gilt das Interesse verstärkt dem Individuum und der Gesellschaft, mehr der Familie als dem Paar und der Ehe. Die Frage der Geschlechterbeziehungen wird nun entweder im Hinblick auf das autonome Individuum oder im Hinblick auf das Individuum, welches in der Familie eine Gesellschaft bildet, formuliert.
Karl Marx verwirft in seinen frühen Schriften sowohl Feuerbachs Essentialismus als auch Max Stirners Individualismus. Marx zufolge spielen beide lediglich mit Konzepten, während es darum gehen müsse, sich den Tatsachen zuzuwenden, genauer gesagt, den gesellschaftlichen Gegebenheiten. So sei beispielsweise die bürgerliche Familie keineswegs gleichzusetzen mit der proletarischen Familie. Stirner kritisiere die dominante bürgerliche Familie, doch es gebe noch die andere, durch den Kapitalismus dem Zerfall ausgesetzte Familie. Letztere zeige gänzlich andere, weniger geschäftliche Beziehungsformen. Innerhalb der bürgerlichen Familie seien Eigentum und Geschäft die treibenden Elemente sowohl hinsichtlich der Frauen und Kinder als auch hinsichtlich des materiellen Besitzes. Marx preist Fourier als den ersten, der es verstanden hat, Ehe und Familie als ein System von Besitzverhältnissen, im Rahmen dessen die Frau als Handelsware angesehen werde, bloßzustellen.
Für Marx ist die Familie also immer eine historische Realität. In seinem Werk Die deutsche Ideologie kritisiert er an Stirner dessen eher abstraktes als historisches Konzept der Familie. Die Familie durchlaufe mit der Zeit verschiedene Entwicklungsstufen, und es sei absurd zu glauben, sie abschaffen zu müssen. Bereits in seinen frühesten Schriften aus dem Jahre 1842 spricht sich Marx für Monogamie und das Recht auf Scheidung aus (im Gegensatz zu Hegel und dessen Heiligsprechung der Familie), und wiederholt weist er primitive Kommunismusvorstellungen sowie deren Idee einer »Frauengemeinschaft« zurück. Eine solche Gemeinschaft existiere bereits unter dem Namen »Prostitution« in Form des Warenhandels mit Frauen, die von Männern wie Gegenstände in Besitz genommen würden.
Der moderne Kapitalismus löse die proletarische Familie auf, weil er Frauen auf den Arbeitsmarkt zwinge und damit aus dem privaten Bereich der Familie heraushole. Auf diese Weise leite er, ohne es zu wissen, den Prozeß der Befreiung der Frauen ein. In der Tat sei Lohnarbeit der erste Schritt zu einer Autonomie der Frauen, die der Kommunismus mit der Abschaffung des Privatbesitzes und den Veränderungen der Produktionsverhältnisse vollständig durchsetzen werde.
Insofern schaffe die Ökonomie und nicht das Gesetz die Grundlage für die Befreiung der Frau sowie für eine neue Familienstruktur.
In den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 versucht Marx, die Familie als primäre gesellschaftliche Beziehung zu definieren und die Frau als das natürliche Wesen, das es dem Mann gestatte, diese primäre gesellschaftliche Beziehung aufzubauen. Es entwickele sich eine menschliche, über die bloße Natur hinaus führende Beziehung, die Familie sei die Brücke zwischen Natur und Gesellschaft, die Keimzelle einer jeden Gesellschaft. Innerhalb dieses Prozesses werde die Frau zum ersten Besitz des Mannes (gemeinsam mit den Kindern zur Sklavin). Folglich sei es logisch, daß sie in der kapitalistischen Gesellschaft zur Ware degradiert werde. Ursprünglich Naturwesen, entwickele sich die Frau nun zum Handelsobjekt: Die stufenweise Veränderung familiärer und gesamtgesellschaftlicher Beziehungen allein konnte es der Frau ermöglichen, ihre Menschlichkeit wiederzuerlangen.
Engels nimmt dieses Thema - die Evolution der Familie, deren Ursprung und Zukunft - zu einem Zeitpunkt wieder auf, als die Vorstellung von der historischen Entwicklung der Familie als Keimzelle der Gesellschaft weiter ausgearbeitet worden ist. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts wird die Familie noch als unveränderliche Größe betrachtet.
Nur Fourier steht allein mit seinem Versuch, sie anders zu definieren und eine wirtschaftliche Analyse von Ehe und Familie zu entwerfen.
Marx gibt der Debatte nun eine konkrete Richtung, indem er darlegt, daß die Frau aufhören könne, Instrument der familiären und gesellschaftlichen Produktion zu sein, um zur Arbeiterin innerhalb eines Produktionssystems und zu einem unabhängigen Wesen im Privatleben zu werden.
Tatsächlich ist die Zeit für eine Geschichte der Familie noch nicht reif. Proudhon, ein Zeitgenosse (und Gegner) von Marx, sieht in Ehe und Familie die eigentliche Verkörperung der unveränderlichen Beziehung zwischen Mann und Frau. Gleichzeitig sind es nun wirtschaftliche und nicht nur metaphysische Argumente, die die Unveränderlichkeit der
Familie und der Geschlechterbeziehungen bestätigen. Man muß wiederum bei dem Verhältnis zwischen Familie und Gesellschaft ansetzen.
Das Ziel Proudhons ist es, der wirtschaftlichen und sozialen Ungerechtigkeit ein Ende zu bereiten. Einen ersten Schritt sieht er darin, den Ort der Gerechtigkeit zu definieren. Der Dualismus, so argumentiert er, sei eine organische Bedingung für Gerechtigkeit, und die primäre Form des Dualismus sei die des Paares als Grundlage der Familie. Ableitungen davon seien beispielsweise der wirtschaftliche Dualismus mit der Produktion auf der einen und der Konsumtion auf der anderen Seite sowie der Arbeitsdualismus, bei dem die Frau für die Reproduktion
(Haushalt, Konsum, Sparen) und der Mann für die Produktion (Werkstatt, Herstellung, Handel) zuständig ist.
Die Familie ist für Proudhon die Inkarnation der Gerechtigkeit; das heißt aber noch lange nicht, daß sie für ihn auch die Keimzelle der Gesellschaft ist. Im Gegensatz zu Marx und Bonald (die trotz der bestehenden politischen Differenzen einen starken Einfluß auf sein Denken haben), macht Proudhon die Werkstatt und nicht die Familie zur
Grundeinheit der Gesellschaft. Die Familie unterscheidet sich vom übrigen gesellschaftlichen Leben. In ihr herrscht ein auf Ungleichheit gegründeter Frieden, der unberührt ist von jeglichem Konflikt oder Antagonismus und der auf dem Respekt vor der Dualität der Geschlechter basiert. Konflikt und Konkurrenz gehören in den Bereich von Wirtschaft und Politik und werden erst aufhören, wenn Gerechtigkeit anderswo, und zwar in der gesellschaftlichen Dualität, entstehe.
Das Paar ist somit der Zusammenschluß zweier Individuen (keineswegs eine Verbindung), der Ausdruck eines einzigen (sozialen) Individuums, das man durchaus als androgyn bezeichnen könnte.
Die Gerechtigkeit soll nach Proudhon dasjenige vereinigen, was sich sonst nur zu streiten vermag, und sie tut dieses in anderer Weise als durch die gefährliche Kraft der Liebe: »Verändert, verwandelt oder stellt das Verhältnis der Geschlechter auf den Kopf, durch welches Mittel auch immer, und ihr werdet die Ehe in ihrem Wesen zerstören; aus
einer Gesellschaft mit Vorherrschaft der Gerechtigkeit macht ihr eine Gesellschaft, in der die Liebe die Vorherrschaft übernimmt.« Im Gegensatz zu Pierre Leroux trennt Proudhon Liebe und Gerechtigkeit. Er knüpft subtile Verbindungen zwischen Ökonomie und Metaphysik, um seine Behauptung von der Minderwertigkeit des weiblichen Geschlechts zu beweisen.
Einige Kommentatoren gehen mit wenigen Bemerkungen auf die Frauen in Proudhons Leben (Mutter, Ehefrau, Töchter) ein; viel aufschlußreicher aber ist es, die Aufmerksamkeit auf seine endlosen Polemiken gegen die Feministinnen seiner Zeit (Jeanne Deroin, Juliette Lamber und vor allem Jenny d'Hericourt) zu lenken. Denn seine Theorie der Gerechtigkeit hat für seine Auffassung von Frauen katastrophale Folgen. »Haushälterin oder Kurtisane (und nicht Dienerin)«, so lautet der Proudhonsche Grundsatz, der in der äußerst antifeministischen, französischen Arbeiterbewegung Furore macht. Dieser Grundsatz bedenkt: Im häuslichen Leben übt die Hausfrau eine Tätigkeit aus, die zwar nicht entlohnt wird, aber auch nicht unterwürfig ist; in der Öffentlichkeit ist die Frau dagegen in den Marktverhältnissen gefangen, innerhalb derer sie praktisch selbst zur Ware wird. Der geschlechtliche Dualismus des Ehepaares hingegen ist, trotz der Ungleichheit zwischen Mann und Frau, auf gegenseitigen Respekt gegründet.
Den Diskurs über die Komplementarität und Gleichwertigkeit der Geschlechter, der zumindest den Anschein von Fairneß erweckt, gibt Proudhon allmählich auf zugunsten einer grenzenlos frauenfeindlichen Position, auch wenn das weibliche Geschlecht im allgemeinen die Verliererrolle hat. Die Frau sieht er als »Ergänzung« des Mannes, die ihre Schönheit der Stärke des Mannes zugesellt; die Schönheit erachtet er allerdings als Stillstand der Entwicklung. Sie stelle die Frau nahezu auf eine Stufe mit ihren Kindern. Folglich sei sie unmündig, ein minderwertiges Wesen, Materie, der Aristoteles zufolge erst Gestalt verliehen werden müsse, und deshalb suche das Weibliche das Männliche. Schließlich stuft Proudhon die Frau als Übergangswesen zwischen Mensch und Tier ein, in ihrer gewöhnlichen Stellung eine Variante zwischen Natur und Gesellschaft, aber eine Variante von verhängnisvoller Bedeutung: »Zwischen Frau und Mann kann es Liebe, Leidenschaft, Gewohnheitsbeziehung und was immer man will geben, aber nicht wirklich Gesellschaft. Mann und Frau bilden keine Gesellschaft. Die Differenz der Geschlechter errichtet zwischen ihnen ebenso eine Trennung wie es die Differenz der Rassen zwischen den Tieren tut. Daher kann ich dem, was man heute Emanzipation der Frau nennt, keinen Beifall zollen. Ja, sollte es zum Äußersten kommen, dann wäre ich eher geneigt, die Frau einzusperren.«
John Stuart Mill nimmt geradezu die entgegengesetzte Position zu Proudhon ein. Dieses beweist nicht zuletzt seine Korrespondenz mit Auguste Comte, denn dessen Antifeminismus führt schließlich zum Bruch ihrer Beziehung. Andere Details seiner Biographie sind gleichermaßen aufschlußreich. In seiner Autobiographie berichtet er, wie er sich mit seinem Vater gestritten habe, als dieser den Frauen das Wahlrecht  verweigern  wollte, und wie entscheidend   für  ihn seine Begegnung mit Harriet Taylor gewesen sei. Zwanzig Jahre sind sie eng befreundet, bevor der Tod von Taylors Ehemann ihnen schließlich die Heirat ermöglicht; die Hochzeit nimmt Mill zum Anlaß, eine Erklärung abzugeben, in der er sich verpflichtet, niemals Gebrauch von den »unrechten Rechten« des Ehemannes über die Frau zu machen. Ihre intellektuelle Zusammenarbeit ist besonders bemerkenswert. Sie veröffentlichen drei gemeinsame Schriften: über Ehe und Scheidung (1832), über die Emanzipation der Frau (1851) und über die Unterwerfung der Frau (1869). Mill und Taylor schreiben beide, sie tauschen sich bei ihrer Arbeit ständig aus, und der Einfluß reicht über den Tod hinaus.
Noch bemerkenswerter ist indes, was Mill dieser Zusammenarbeit zu verdanken behauptet. Ihre Zusammenarbeit erstreckt sich nicht nur auf ihr gemeinsames Anliegen, einen Beweis für die mögliche Gleichheit zwischen den Geschlechtern zu liefern. Mill anerkennt darüber hinaus den entscheidenden Einfluß von Harriet Taylor bei der Erarbeitung seines philosophischen Gesamtwerkes (mit Ausnahme seiner Arbeiten über Logik). Sie leben und arbeiten in einer intellektuellen Gemeinschaft, die weit über das gemeinsame Engagement für Ideen hinausgeht und den eigentlichen Prozeß philosophischer Erkenntnis einschließt.
Die Frage nach der intellektuellen Produktion ist im Hinblick auf den Geschlechterunterschied zweifellos hochinteressant und wichtig. Gleichwohl werde ich mich im folgenden auf Mills Vorstellungen über die Gleichberechtigung der Geschlechter beschränken. Diese lassen sich in drei Gruppen unterteilen: zunächst diejenigen über die Geschichtlichkeit der Beziehungen und die gegenwärtige Ungleichheit der Geschlechter; dann die Überlegungen zur modernen Politik und insbesondere zu Wahlrecht und Selbstbestimmung von männlichen und weiblichen Staatsbürgern; schließlich Betrachtungen über das Eherecht, d. h. die Rechte der Individuen im Ehestand.
Mills Auseinandersetzungen mit Auguste Comte beziehen sich auf die erste Gruppe: Die Biologie könne nicht die letzte Wahrheit über die Beziehungen zwischen den Geschlechtern sein, Frauen seien bereits das Produkt von Erziehung, und diese sei selbst veränderbar. Dieses schon von Condorcet benutzte klassische Argument betont den Unterschied zwischen Frauen als historisch ausgebildeten Personen und einem vorgeblich naturgegebenen Wesen des weiblichen Geschlechts.
Mit Mill allerdings ändert sich allein die Tonart dieses Arguments: Er benutzt Begriffe wie »Unterwerfung« und »Befreiung« und beschreibt die Lage der Frauen als eine Form der »Sklaverei«. Dasselbe tun Fourier und Marx zum Entsetzen von Auguste Comte und später auch Freud, der als junger Mann einige der Millschen Texte übersetzt. Das Gegenteil von Sklaverei ist Freiheit, und John Stuart Mill ist ein Philosoph der Freiheit. Deshalb kritisiert er die Behauptung seines Vaters, die Interessen der Frau stünden in Einklang mit denen ihres Mannes, der allein fähig und vor allem über das Wahlrecht auch befugt sei, an öffentlichen Angelegenheiten teilzuhaben. Freiheit, sofern es sie überhaupt gibt, könne nicht delegiert werden, und jeder einzelne habe Anteil daran: Männer ebenso wie Frauen, im öffentlichen Recht ebenso wie im bürgerlichen Recht, in der Öffentlichkeit ebenso wie zu Hause. Eine Heirat könne demnach die Rechte der Frau nicht aufheben. Das Ende der Sklaverei kündige die Freiheit und Emanzipation jedes einzelnen an. Als Verteidiger der individuellen Freiheit setzt sich Mill entschieden von der großen Zahl seiner Zeitgenossen ab, die sich der Metaphysik der Liebe und der Analyse der Familie als gesellschaftlicher Mikrokosmos verschreiben. Geschlechtliche Liebe und Mutterschaft interessieren ihn kaum. Sein Denken konzentriert sich, darin Stirner ähnlich, auf das Individuum und den Staatsbürger. Allerdings ist dieser Verteidiger der Freiheit gleichzeitig auch Logiker: Er ist entschlossen, die Gleichheit zu beweisen, und die Aufgabe stellt sich als äußerst schwierig heraus. Kann es tatsächlich etwas wie einen Beweis für die Gleichheit, insbesondere für eine Gleichheit der Geschlechter geben? Mill hat seine Zweifel darüber und teilt sie seinen Lesern in aller Schärfe mit.
In der Schweiz kommt Charles Secretan wenig später, ausgehend von einer Moralphilosophie, die der sogenannten protestantischen Erweckungsbewegung nahesteht, zu ähnlichen Schlußfolgerungen: »Die Frau ist eine Person, denn sie hat Pflichten.« Auch wenn das Konzept der »Persönlichkeit« noch unklar ist, steht es doch mit Sicherheit im
Widerspruch zur damaligen »Sklaverei der Frau«. Und die offensichtliche Verschiedenheit der Geschlechter, die seit Condorcet von den Theoretikern des Frauenrechts nie mehr bestritten worden ist, stellt kein unüberwindbares Hindernis dar: »Die geistige Minderwertigkeit berechtigt also ebensowenig wie die muskuläre Minderwertigkeit dazu, die juristische Persönlichkeit von der moralischen zu trennen und die erstere denen zu verweigern, die durch die Natur zur moralischen Persönlichkeit bestimmt sind. Wenn die Frau eine Person ist, ist sie juristisch gesehen ein Zweck in sich: Das Gesetz muß sie entsprechend behandeln und ihr die Rechte zuerkennen. Wenn sie eine Person ist, ist sie auch Staatsbürgerin: Wir fordern das Wahlrecht für die Frau, damit ihr endlich Gerechtigkeit widerfährt.«

Das Individuum, die Geschichte der Familie und das weibliche Übel

Im späten 19. Jahrhundert verstärkt sich das Nachdenken über das Individuum. Es wird auf mannigfache Weise untersucht: als sozialer Akteur, als moralische und politische Person, als Mensch im Sinne Nietzsches, als Thema der Psychologie. Männer und Frauen werden dies alles, allerdings auf verschiedene Weise. Die Geschlechter werden
weniger in ihrer Komplementarität gesehen, obgleich die obligatorische Bipolarität zwischen Männlichem und Weiblichem fortbesteht. Die während des gesamten Jahrhunderts vieldiskutierte Familienfrage wird insofern neu formuliert, als nun der Familie Geschichtlichkeit zuerkannt wird. Althergebrachte Gewißheiten über das Wesen von Mann und Frau fallen in sich zusammen und gleichzeitig werden wirkliche Männer und Frauen einer immer subtileren Analyse unterzogen. Die Psychoanalyse markiert einen bedeutenden historischen Einschnitt. Sie macht die Geschlechter und die Geschlechtlichkeit erstmals zum Mittelpunkt eines Denksystems. Aber die zunehmend sichtbare Geschlechterdifferenz löst eine Welle phantastischer und angsterfüllter Interpretationen aus. Die Frau kann zur Trägerin alles Negativen werden, beispielsweise zur Quelle der Dekadenz. Die Misogynie stattet sich mit einer für die Frauen besonders gewaltsamen Sicht der Welt aus.
Die »Bestimmung«, die der Frau noch zu Beginn des Jahrhunderts in Aussicht gestellt wurde, war farbloser, aber auch weniger zweideutig als das »Schicksal«, das man ihr am Vorabend des 20. Jahrhunderts anbietet.
Paradoxerweise findet die Betonung des Individuums vor dem Hintergrund neuer Überlegungen zur Familie ihren Ausdruck. Die Familie erhält nun eine historische Gestalt, und diese eröffnet beiden Geschlechtern größere Freiheiten. Bis zu diesem Zeitpunkt haben sich die Diskussionen über den Ursprung der Familie auf die biblische Überlieferung gegründet, und damit erscheint das Patriarchat unumstößlich. Auf diesen Punkt hat Friedrich Engels in seiner Schrift Der Ursprung der Familie hingegen hingewiesen und das Aufkommen der neuen Familiengeschichte mit Bachofens 1861 erschienenem Buch Das Mutterrecht datiert. Wenn die Familie eine Geschichte hat, dann kann sie zu einem früheren Zeitpunkt durchaus auch matriarchalisch strukturiert, eine Gynaikokratie gewesen sein. Die Geschichte der Familie verweist also auf das Gewaltverhältnis zwischen Männern und Frauen.
Der von Bachofen entwickelte Begriff des Matriarchats, der in späteren Jahren zum politischen Programm einer Alternative wird, eröffnet vor allem die Sicht auf einen mythischen und realen Ursprung, auf einen Zustand, der schließlich durch das Patriarchat überwunden wurde: »Wie auf die Periode des Mutterrechts die Herrschaft der Paternität folgt, so geht jener eine Zeit des regellosen Hetärismus voran. Die demetrisch geordnete Gynaikokratie erhält dadurch jene Mittelstellung, in welcher sie als Durchgangspunkt der Menschheit aus der tiefsten Stufe des Daseins zu der höchsten sich darstellt.« (S. XVIII)
Dieser Übergang wird in Aischylos' Orestie geschildert, in der das Recht Orestes, seine Mutter Klytaimnestra zu töten, mit dem Recht Klytaimnestras, ihren Gemahl Agamemnon zu töten, in Konflikt gerät; das Recht eines Mannes steht dem Recht einer Frau gegenüber. Mehr noch als die Gynaikokratie, die Vorherrschaft der Frauen, erweckt das
Matriarchat oder Mutterrecht Bachofens Aufmerksamkeit. Das Recht geht ihm über die Macht. Die Vorherrschaft der Frauen stellt ein extremes Experiment dar, während das Mutterrecht, gegründet auf die Evidenz der weiblichen Filiation, einfach die früheste Regelung ist, die einer primitiven Unordnung entgegengesetzt wird. Die Ehe, die auf
diese Regelung folgt, macht die Vaterschaft rechtsgültig, und die Frauen verlieren dementsprechend an Ansehen. Da aber das Mutterrecht in die Geschichte eingegangen ist, können sich Frauen bei ihrer Forderung nach gleichen Rechten (sowohl auf individuelle Autonomie als auch auf gesellschaftliche Emanzipation) darauf berufen.
Engels ist sich der Folgen einer solchen Argumentation deutlich bewußt. Die Relativierung des Vaterrechts erschüttert dessen Fundament; da es nicht von Anfang an bestanden hat, kann es ebenso eines Tages wieder verschwinden. Ganz offensichtlich ist Engels Sicht realistischer, »materialistischer« als die Bachofens, von dem er sich die »Fakten« und gewisse vorläufige Interpretationen entleiht: »Es ist eine der absurdesten, aus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts überkommenen Vorstellungen, das Weib sei im Anfang der Gesellschaft Sklavin des Mannes gewesen. Das Weib hat bei allen Wilden und allen Barbaren der Unter- und Mittelstufe, teilweise noch der Oberstufe, eine nicht nur freie, sondern hochgeachtete Stellung.« (Bd. 21, S. 53)
Darauf sei eine Art linearer Fortschritt mit gelegentlichen Rückschritten gefolgt. Gewiß habe das Mutterrecht den Frauen eine starke gesellschaftliche Stellung gegeben. Doch die geschlechtliche Teilung der Arbeit in Produktion und Fortpflanzung sowie die Forderung der Frauen nach Monogamie habe dem ein Ende gesetzt. So sei aus einer Mischung von Ökonomie und Recht die »Einzelehe« entstanden, die den Übergang zum Patriarchat besiegelte. Das Patriarchat kombinierte die Gewißheit der männlichen Filiation mit der Möglichkeit, die vom Mann akkumulierten Besitztümer auf die Nachkommenschaft zu übertragen. Das genaue Datum dieser Revolution sei nicht bekannt; doch sie sei »die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts«. Die »Einzelehe« ist also kein Ideal; sie »tritt (...) keineswegs in die Geschichte als die Versöhnung von Mann und Weib, noch viel weniger als ihre höchste Form. Im Gegenteil: Sie tritt auf als Unterjochung des einen Geschlechts durch das andere, als Proklamation des bisher in der ganzen Vorgeschichte unbekannten Widerstreits der Geschlechter.« (Ebd., S. 68)
Nach Engels führt die Auflösung der Familie durch den Kapitalismus diesen Konflikt an sein Ende; gleichzeitig aber zeichnet sich seine Lösung ab in Gestalt neuer Rechte und der Lohnarbeit. Engels teilt diese Ansichten mit Marx und einigen Spezialisten, beispielsweise August Bebel (Die Frau und der Sozialismus, 1883). Er schließt seine Betrachtungen mit dem Bild einer durch die künftige Revolution neugeschaffenen Familie. Es sei kaum möglich, von ihr eine genauere Vorstellung zu haben, gleichwohl sei sicher, daß die geschlechtliche Liebe darin eine wesentliche Rolle spielen werde.
Die Geschichte der Familie und des Geschlechterverhältnisses erlaub es, zwei Ideen zu entwickeln, nämlich erstens die Vorstellung eines Ursprungs und einer von der Gegenwart deutlich verschiedenen Zukunft der Familie und zweitens die Vorstellung, daß der Geschlechterkonflikt ein zu regelndes Probem sei. Der Diskurs über die Komplementarität verliert zweifellos an Glaubwürdigkeit, da er die Dialektik zwischen Macht und Begehren und die Dynamik der Beziehungen zwischen Männern und Frauen außer acht läßt. Sehr bald gibt es eine Vielzahl historischer Analysen des Geschlechterkonfliktes. Diese kreuzen sich mit ebenfalls neuen Theorien, über die Evolution der Menschlichkeit einerseits und die natürliche bzw. geschlechtliche Selektion andererseits. Allerdings scheinen weder Herbert Spencer, der Philosoph des Evolutionismus, noch Charles Darwin, der Theoretiker des Ursprungs der Arten, der Geschlechterfrage große Bedeutung beigemessen zu haben. Gleichwohl dienen ihre Ideen verschiedenen Denkern als Vorlage, um den wissenschaftlichen Beweis zu erbringen, daß die Gleichheit der Geschlechter unmöglich sei. Der alte, vornehmlich von philosophierenden Medizinern zu Beginn des Jahrhunderts geführte Diskurs findet damit neue Belege für die These, daß es die natürliche Berufung der Frauen zur Fortpflanzung schwierig, ja unmöglich mache, sich höheren Aufgaben zu widmen. Herbert Spencer zufolge kommt es darauf an, die Gesetze der Evolution, den Evolutionismus, als Mechanismus des Fortschritts zu erkennen. Bei diesem Fortschritt handele es sich um ein Gleichgewicht zwischen der Bevölkerungszahl und der Menge der Subsistenzmittel, also um ein Gleichgewicht zwischen Produktion und Reproduktion.  Die Gesetze der Evolution sollten  nach Spencer auch für das Geschlechterverhältnis gelten. Der Konflikt zwischen Fortpflanzung bzw. Reproduktion und Individuation bzw. Selbstverwirklichung sei für die Frau ein Konflikt zwischen Fruchtbarkeit und geistiger Aktivität. Von daher gelte ganz offensichtlich, daß die Frau als Ganzes von der Rolle, die sie innerhalb der Art einzunehmen habe, vereinnahmt sei und deshalb weder ihr Ich noch ihren Verstand entwickeln könne. Einzig der Arbeit für die Gattung geweiht, könne sie sich dennoch verbessern: Bildung werde es ihr eines Tages gestatten, das Wahlrecht zu erlangen. Spencer, der zu Zeiten seiner Freundschaft mit John Stuart Mill der Geschlechtergleichheit als junger Mann wohlwollend gegenübergestanden hat, ändert seine Meinung angesichts der Emanzipationsbewegung.
Darwin macht trotz eines gewissen Unbehagens in seiner Abstammung des Menschen keinen Hehl aus seiner Überzeugung: Die durch geschlechtliche Selektion verstärkte natürliche Selektion habe den Mann privilegiert und ihn der Frau überlegen sein lassen. Auch auf die Frage, ob sich diese Ungleichheit im Laufe der Menschheitsentwicklung auflösen könne, fällt seine Antwort negativ aus: In seiner Theorie von der Vererbung erworbener Eigenschaften (die im übrigen falsch ist) geht er davon aus, daß die im Erwachsenenalter gemachten Fortschritte sich nur von Geschlecht zu Geschlecht vererben würden. Die Frauen würden also immer hinter den Männern zurückbleiben und die Ungleichheit somit fortbestehen.
Das von Geschichtlichkeit ausgehende Denken garantiert also ebensowenig eine Rechtfertigung der Geschlechtergleichheit wie das dem Recht verpflichtete Denken. Jeder Denkansatz scheint a priori den Frauen
Chancen zu eröffnen und den Weg zu einer Gleichheit der Geschlechter zu ebnen. Letzten Endes aber bleiben beide diese Wirkung schuldig. Recht und Geschichte sind die beiden zentralen Achsen des Denkens im 19, Jahrhundert. Wenn es um die Gleichheit zwischen den Geschlechtern geht, lassen beide die Entscheidung offen.
Am Ende des Jahrhunderts bleibt die Frage der Gleichheit in der Schwebe. Man widmet sich jetzt statt dessen verstärkt der Geschlechterdifferenz. Nietzsches Werk beschäftigt sich eindringlich mit dieser Frage. Und Freud ist aus der Sicht der Philosophiegeschichte der erste, der den Geschlechterunterschied zum Gegenstand der Erkenntnis macht. Da die Psychoanalyse zugleich Praxis und Theorie ist, bewerkstelligt sie eine bemerkenswerte Rückkehr zum Realen. Die Überprüfung der Theorie anhand der Fakten wird generell zum zentralen Thema der neuen Humanwissenschaften. Das gilt insbesondere für die von Durkheim begründete Soziologie.
So beginnt das 20. Jahrhundert als Ära des »fundierten« Wissens über die Geschlechter. Der Antifeminismus findet nun seinen bedeutendsten Denker in Otto Weininger, der weder eindeutig der Vergangenheit noch der Zukunft zuzurechnen ist.
Bei Nietzsche durchziehen geschlechtliche Metaphern zahlreiche seiner Diskurse. Mehr noch als eine bloße Metapher ist für ihn der Geschlechterunterschied, in den Bildern vom Männlichen und Weiblichen, vom Mann und von der Frau, eine Form des Denkens. Er bezeichnet eine Epoche als »männlich« oder die Wahrheit als »Frau«, ohne jemals »Männlichkeit« oder »Frau« zu definieren. Die Schwierigkeit zu definieren ist jedoch keine Schwierigkeit zu qualifizieren. Nietzsche spricht beispielsweise von Schönheit und Intelligenz und von deren seit der Antike bekannten Aufteilung zwischen Männern und Frauen. Das spezifische Wesen eines jeden Geschlechts hingegen bleibt bei ihm undurchsichtig. Man könnte sagen, daß es für ihn nicht Männer und Frauen im allgemeinen gibt, sondern nur bestimmte Männer und bestimmte Frauen. Das binäre System der Sexualität gestaltet sich um so geschmeidiger, je mehr das Räsonieren feste Kategorien zurückweist und sich an das Individuum selbst hält: »Diese Frau ist schön und klug: ach, wie viel klüger aber würde sie geworden sein, wenn sie nicht schön wäre!« {Morgenröte, § 282, Bd. 2, S. 184)
Ein jedes Individuum ist genauso wahr wie ein jedes andere; und eine jede Frau ist ebenso die Frau wie die Frauen. Denn man kann immer noch darüber hinaus gelangen: »So will ich Mann und Weib: kriegstüchtig den einen, gebärtüchtig das andere, beide aber tanztüchtig mit Kopf und Beinen.« (Also sprach Zaratbustra, Dritter Teil, § 23, Bd. 2, S. 457)
Aber das »Gesetz der Geschlechter« existiert nichtsdestotrotz, und es ist »ein hartes Gesetz für das Weib!« (Die fröhliche Wissenschaft, §68, Bd. 2, S. 356). Nietzsche zieht die Klarheit der Illusion vor und die Anerkennung der Ungleichheit der Geschlechter einer unmöglichen Identität: »Die Leidenschaft des Weibes in ihrem unbedingten Verzichtleisten auf eigene Rechte hat gerade zur Voraussetzung, daß auf der anderen Seite nicht ein gleiches Pathos, ein gleiches Verzichtleistenwollen besteht: denn wenn beide aus Liebe auf sich selbst verzichteten, so entstünde daraus - nun, ich weiß nicht was, vielleicht ein leerer Raum?« (Die fröhliche Wissenschaft, §68, Bd. 2, S. 237)
Solchermaßen ist das Gesetz der Liebe beschaffen, welches ebenso wie die Tatsache des Geschlechterkonfliktes selbst jegliche Gleichheit undenkbar und unwahrscheinlich macht. So bleibt den um das Liebesspiel betrogenen Frauen nur noch »die Nachsicht«; darüber hinaus das Mißtrauen gegenüber der Emanzipation: »Man kann in den drei oder vier zivilisierten Ländern Europas aus den Frauen durch einige Jahrhunderte von Erziehung alles machen, was man will, selbst Männer, freilich nicht in geschlechtlichem Sinne, aber doch in jedem anderen Sinne (...). Diese Zeit wird es sein, in welcher der Zorn den eigentlich männlichen Affekt ausmacht, der Zorn darüber, daß alle Künste und Wissenschaften durch einen unerhörten Dilettantismus überschwemmt und verschlammt sind, die Philosophie durch sinnverwirrendes Geschwätz zu Tode geredet, die Politik phantastischer und parteiischer als je, die Gesellschaft in voller Auflösung ist (...).« (Menschliches, Allzumenschliches, §425, Bd. 1, S. 6580)
Und Nietzsche erklärt auch, warum das so ist: Die Frauen besitzen große Macht »in den Grenzen der Sitte«; wenn sie darauf verzichten, wie könnten sie dann eine gleichbedeutende Macht erlangen? Die Identität der Geschlechter und die Macht des einen oder des anderen sind die beiden Schlüssel zum Nachdenken über die Geschlechter.
Nietzsche geht diesen Fragen mit ungewöhnlichem Scharfsinn nach, zweifellos dank seiner Fähigkeit, die Frauen aus den verschiedensten Blickwinkeln zu betrachten.
Die Wahrheit ist Frau, ebenso sind die Natur und das Leben Frauen. Da der Mann den Diskurs produziert, übernimmt die Frau die Rolle des anderen innerhalb dieses Diskurses. Aber deshalb wird die Frau noch nicht Objekt; sie vertritt vielmehr das für ewig unzugängliche Objekt, die Wahrheit. Im übrigen interessiert Nietzsche die Intelligenz der Frauen. Sie spiele eine bedeutende Rolle in der Liebe, und die Ehe könne ein »langes Gespräch« sein (Menschliches, Allzumenschliches, §406, Bd. 1, S. 65D. Nietzsche greift Schopenhauers Unterscheidung zwischen dem weiblichen Intellekt und dem männlichen Willen wieder auf (§411); allerdings vermischt er unentwegt die Eigenschaften beider Geschlechter. Er ist dabei vielleicht immer noch vom Bild der Schwangerschaft (der »intellektuellen Schwangerschaft«) fasziniert, von dieser gewaltigen Vorstellung von der Überwindung des Seins.
Der Vermännlichung Europas, von Napoleons Taten bis hin zu den künftigen Kriegen, steht das gefährliche Konzept des »Künstlers« gegenüber, in dem sich Komödianten, Juden und Frauen in der ihnen gemeinsamen Schwäche und Falschheit zusammenfinden. Diese konzeptuelle Nähe von Jude und Frau kennzeichnet das deutsche Denken jener Zeit, besonders das des Österreichers Otto Weininger. Dieses Denken läßt sowohl die Frau als auch den Juden über sich hinauswachsen und eine zugleich präzise und diffuse Bedrohung verkörpern.
Die Vorstellungen werden später für die Juden zur tragischen Realität und für die Frauen zur Phantasiewelt.
Die Wirklichkeit der Frauen ist fern von diesen schwindelerregenden
Spekulationen. Die neuen Wissenschaften der Soziologie und der Psychoanalyse befassen sich mit konkreten Fakten und Individuen. Durkheims Ziel ist es, Strenge und Disziplin in die Beschreibung gesellschaftlicher Fakten einzuführen. Man findet dieselbe Beharrlichkeit in seinen Betrachtungen über Familie und Scheidung, d.h. über die »Krise« der Familie. Die historische Entwicklung der Familie gilt nun als erwiesen. Durkheim analysiert als gesellschaftliche Keimzelle die »Kernfamilie«, deren wesentliches Element die Ehe ist. Die frühere Familie sei eine »häusliche Gesellschaft« gewesen, eine Stätte der Produktion und der Vererbung von Gütern. Heute werde bei Heirat und ehelicher Gemeinschaft der öffentliche Charakter dieses Bundes betont und durch »Gütergemeinschaft« die Gleichheit der Eheleute ermöglicht, gleichzeitig aber auch die Vergangenheit und Perspektivlosigkeit der Ehe unterstrichen. Die Familie erfülle nicht mehr ihre wirtschaftliche und moralische Funktion, und die Berufsgruppe werde zunehmend als Ersatz dienen. Desgleichen werde die Gleichberechtigung der Geschlechter ein wesentlich stärker nach außen gerichtetes Leben der Frauen herausfordern.
»Die Heirat begründet die Familie und leitet sich von ihr ab.« Allein die eheliche Verbindung schaffe eine moralische Gesellschaft. Durkheim weist eine Scheidung im gegenseitigen Einverständnis zurück. Nur eine Scheidung aus festgelegten Gründen könne legal sein, da nur sie an Recht und Gerechtigkeit appelliere, während erstere einzig und
allein auf dem Willen, dem Wunsch der beteiligten Parteien beruhe. Als Angriff auf die Institution der Ehe und die gesellschaftliche Moral werde diese Art der Scheidung eine »schwerwiegende gesellschaftliche Krankheit« auslösen. Durkheims Analyse, die zeitgleich mit der von Engels entsteht, ist dessen Gesellschaftsentwurf genau entgegengesetzt.
Ihre divergierenden Ansichten lassen sich nicht auf einen Unterschied zwischen Wissenschaftler und Revolutionär reduzieren. Auch Soziologen können bisweilen mit ihrem utopischen Denken über die Regeln des Sozialen hinausweisen. Solches leistet beispielsweise Georg Simmel, als er im frühen 20. Jahrhundert über die Möglichkeit einer »weiblichen Kultur« innerhalb der modernen Welt nachsinnt.
Die Entstehung der Psychoanalyse geht ebenfalls auf die Beschäftigung mit Krankheit zurück. Ihr Ausgangspunkt ist die Hysterie, eine Krankheit der Frauen und des Geschlechts, aber auch eine Krankheit der Beziehung zwischen Körper und Geist. Die Psychoanalyse bedeutet einen doppelten Bruch in der Philosophie. Sie entwirft eine Theorie der Sexualität, d.h. eine Reihe kohärenter Thesen über die Geschlechterdifferenz, und eine neue Theorie der Erkenntnis, die sich auf das Unbewußte gründet. Zweifellos hat das Konzept des Unbewußten die bisherigen Vorstellungen über die dem Menschen mögliche Selbst- und Welterkenntnis grundlegend verändert. Dagegen ist die Sexualtheorie vielleicht weniger originell, als dies den Anschein hat; einige ihrer Thesen erinnern auffallend an die philosophische Medizin zu Beginn des 19. Jahrhunderts und an alle Versuche, den Frauen ihre »Bestimmung» zuzuschreiben. Indes bringt die Psychoanalyse mit der Verschiebung der Diskussion von »Geschlecht« zu »Sexualität« wesentliche Impulse in die Debatte. Sexualität ist nun allen zu eigen, Männern und Frauen, Erwachsenen und Kindern; bei der Frau wird zwischen Sexualität und Fortpflanzung unterschieden; Menschen gelten grundsätzlich als bisexuell; das Sexualleben ist nicht länger nur Biologie, Instinkt und Trieb. All das ist um 1900 noch ein vager Entwurf, aber was auf dem Spiel steht, ist bereits klar: Die Menschheitsgeschichte muß um die Geschichte des Individuums erweitert werden; die Analyse der Familie muß vertieft werden, um eine jede einzelne Person und deren gemeinsamen Familienroman sichtbar zu machen. Damit aber hören die Frauen auf, nur das »schöne Geschlecht« zu sein. Auch ihnen muß nun eine Geschichte, ein je eigenes, durch die geschlechtliche Anatomie bestimmtes »Schicksal« zuerkannt werden, wie Freud sagt. Der Begriff »Schicksal«
ist zweideutig: Ist das »Schicksal« reicher als die »soziale Bestimmung«, die den Frauen ein Jahrhundert vorher angedient worden ist, bereichert durch die Einzigartigkeit eines jeden Individuums? Oder ist es armseliger als die vorgeblich damit verbundene gesellschaftliche Rolle, die Aussicht auf ein Leben ohne vollständige Freiheit?
Gleichheit oder Freiheit der Frauen. Alles Wissen der Welt reicht nicht aus, um Endgültiges darüber auszusagen. Otto Weininger muß dies zu seinem Bedauern erfahren, und sein Selbstmord kurz nach der Veröffentlichung von Geschlecht und Charakter (1903) läßt die Risiken seines philosophischen Unterfangens erahnen. In der Tat nennt er
das, was er tut, Philosophie - er studiere nicht Fakten, sondern Prinzipien -, Philosophie mit dem Ziel, die »Existenz« von Frauen in Abrede zu stellen, »antifeministisch« zu sein. Dies, so erkennt er, werde niemandem so recht gefallen: »Wo die Darstellung antifeministisch ist - und das ist sie fast immer - dort werden auch die Männer ihr nie
gerne und mit voller Überzeugung zustimmen: ihr sexueller Egoismus läßt sie das Weib immer lieber so sehen, wie sie es haben wollen, wie sie es lieben wollen.« (S. VI)
In diesem Paradoxon, die Männer als »feministisch« einzustufen, verbirgt sich das Geheimnis seines Denkens. Es ist besser, die Kastration der Frauen (und der Juden) anzuerkennen, als sie zu leugnen. »Wird aber das Weib sich entschließen können, die Sklaverei aufzugeben, um unglücklich zu werden?« (S. 472), fragt er am Ende. Nein, gewiß nicht; es sei denn, die Emanzipation der Frau, die ihn in erster Linie beschäftigt, bewirke eine Rückkehr des Menschen zum Kantschen kategorischen Imperativ, zur Abkehr vom Sex zugunsten der Keuschheit. Da die Frau nur Geschlecht sei, könne sie dem nicht entkommen; der Mann dagegen sehr wohl.
Geschlecht oder Sexualität: Weininger ist einer der wenigen, die diese Unterscheidung treffen. Sie macht es möglich, das eine und das andere zu behandeln, anstatt das eine für beides oder eines anstelle des anderen zu erörtern. Von daher erklärt sich bei ihm die sonst seltene Betonung, er wolle über den Unterschied der Geschlechter philosophieren.
Seine Theorie über die Sexualität ist eine Theorie der Bisexualität, ähnlich der von Freuds frühem Mitarbeiter Wilhelm Fliess. Bisexualität ist für Weininger keine Ausnahme, sondern die Regel: »Es gibt in der Erfahrung nicht Mann noch Weib, könnte man sagen, sondern nur männlich und weiblich.« (S. 10) So verstehen sich »die Gesetze sexueller Anziehung« (einschließlich der homosexuellen) als Gesetze einer Verhältnismäßigkeit der Komponenten von M(ann) und W(eib) in jedem einzelnen. Von daher ist die Emanzipation im Sinne des männlichen Anteils der Frau zu sehen. Weininger begnügt sich nicht damit, die Befreiung der Frau grundsätzlich einfach abzulehnen, er begründet
seine Ablehnung und stellt eine Gegentheorie auf. Zweifellos erklärt sich daraus die Faszination, die er auf seine Zeitgenossen ausübt. Er sucht nach Gründen für etwas, was andere schlicht als Unsinn abtun. Sein Antifeminismus hat durchaus Zwischentöne: »Die Emanzipation, die ich im Sinne habe, ist auch nicht der Wunsch nach der äußerlichen Gleichstellung mit dem Manne, sondern problematisch ist dem vorliegenden Versuche, zur Klarheit in der Frauenfrage zu gelangen, der Wille eines Weibes, dem Manne innerlich gleich zu werden, zu seiner geistigen und moralischen Freiheit, zu seinen Interessen und seiner Schaffenskraft zu gelangen.« (S. 80)
Die juristische Gleichheit ist ebenso notwendig, wie die moralische und intellektuelle unerträglich ist. Man muß um jeden Preis den unauflösbaren Unterschied zwischen den Geschlechtern aufrechterhalten, auch wenn dadurch Frauenfeindlichkeit als Antifeminismus durchgeht. Die »männlichen« Frauen sind ein Fortschritt und nicht, wie Moebius glaubt, ein Zeichen von Entartung der Gesellschaft (Vom physiologischen Schwachsinn des Weibes, 1909; das Böse ist weiblich, es stammt vom Weiblichen in der Frau: Die Frau ist ein Wesen ohne moralische Fähigkeit.
Dies also ist der Weg, den die Darstellung der Frau in der Epoche der aufkommenden Frauenbewegung nimmt: von ihrer sozialen Bestimmung als Verantwortliche gegenüber der Gattung zu ihrem individuellen Schicksal im sexuellen und familiären Leben. Dieser Übergang ist zwar kennzeichnend für die allgemeine Entwicklung des Jahrhunderts, hier aber ist er auch geprägt durch die Reaktionen auf die mögliche Autonomie des weiblichen Subjekts.

Aus dem Französischen von Harald Riemann