Nichts ist natürlich, zwangsläufig oder unveränderlich an der Sexualität. Sexualität ist, wie die Historikerinnen Kathy Peiss und Christina Simmons schreiben, weder »eine unwandelbare biologische Realität noch eine universelle Naturkraft«, sondern »Produkt eines politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Prozesses«. Sexualität hat eine »Geschichte«.[1] Während bestimmte Verhaltens- und Bedeutungsmuster - zum Beispiel der Transvestismus oder das Bild von der Kupplerin als Mutter - über lange Zeit ihre Geltung behauptet haben, zeigen andere im Zeitverlauf eine beträchtliche Variabilität. Selbst das Inzestverbot, dieses vermeintliche Fundament sozialer Tabus, ist im Laufe der europäischen Geschichte verschiedentlich erweitert oder auch eingeschränkt worden, wodurch jeweils die Grenzen der erlaubten Sexualbeziehungen verschoben wurden.
Die sexuellen Kulturen des 19. Jahrhunderts verdeutlichen die durch und durch soziale Konstruktion von Sexualität. Sexualität war eine Kampfarena, in der Klassen-, Rassen- und Geschlechterkonflikte privat und öffentlich ausgetragen wurden. Die verschiedensten Sozial- und Berufsgruppen bedienten sich moralischer Panikmache, Sexualskandale und gesetzlicher Maßnahmen, um ihren kulturellen und politischen Einfluß auszudehnen. Männer und Frauen beteiligten sich in aller Öffentlichkeit an Kämpfen, die auch zur Neudefinition ihrer privatesten Identität und Subjektivität beitrugen.
Wenn Viktorianer über Sex sprachen, dann vor allem über die Gefahren der Sexualität, über die starke Zunahme sexueller Praktiken außerhalb des sakrosankten Heims und frei von Zeugungsabsichten. Diese Themen hingen eng zusammen mit dem spannungsreichen Wandel der bürgerlichen Ehenormen. Schnell sinkende Geburtenräten machten immer deutlicher, daß nun auch das Ehebett ein Ort für nicht auf Zeugung zielende Sexualität, für größere persönliche Intimität und individuelle Entfaltung geworden war. Da nichtprokreative Sexualität in der Ehe die Normen der Weiblichkeit in Frage stellte, beunruhigte sie die Viktorianer ebensosehr, wie die Zunahme des kommerziellen Sexes und der gleichgeschlechtlichen Sexualbeziehungen außerhalb der heterosexuellen Häuslichkeit. Mit dem Kult der Häuslichkeit war die Lobpreisung der »wahren« bürgerlichen Frau als Mutter und die beharrliche Leugnung einer nichtproduktiven weiblichen Sexualität etabliert worden. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde dieses bürgerliche Modell weiblicher Asexualität immer stärker somatisiert. Hierzu trugen nicht zuletzt medizinische Autoritäten bei, die ihre kulturelle Autorität auf den Körper der Frauen ausdehnen wollten. Ärzte waren zwar über den Grad weiblicher Passivität uneinig, aber sie stimmten darin überein, ehrbaren Frauen allenfalls eine sekundäre, eine abgeleitete Sexualität zuzugestehen - eine Sexualität, die dem männlichen Vergnügen diente, die ohne eigene Autonomie war und lediglich eine blasse Imitation männlicher erotischer Begierde darstellte.
Weibliche Leidenschaftslosigkeit war das Gegenstück zur aktiven männlichen Sexualität und zu normverletzenden weiblichen Sexualpraktiken, die man als männlich oder »deklassiert« zu codieren pflegte. Im 19-Jahrhundert galten vier weibliche Praktiken - Prostitution, Abtreibung, Transvestismus und romantische Freundschaft - als abweichendes Verhalten, weil sie Aktivität und Wahlfreiheit implizierten. Alle diese Praktiken gab es schon vor dem 19.Jahrhundert; sie erhielten aber in der modernen städtischen Welt einen neuen Stellenwert, weil sie entweder mit einer neuen sozialen Schicht von Frauen verbunden waren oder weil sie als ein Sozial- und Identitätsproblem neues Gewicht und neue Bedeutung erlangten. Diese vier Praktiken wurden zu verschiedenen Zeitpunkten des 19. Jahrhunderts durch offizielle Definitionen codiert zu gesetzwidrigen Handlungen von sexuell abweichenden Frauen. Diese Sexualpraktiken beinhalteten jedoch sehr viel mehr als ordnungswidriges Verhalten: Sie hatten ebensoviel, wenn nicht sogar mehr zu tun mit Arbeit, Lebensstil, Reproduktionsstrategien, Mode, Selbstdarstellung, außerfamiliären Bindungen und nicht auf Zeugung zielender Sexualität von Frauen.
Die Geschichte gefährlich erachteter Sexualität im 19. Jahrhundert verdeutlicht den komplizierten Prozeß kulturellen Aushandelns und kultureller Diskussion, der zur Herausbildung der viktorianischen Sexualität gehörte. Debatten und kulturelle Verständigungen über die gefährliche Sexualität gingen quer durch alle sozialen Schichten und urbanen Räume: Sie fanden statt im Bordell und auf der Straße, im Variete und in der Klinik, in den finsteren Seitengäßchen der Slums und in den komfortablen Salons des Bürgertums. Zur Deutung sexueller Erfahrungen wurde von Männern und Frauen eine Vielzahl konkurrierender sozialer Sprachen benutzt, von der Sprache des Sexgewerbes und der Sensationspresse bis hin zur autoritativen Sprache des Gesetzes und der Medizin. In diesen Diskussionen waren Überschreitungen der Geschlechter- und der Sexualordnung ständig überlagert, und jede um diese Praktiken konstruierte sexuelle Identität war ihrem Wesen nach instabil und widersprüchlich.
Im 19. Jahrhundert erlangten Frauen des Bürgertums, dank der neudefinierten öffentlichen Sphäre mit ihren verfügbaren Massenmedien und politischen Netzen, auch die Möglichkeit, im öffentlichen Raum über sexuelle Probleme zu sprechen. Das war ein historischer Moment. Selbst innovative Frauen aber blieben in ihrer Vorstellung an ein begrenztes kulturelles Repertoire gebunden und gezwungen, kulturelle Bedeutungen innerhalb bestimmter Parameter umzugestalten. Sie konnten nicht einfach sexuelle Leidenschaft erleben und ganz natürlich Worte finden, um das Erlebte auszudrücken; sie konnten auch nicht einfach sexuelle Bedrohung erleben und ganz selbstverständlich die Worte finden, um sexuelle Bedrohung auszudrücken. Sie mußten für Aussagen über ihre »Wahrheit« kulturell verfügbare Konstrukte verwenden.
Prostitution
Das Ausmaß, die Sichtbarkeit und Formenvielfalt der Prostitution waren kennzeichnende Merkmale der Städte des 19. Jahrhunderts. Beobachter fanden den Anblick der »angemalten Kreaturen«, die in der Stadt in »greller Kleidung« und mit herausforderndem Blick Hauptverkehrs- und Nebenstraßen entlangschlenderten, abstoßend. In den Großstädten gab es Zehntausende von Prostituierten (offizielle Zahlen waren jedoch notorisch unzuverlässig). Die soziale Hierarchie der Prostituierten spiegelte die Klassenstruktur und soziale Verteilung urbaner Zentren wider. In New York reichte die Halbwelt von den eleganten Villen in der Fifth Avenue, wo reiche Männer sich ihre Geliebten hielten, bis zu den Zigarrenläden in der Canal Street, wo Arbeiter und Matrosen bedient wurden. In London umfaßte die Geographie des Lasters die Kurtisanen von St.John's Woods und die elegant gekleideten Straßenhuren, die sich unter ehrbare Damen mischten und das vornehme Einkaufsgebiet der Regent Street durchstreiften ebenso, wie die elenden Winkelhuren, die in den schlecht beleuchteten Gassen und Hinterhöfen der städtischen Slums mit »unzüchtigen Handlungen« das Geld für ihre nächtliche Unterkunft verdienten. In den Vereinigten Staaten strukturierte außerdem die Rassentrennung den Prostitutionsmarkt: In New Orleans standen Bordelle für Weiße und solche für Schwarze Seite an Seite; in den vielgeschossigen »Puffs« von San Francisco belegten europäische und amerikanische Frauen die oberen Stockwerke, während Mexikanerinnen, Japanerinnen und Chinesinnen auf die unteren Stockwerke verwiesen waren. In solchen urbanen Zentren wandelte sich die Geographie der Prostitution zudem ständig mit den Veränderungen in der physischen und sozialen Umwelt. In Berlin, Paris und London gingen arme Straßenhuren häufig ihrem Gewerbe in traditionellen Zentren der Prostitution, gewöhnlich in den alten engen Straßen der belebten Quartiere nach, aber auch neue Vergnügenszentren oder Bahnhöfe übten eine starke Anziehung auf »leichte Mädchen« aus.
Im Gegensatz zur männlichen konnte die weibliche Prostitution ein äußerst sichtbares und kapitalisiertes Geschäft mit ausgedehnter Infrastruktur und Arbeitsorganisation sein. Dieses gilt insbesondere für die am stärksten organisierten Prostituierten, die in Bordellen arbeiteten und dort häufig auch Lohn, Kleidung, Unterkunft und Verpflegung erhielten. Prostitution konnte aber auch eine Form selbständiger Arbeit sein, was vor allem für die große Zahl von Frauen zutrifft, die auf dem Straßenstrich arbeiteten und Tavernen und Theater frequentierten. Im Laufe des 19- Jahrhunderts dehnte sich das Sexgewerbe auf Massagesalons, Bäder, Tanzhallen, tableaux vivants, cafes chantants und Varietes aus. Um sich mit den örtlichen Lasterhöhlen vertraut zu machen, konnten männliche Besucher einer Stadt ein Taschenbuch, einen sogenannten »Herrenführer«, kaufen, der über Preis, Ort und gebotene Dienste verschiedener Etablissements informierte.
Ob Prostituierte ihrem Gewerbe an einem festen Ort oder auf der Straße nachgingen, ob sie stark organisiert, gelegentlich oder selbständig arbeiteten, sie waren die »ungelernten Töchter der ungelernten Klassen«.[2] Ihr Leben glich dem Leben der großen Masse der Arbeiterinnen, die fern von ihren Familien lebten und sich mühsam auf dem städtischen Arbeitsmarkt durchschlagen mußten. Die in diversen Orten durchgeführten Sozialerhebungen über Prostitution kennzeichneten diese Frauen durchgehend als kürzlich vom Land in die Stadt gekommene Migrantinnen oder als Töchter städtischer Handwerker, deren Gewerbe sich im Niedergang befand. Die Frauen hatten vorher in Berufen mit Niedrigstlöhnen gearbeitet, z. B. als Mädchen für alles, als Wäscherinnen, Näherinnen oder Fabrikarbeiterinnen. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entwickelte sich ein geringfügig anderes Rekrutierungsmuster: Prostituierte kamen nun aus den Reihen der Verkäuferinnen, Kellnerinnen und Bardamen, also aus den neuen, aber ebenso untergeordneten und unqualifizierten weiblichen Berufen des tertiären Sektors. Das neue Rekrutierungsmuster reflektierte auch die Verlagerung der Prostitution von der Straße hin zu neuen Orten des Sexgewerbes. Der diffuse und nicht institutionalisierte Charakter des Straßenstrichs erlaubte es einer beträchtlichen Zahl von Arbeiterinnen, ihre geringen Löhne durch den Verkauf ihrer sexuellen Dienste auf der Straße aufzubessern. Selbst für Frauen, die ihren Lebensunterhalt hauptsächlich durch Prostitution verdienten, blieb das Leben als »Freudenmädchen« nur eine vorübergehende Flucht aus schwierigsten Umständen«[3] junge Frauen gaben das Gewerbe auf, wenn sie Ende Zwanzig waren.
Solange sie der Prostitution nachgingen, nahmen Frauen an einem kollektiven Leben eigener Art teil. Mit dem Eintritt in ein Bordell erhielt eine Frau oft einen neuen Namen, sie erlernte neue Rituale und einen umfangreichen, in diesem Gewerbe üblichen Jargon. Trotz der ökonomischen Ausbeutung der Bordellbewohnerinnen, trotz der eingeschränkten Freiheit und der Spannungen, die sowohl unter den Prostituierten selbst als auch zwischen ihnen und der Puffmutter entstanden, fungierte das Bordell häufig als eine Ersatzfamilie, als ein System der Unterstützung für Frauen. Beobachter aus dem Mittelstand verdammten das Bordelleben als öde, als einengend und, wie wir noch zeigen werden, als pervers. Es ist aber keineswegs sicher, daß Arbeiterinnen diese Kritik teilten (sie hatten andere Klagen). Das Leben im Bordell ließ freie Zeit und erlaubte Freizeitbeschäftigungen wie Klavierspiel, Unterhaltung, Gesang oder die Lektüre leichter Liebesromane - Beschäftigungen, die für Frauen aus der Arbeiterklasse, die ihren Lebensunterhalt sonst als Näherinnen oder Hausangestellte hätten verdienen müssen, ein wirkliches Vergnügen gewesen sein konnten.
Auch Prostituierte, die auf dem Straßenstrich arbeiteten und in eigenen möblierten Zimmern wohnten, gehörten zu einer Subkultur, die sich dem Kodex weiblicher Respektabilität widersetzte und zugleich von der Unsicherheit und den Gefahren dieses »Lebens« bestimmt war. Bürgerliche Kommentatoren klagten immer wieder über das aggressive Verhalten und Aussehen der »bemalten und aufgetakelten Frauen, die die Straßen - in schmutzigen weißen Musselin und schmierige, billige blaue Seide gehüllt - entlangstolzierten«.[4] Diese Frauen stellten sich den Vorübergehenden ohne Hut und Schal und mit »anzüglichen Blicken« zur Schau. Der Kleidungscode der Prostituierten war eine Form der Reklame, um männliche Kunden anzulocken. Manchmal gingen Prostituierte bei der Zurschaustellung ihrer Ware noch weiter: Sie entblößten ihre Knöchel, Beine und Busen oder lutschten demonstrativ am Daumen, um die Art der von ihnen gebotenen Dienste anzudeuten.
Oft waren die Kunden von den gebotenen Diensten enttäuscht. In den 50-Cent-»Puffs« in San Francisco saßen die Männer auf Holzbänken und warteten auf eine Begegnung, die schließlich so kurz war, daß sie kaum Zeit genug hatten, ihre Hosen herunterzulassen. Selbst in teureren Häusern waren ein schneller Orgasmus, emotionale Beziehungslosigkeit und Mangel an Gegenseitigkeit üblich. Ein junger Mann, der zur sexuellen Initiation von seinem Vater in eine luxuriöse Villa in New Orleans gebracht worden war, beschrieb später sein Erlebnis als »mechanisches Verfahren, das (...) etwa eine Minute dauerte«.[5] Die Kunden mögen daher sehr wohl den von großen Bordellen im ausgehenden 19. Jahrhundert gebotenen voyeuristischen Unterhaltungen wie tableaux vivants, Striptease-Vorführungen und lesbischen Darbietungen den Vorzug gegeben haben.
Die Freier fühlten sich besonders dann betrogen, wenn sie sich beim kommerziellen Sex eine Geschlechtskrankheit holten oder wenn Prostituierte ihr Sexgewerbe mit dem lukrativeren Diebstahl verbanden. Dirnen arbeiteten auf dem Straßenstrich routinemäßig zu zweit, zum einen um sich vor brutalen Kunden zu schützen, zum anderen um betrunkene Freier überwältigen und bestehlen zu können. Die Polizeispalten der Lokalzeitungen waren voll mit Berichten über Schlägereien zwischen Betrunkenen und Prostituierten, die ihre Kunden bestohlen hatten. Gewalttätiges und räuberisches Verhalten war aber nicht allein für die Welt der Prostituierten und der Freier charakteristisch. In Arbeitervierteln mit ihren rauhen Sitten war körperliche Gewalt ein durchaus üblicher Bestandteil heterosexueller Beziehungen. Sozialforscher, die versuchten, das Wesen der Geschlechterbeziehungen bei den ungelernten Armen in London und Paris zu erfassen, sahen sich oft einer, wie die Historikerin Ellen Ross es formuliert hat, »unverständlichen Welt« gegenüber, »in der die Frauen weder damenhaft noch ehrerbietig waren, in der die Männer darum kämpften, die Macht über die Frauen zu behalten, und in der der -Geschlechterantagonismus- offen zugegeben wurde«.[6]
In mehrfacher Hinsicht unterschieden sich Prostituierte jedoch vom Arbeitermilieu, in dem sie lebten. Häufig war ihr Lebensstandard höher. Trotz der Unsicherheit ihres Einkommens und der Gefahren und professionellen Risiken ihres Gewerbes waren Prostituierte gewöhnlich besser als andere Frauen ihres Viertels gekleidet, und sie verfügten wie ihre männlichen Nachbarn über eigenes Geld. Zweitens fielen Prostituierte, sofern sie in möblierten Zimmern oder im Bordell wohnten, schließlich auch dadurch auf, daß sie von der Familie - der sozialen und wirtschaftlichen Basisorganisation der Arbeiterquartiere - abgeschnitten waren.
Gleichwohl genossen Prostituierte ein gewisses Maß an sozialer Integration in ein Milieu von Menschen, die ihrerseits von Gelegenheitsarbeit lebten, die harte Zeiten gewöhnt und immer gezwungen waren, mit drückender Not fertigzuwerden. In seiner 1836 erschienenen Untersuchung über Pariser Prostituierte führte Parent-Duchätelet den Nachweis, daß die Arbeiterklasse den Prostituierten mit Komplizenschaft und Toleranz begegnete: Ungefähr die Hälfte aller verheirateten Prostituierten hatten einen Mann gewählt, mit dem sie in derselben Straße, oft sogar im selben Mietshaus wohnten, und etwa die Hälfte derjenigen »leichten Mädchen«, die von Eltern aus der Prostitution herausgeholt worden waren, lebten in der elterlichen Wohnung.[7] Einige Institutionen des Arbeitermilieus, vor allem die Kneipe und das Variete, begünstigten die soziale Integration. Beobachter aus dem Mittelstand waren schockiert, hier »Laster und Tugend Arm in Arm« zu finden.[8] Die in den Kneipen herrschende Kameradschaft zeigte sich beim Begräbnis eines der Opfer der Jack the Ripper-Morde im Jahre 1888. Freunde, die »in denselben Lokalen wie die ermordete Frau verkehrten«,[9] hatten den Sarg von Marie Jean Kelly mit Kränzen bedeckt.
Außerhalb der Kneipe reagierten keineswegs alle achtbaren Frauen so freundlich. Die Toleranz gegenüber Prostituierten war von Arbeiterviertel zu Arbeiterviertel unterschiedlich. Sie hing ab von der ethnischen und rassischen Zusammensetzung, vom Grad der Ehrbarkeit und der Wohlhabenheit seiner Bewohner; sie richtete sich aber auch danach, wie stark der Druck auf die Armen war, sich strengeren Regeln sexueller Ehrbarkeit zu unterwerfen. Diese Intervention von außen beeinflußte sowohl die Struktur des Prostitutions-Marktes als auch den Charakter der sozialen Beziehungen zwischen den Frauen und der armen Arbeiterbevölkerung eines Viertels.
Die so deutlich sichtbaren ordnungswidrigen Aktivitäten von Prostituierten forderten in der Mitte des 19. Jahrhunderts die bürgerlichen Reformer auf das äußerste heraus. Nach den Revolutionen und den verheerenden Choleraepidemien in den 1830er und 1840er Jahren waren Gesundheitsreformer und Moralstatistiker von der Idee besessen, Unmoral, Verschmutzung der Städte, Ansteckung und soziale Unordnung gehe vom »großen Ungewaschenen« aus. Für sie war die Prostitution - sowohl buchstäblich als auch im übertragenen Sinne - der die ehrbare Gesellschaft bedrohende Infektionskanal: ein »Infektionsherd«, eine Pest, ein Geschwür. Wie an den Slums, denen sie entstammte, so glaubte man, hafte auch an ihr der »schwere Geruch der Massen« mit seinen »beunruhigenden Erinnerungen an das Intimleben«, schreibt Alain Corbin. Sie rief die sinnliche Erinnerung an all die »ergebenen weiblichen Körper« hervor, die in den vornehmen Vierteln den physischen Bedürfnissen der Männer der oberen Gesellschaft dienten: die Amme, das alte Hausmädchen, die »Unterschichtfrau für die körperlichen Bedürfnisse im Herzen des bürgerlichen Haushalts« - sie, die auf »Wink und Befehl dem Bürger-Leib zu Diensten ist.«[10]
Die offizielle Beschäftigung mit Prostitution als gefährlicher Form des Geschlechtsverkehrs, deren Grenzen vom Staat zu kontrollieren und zu definieren waren, führte Ende der 1860er Jahre in fast allen Ländern Europas zu einem ganzen Bündel von Reglementierungen. In Anlehnung an das napoleonische Modell wurden Prostituierte nun gezwungen, sich bei der »Sittenpolizei« registrieren und vom Arzt auf Geschlechtskrankheiten hin untersuchen zu lassen. Zum Teil wurde darüber hinaus von Prostituierten die Unterbringung in registrierten Bordellen verlangt. Außer in Großbritannien und Belgien erfolgte die polizeiliche Reglementierung der Prostitution weniger durch gesetzliche Verfügungen als vielmehr durch Verwaltungsmaßnahmen.
Befürworter der Reglementierung priesen polizeiliche Kontrolle und medizinische Untersuchung der Prostituierten als Mittel zum Schutz der öffentlichen Gesundheit, des öffentlichen Anstands und der öffentlichen Ordnung. Sie erachteten Prostitution als ein »notwendiges Übel« und hielten damit an der Doppelmoral fest, die für Männer den sexuellen Zugang zu einer Klasse gefallener Frauen rechtfertigte. Sie glaubten an die physiologische Notwendigkeit der männlichen Begierde, waren aber nicht bereit, den Frauen das Gleiche zuzugestehen. Einerseits beschuldigten Anhänger der Reglementierung Prostituierte der sexuellen Schamlosigkeit: sie seien »vermännlicht«, und sie trügen »männliche« Lust zur Schau; andererseits beharrten sie darauf, daß sexuelle Begierde bei Prostituierten keine Rolle spiele. Einem britischen Parlamentsbericht von 1871 zufolge konnte man »Prostituierte nicht mit den Männern, die mit ihnen verkehren, vergleichen. Das eine Geschlecht begeht den Verstoß aus Gewinnsucht; bei dem anderen handelt es sich um die irreguläre Maßlosigkeit eines natürlichen Triebes«.[11]
Die Verteidiger der Reglementierung behaupteten, die gesundheitliche Überprüfung der Prostituierten würde der Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten Einhalt gebieten. Als Begründung führten sie an, die Syphilis, die in bestimmten Bevölkerungsgruppen endemisch auftrat, werde durch den wahllosen Geschlechtskontakt mit erkrankten Prostituierten verbreitet, und dank neuer diagnostischer und therapeutischer Verfahren könne man erkrankte Prostituierte wirksam behandeln. Kritiker wiesen darauf hin, daß die 'Ansteckung« Männer und Frauen gleichermaßen betreffe und daß die Untersuchung und Behandlung nur eines Geschlechts genauso sinnlos sei, als würde man nur ein Geschlecht impfen. Ihnen entgegneten die Befürworter der Reglementierung, daß allein Frauen »Ansteckung hervorriefen«, die »ein Gewerbe ausübten« und »die Krankheit so gut verbergen könnten.[12] Das gesamte Verfahren der Zwangsuntersuchung für Prostituierte war von Klassenund Geschlechtsvorurteilen geprägt. Ärzte waren überrascht von der feindseligen Ablehnung, mit der registrierte Frauen auf die SpekulumUntersuchung reagierten, die den Spiegel des Arztes als »Penis der Regierung« bezeichneten.[13] Prostituierte deuteten die Spekulumuntersuchung ganz offensichtlich als einen voyeuristischen und demütigenden Akt, der einer leidenden Frau psychischen und physischen Schmerz zufügte.
Ein Sittenpolizeisystem trage, so argumentierten die Befürworter der Reglementierung, auch insofern zum öffentlichen Anstand bei, als dies es ermögliche, der öffentlichen Zurschaustellung des Lasters zu begegnen. In der zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die sittenpolizeiliche Überprüfung zu einer der Hauptaufgaben der Polizei. Diese geriet zunehmend unter Druck, öffentliche Durchgangsstraßen und Theater von Straßenprostitutierten zu säubern, um für anständige Frauen Platz zu machen. In Paris durften Prostituierte erst nach Anzünden der Straßenlaternen in der Öffentlichkeit auf sich aufmerksam machen. Sie mußten außerdem anständig gekleidet sein. In Hamburg schrieb das Gesetz nicht nur die Kleidung für Frauen mit zweifelhaftem Ruf bis in alle Einzelheiten vor, sondern auch die Bezirke, in denen sie ihrem Gewerbe nachgehen durften. Überall wurde das Ziel verfolgt, die Zahl der heimlichen Straßenhuren zu beschränken - dieser nicht registrierten Frauen, die mit »grellen Farben«, »provozierendem Verhalten« und anzüglichen Blicken die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf sich zu lenken suchten.[14]
Wesentlich für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung war auch die Entfernung der Prostituierten aus den Arbeitervierteln. Zu diesem Zwecke verlangten Befürworter der Reglementierung enthusiastisch nach staatlichen Eingriffen in das Leben der Armen. In Danzig behauptete die Polizei, Bordelle, die nicht überwacht würden, seien Brutstätten für Kriminalität und soziale Unruhen. Zögen Prostituierte von registrierten Bordellen in Privatzimmer um, habe das, so warnte die Polizei, eine allgemeine Demoralisierung armer Familien zur Folge. Sie würden zur Kuppelei oder zu anderen, mit dem Sexgewerbe verbundenen Tätigkeiten geradezu ermutigt. Mit Hilfe von öffentlichen Stigmatisierungsverfahren - wie Hausbesuche der Polizei; Benachrichtigung von Arbeitgebern und Familienmitgliedern, daß eine Frau sich »herumtrieb«; Auflagen, daß Prostituierte ein städtisches Gesundheitsamt zur Untersuchung aufzusuchen hatten - versuchten die für die Reglementierung Verantwortlichen, die Beziehung zwischen denjenigen Armen, die anständige Leute waren, und denen, die es nicht waren, zu klären und vor allem Prostituierte zu zwingen, den besonderen Status als öffentliche Dirnen zu akzeptieren, indem man ihre privaten Verbindungen zur armen Bevölkerung der Arbeiterviertel zerstörte.
Die Reglementierung stieß jedoch auf Widerstand - und das nicht nur bei ihren Opfern. Zuerst kam 1869 in Großbritannien politische Opposition auf, als eine aus bürgerlichen Sittenreformern, Feministinnen und radikalen Arbeitern bestehende Koalition die Aufhebung der Contagious Diseases Acts forderte, die in Südengland die Grundlage lieferten für die systematische polizeiliche und ärztliche Untersuchung von Prostituierten in Garnisons- und Hafenstädten. Unter der charismatischen Führung von Josephine Butler brachte die Aufhebungskampagne erstmals Tausende von Frauen auf die politische Bühne, indem sie dazu ermutigte, den männlichen Zentren der Macht - der Polizei, dem Parlament, den medizinischen und militärischen Einrichtungen, die alle mit der Anwendung der Gesetze betraut waren - die Stirn zu bieten. Die rege Beteiligung von Frauen aus dem Mittelstand an dieser Aufhebungskampagne schockierte viele zeitgenössische Beobachter. Sie sahen mit Schrecken, wie überall im Land Damen öffentliche Tribünen erklommen, um die umstrittenen Gesetze, die die »weiblichen Freiheiten« der »Sklaverei männlicher Lust« opferten, zu brandmarken und die gynäkologische Untersuchung bis in alle Einzelheiten als »Vergewaltigung durch Instrumente« zu beschreiben.[15]
Auf der Höhe der viktorianischen Zeit verurteilten Feministinnen die Reglementierung als körperlichen Eingriff und als Mißachtung der konstitutionellen Rechte von Arbeiterfrauen. Sie interpretierten die Prostitution als sexuelle Sklaverei und zugleich als das Ergebnis künstlicher Beschränkungen der sozialen und wirtschaftlichen Aktivitäten von Frauen: Zu geringe Löhne und eingeschränkte Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen in der Industrie seien es, die manche Frauen auf die Straße und in das »bestbezahlte Gewerbe« - die Prostitution - trieben. In bestimmten Momenten zeigten diese Feministinnen ein subtiles Verständnis für das Verhältnis zwischen der Prostitution und den Sitten armer Arbeiter. »Bei den Armen«, erklärte Josephine Butler, hätten sich »die Grenzen zwischen Tugend und Laster allmählich und unmerklich verwischt«, so daß es unmöglich geworden sei, »Prostituierte als solche zu bezeichnen oder sie unzweideutig einer Kategorie der Ausgegrenzten zuzuordnen«.[16] Das Reglementierungssystem und nicht die Prostitution als solche, so argumentierten die Feministinnen, verdamme registrierte Frauen dauerhaft zu einem sündigen Leben, da es sie stigmatisiere und daran hindere, eine alternative, ehrbare Beschäftigung zu finden.
Darüber hinaus verurteilten Feministinnen das Reglementierungssystem, weil es das männliche »Laster« billigte und hygienisch machte. Sie verlangten statt dessen eine einheitliche, auf das Ideal weiblicher Keuschheit gegründete Sexualmoral. Sie übten nicht nur Kritik an der aggressiven Sexualität der Männer, sondern äußerten auch starke Ambivalenz und Abneigung gegenüber Prostituierten, vor allem denen, die nicht reformiert werden wollten und ihre Sexualität als Ware handhabten. Sie sei »in viele Städte gereist«, behauptete Butler, »und nirgends einer unglücklichen Frau begegnet, ... die nicht ein wenig Anstand bewahrt« habe. Wenn sie aber in Städte gekommen sei, in denen das System der Reglementierung herrschte, sei sie auf reuelose Prostituierte gestoßen, die ihr »nicht offen begegneten. Sie sahen kalt und hart aus« und sagten ihr »gefühllos, sie seien registriert, täten nichts Schlimmes oder Böses, denn sie ließen sich regelmäßig untersuchen«.[17] Doch als antietatistische Anhängerin der Willensfreiheit trat Butler für Selbstbeherrschung und soziale Rettungsarbeit an Stelle von staatlicher Reglementierung oder Unterdrückung ein. Wenn Prostituierte sich dafür entschieden, ihren Körper auf der Straße zu verkaufen, dann hätten sie auch das Recht, dieses ohne Belästigung durch die Polizei zu tun.
Butlers Beispiel inspirierte Frauen in beinahe allen Ländern Europas, das Thema Prostitution aufzugreifen. In den Vereinigten Staaten verhinderte die Opposition amerikanischer Feministinnen die Einführung der Reglementierung. Einzig in St. Louis kam es 1874 zur Reglementierung; aber selbst dort wurde sie angesichts des massiven religiösen und feministischen Widerstands bald wieder aufgehoben. Viele Anhängerinnen Butlers teilten jedoch nicht deren libertinäre Ansichten. Innerhalb und außerhalb Großbritanniens kam sehr bald Kritik an Butlers Führerschaft und an ihrer Politik auf. In Deutschland zum Beispiel verurteilten viele der in »Sittlichkeitsvereinen« zusammengeschlossenen Frauen Prostitution als Verbrechen und beschuldigten die Regierung wegen des Sittenpolizeisystems der Mittäterschaft an diesem Verbrechen; aber auch hier gab es unter den Abolitionistinnen viele Frauen, die eine liberalere Haltung einnahmen und ihre ganze Energie auf die Aufhebung der staatlichen Reglementierung konzentrierten.
Im Namen von öffentlicher Sittlichkeit und eines für beide Geschlechter propagierten sexuellen Keuschheitsgebots halfen viele britische Abolitionistinnen, einen massiven Angriff auf außereheliche, nicht der Zeugung dienende Formen der Sexualität in Gang zu bringen. Nachdem das Reglementierungssystem 1883 aufgehoben worden war, wandten Butler und ihre Anhängerinnen ihre Aufmerksamkeit dem internationalen Frauenhandel und der in London aufkommenden Kinderprostitution zu. Sie überredeten den Journalisten W. T. Stead, einen Sensationsartikel über Kinderprostitution, »Maiden Tribute of Modern Babylon«, zu schreiben, der 1885 in der Fall Mall Gazette erschien. Dieser Artikel hatte eine elektrisierende Wirkung auf die öffentliche Meinung und zwang das britische Parlament im selben Jahr zur Verabschiedung des Criminal Law Amendment Act. Das Gesetz hob das Alter der Ehemündigkeit für Mädchen auf 16 Jahre an und gab der Polizei mehr Macht zur Unterdrückung von Bordellbetreibern und Straßenhuren. Ein Zusatzartikel zu dem Gesetz erklärte auf Einverständnis basierende unzüchtige Handlungen zwischen erwachsenen Männern für illegal. Überall in Großbritannien entstanden Vereinigungen zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit, die die Einhaltung dieses Gesetzes vor Ort überwachten. Schon bald dehnten diese Gruppen ihre Aufmerksamkeit auf obszöne Bücher, Literatur zur Geburtenkontrolle und Werbung für Abtreibungsmittel, Varieteunterhaltung und nackte Plastiken aus. Für diese Kreuzritter war die von ihnen weit gefaßte pornographische Kultur der schmutzige Ausdruck »undifferenzierter männlicher Lust«,[18] die letztlich zu Homosexualität und Prostitution führe.
Auf die Organisation der Prostitution hatte diese Mobilisierung einen komplexen Einfluß. Die gesetzliche Unterdrückung veränderte die soziale Geographie des Lasters - vor allem in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, wo die Sittlichkeitsvereine die Polizei zum scharfen Vorgehen gegen Straßenstrich und Bordelle gezwungen hatten. Die polizeiliche Repression hatte zur Folge, daß Prostituierte ihre Wohnviertel verlassen und Unterkünfte in anderen Bezirken der Stadt finden mußten. Von den früheren stützenden Beziehungen abgeschnitten, waren sie gezwungen, emotionale Sicherheit und Schutz vor gesetzlichen Autoritäten in stärkerem Maße als bisher bei Zuhältern zu suchen. In dieser und in anderer Hinsicht trieb die verstärkte polizeiliche Repression einen Keil zwischen Prostituierte und Arbeiterschaft. Das hatte wiederum zur Folge, daß sich die Prostitution zerstreute, daß sie heimlicher betrieben und stärker im kriminellen Untergrund verankert wurde. In den Vereinigten Staaten verstärkte die Unterdrückung der Prostitution auch rassistische Vorurteile. Die Schließung der Rotlichtbezirke fiel zeitlich mit der massenweisen Abwanderung der Schwarzen aus den Südstaaten in die Städte des Nordens zusammen. In dem Maße, wie die weiße Prostitution größtenteils aus dem Stadtbild verschwand, konnten schwarze Frauen, die auf dem Straßenstrich arbeiteten, nur um so leichter aufgegriffen und inhaftiert werden.
In Europa ging die Zahl der registrierten Bordelle auch ohne Veränderungen der Polizeirichtlinien allmählich zurück, während der Anteil der »heimlichen« Prostituierten, die durch die Maschen des Polizeinetzes schlüpften, zu wachsen schien. Das gesamte Bordellsystem fiel den veränderten Ansprüchen seiner Benutzer zum Opfer: »Die Öffentlichkeit hat die Lust an offiziell anerkannten Bordellen verloren«, erklärte ein französischer Beobachter, »das Gewerbe verlangt eher nach Häusern, in denen mehr Diskretion gewahrt wird und wo man, mit ein wenig Phantasie, eine Atmosphäre des Abenteuers empfinden kann.«[19] Dem fügte ein Gegner der Reglementierung, Abraham Flexner, hinzu: »Auch die Frauen brennen darauf, ihre eigene Freiheit zu genießen. Sie bevorzugen die sorglose Unabhängigkeit der Straßen, der Cafes und der Theater.«[20] In London und Paris wurde »jede nur denkbare List« angewandt, um »heimlich« der Prostitution nachgehen zu können: in Zeitungen wurden Zimmer angeboten; Fremdsprachenunterricht, Maßschneiderei und Massagen »als Köder für Neugierige ausgelegt«.[21] Gegner der Reglementierung waren der Meinung, daß die verbliebenen großen Bordelle nur überleben konnten, wenn sie »exotische« sexuelle Dienste und außerordentlichen Luxus boten.
Für Frauen wie für Männer besetzte die Prostituierte in der imaginären städtischen Landschaft einen zutiefst symbolischen und zweideutigen Ort. Frauen aus dem Mittelstand konstruierten ihre eigene Identität mit Hilfe der Figur des »gefallenen Mädchens«, einer Phantasiefigur, die sie zur Erforschung ihrer eigenen Subjektivität immer wieder neu formten und manipulierten. Die meisten Frauen akzeptierten die Prostituierte als die in Schande geratene »Andere«, die verderbte Alternative zur häuslichen und mütterlichen Weiblichkeit. Als die zwanzigjährige Margret Boveri ihre Mutter nach der Bedeutung des Wortes Prostitution fragte, erhielt sie zur Antwort, die Prostituierten seien verworfene Mädchen, käufliche, die es um Geld taten - denen es sogar Freude mache.[22] Selbst Reformerinnen, die Verständnis für die traurige Lage der Prostituierten als wirtschaftlich unterdrückte Frauen hatten, verabscheuten deren »Sünde« und hielten am Gegensatz der guten und schlechten Frauen, der Madonnen und Magdalenen fest. Josephine Butler versuchte, diese Trennung zu überwinden, indem sie Prostituierte in magdalenische Mütter und unschuldige weibliche Opfer des männlichen Lasters verwandelte. Bei ihrer Propaganda gegen die Reglementierung bediente sie sich, wenn sie die Geschichte der registrierten Prostituierten erzählte, der literarischen Tradition des weiblichen Melodrams, sie ließ ihre gefallenen Magdalenen zu Wort kommen und die Männer wegen ihrer Lasterhaftigkeit »verfluchen«.
Butlers Identifizierung mit den »leidenden Frauen« war voller Widersprüche und Schwierigkeiten. Während die Reformerinnen für die Sache der gefallenen Frauen und »gefährdeten Mädchen« fochten, stellten sie gleichzeitig eine hierarchische und bevormundende Beziehung zu den »Töchtern« her, die zu schützen sie sich vorgenommen hatten. Ihre melodramatische Rede von der Erniedrigung der Frauen sprach den Prostituierten jegliche Willensfreiheit und komplexe Subjektivität ab: Prostituierte waren für sie nur unschuldige Opfer, heimtückisch zu lasterhaftem Leben verführt, in ihrer eigenen Geschichte also Handelnde wider Willen, ohne sexuelle Leidenschaft, noch nicht ganz unempfindlich für Scham und mit sorgsam gehegten Überresten von weiblicher »Sittsamkeit«.
Die feministische Politik mag einen zweifelhaften Einfluß auf die Prostitution ausgeübt haben; sicher ist jedoch, daß sie den Frauen aus dem Mittelstand Zugang zum öffentlichen Raum und eine neue »Freiheit« verschaffte, öffentlich über sexuelle Fragen zu sprechen. Die feministischen Kampagnen brachten die »dunklen Schatten«, »Schreckgespenster« und »Verfolgungsängste« ans Licht, die den Blick der Frauen auf heterosexuelle Beziehungen trübten. Der Artikel »Maiden Tribute«, erklärte eine Londoner Feministin, habe »neue Möglichkeiten« eröffnet.[23] Steads Enthüllungen, sagte eine andere Frau, hätten »für Frauen eine Mauer zum Einsturz gebracht (...) Danach brauchte keine Frau mehr unwissend zu sein.«[24] Aus »Angst« zum »Sprechen« getrieben,[25] überschritten einige progressive »neue« Frauen - insbesondere die Schriftstellerin Olive Schreiner - am Ende des Jahrhunderts schließlich auch die Grenzen der weiblichen Keuschheit und Leidenschaftslosigkeit, um sich öffentlich Gedanken über die heterosexuelle Lust beider Geschlechter zu machen. So bahnbrechend diese Gedanken auch waren, sie blieben weiterhin getrübt vom Gefühl sexueller Verwundbarkeit und von Vorbehalten gegenüber Männern. Die Prostituierte blieb für diese progressiven ebenso wie für die eher konventionellen Frauen ein beunruhigendes und bedrohliches Symbol, ein Beispiel für die sexuelle Unfreiheit von Frauen, weil deren Sexualität mit wirtschaftlichen Bedürfnissen verbunden war.
Auch für Arbeiterfrauen war die Prostituierte eine zentrale Figur in der Vielzahl städtischer Begegnungen und Phantasien. Eine arme Frau lief in der Öffentlichkeit ständig Gefahr, für eine Prostituierte gehalten zu werden; sie war stets gezwungen, mit Kleidung, Gesten und Bewegungen zu demonstrieren, daß sie keine »ordinäre« Frau war. Genau wie ihr Pedant aus dem Bürgertum brachten auch Frauen aus der Arbeiterklasse ihre Ehrbarkeit durch ihre öffentliche Selbstdarstellung und ihre private Identität als Ehefrau und Mutter zum Ausdruck. In Großbritannien und den Vereinigten Staaten petitionierten sie als »hart arbeitende Ehefrauen«, »besorgte Mütter« und »arme Witwen« mit Gesuchen bei den Stadtregierungen, um die Schließung der »schlechten« Häuser, in denen sich ihre Ehemänner und Söhne Geschlechtskrankheiten holten und das bitter benötigte Haushaltsgeld ausgaben oder in denen ihre Töchter, »Mädchen, die zur Sonntagsschule gehen«, ihre »Ehre« verloren.[26] Lokale Matriarchinnen waren vor allem darüber besorgt, daß ihre Kinder sich vom relativen Reichtum der Prostituierten beeindrucken ließen und neidvolle Vergleiche anstellten.
Ehrbare Arbeiterinnen sahen in Prostituierten jedoch auch »Rebellinnen«, die zwar jenseits der Grenzen des Erlaubten handelten, aber mächtig und gefährlich waren. Es waren Frauen, die für das, was sie »taten«, bezahlt wurden, äußerte die Frau eines Dockarbeiters, im Gegensatz zu einer verheirateten Frau wie sie selbst, die sexuelle Dienste »für nichts« leisten mußte. »Sie wird nicht dafür bezahlt.«[27] Auch für Nachbarinnen waren Prostituierte faszinierende Personen: »wild« und unabhängig, die man in Ruhe lassen mußte, gelegentlich auch »die schönste Frau im East End«, die »einer jeden Frau den Mann ausspannen könnte«.[28]
Prostituierte sprachen auch selbst über ihre Situation. Sie lebten keineswegs jenseits der sie betreffenden Kontroversen, Während der Aufhebungskampagnen bedienten sich registrierte Prostituierte in Großbritannien der Sprache des Rechts, um ihre körperliche Integrität gegen die medizinische und politische Überwachung zu verteidigen. Feministische Gegnerinnen der Reglementierung hatten durch ihre Agitation eine politische Bühne geschaffen, die es Prostituierten ermöglichte, Widerstand gegen die zudringlichen Reglementierungsgesetze zu leisten - oder mit den Worten einer registrierten Frau - »den Autoritäten zu zeigen, daß wir einen gewissen Respekt vor unserer eigenen Person haben«.[29]
Wenn Prostituierte vor einem Richter oder vor einem Vertreter wohltätiger Einrichtungen für sich selbst sprachen, bedienten sie sich beim Erzählen ihrer »Geschichte einer Hure« oft derselben melodramatischen Konventionen - Verführung der weiblichen Unschuld durch böse Lebemänner aus der Oberschicht - wie Mittelschichtsfrauen zur Erklärung des Phänomens der Prostitution. Diese rhetorische Strategie lieferten ihnen die populäre Literatur und das populäre Theater: die Liebesgeschichten der Unterhaltungsliteratur, die »minderwertige, seichte, billige Schundliteratur«,[30] welche bürgerliche Beobachter als ersten Schritt vieler Mädchen ins »Verderben« verdammten. Andererseits gaben diese ihrem Leben mit Hilfe der Sprache des sexuellen Tausches auch Sinn. »Ich ging in diesen Sport, um Geld zu verdienen, nichts weiter«, erklärte eine Puffmutter aus Denver. »Damals war das für eine Frau eine Möglichkeit, Geld zu machen, und ich habe Geld damit gemacht.«[31] Zwei Mädchen, die tagsüber in der Konfitürenfabrik Crosse and Backwell arbeiteten und nachts auf den Straßenstrich gingen, waren vom Sexgewerbe weniger begeistert: Sie erzählten W. T. Stead, daß ihnen »die Arbeit in der Fabrik lieber als der Straßenstrich sei. Doch sei der Unterschied in der Bezahlung sehr groß. Die Zeiten seien schlecht, und Arme dürften nicht wählerisch sein.«[32]
Abtreibung
Trotz ihrer Illegalität wurde Abtreibung während des ganzen 19. Jahrhunderts genau wie Prostitution offen praktiziert; sie war überall in den städtischen Zentren ein »florierendes Geschäft«. Ganz ähnlich wie die Prostitution führte auch die Abtreibung bei der Ärzteschaft zu Protestgeschrei. Das Interesse der Ärzte war, politisch darauf Einfluß zu nehmen, daß Frauen weniger leicht an eine Abtreibung herankämen und daß die Durchführung therapeutischer Abtreibungen in das Ermessen von Ärzten gestellt würde. Und ebenso wie bei der Prostitution waren auch die Definitionen von Abtreibung zahlreich und strittig. Doch das Bild, das man sich von der Frau machte, die abtrieb und damit gesetzeswidrig handelte, war nicht das einer unverheirateten proletarischen, sondern das einer verheirateten Frau aus den oberen Schichten, die sich dem Müßiggang hingab und entschlossen war, sich ihrer Berufung als Mutter zu •widersetzen. Dieses Bild von der privilegierten Dame, die abtrieb, verschob auch den sozialen Schauplatz, an dem die Übertretung vorgeblich stattfand. Öffentliche Diskussionen über Abtreibung kreisten oft ebenso sehr um den Mittelstand und die für ihn typischen Ehe- und Familienverhältnisse wie um die berüchtigten finsteren Seitengäßchen, in denen Abtreibet- wie Prostituierte ihrem Gewerbe nachgingen.
Abtreibung war zu einer Zeit, als die Geburtenraten im Mittelstand sanken, die verfügbaren Verhütungsmittel aber unzuverlässig und oft unwirksam waren, ein Mittel der allgemeinen Strategie der Geburtenkontrolle. Sinkende Geburtenraten in Westeuropa und den Vereinigten Staaten beweisen, daß bürgerliche und proletarische Ehepaare sich um eine Begrenzung ihrer Kinderzahl bemühten. An der Spitze dieses Trends stand Frankreich mit seinem »frühzeitigen«, bereits im 18. Jahrhundert einsetzenden Rückgang der Geburtenziffern: Schon 1854 wurden hier mehr Todesfälle als Geburten registriert. Zwischen 1800 und 1900 sank in den Vereinigten Staaten die Frachtbarkeitsziffer der weißen Amerikaner um die Hälfte, während Immigranten aus der Arbeiterklasse weiterhin große Familien hatten. In Deutschland und Großbritannien verzeichneten Beobachter in den 1870er Jahren eine signifikante Abnahme der Fruchtbarkeit; innerhalb von zwei Generationen wird die Geburtenziffer in Deutschland um 60 Prozent sinken und in England die durchschnittliche Zahl der pro Familie geborenen Kinder im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts von 6,6 Lebendgeborenen auf etwas mehr als zwei fallen.
Die Anwendung empfängnisverhütender Techniken machte, so argumentieren die Historiker, die Praxis der Abtreibung nun auch innerhalb der Ehe »denkbar«. Zunächst einmal zwang der Wille zur Empfängnisverhütung Ehepaare dazu, bewußter mit ihrer Sexualität umzugehen und Geschlechtsverkehr als etwas vom Zeugungsakt Verschiedenes wahrzunehmen. Doch die spezifisch weibliche Praxis der Abtreibung fügte der sexuellen Selbstbewußtwerdung eine weitere Dimension hinzu: Sie machte die Frauen im sexuellen Drama zu besonders aktiv Handelnden und brachte unmittelbar zum Ausdruck, daß »Frauen, die abtreiben, sich der Sexualität ohne die Absicht der Fortpflanzung hingeben und Geschlechtsverkehr um des Geschlechtsverkehrs willen haben (zur Befriedigung männlicher oder auch eigener Lust)«.[33]
Im 19. Jahrhundert standen Männern und Frauen eine ganze Reihe empfängnisverhütender Techniken zur Verfügung: Enthaltsamkeit, Coitus interruptus, die Zyklusmethode mit ihrer falschen Annahme einer »sicheren Zeit«, Spritzen für postkoitale Scheidenspülungen und das Kondom. Alle diese Verfahren erforderten Zeit, Geld, Platz und Ausdauer, waren oft unzuverlässig und hingen von der Kooperation des Mannes ab. Versagten diese Vorkehrungen, dann blieb einer Frau die Abtreibung als letzter Ausweg. Obwohl sie gefährlich und ungesetzlich war, hatte sie - besonders für Frauen aus der Arbeiterklasse - den Vorteil, daß sie ihnen eine gewisse Kontrolle über ihre eigene Person gab, vor allem dann, wenn der Partner kontrazeptive Mittel ablehnte. Sie war billig und erforderte keine Vorausplanung, keine planmäßige Gestaltung, keine Vorsorge. Wenn eine Frau abtreiben wollte, griff sie als erstes zur Selbstbehandlung, die nicht, wie etwa im Falle der Kindstötung, das einsame Unternehmen einer Einzelperson war, sondern die Mithilfe anderer erforderte. Aufgrund der für Frauen aus der Arbeiterklasse charakteristischen gegenseitigen Unterstützung kursierten unter Nachbarinnen und Arbeitskolleginnen Informationen über Abtreibungsmöglichkeiten. »Frauen (...) machen aus diesen (Abtreibungs-) Praktiken kein Geheimnis«, erklärte die französische Feministin Macieleine Pelletier. »Auf den Treppenabsätzen der Arbeitermietskasernen, beim Bäcker, Metzger oder Lebensmittelhändler beraten Hausfrauen Nachbarinnen, denen ihre ebenso brutalen wie kurzsichtigen Männer unerwünschte Schwangerschaften aufbürden.«[34]
Französinnen empfahlen meist eine Spülung mit einem der traditionellen pflanzlichen Abortiva wie Gartenraute, Sadebaum oder Mutterkorn. Ärzte meinten, daß einige dieser traditionellen Heilmittel als Gift wirkten oder im Leibesinnern zur Abstoßung des Fötus ausreichende Irritation hervorriefen. In den Vereinigten Staaten gaben die verschiedenen ethnischen und rassischen Gruppen ihr traditionelles Wissen über Abortiva weiter: Indianische Heiler und Hebammen verordneten gewöhnlich Wurzeln und Kräuter, während Mitte des Jahrhunderts schwarze Frauen in Texas Indigo oder eine Mischung aus Kalomel und Terpentin anwandten, um den Fötus zu »lösen« oder eine Fehlgeburt herbeizuführen. In den 90er Jahren, nachdem man beobachtet hatte, daß Arbeiterinnen in Bleiweißfabriken häufig Fehlgeburten erlitten, gingen die Arbeiterinnen im Norden Englands dazu über, Bleipillen einzunehmen. Wenn Drogen keine Wirkung zeigten, versuchten Frauen es mit Aderlässen, heißen Bädern oder mit äußerer Gewaltanwendung.
Wenn sie immer noch keinen Erfolg hatten, wandten sie sich an eine Abtreiberin, die mit mechanischen Mitteln eine Fehlgeburt herbeiführte, oder sie antworteten auf kommerzielle Anzeigen für »Frauenheilmittel«, die in denselben Zeitungen und populären Zeitschriften erschienen, die auch Reklame für »Herrenführer« zu den Lasterhöhlen und für »Französischunterricht« machten. Mitte des 19. Jahrhunderts war die kommerzielle Abtreibung zu einem lukrativen Gewerbe für Ärzte, Apotheker, Heilpraktiker, Veterinäre, Masseure, Quacksalber und auch für die pharmazeutische Industrie geworden. Engelmacherinnen wie Madame Restell in New York oder ihre französische Kollegin »La Cacheuse« wurden weltbekannte Figuren. Ein französischer Sachverständiger berichtete, daß am Ende des Jahrhunderts 50 Abtreiberinnen in Pariser Zeitungen ihre Dienste anboten. Engelmacherinnen ließen sich vorzugsweise in der Nähe von Bahnhöfen und grands magasins nieder, um Frauen, die vom Land kamen, behandeln zu können. Sie arbeiteten aber auch in armen und verrufenen Stadtbezirken.
Eine Reihe unwirksamer Gesetze half zwar, diesen illegalen Markt einzugrenzen, konnte aber die Abtreibungspraxis selbst nicht unterdrücken. Großbritannien war eines der ersten Länder, das 1803 ein neues Strafgesetz erließ, dieses 1837 novellierte und 1861 weiter verschärfte. In Frankreich und in Belgien stammten die Gesetze aus dem Jahre 1810 und basierten auf dem Code Napoleon. In den verschiedenen Bundesstaaten der USA wurden in den 1820er Jahren neue Gesetze gegen die Abtreibung verabschiedet und zwischen 1860 und 1880 stark erweitert. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erließen Skandinavien, Deutschland und Italien ähnliche Gesetzesvorschriften. Die meisten dieser Bestimmungen sahen sowohl eine Bestrafung der Frauen als auch der Abtreiberinnen vor; das Strafmaß variierte von fünf bis zehn Jahren Strafarbeit für die Frauen bis zu lebenslanger Haft oder Todesstrafe für diejenigen, die Abtreibungen vornahmen. Gewöhnlich kam es zur strafrechtlichen Verfolgung von Engelmacher/innen allerdings nur, wenn Frauen starben oder schwer erkrankten.
Diese gesetzlichen Bestimmungen wurden aus einer Reihe von - je nach dem Zeitpunkt ihrer Verabschiedung unterschiedlichen - Gründen eingeführt. Insgesamt signalisierten sie die Absicht der gesetzlichen und medizinischen Autoritäten, in die Reproduktionsstrategien von Frauen einzugreifen. Im frühen 19. Jahrhundert rechtfertigten die Gesetzgeber meistens die neuen Strafrechtsbestimmungen als »Ordnungs«maßnahmen und als Teil der Reformen beim Delikt der Kindstötung. In Großbritannien und den Vereinigten Staaten verboten diese frühen Gesetze eine Abtreibung nur nach dem Zeitpunkt der ersten Bewegung des Kindes, also ungefähr im dritten oder vierten Monat der Schwangerschaft, und sie beriefen sich hauptsächlich auf die von den Abortiva ausgehende gesundheitliche Gefährdung der Mutter. In Großbritannien stellte die gesetzliche Bestimmung von 1803 die ärztliche Lobby nicht zufrieden. Die Ärzte wandten gegen das Kriterium der »Kindesbewegung« ein, es sei ungenau und gründe allein auf dem Wissen der Frau; mit Rücksicht auf die Meinung der Ärzte verbot das Gesetz von 1837 Abtreibung in jeder Phase der Schwangerschaft, der Bezug auf die Bewegung des Fötus wurde gestrichen. Um die Mitte des Jahrhunderts hatten Ärzte in Frankreich und den Vereinigten Staaten ihre ältere Deutung der Abtreibung aufgegeben. Abtreibung galt nun nicht mehr als letzte Zuflucht einer unverheirateten Mutter, sondern als eine von verheirateten Frauen genutzte Methode der Geburtenkontrolle. Eine Folge dieses veränderten Bildes war die Intensivierung der öffentlichen Propaganda und die Ausweitung gesetzlicher Maßnahmen gegen abtreibende Frauen.
In den Vereinigten Staaten führten Abtreibungsgegner in jedem Bundesstaat eine von Ärzten geleitete Kampagne zur Verschärfung der Gesetzgebung. Zwischen 1860 und 1880 kämpfte die American Medical Association heftig für die Unterdrückung der Abtreibung und richtete Appelle an die bundesstaatlichen ärztlichen Vereinigungen, gesetzgebenden Körperschaften, medizinischen Zeitschriften und die Presse. Ihr Ziel war, eine Kriminalisierung der Abtreibung zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft zu erreichen, es sei denn, eine Abtreibung war notwendig, um das Leben einer Frau zu retten.
Möglicherweise waren amerikanische Ärzte bei ihrem Kampf gegen illegale Abtreibungen aktiver als ihre europäischen Kollegen, doch Ärzte in Frankreich, Großbritannien und Rußland äußerten eine durchaus ähnliche Besorgnis über die berufliche Konkurrenz durch Abtreiber, das Fehlverhalten der Frauen und die Gefahr, welche die Abtreibung für die soziale Ordnung darstellte. Überall signalisierte die ärztliche Kritik an Abtreibung und Empfängnisverhütung, daß »der Arzt an die Stelle des Priesters trat« - das heißt, daß der Arzt die früher von religiösen Autoritäten besetzte Rolle im Bereich von Sexualität und Familie übernahm.
Obwohl Ärzte die ideologischen Hauptakteure waren, kristallisierte sich in diesen Kampagnen zweifellos ein ganzes Bündel von in der Bevölkerung weit verbreiteten klassen-, rassen- und geschlechtsspezifischen Ängsten. Ärzte waren vor allem dadurch alarmiert, daß privile gierte Mütter zu dem so »schändlichen« Mittel der Abtreibung griffen. »Heute gibt es Damen«, entrüstete sich die Medical Society von Buffalo 1859, »jawohl, gebildete und kultivierte Damen[335] die abtreiben lassen. Das Bild der zügellosen »Dame aus der oberen Gesellschaft«, die ihre mütterlichen Pflichten »egoistischen und persönlichen Zielen« opferte, war für die Ärzte der Beweis dafür, daß Frauen von den marktkonformen Werten des Vergnügens und Konsums und vom Feminismus verführt wurden. Frauen, die sich rebellisch gegen die traditionelle Opferrolle der für Nachkommenschaft sorgenden Weiblichkeit auflehnten und egoistische persönliche Interessen verfolgten, würden ihren Ehemännern untreu, indem sie sich »skrupellosen und niederträchtigen« Abtreibern auslieferten. Das American Medical Association's Committee on Criminal Abortion faßte diese Sicht mit den folgenden Worten zusammen: »Sie denkt nicht mehr an das ihr von der Vorsehnung bestimmte Lebensziel, sie vernachlässigt die ihr im Ehevertrag übertragenen Pflichten. Sie gibt sich dem Vergnügen hin - schreckt aber vor den Schmerzen und Verantwortungen der Mutterschaft zurück; und ohne jeden Takt, bar aller Kultiviertheit liefert sie ihren Körper und ihre Seele den Händen skrupelloser und niederträchtiger Männer aus.«[36]
Die Flucht der Frauen vor der Mutterschaft führe, so die Auffassung französischer, britischer und amerikanischer Ärzte, zum »Selbstmord der Rasse«. Ärzte ebenso wie Eugeniker übertrugen bestimmte Elemente der Darwinschen Theorie auf das Bevölkerungsproblem ihrer jeweiligen Nation. Sie waren der Meinung, daß für das Überleben der Tüchtigsten im Existenzkampf der Klassen und Nationen eine überlegene »rassische Herkunft« ausschlaggebend sei. In den Vereinigten Staaten wurde Alarm geschlagen, daß Frauen von »guter Herkunft« - wohlhabend, weiß und protestantischen Glaubens - nicht genügend Kinder zur Aufrechterhaltung der politischen und sozialen Dominanz ihrer Gruppe zur Welt brachten. In Großbritannien beunruhigten sich Eugeniker darüber, daß Frauen aus den mittleren und höheren Schichten nicht die gleiche Reproduktionsrate wie Frauen aus den unteren Schichten aufwiesen. Französische Demographen gaben im späten 19. Jahrhundert der allgemeinen Dekadenz und den selbstsüchtigen, nach Unabhängigkeit strebenden Frauen die Schuld für das Bevölkerungsproblem in Frankreich, da diese Frauen sich ihrer bürgerlichen Pflicht, Kinder für die Verteidigung der Republik bereitzustellen, entzogen. Schließlich griffen die ärztlichen Gegner der Abtreibung die »irregulären» Ärzte und anderen Heiler an, weil sie illegale Abtreibungen vornahmen. In allen Ländern mußten allopathische Ärzte gegen ein ganzes Heer von volksmedizinischen Heilern - einschließlich Chemikern, Kräuterheilkundigen, Hydropathen und Hebammen - um Anerkennung und Patienten konkurrieren. Die Besorgnis der »regulären« Ärzte wurde noch größer, als ihre Konkurrenten vor allem nach 1840 begannen, offen Reklame für ihre Abtreibungsdienste zu machen, In den Vereinigten Staaten war die Konkurrenz zwischen »richtigen Ärzten« und »Kurpfuschern« besonders heftig, was teilweise das konzentrierte Bemühen der American Medical Association um die Kriminalisierung der Abtreibung erklärt. Aber auch die europäischen Ärzte äußerten eine ähnliche Besorgnis um ihren beruflichen Status. Obwohl viele ihrer ärztlichen Kollegen Abtreibungen - vor allem für wohlhabende Patientinnen - durchführten, konzentrierten französische und britische Ärzte ihre Kritik auf Hebammen. In den 90er Jahren war allgemein bekannt, daß die sages femmes mehr Geld mit Abtreibungen als mit Geburten verdienten.
Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert meldeten sich auch einige wenige Stimmen für eine Reform des Abtreibungsrechtes zu Wort, doch die Bewegung für eine Reform des Abtreibungsgesetzes hinkte um eine Generation hinter der Bewegung für die Liberalisierung der Empfängnisverhütung her. In den 1880er und 1890er Jahren wurden Geburtshelfer von Seiten ihrer Patientinnen einem beträchtlichen Druck ausgesetzt, Bedingungen für eine legale Abtreibung zu definieren. Im Großen und Ganzen ignorierten die Ärztevereinigungen diesen Druck. Einige französische Ärzte begannen, die Abtreibungsgesetze als zu eng, zu klassenspezifisch und als Gefahr für die öffentliche Gesundheit zu kritisieren, weil Frauen dadurch zu gefährlichen illegalen Abtreibungen gezwungen würden. Schweden änderte seine Gesetzgebung 1890 und erlaubte nun einen Abbruch der Schwangerschaft aus rein medizinischen Gründen. 1910 stimmten Gynäkologen auf einem Kongreß in Rußland für die Legalisierung der Abtreibung unter der Bedingung, daß die Abtreibung unter ärztlicher Aufsicht vorgenommen wird. Mit Ausnahme von Frauen wie Madeleine Pelletier verteidigten nur wenige Stimmen das Recht der Frauen, im Bereich der Reproduktion persönliche Entscheidungen ohne ärztliche Kontrolle zu treffen.
Obwohl die Ärzteschaft oft »willensstarken Frauen« und dem Einfluß des Feminismus die Schuld für die Flucht der Frauen vor der Mutterschaft gab, zeigten Führerinnen der Frauenbewegung keinerlei Verständnis für die Abtreibungsentscheidung von Frauen. Ganz im Gegenteil reagierten amerikanische Feministinnen im ausgehenden 19. Jahrhundert positiv auf die von Ärzten geführte Kampagne zum Verbot der Abtreibung. Sie verurteilten Abtreibung als Teil der sexuellen Demütigung und Ausbeutung der Frauen, konzentrierten sich aber der Tendenz nach mehr auf die Gründe - die ausbeuterischen sexuellen Beziehungen, die eine Abtreibung notwendig machten - und weniger auf die Konsequenzen einer Abtreibung.
Der feministische Widerstand gegen Abtreibung und Empfängnisverhütung reflektierte eine komplizierte Haltung zur Sexualität und Reproduktion. Die Kämpfe im Zusammenhang mit der staatlichen Reglementierung der Prostitution hatten Feministinnen Ärzten gegenüber mißtrauisch gemacht, weil diese sich als illegitime Autoritäten ein Urteil über die biologische Aufgabe der Frau anmaßten und einer doppelten Geschlechtsmoral das Wort redeten. Zur selben Zeit gerieten Feministinnen außerdem mit den Ärzten hart aneinander, weil diese prominente Gegner der Frauenrechtsbewegung und Gegner einer höheren Bildung für Frauen waren. Doch ebenso wie die Ärzte lehnten auch die Feministinnen die Trennung der weiblichen Sexualität von der Reproduktion ab. Auch Feministinnen waren der Meinung, daß Empfängnisverhütung und Abtreibung die Frauen »unrein«, den Prostituierten ähnlich machten - von sexueller Begierde besudelt und schutzlos den sexuellen Forderungen der Männer ausgeliefert. Statt dessen rühmten britische und amerikanische Feministinnen die Mutterschaft als die höchste Pflicht einer Frau; sie engagierten sich allerdings auch für eine sexuelle Strategie der »freiwilligen Mutterschaft«, die es den Frauen ermöglichen sollte, mit Hilfe von Enthaltsamkeit Kontrolle über ihre Reproduktion auszuüben. Auf diese Weise konnte in Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten die Hochschätzung der Mutterschaft einhergehen mit der Forderung ihrer bewußten Einschränkung, einer Forderung, in der erhebliche klassen- und rassengefärbte Zwischentöne mitschwangen. Wenn Feministinnen »freiwillige Mutterschaft« mit dem Anliegen verbanden, daß Frauen »die Rasse stärken« und »weniger und bessere Kinder« gebären sollten,[37] äußerten sie die gleichen Befürchtungen hinsichtlich Klasse und Rasse, die auch ärztliche Kampagnen gegen die Abtreibung motivierten. Sogar die Minderheit von Feministinnen, die sich um die Jahrhundertwende den Neomalthusianern anschloß und die Geburtenkontrolle propagierte, war in ihrer Unterscheidung zwischen Empfängnisverhütung und Abtreibung unerbittlich: erstere war eine kluge und ehrbare Praxis, letztere eine »risikoreiche« und verachtenswerte Angelegenheit.
Viele Frauen aus dem Mittelstand nahmen jedoch gerade deshalb Zuflucht zur Abtreibung, weil sie ihre Klassen- und Geschlechterrolle als bürgerliche Mutter erfüllen wollten. Der »Kult der wahren Weiblichkeit« löste, wie feministische Forscherinnen gezeigt haben, sowohl antinatale als auch pronatale Strategien aus. Dieser Kult erhob Mutterschaft zur sakralen Berufung, forderte von einer Frau aber gleichzeitig, daß sie sich an den Werten Sparsamkeit und Vorausplanung orientierte, um den sozialen Status ihrer Familie zu sichern. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren kleinere Familien zum Zeichen bürgerlicher Identität geworden. Familienplanung war ein Teil der bürgerlichen Familienethik, und es gehörte zu den Mutterpflichten der Frauen, »weniger und bessere Kinder» zu gebären. Weit davon entfernt, eine Flucht vor der Mutterschaft zu sein, half die Abtreibung als Mittel der Geburtenkontrolle den Frauen, ihren Pflichten gegenüber ihren Kindern, ihrer Klasse und Rasse nachzukommen.
Frauen aus der Arbeiterklasse billigten sowohl aus ähnlichen als auch aus anderen Gründen die Abtreibung in aller Öffentlichkeit. Französische und britische Ärzte waren über die saloppe Einstellung der Arbeiterfrauen beunruhigt, die in der Abtreibung keinen Mord, sondern eine völlig legitime Methode sahen. Bis zu den ersten spürbaren Bewegungen des Fötus hielten Frauen sich nicht für schwanger, sondern glaubten an eine »Unregelmäßigkeit« ihrer Monatsblutung. Diese Vorstellung griffen kommerzielle Abtreiber in ihrer Werbung auf, indem sie versprachen, die Unregelmäßigkeit zu beheben und die »Menses« herbeizuführen.
Arbeiterfrauen hielten also an der traditionellen Auffassung fest, daß erst mit den spürbaren Fötusbewegungen »ein Baby da war« und vorher nicht. Seit Ende des 19. Jahrhunderts konnten sie auch auf eine »modernere« Verteidigung der Abtreibung zurückgreifen. Ebenso wie die Prostituierten waren auch die Frauen aus der Arbeiterklasse keineswegs immun gegenüber den Kontroversen um die Abtreibung. Auch sie begannen nun, von körperlicher Integrität zu reden und sich an den öffentlichen Debatten über Fruchtbarkeit und »Rassenselbstmord« zu beteiligen. Als die Women's Cooperative Guild in Großbritannien ihre Mitglieder, überwiegend Ehefrauen qualifizierter Arbeiter, aufforderte, ihre Schwangerschaftserfahrungen zu beschreiben, beschworen viele das Konzept der verantwortlichen Mutterschaft mit seinem rationalen Planen und Buchhalten. Wie die Frauen aus der Mittelschicht verteidigten auch sie die mütterliche Pflicht, »weniger und bessere Kinder« zu gebären: »Ich habe nicht so schnell wie andere Frauen Kinder bekommen (...), nicht weil ich sie nicht liebte, sondern weil ich unter den gegebenen Umständen, wenn ich mehr gehabt hätte, meine Pflicht ihnen gegenüber nicht hätte erfüllen können.«[38] Französinnen gingen sogar bei ihrer Verteidigung der Abtreibung noch weiter; Ärzte zeigten sich schockiert darüber, wie »offen sie ihren Verwandten von ihrem Abenteuer erzählten - ohne die geringste Andeutung von Scham oder Reue —, denn sie sagen, >die Frau muß frei über ihren Körper entscheiden können- ...«[39] Wie Rosalind Petchesky betont, war das keine positive Freiheit der sexuellen Erfüllung, sondern vielmehr eine negative Freiheit, die wie die Mittelschichtsdoktrin von der »freiwilligen Mutterschaft« von »ungewolltem Sex« und »ungewollter Schwangerschaft« befreite.[40]
Gleichgeschlechtliche Liebe - Transvestismus und
romantische Freundschaft
Transvestismus und romantische Freundschaften waren im 19. Jahrhundert für Frauen zwei mögliche Wege, um gleichgeschlechtliche Liebesbeziehungen zu erkunden. Zwar war der Transvestismus im allgemeinen ein proletarisches Verhalten, doch er drang auch bis zu bürgerlichen Frauen, die für sich die Vorrechte von Gentlemen beanspruchten und manchmal anderen Frauen gegenüber selbst aggressive sexuelle Annäherungsversuche machten. Romantische Freundschaften zwischen Frauen waren dagegen ein öffentlich gebilligtes Merkmal bürgerlicher Frauenkultur; doch auch hier gibt es historische Belege für ein gewisses Maß an kulturellem Austausch. Vor allem in den Vereinigten Staaten gestanden junge Fabrikarbeiterinnen, die Lesen und Schreiben konnten, ihren Freundinnen in reich verzierten, sentimentalen Briefen ihre unsterbliche Liebe.
Weiblicher Transvestismus mit Übernahme der Kleidung und/oder des Lebensstils, der Arbeit und der Verhaltensweisen des anderen Geschlechts war eine populäre, mindestens 400 Jahre alte, durch Volkslieder, Theater, schriftliche und mündliche Kultur überlieferte Tradition. Einige Historiker sehen vor allem für Holland und England einen Höhepunkt des Transvestismus im 17. und 18. Jahrhundert. Amerikanische Historiker haben jedoch nach 1850 eine Zunahme von Zeitungsberichten über Transvestitinnen festgestellt. In jedem Fall wußten Frauen, die dem Transvestismus anhingen, daß andere Frauen ihnen vorausgegangen waren. Noch im 19. Jahrhundert erreichten alte Geschichten über »weibliche Kerle« und »weibliche Ehemänner« das Lesepublikum. Als Emma Edwards den Schundroman Fanny Campbell or the Female Pirate Captain (1815) las, kam ihr die Idee, daß auch sie wie Campbell »die Freiheit und glorreiche Unabhängigkeit der Männlichkeit«[41] erreichen könnte, wenn sie sich einfach ihre Haare abschnitte und Männerkleidung anlegte. Genau das tat sie dann auch, lief von zu Hause weg, heiratete »beinahe« ein hübsches Mädchen aus Neuschottland und trat schließlich im amerikanischen Bürgerkrieg der Armee der Union bei.
Edwards erklärte ihre Entscheidung, Männerkleidung anzulegen, mit dem Wunsch, in den Genuß der Freiheiten und Vorrechte von Männern zu kommen. Diese Privilegien konnten Frauen in Männerkleidung Männerlöhne, Arbeitsgelegenheiten, Mobilität und ein abenteuerliches Leben eröffnen. Das abenteuerliche Leben umfaßte vielleicht den Umgang mit Prostituierten und die Heirat mit einer Frau. Die Konstruktion einer männlichen Identität konnte ebenso die Ausübung einer qualifizierten oder schweren Arbeit einschließen oder dazu führen, daß eine Frau zum tapfersten Matrosen auf einem Schiff wurde. Für Elizia Ogden, den weiblichen Lastenträger von Shoreditch, bedeutete es auch, mit den Kollegen ihres Bruders zu rauchen und zu trinken und »jedem hübschen Frauenzimmer, das ihr über den Weg lief«, den Hof zu machen. Kurz, Ogden war »ein vermeintlicher Lebemann und tatsächlicher Romanschriftsteller«. Auch Mary Chapman erreichte, wie die Londoner Times 1835 berichtete, einen höheren Grad von »Männlichkeit«: Sie boxte, fluchte und unterhielt sowohl eine Geliebte als auch eine Ehefrau.[42]
Einige Frauen verkleideten sich nur zu bestimmten Gelegenheiten als Männer oder sie taten es ohne die Absicht, vollständig als Männer durchzugehen: Die Schriftstellerin George Sand und die Künstlerin Rosa Bonheur sind zwei berühmte Beispiele für Frauen aus den mittleren und oberen Gesellschaftsschichten, die sich von den ihrem Geschlecht auferlegten Beschränkungen befreien wollten. Einige Frauen, die tatsächlich für Männer gehalten wurden, konnten einen gewissen Grad sozialer Ehrbarkeit erreichen; andere tauchten in eine sexuelle Unterwelt ein. In den 1850er Jahren verließ Lucy Ann Lobdell ihren Ehemann im Norden des Bundesstaates New York und verkleidete sich als Mann, um ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. »Ich beschloß, Männerkleidung zu tragen und Arbeit zu suchen«, erklärte sie, »und einen Männerlohn zu verdienen.« Später wurde sie Reverend Joseph Lobdell und lebte mit Maria Perry zusammen.[43] In den 1870er Jahren besuchte die französische Einwanderin Jeanne Bonnet, die von der Polizei verschiedentlich wegen Tragens von Männerkleidung festgenommen wurde, als männlicher Kunde ein Bordell und verliebte sich in die Prostituierte Blanche Bruneau, die sie zur Aufgabe ihres Gewerbes überredete. 1876 erschoß ein aufgebrachter Zuhälter Bonnet, als sie gerade mit Buneau im Bett lag. In beiden Fällen wurden die konventionellen Geschlechterrollen genau eingehalten. Die als Mann verkleidete Frau spielte die dominante männliche, die andere Frau die konventionell passive Rolle der Ehefrau oder Geliebten.
Ganz ähnlich wie im Falle der Abtreibung und der Prostitution erforderte der Transvestismus oft die Beihilfe anderer Personen. Einige Pfarrer waren bereit, weibliche Paare zu trauen; Arbeitskollegen und Familienmitglieder gaben das Geheimnis nicht preis; manchmal taten Freundinnen einfach so, als würden sie glauben, ihre ehemalige Freundin sei ein Mann geworden. Beim Tod ihres Mannes gab eine Londoner Ehefrau vor, überrascht zu sein, als sich herausstellte, daß ihr Lebensgefährte der vergangenen 21 Jahre eine Frau war. Doch eine solche stillschweigende Billigung seitens der Gemeinschaft war vorläufig; wurde eine Frau in Männerkleidung strafrechtlich (z.B. wegen »arglistiger Täuschung« oder Erregen öffentlichen Ärgernisses) verfolgt, gaben sowohl das Gesetz als auch die lokale Gemeinschaft tendenziell dem »Ehemann« die Schuld und ließen die Ehefrau in Ruhe.
Während des ganzen 19. Jahrhunderts blieb der Transvestismus eine verdächtige Praxis: eine verbotene Form des Überschreitens sexueller Grenzen, die den Beigeschmack von maßloser Sexualität oder Sodomie hatte. Gesetzlich war Transvestismus als ordnungswidriges Verhalten verboten, kulturell blieb er ein häufig benutzter bildlicher Ausdruck für weibliches Fehlverhalten und die Verletzung männlicher Vorrechte durch Frauen. Karikaturen zeigten keifende Ehefrauen und aggressive Frauen als maskuline Virago, die im Kampf um die Hosen den Sieg davontragen wollten. Im Englischen, Französischen, Deutschen und Russischen tauchte der abwertend gebrauchte Ausdruck George Sandismus für Frauen auf, die es wagten, dem skandalösen Leben und Verhalten George Sands nachzueifern. Als Reaktion hierauf traten rebellierende Frauen häufig bewußt in Männerkleidung auf: Die Anhängerinnen des Saint-Simonismus gingen in Hosen, während die Bloomer-Bewegung Mitte des Jahrhunderts den Frauen eine Kleidung empfahl, die in ihrem leicht orientalisierenden Stil türkischen Hosen ähnelte und ihnen damit nicht den Anschein gab, als Männer gelten zu wollen. Statt sie zu schmähen, verherrlichten spätviktorianische Feministinnen George Sand als die Verkörperung weiblicher Genialität und Gefährlichkeit, auch wenn sie selbst nicht so weit gingen, ebenfalls Hosen anzulegen.
Auf der Ebene der Phantasie übte der Transvestismus einen weitaus größeren Einfluß auf die weibliche Vorstellungskraft aus: Sich als Mann zu verkleiden und zur See zu fahren oder in die Armee zu gehen war die beharrlichste aller Phantasien, denen sich junge Engländerinnen im 19- Jahrhundert in ihren Tagebüchern am häufigsten hingaben. Auch im Spiritismus fand die Phantasie des Transvestismus ein starkes Ausdrucksmittel: wenn junge weibliche Medien Geister riefen, um mit den Toten zu sprechen, gaben sich ihre Geistführer häufig als hypermaskuline Matrosen oder Soldaten zu erkennen. Wenn sich im Variete Imitatorinnen in Schale warfen, um den feinen Herrn in der Stadt zu spielen, machten sie sich oft über den »fetten Hintern« der kleinen Angestellten im Publikum lustig, die selbst gerne »Mordskerle« wären.
Anders als bei der weiblichen Prostitution und männlichen Homosexualität gibt es jedoch für das 19. Jahrhundert kaum Anzeichen für eine transvestitische oder lesbische Subkultur. Einzig Paris ist eine wichtige Ausnahme. Nach Berichten von Beobachtern überzog in den 1890er Jahren ein Netz von Cafes, Restaurants und Treffpunkten für Transvestiten, lesbische Prostituierte und Bohemiens die Stadt. Auch in anderen städtischen Zentren tauchte bisweilen lesbische Prostitution auf. Um die Jahrhundertwende kam im Rotlichtbezirk von Philadelphia die Bezeichnung »bulldyke« (»kesser Vater«) auf für lesbische Freier. In den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts wurden in den Vierteln der Schwarzen und in Stadtteilen mit einem Angebot an möblierten Zimmern auch Räume und Unterhaltungseinrichtungen speziell für Lesbierinnen aus der Arbeiterklasse offeriert. Die Bluessängerin Bessie Jackson verewigte in einem Song den rebellischen Geist der »Bulldagger Woman« - einer Lesbierin, die sich einen männlichen Stil zu eigen machte. In den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts entstand auch in Paris und New York eine lesbische Subkultur der Schrifstellerinnen und Künstlerinnen aus dem Mittelstand. Diese in Gedichten, Romanen und Theaterstücken gepriesene Subkultur der Salons, Bars und gemeinsamen Wohnungen brachte die Traditionen des Transvestismus und der romantischen Freundschaften zu einer Synthese.
In der viktorianischen Zeit entwickelten Frauen aus der Mittelschicht eine andere Art der gleichgeschlechtlichen Beziehung in Form romantischer Freundschaften. Teilweise waren diese Freundschaften eine Folge der im Bürgertum üblichen scharfen Geschlechtertrennung. Die weibliche Sozialisation förderte starke Bindungen zwischen Frauen, die häufig in der Schulzeit begannen und sich zu lebenslangen Freundschaften entwickelten. Obwohl die romantischen Freundschaften sozial gebilligt wurden, bestand immer eine gewisse Spannung zwischen diesen intimen weiblichen Bindungen und den Familienpflichten. Kulturell wurde Frauen das Recht zugestanden, ihre leidenschaftliche Sehnsucht nach emotionaler, spiritueller und körperlicher Liebe in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung auszudrücken, weil dieses als völlig verschieden von der heterosexuellen Verbindung von Sexualität und Reproduktion galt. »Ich wünschte so sehr, meine Freundin, die einzige von allen Mädchen der Welt, in die Arme zu schließen und ihr zu sagen (...) Ich liebe sie, wie Frauen ihre Männer lieben, wie Freunde sich ein Leben lang lieben - und ich glaube an sie wie an meinen Gott.[44] Briefe dieser Art orientierten sich an den Konventionen der sentimentalen Literatur; sie gehörten zur »sentimentalen Sprache des Errötens, der moralischen Erbauung und des Herzensvergnügens«, welche die viktorianischen Frauen daran gewöhnte, »sexuelle Leidenschaft, Wut, weltlichen Ehrgeiz abzulehnen«.[45]
Eine ganze Reihe von Gruppenritualen begünstigte die für das Mädchenpensionatsleben im 19. Jahrhundert typischen Schwärmereien, »Zusammenbrüche« und Überschwenglichkeiten. Durch Schulschwärmereien für eine ältere, öffentlich erfolgreiche Frau oder eine erfahrenere Mitschülerin lernten die Mädchen, ihre erotischen Wünsche zu kanalisieren und ihren Körper für ein »höheres« Ideal zu verleugnen. Solche unerfüllten Schwärmereien lehrten die Mädchen auch Selbstbeherrschung und Selbstverleugnung, was die Historikerin Christine Stansell »Scheu vor der Legitimität des eigenen Begehrens« genannt hat.[46]
Während Frauen zu Beginn des Jahrhunderts nicht hoffen konnten, auch nach der Schule noch mit ihrer geliebten Freundin zusammenleben zu können, erlaubten in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts neue Möglichkeiten eines unabhängigen Lebens außerhalb der heterosexuellen Häuslichkeit zumindest einigen Frauen die Verwirklichung dieses Ziels. Unter den »glorreichen Unverheirateten« und »neuen Frauen« des Fin de siecle wurden Frauenehen oder Boston marriages immer üblicher. Neue Beschäftigungen in den »helfenden« Berufen, neue soziale Räume - Universität und Einrichtungen der Wohlfahrtspflege ebenso wie das Angebot an Wohnungen und Damenresidenzen in Großbritannien und den Vereinigten Staaten - ermutigten einige Frauen, sich für die Ehelosigkeit und das Zusammenleben mit einer Lebensgefährtin zu entscheiden. Ein ungewöhnlich hoher Anteil an Amerikanerinnen mit Universitätsabschluß blieb unverheiratet: Zwischen 1889 und 1908 blieben 35 Prozent der Bryn Mawr-Abgängerinnen ledig. Nach einem Bericht von 1909 gingen nur 22 Prozent der 3000 Frauen, die an der Universität von Cambridge studiert hatten, eine Ehe ein. Die höheren Lehranstalten für Frauen waren nach Aussage eines Beobachters »Brutstätten für sentimentale Freundschaften«;[47] in der Fakultät hatten Paarbeziehungen eine etablierte Tradition und Schwärmereien und Amouren waren unter den Studentinnen die Regel.
Im Gegensatz zur verborgenen Welt der weiblichen Paare aus der Arbeiterschaft zeigten sich die »Boston-Ehen« in aller Öffentlichkeit, und sie waren in den Elitekreisen der Gesellschaft anerkannt. Diese Frauen lebten zusammen, hatten gemeinsames Eigentum, gingen gemeinsam auf Reisen, nahmen an Familienfesten teil und schliefen im selben Bett. In ihrer Autobiographie von 1889 pries die Amerikanerin Emma Willard, Vorsitzende einer Liga zur Bekämpfung des Alkoholismus, die Vorzüge einer weiblichen Lebensgemeinschaft. Sie schrieb offen auch über Einzelheiten ihrer »Herzensgeschichten« und hob hervor, daß »die Liebe zwischen Frauen von Tag zu Tag häufiger wird«.[48] Vor dem Ende des 19. Jahrhunderts brachten nur wenige Kommentare diese körperliche Intimität zwischen angesehenen Frauen mit unerlaubter Sexualität in Verbindung; sie waren völlig davon überzeugt, daß diese Frauen außerhalb der reproduktiven Sexualität keine selbständigen erotischen Wünsche befriedigten. Doch die Ablehnung der Mutterschaft, die sich sowohl in der freiwilligen Ehelosigkeit als auch in den Empfängnisverhütungsstrategien der verheirateten Frauen äußerte, veranlaßte die Ärzte, das sexuelle Verhalten von Frauen und dessen Objekte genauer zu erforschen. Nach 1880 schufen Theoretiker der Medizin für Transvestiten und romantische Freundinnen die Kategorie der weiblichen Inversion bzw. der Lesbierin.
Die Sexualforschung, d. h. die wissenschaftliche Untersuchung der Sexualität, entstand in Europa als Spezialgebiet der Rechtsmedizin. Einer ihrer Begründer war Richard von Krafft-Ebing, Professor für Psychiatrie an der Universität Wien; zu seinen beruflichen Aufgaben gehörte es, bei Angeklagten, die wegen Sexualdelikten vor Gericht standen, festzustellen, ob bei ihnen Krankhaftigkeit oder Degenerierung vorlag, um so eine gerichtliche Entscheidung darüber zu erlauben, ob die Angeklagten für ihre Handlungen verantwortlich gemacht werden konnten oder nicht. In der Psycbopathia sexualis (1886), einer gerichtsmedizinischen Studie über Anomalien, veröffentlichte er seine gesammelten Fallgeschichten. Obwohl die anschaulichsten Beschreibungen sexuellen Verhaltens in lateinischer Sprache veröffentlicht wurden, um Lüsternheit abzuwehren, erregte das Buch in der Öffentlichkeit und bei Fachleuten enormes Aufsehen. Krafft-Ebing wurde mit Briefen von Personen überhäuft, die unter sexueller Not litten oder Opfer sexueller Unterdrückung waren. Aus den 45 Fällen und 110 Seiten der Auflage von 1886 waren bis 1903, dem Erscheinungsjahr der 12. Auflage der Psycbopathia sexualis, 238 Fälle und 437 Seiten geworden. Das Erscheinen der Psycbopathia sexualis, bemerkt Jeffrey Weeks, markiert cias »plötzliche Auftreten des Perversen, des vom Geschlechtstrieb gezeichneten oder auch zerstörten Menschen, mit seiner eigenen Sprache im gedruckten Text«.[49]
In ihre Klassifikationen sexuellen Verhaltens nahmen die Sexualforscher des ausgehenden 19. Jahrhunderts den »widernatürlichen Sexualtrieb« oder die »sexuelle Inversion« auf. Diese Kategorie des sexuell Invertierten (Homosexuellen) hatten sie nicht selbst erfunden: Sie reproduzierten lediglich Kategorien und Vorurteile, die in der Kultur des 19, Jahrhunderts, sowohl beim Proletariat wie bei der gesellschaftlichen Elite, zu finden waren. Wie wir gesehen haben, gab es im Arbeitermilieu ein eigenes Verständnis vom »weiblichen Ehemann«. Die lesbische Prostituierte war für Dichter wie Baudelaire und Gautier, die ihrerseits den Prostitutionsstudien von Parent-Duchätelet verpflichtet waren, bereits ein literarisches Klischee. Die Sexualforscher gelangten schließlich und endlich auch nicht zu einer kohärenten Deutung der sexuellen Inversion: Um die endlose Zahl der entdeckten Varianten sexueller Erfahrung zu ordnen, bedienten sie sich konfuser, widersprüchlicher und einander überlappender Erklärungen. Immerhin aber schufen sie ein neues Vokabular, das zum einen die Praktiken frauenliebender Frauen problematisierte, zum anderen den Betroffenen eine Sprache zur Verfügung stellte, mit der sie die »Wahrheit« über sich selbst sagen konnten.
In den 1860er Jahren entwickelte Karl Ulrichs als einer der ersten eine angemessene Theorie der männlichen Inversion. Er argumentierte, ein »Urning« (männlicher Homosexueller) sei das Ergebnis einer anormalen Embryoentwicklung, bei dem ein weibliches Bewußtsein in einem männlichen Körper sei. 1869 wandte Dr. Carl Westphal, ein deutscher Psychiater, das Konzept des »Urnings« auf Frauen an. Er veröffentlichte die Fallstudie einer jungen Frau, Fräulein N., die es von Kindheit an vorgezogen hatte, sich wie ein Junge zu kleiden, sich später zu Frauen hingezogen fühlte und sich in »wollüstigen« Träumen als Mann sah. In ihrem Falle, so schlußfolgerte Westphal, handelte es sich um »ein invertiertes sexuelles Temperament«, ein dem des Mannes ähnlicher angeborener Defekt.[50]
Fräulein N. fand schließlich Eingang in Krafft-Ebings Pantheon der sexuell Perversen. Krafft-Ebing konstruierte eine ansteigende Skala sexueller Inversion bei Frauen. Die erste Stufe der Skala umfaßte Frauen, deren Anormalität keinen Ausdruck in der »äußeren Erscheinung« findet, die nächste Stufe Frauen, die eine »starke Vorliebe für männliche Kleidung« zeigen, die folgende Stufe Frauen, die eine männliche Rolle spielen, und die letzte Stufe schließlich die degenerierteste Form der Homosexualität, nämlich Frauen, bei denen lediglich die Geschlechtsorgane weiblich, deren Denken, Fühlen, Handeln und äußere Erscheinung aber männlich sind.
Krafft-Ebing und seine Kollegen in der Sexualforschung konnten sich die lesbische Erotik nur als eine Version männlicher Begierde vorstellen: die männliche Lust einer Frau nach einer anderen Frau. Sie erkannten aber auch an, daß Sexualität mehr war als nur der Geschlechtsakt, daß zu ihr auch Gefühle, Triebe, Emotionen sowie Kleidung, Gang, Gesichtszüge und Lebensstil gehörten. Die frühen Sexualwissenschaftler charakterisierten Frauen mit angeborener Perversion ihrem Denken und Handeln nach als totale Transvestiten und ignorierten dabei den »femininen« Teil des weiblichen Ehepaares. 1883 unterschied beispielsweise Dr. Kiernan aus den Vereinigten Staaten die Frau mit angeborener »sexueller Perversion« von dem »jungen Mädchen, das sie geheiratet hat«.[51]
In seinem Buch Sexual Inversion (1897) reduzierte Havelock Ellis Krafft-Ebings vier Kategorien weiblicher Geschlechtsumkehamg auf zwei: angeborene sexuelle Inversion und erworbenes sexuelles Laster. Die im proletarischen weiblichen Transvestiten verkörperte aggressive männliche Frau litt demnach unter angeborener sexueller Inversion. Ellis interessierte sich auch für die Frau, die die passive weibliche Rolle übernahm. Er ging davon aus, daß es sich nur um eine »Nachahmung« der »sexuellen Perversion« handele, wenn »normale« Frauen Frauen mit angeborener Inversion imitieren, und beschrieb dann die soziale Umwelt, die dieses erworbene Verhalten begünstigt, vor allem die Aufenthaltsorte der gebildeten »neuen Frau«. Seine Aufmerksamkeit galt vornehmlich den »leidenschaftlichen Feundschaften« zwischen Frauen, die, wie er behauptete, »einen mehr oder weniger bewußten sexuellen Charakter« hatten.[52] Ellis argumentierte, daß die Homosexualität bei Frauen in Amerika, Frankreich, Deutschland und England infolge der modernen Emanzipationsbewegung ständig zunahm.
Carroll Smith-Rosenberg hat gezeigt, daß Ellis »der neuen Frau den Mantel der Respektabilität vom Leib riß« und damit »vornehme, gebildete, ihrer äußeren Erscheinung, ihrem Denken und Verhalten nach außerordentlich feminine Frauen» als potentielle Lesbierinnen darstellte.[53] Historiker sind sich jedoch über die Auswirkungen dieser wissenschaftlichen Enthüllung nicht einig, ob sie tatsächlich »die Frauen ihrer schützenden Maske beraubte« oder vielmehr homosexuellen Frauen einen neuen Sexualitätsdiskurs zur Verfügung stellte. Außerdem ist unklar, wie einflußreich das »medizinische Modell« war. Ein kurzer Überblick über den weiblichen Diskurs und weibliche Praktiken nach 1890 offenbart in den Ausdrucksformen weiblicher Homoerotik sowohl Kontinuitäten als auch Diskontinuitäten.
Einige Frauen ergriffen die von den neuen sexologischen Studien gebotene Gelegenheit und erzählten ihre Geschichte. Eine deutsche Frau schrieb in einem Brief an Magnus Hirschfeld - ein weiterer berühmter Sexualforscher, der Homosexuelle als »sexuelle Zwischenstufen« auffaßte -, die Werke von Krafft-Ebing hätten ihr die Augen »geöffnet«. »Ich fühlte mich, nachdem ich diese Werke gelesen hatte, so frei und scharfsichtig.« Sich selbst charakterisierte sie als eine der »Ausnahmen vom gewöhnlichen Modell und vom alten, ewigen Naturgesetz«. Ihre Lebensgeschichte, die sie erzählte, endete mit der Beschreibung einer häuslichen Idylle: »Meine hübsche, zuversichtliche kleine Frau führt und leitet unser glückliches Heim wie eine echte deutsche Hausfrau, und ich arbeite und sorge für uns wie ein energievoller und fröhlicher Mann.«[54] Radcliffe Hall hat das von Sexologen entwickelte Modell der weiblichen sexuellen Inversion in ihrem bahnbrechenden lesbischen Roman, The Well of Loneliness (1928), verewigt, der von einer Lesbierin des »angeborenen« männlichen Typus aus der oberen Gesellschaftsschicht handelt, die eine »normale« Frau liebt.
Andererseits fühlten sich Frauen von der Sexualisierung und Pathologisierung weiblicher Freundschaften zutiefst bedroht. Einige Frauen nahmen die Warnungen der Sexualforscher zu Herzen: Jeanette Marks (die selbst eine Boston-Ehe führte) schrieb 1908 einen unveröffentlichten Essay, »Unwise College Friendships«, in dem sie vor dem »anormalen« und »unerfreulichen Zustand« der romantischen Freundschaften warnte.[55] Im Gegensatz hierzu protestierte Johanna Elberskirchen, Schriftstellerin und Frauenrechtlerin, heftig gegen die Interpretation, die die Liebe einer Frau zu einer anderen Frau als «männliche Neigung deutete.[56] In den 1920er Jahren verurteilte eine Lesbierinnengruppe in Salt Lake City im privaten Kreis The Well of Loneliness. Das Buch habe ihr Leben öffentlich bekanntgemacht und sie ihrer schützenden Tarnung aus einer früheren, verschwiegeneren Zeit beraubt.[57]
Doch auch die älteren Formen homosexueller Beziehungen gab es noch im 20. Jahrhundert. Wie bereits in Zusammenhang mit den »kessen Vätern« gezeigt, hielten sich bei farbigen Lesbierinnen aus der Arbeiterklasse weiterhin bestimmte Vorstellungen über Frauen in Männerkleidung. Zwischen Frauen aus der Mittelschicht kam es weiterhin zu Boston-Ehen und romantischen Freundschaften. Obwohl lesbische Subkulturen nun zum urbanen Leben gehörten und Bezeichnungen für lesbische Liebe weit verbreitet waren, identifizierten sich diese Frauen nur selten als Lesbierinnen. Nachdem jedoch die Kategorie der Lesbierin erst einmal kulturell zur Verfügung stand, hatte, wie Leila Rupp bemerkt, »die Entscheidung, diese Kennzeichnung abzulehnen, ebenfalls eine eigene Bedeutung«.[58]
Im Laufe des 19. Jahrhunderts betrieben bürgerliche Reformer eine medizinisch-moralische Politik der Stigmatisierung von Prostituierten, von abtreibenden Müttern, von Transvestitinnen und leidenschaftlichen Freundinnen, indem sie deren Verhalten als gesetzeswidrig und gefährlich brandmarkten. Diese Mobilisierung diente nicht allein zur Unterscheidung devianter Frauen von der weiblichen Norm, sondern auch zur Spezifizierung und Stützung dieser Norm sowie zur Beschwichtigung der verbreiteten Sorge, daß die Erotik ihre stabile Identität und feste Verankerung in der reproduktiven Sexualität verloren habe. Trotz aller Bemühungen der Reformer ließen sich die weiblichen Anderen nicht sicher ausgrenzen und von der ehrbaren Gesellschaft trennen. Sie blieben einbezogen in die bürgerliche Weiblichkeit und durchkreuzten diese; sie waren ein Teil der Einkaufsstraßen des Londoner West End, wo Prostituierte sich unter elegant gekleidete Damen mischten; ein Teil der malthusschen Logik abtreibender Mütter; ein Teil der moralischen Überheblichkeit von Reformerinnen, die zur Rettung von Prostituierten auf die Straße gingen; ein Teil der Vorliebe hochgesinnter, unverheirateter Frauen für weibliche Gesellschaft und selbst ein Teil der unterschiedlichen männlichen und weiblichen Identitäten, indem auch Transvestitinnen diese akzeptierten.
Obwohl nicht selten die institutionelle Macht des Gesetzes und der Medizin zur Kontrolle, Definition und Unterdrückung ordnungswidrigen Verhaltens von Frauen mobilisiert wurde, waren Gesetz und Medizin nicht die einzigen aufgebotenen Kräfte. Vor allem im Falle der Prostitution stießen die staatlichen Reglementierungsbemühungen auch auf öffentliche Opposition und weiblichen Widerstand. Mittelschichtsfrauen ergriffen die Gelegenheit, aus der Geschichte der Prostitution eine Geschichte der sexuellen Opfer und der sexuellen Verführung zu machen. Mit Hilfe dieser Geschichte artikulierten sie ihren eigenen Groll gegen Männer und begründeten ihre Autorität über andere Frauen. Die Fähigkeit, über Sex zu sprechen, eröffnete ihnen eine Welt der neuen Möglichkeiten, weniger allerdings den »Töchtern des Volkes«, denen ihre Fürsorge galt. Auch das sexuelle Leben und die Subjektivität der Arbeiterinnen änderte sich. Sie reagierten auf polizeiliche Kontrollen und Reglementierungen, und sie nutzten die in der urbanen Geschäftskultur gebotenen neuen Möglichkeiten zur sexuellen Selbstdarstellung. Räume zum Improvisieren, Anonymität und spezielle Dienstleistungen boten der Transvestitin, der Prostituierten, der abtreibenden Frau und dem lesbischen Paar neue Möglichkeiten, ihre gesetzeswidrigen Handlungen zu verbergen oder sich in einer modernen urbanen Landschaft neue soziale Beziehungsnetze zu schaffen.
Aus dem Englischen von Sylvia M. Schomburg-Scherff