Zur bürgerlichen Frauenbewegung

»Frauenrechtlerei« in »kapitalfrommer Demuth«?

Bürgerliche Emanzipation als Kulturbewegung

Die bürgerliche Frauenbewegung verstand sich als eine autonome Bewegung, die den Anspruch hatte, überparteilich zu sein. Der Autonomiegedanke wurde getragen von den Vorstellungen von Unabhängigkeit im Sinne der Selbstbestimmung, »daß eine wirkliche Lösung nur gefunden werden kann durch die Frauen selbst, durch ihren eigenen Willen und durch ihre eigene Kraft« (Otto-Peters 1866, 93). Den Anspruch der Überparteilichkeit begründeten die organisierten bürgerlichen Frauen mit ihrem Verständnis von der Frauenbewegung als einer umfassenden, die sozialen Verhältnisse verändernden Kulturbewegung.

  • »Die Frauenbewegung als eine Kulturbewegung kann nie durch eine Partei allein ausgekämpft werden. Diesen Grundsatz hat die bürgerliche Frauenbewegung festzuhalten. Interessenpolitik muß dabei ausgeschlossen sein, Klassenkampf darf nicht walten. Von dem Augenblick an, wo die Frauenbewegung sich der einen oder anderen Strömung ganz zuwendet, wird sie nicht allein Schaden nehmen, sie wird auch den Standpunkt der Gerechtigkeit verlassen, der niemals in Interessenpolitik und Klassenkampf maßgebend ist. Sie würde den hohen sittlichen Wert verlieren, den sie als einen Fortschritt in der menschlichen Entwicklung beanspruchen muß.« (Cauer 1898, 142)

Minna Cauer war neben Helene Stöcker, Anita Augspurg, Lida Gustava Heymann und Marie Stritt eine der führenden Vertreterinnen des radikalen Flügels innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung. Dieser Flügel hatte sich Anfang der 90er Jahre gebildet. Die Mehrheit der organisierten bürgerlichen Frauen gehörte aber dem gemäßigten Flügel an, zu deren führenden Repräsentantinnen Auguste Schmidt, Helene Lange, Gertrud Bäumer, Marianne Weber zählten. Nach der Aufhebung des Vereinsgesetzes 1908 entstand mit dem Eintritt des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes (DEFB) und den Hausfrauenvereinen ein dritter, konservativer Flügel im BDF (Bund Deutscher Frauenvereine).
Trotz der inhaltlichen und taktischen Differenzen zwischen den Radikalen und Gemäßigten waren sie sich in Bezug auf das gesellschaftliche Ziel einig.

  • »Für beide Richtungen bedeutete Emanzipation: Lösung der bürgerlichen Frauen aus den rechtlichen Beschränkungen ihrer familialen Privatheit mit dem Ziel eines aus Pflichtgefühl und Verantwortung geborgenen Dienstes an der Gemeinschaft. Die Realisierung der bürgerlichen Gleichberechtigung wurde nicht als Selbstzweck gesehen, sondern als Mittel zur Humanisierung der bestehenden Gesellschaft.« (Greven-Aschoff 1981, 95)

Sie unterschieden sich allerdings in dem Einsatz der Mittel zur Erreichung dieses gesellschaftlichen Zieles. Die Radikalen bevorzugten spektakuläre Aktionen und Versammlungen, während die Gemäßigten meist den Schritt in die Öffentlichkeit scheuten und mehr Wert auf geregelte Verbandsarbeit legten. Sie versprachen sich größeren Erfolg von den Mitteln des Petitionsrechtes als von Plakatanschlägen und Flugblättern. Sie verfolgten eine Politik der »kleinen Schritte«, während die Radikalen durch »Agitation und Propaganda« die Öffentlichkeit mobilisieren und die »öffentliche Ruhe« stören wollten (ebd., 94). »Die Furcht, mit der Sozialdemokratie identifiziert zu werden, hinderte die radikalen Feministinnen daran, auf die Straße zu gehen«, meint Greven-Aschoff (94). Diese Einschätzung muß aber relativiert werden, da sich die radikalen bürgerlichen Frauen eine Zusammenarbeit mit den Sozialdemokratinnen sehr wohl vorstellen konnten und auch wünschten bzw. Schritte in diese Richtung unternahmen. (Wie es ebenso auf sozialdemokratischer Seite Frauen, wie z.B. Lily Braun und andere, gab, die sich erfolglos für eine Zusammenarbeit einsetzten.) Entscheidend dabei war sicherlich die Verweigerung der Sozialdemokratinnen und die Abwehrhaltung der Gemäßigten.
Die distanzierte Haltung der Gemäßigten zu den Aktivitäten und Mitteln der Radikalen kommt deutlich in einem Kommentar Helene Langes zu der Generalversammlung des BDF Ende September 1900 in der Zeitschrift »Die Frau« zum Ausdruck:

  • »Die Zukunft der deutschen Frauenbewegung, die Gleichmäßigkeit und Stetigkeit ihrer Entwicklung steht im engsten Zusammenhang damit, ob es ihr auch fernerhin gelingen wird, die berufsmäßigen Agitatorinnen, die nicht auf dem Boden gemeinnütziger Arbeit stehen und wohl sogar in ihr einen Schaden für die Frauensache sehen ... in Schach zu halten.« (Greven-Aschoff 1981, 97)

Diese Gemeinnützigkeit war 1894 bei der Gründung des BDF in §2 der Satzung festgeschrieben worden:

  • »Durch organisiertes Zusammenwirken sollen die gemeinnützigen Frauenvereine erstarken, um ihre Arbeit erfolgreich in den Dienst des Familien- und Volkswohls zu stellen, um der Unwissenheit und Ungerechtigkeit entgegenzuwirken und eine sittliche Grundlage der Lebensführung für die Gesamtheit zu erstreben.« (ebd., 88)

Sozialdemokratische Frauenvereine konnten somit nicht die Mitgliedschaft im BDF beantragen. Zwar hatten die Radikalen die Aufnahme von sozialdemokratischen Arbeiterinnenvereinen gefordert, die Mehrheit der Gründungsversammlung lehnte dies aber mit der Begründung ab, die sozialdemokratischen Arbeiterinnenvereine seien politisch und würden den Klassenkampf unterstützen (ebd., 88). Nur die bürgerlichen Frauenvereine würden im Sinne des Allgemeinwohls arbeiten. Die Radikalen im BDF versuchten nach dieser Niederlage noch mehrmals eine Einheit bzw. Zusammenarbeit zwischen bürgerlicher und proletarischer/sozialistischer Frauenbewegung hinsichtlich der »Frauenfrage« zu erreichen. Aber erst 1905 konnten sie auf der 6. Generalversammlung des BDF einen Achtungserfolg erzielen. Sie hatten dort folgende Anfrage eingebracht: »Was kann der Bund tun, um die Frauen aller Klassen zu einer einheitlichen Frauenbewegung zusammenzuschließen?« (Greven-Aschoff 1981, 101). Daraufhin verabschiedete die Generalversammlung eine Resolution, die den BDF-Mitgliedern die Pflicht auferlegte, »die Ideen der Frauenbewegung in alle Kreise und Klassen der Bevölkerung hineinzutragen und für den Gedanken der Interessensolidarität aller Frauen Propaganda zu machen« (ebd.). Es war insofern nur ein Achtungserfolg, als die Gemäßigten diesen Beschluß nur halbherzig mittrugen. Sie konnten sich eine einheitliche Zusammenarbeit von Frauen nur auf gewerkschaftlicher und genossenschaftlicher Ebene vorstellen, und da sich mittlerweile die Gewerkschaften von der Sozialdemokratie gelöst hatten, erleichterte ihnen dieser Umstand ihre Zustimmung. Andererseits war die Annahme der Resolution auch auf den Druck der Radikalen zurückzuführen. Sie hatten seit Ende der 90er Jahre innerhalb des BDF immer stärker an Einfluß gewonnen. Dies änderte sich jedoch mit der Aufhebung des Vereinsrechts im Jahre 1908. Es traten nunmehr verstärkt konservative Frauen in die bürgerliche Frauenbewegung ein und verschoben damit das Kräfteverhältnis innerhalb des BDF. Diese Entwicklung war von den Gemäßigten aktiv unterstützt worden.  So hatte Gertrud Bäumer die Mitgliedschaft des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes (DEFB) im BDF 1908 stark gefördert, weil sie sich davon eine Stärkung der Position der Gemäßigten in der Auseinandersetzung um den §218 versprach. Dafür versprach der DFB in einem Abkommen mit dem Vorstand des BDF, sich in der Frage des Frauenstimmrechts (der DEFB lehnte das Frauenstimmrecht ab) »neutral« zu verhalten (Greven-Aschoff 1981, 110). Als 1910 Marie Stritt, eine Anhängerin des radikalen Flügels, ihren Rücktritt als Vorsitzende des BDF erklärte, wurde Gertrud Bäumer ihre Nachfolgerin. Sie trieb die Öffnung des BDF nach rechts weiter und verstärkt voran. Dieser Entwicklung konnten die Radikalen nichts entgegensetzen, weil sie sich bei der Forderung des Frauenstimmrechts gespalten hatten und ihre Kräfte somit aufgesplittert waren.
Zu der von den Radikalen geforderten Zusammenarbeit von bürgerlicher und sozialistischer Frauenbewegung ist es dann im 1. Weltkrieg gekommen, allerdings ohne Stöcker, Augspurg, Heymann und Cauer; aber auch ohne Clara Zetkin, die sich von den Positionen der Mehrheitssozialistinnen distanzierte. In der Ablehnung des Krieges waren sie sich mit Clara Zetkin einig. Hier gab es Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten, die sich auch schon bei der Frauenstimmrechtsforderung ergeben hatten, ohne daß es zu einem gemeinsamen Vorgehen gekommen war. Unterschiede und Trennendes ergaben sich aus der Einschätzung der Kriegsursachen und der Gewaltfrage. Für Clara Zetkin war es kein Verteidigungskrieg der Deutschen (diese Auffassung vertraten die Mehrheitssozialistinnen und der gemäßigte und konservative Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung), sondern ein Angriffskrieg, der imperialistische Ziele verfolge. Augspurg, Heymann und Stöcker sahen die Ursachen mehr in dem persönlichen Unvermögen der Politiker.
Während die sozialistische Frauenbewegung, ebenso wie die Gemäßigten und Konservativen der bürgerlichen Frauenbewegung, die Beteiligung von Frauen an der Gewalt (die Sozialistinnen wollten eine aktive, die gemäßigt und konservativ bürgerlichen Frauen eine passive Unterstützung leisten) befürwortete, befanden sich Augspurg, Heymann und Stöcker mit ihrer pazifistischen Einstellung in der politischen Isolation. Für sie waren Pazifismus und Feminismus natürliche Verbündete. Christine Wittrock (1983) sieht den Grund dafür in dem Beharren auf Geschlechterpolarität, d.h. — »Tod und Vernichtung werden als charakteristische Symbole der Auswirkung und Betätigung des Mannes verstanden — dagegen steht Leben und Aufbau als Symbol weiblicher Tätigkeit« (79). Den Gedanken der Geschlechterpolarität vertraten aber auch die gemäßigten und konservativen Frauen der bürgerlichen Frauenbewegung und die überwiegende Mehrheit der Arbeiterbewegung. Dies kann also nicht das Kriterium der Unterscheidung sein. Während Wittrock das Festhalten von Polaritätsvorstellungen bei der bürgerlichen Frauenbewegung für äußerst problematisch und gefährlich hält, spricht sie die Arbeiterbewegung bzw. die sozialistische Frauenbewegung von dieser Gefahr anscheinend frei bzw. erwähnt sie nicht. Auch die frühe bürgerliche Frauenbewegung von Olymp de Gouges bis Louise Otto-Peters hätte ihrer Meinung nach stets den Akzent auf Gleichheit und nicht auf Polarität gelegt (ebd., 79). Unserer Meinung nach läßt sich die Gegenüberstellung Gleichheit oder Polarität in dieser Form nicht aufrechterhalten.
Die ersten organisierten bürgerlichen Frauen unter Führung von Louise Otto-Peters (1. Vorsitzende des 1865 in Leipzig gegründeten »Allgemeinen deutschen Frauenvereins«) begründeten ihre Forderungen nicht mit dem Naturrecht. Sie gingen ebenso wie später die Radikalen und Gemäßigten um die Jahrhundertwende von einer Geschlechterpolarität aus. Sie vertraten die Ansicht, daß Mann und Frau zwar gleichwertige, aber nicht gleichartige »Geschöpfe« seien.

  • »Allein die Gleichheit [zwischen Mann und Frau, d.Verf.] sei zu allen Zeiten gegründet gewesen auf die Verschiedenheit der Naturen. Nur wo die Kultur mit der Natur übereinstimme, habe sie Bestand. Aber die Arbeit an der Kultur sei eine für Mann und Frau gemeinsame; sie streben beide nach denselben Zielen, aber sie wenden zu deren Erreichung verschiedene, ihrer Individualität gemäße Mittel an«,

betonte Auguste Schmidt, 2. Vorsitzende des ADF, auf der Generalversammlung 1871 (Twellmann 1972, 64). Auguste Schmidt war später von 1894 bis 1899 Vorsitzende des BDF. (Als Leiterin eines Lehrerinnenseminars hatte sie auch u.a. Clara Zetkin ausgebildet, die sie als ihre Lieblingsschülerin bezeichnete; Dornemann 1973, 45.) Die organisierten bürgerlichen Frauen verlangten somit keine Gleichheit mit dem Manne, sondern Gleichberechtigung, eine Gleichstellung der Ungleichen. In der Ablehnung der Gleichheit drückte sich die Kritik an männlichen Verhaltensweisen und Einstellungen aus. Die bürgerlichen Frauen setzten das Männliche gleich mit kalter Ratio und das Weibliche mit Gefühl und Wärme. Louise Otto-Peters formulierte:

  • «... so gab und gibt es auch Unzählige, welche die Bildung des weiblichen Herzens und Gemütes für eine Sentimentalität und jede angeborene sanfte und edle Eigenschaft des Weibes als ein untergeordnetes Moment erklären, das überwunden werden müsse, und welche darauf hinarbeiten, den Verstand des Weibes einseitig auszubilden und eitle, sich breit machende Klugheit an die Stelle tieferer Empfindung zu setzen — Kälte für Wärme, Abstraktion für Begeisterung, Berechnung für Aufopferung, Hochmut für Hingebung — das war ein Tausch, welchen sie den Frauen boten, den sie von ihnen forderten« (zit. v. Greven-Aschoff 1981, 39).

Auch die Radikale Helene Stöcker argumentierte 1897 ähnlich:

  • »Ja, wir sind anders als der Mann — und wollen es auch in Ewigkeit bleiben! Alles rein Analytische ist uns größte Beleidigung und ein leidenschaftlicher Schmerz. Den Intellekt vom Empfindungsleben oder Trieb abzusondern — wäre uns niedrig, verächtlich, unmoralisch ... Eine Analyse ohne nachfolgende Synthese ist uns das Feindliche, Widerwärtige an sich, das tödlich Verletzende.« (ebd., 41)

Gertrud Bäumer verband mit ihrer Kritik an der Männerrolle/Männerwelt auch eine Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft und deren egoistischen Werten: »Die Welterkaltung unter der Herrschaft des Verstandes im Dienste der Habsucht« (ebd., 41). Das »Ewig-Weibliche«, nämlich Wärme, Begeisterung, Hingabe und Aufopferung, sollte somit gegen den »einseitigen Vertandesdespotismus« der Männer zur Geltung gebracht werden. Die organisierten bürgerlichen Frauen waren davon überzeugt, daß die Frauen aufgrund ihrer »weiblichen Natur« einen »kulturhistorischen Beitrag« zur Verbesserung der Gesellschaft leisten könnten (Twell-mann 1972, 22), wenn »man« sie nur ließe.
Zu Unrecht werden unserer Meinung nach diese Vorstellungen von Weiblichkeit von Autorinnen wie Twellmann, Greven-Aschoff, Wittrock als das »Ewig-Weibliche« bezeichnet. Die Weiblichkeitsvorstellungen von Louise Otto-Peters und später Helene Stöcker stellen gerade eine Kritik an dem »Ewig-Weiblichen« dar. So hatte sich Louise Otto-Peters damit im Vormärz gegen eine Strömung gewandt, die man heute unter dem Begriff »Überformung des Weiblichen durch das Männliche« diskutiert. Diese Strömung, die damals sich unter dem Schlagruf »Emanzipation des Fleisches« in Frankreich ausbreitete, hatte ihren Ausgangspunkt in der Julirevolution und dort besonders innerhalb der Bewegung des Saint-Simonismus. »Unter der Parole: «Wir ziehen unsern Weibern neue Hemden an», kämpfte man gegen «die Wassersuppenhochzeiten», das heißt, gegen die übliche Konvenienzehe, und plädierte für die «freie Wahlumarmung»« (Twellmann 1978, 4). Dieser Aspekt des Saint-Simonistischen Befreiungsprogramms war in Deutschland von Männern wie Heine, Gutzkow, Laube und Mundt übernommen worden (ebd., 5). »Sie wollten die «femme libre» und träumten vom unbegrenzten Sexualgenuß« (ebd., 5).
Gegen diese einseitige Anforderung der Männer an die Frauen und die Aufforderung zur Veränderung der Frauenrolle wandte sich Louise Otto-Peters und mit ihr andere Frauen des Vormärz. Sie setzte dagegen das umfassendere Konzept der Weiblichkeit, d.h. Weiblichkeit war/ist mehr als nur Sexualität. »Moralische Freizügigkeit ließ sich ihrer Ansicht nach nur auf der Grundlage ökonomischer Unabhängigkeit verwirklichen« (ebd., 5). Sie wollte eine weitergehende Befreiung der Frauen und damit einhergehend eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch eine Veränderung der sozialökonomischen Lage der Frauen.
Schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts hatten mit Nachdruck einzelne Frauen Emanzipationsforderungen gestellt. Zu ihnen zählten Rahel Varnhagen von Ense, Caroline Schlegel-Schelling und Bettina von Arnim. Es waren aber Einzelstimmen, »die sich weniger den Frauen im allgemeinen als vielmehr ihrem höchst persönlichen 'Ich' gegenüber verpflichtet fühlten« (ebd., 4). Aus diesen Einzelstimmen war dann gegen Ende der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts eine Strömung entstanden, die für »Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit« eintrat und die auf eine Verbesserung aller weiblichen Lebensverhältnisse zielte. Obwohl in der Mehrzahl aus dem Bürgertum kommend, vereinzelt aus der Aristokratie, traten diese Frauen auch für die Rechte der Arbeiterinnen ein, d.h. für die »Bildung und Erwerbstätigkeit der Mädchen der unteren Stände« (ebd., 6). Sie forderten eine sozialökonomische Gleichstellung, eine gerechtere Güterverteilung. Zu den bekanntesten Vertreterinnen des Vormärz gehören neben Louise Otto-Peters, Fanny Lewald, Malvida von Meysenburg, Mathilde Franziska Anneke, Louise Aston, Ida Gräfin Hahn-Hahn u.a. (Sie aus der Geschichte ausgegraben zu haben, ist neben anderem ein Verdienst der neuen Frauenbewegung.) Die Hauptursache für die Unterdrückung aller Frauen lag für die Vertreterinnen des Vormärz in der mangelhaften Mädchenerziehung, die verhinderte, daß Frauen selbständig wurden, und die sie von | der Berufstätigkeit ausschloß. »Schickt die Mädchen auf die Universitäten ' und die Knaben in die Nähschule und Küche: nach drei Generationen . werdet ihr wissen, ... was es heißt, die Unterdrückten zu sein«, hatte bereits 1839 Ida Hahn-Hahn gefordert. Dabei lassen sich auch bei diesen Frauen des Vormärz unterschiedliche Emanzipationsvorstellungen feststellen, Unterschiede, die noch heute in der neuen Frauenbewegung für Zündstoff sorgen. So sah Mathilde Franziska Anneke »in der Befreiung des Weibes« die vordringlichste gesellschaftliche Aufgabe; erst wenn die Gleichstellung der Frau erreicht wäre, könne »die soziale Frage« wirksam gelöst werden. »Damit vertrat die sozialistisch-feministische Frauenrechtlerin Anneke eine entschiedene Gegenposition zur «Nebenwiderspruchstheorie» à la Engels, Bebel oder Zetkin« (ebd., 12).[8]
Ebenfalls gab es damals (wie auch heute noch) unterschiedliche Auffassungen über den Stellenwert von Familie bzw. Ehe und/oder Berufstätigkeit.

  • »Während Autorinnen wie Fanny Lewald, Malvida von Meysenburg oder Louise Otto-Peters — um nur die herausragendsten zu erwähnen — weiterhin die Ehe als die eigentliche Bestimmung der Frau ansehen und nur im Fall einer Nicht-Verheiratung für die weibliche Berufstätigkeit plädieren, bekämpfen Mathilde Franziska Anneke, Louise Aston und Ida Gräfin Hahn-Hahn die Institution der Ehe als eine Fessel der Frau, die dazu dient, ihre Unterdrückung noch wirksamer zu machen.« (ebd., 11)

Die Frauen des Vormärz wehrten sich also gegen die einseitigen Befreiungsvorstellungen der Männer und gaben sich nicht mit dem Ersatz freierer Sexualität, von männlichen Vorstellungen normiert, zufrieden.[9] Mit der Forderung nach »neuer Weiblichkeit« grenzten sich die Vormärzvertreterinnen nicht nur gegenüber den »fortschrittlichen« Männern ab, sondern auch gegen die damals üblichen Vorstellungen des Ideals der »holden Weiblichkeit«. Diese neue Definition von Weiblichkeit diente aber nicht nur der Abgrenzung, sie stellte gleichzeitig eine Aufforderung an die Frauen dar, sich zu verändern. Sie enthielt somit auch Kritik an den Einstellungen und Verhaltensweisen der Frauen, war also keineswegs eine Idealisierung des Weiblichen. Deshalb standen der Erziehungsgedanke und die Bildungsfrage so stark im Vordergrund, nicht nur weil eine gute Ausbildung die Berufschancen verbesserte und einen ersten Schritt in Richtung ökonomischer Unabhängigkeit darstellt. (Diese Kritik an den Einstellungen und Verhaltensweisen von Frauen ist vergleichbar mit dem heutigen Opfer-Täter-Theorem.) So wie unserer Meinung nach die neue Definition von Weiblichkeit vorwärtsweisende Elemente aufwies, die nach 1848 im Zuge der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung zurückgenommen bzw. reaktionär umgedeutet wurden (so vertraten z.B. die Frauen des ADF 1865 mehrheitlich die Meinung, daß Frauen nur in rein »weiblichen« Bereichen, wie Krankenpflege und Erziehung, erwerbstätig sein könnten, während diese Frage bei den Vertreterinnen des Vormärz noch unentschieden diskutiert worden war), hat auch der spätere Mütterlichkeitsbegriff ähnliche Wandlungen erfahren. Als nämlich in der Zeit des Sozialistengesetzes die Familie wieder hoch im Kurs stand als Befriedungsfaktor gegen die sozialen Unruhen, und die Frauen stärker an den Herd gebunden werden sollten, versuchte Helene Lange mit der »organisierten Mütterlichkeit« offensiv auf diese Situation zu reagieren. Mütterlichkeit, ja, aber nicht nur ui der Familie, sondern auch in der Gesellschaft. Sie beanspruchte damit für die Frauen nicht nur einen Platz in der Familie, sondern auch einen außerhäuslichen Arbeitsplatz. Es war ein neuerlicher Anlauf, Frauen »gesellschaftsfähig« zu machen.
Der Weiblichkeitsbegriff war, wie später auch der Mütterlichkeitsbegriff, nicht nur ein Theorieprodukt; er war gleichzeitig ein Kampfbegriff und ein Kampfmittel. Theoretisch war damit der Anspruch von Frauen auf Gleichstellung begründet worden, praktisch angewandt, sollten damit Berufsfelder für Frauen erschlossen und die männliche Konkurrenz ausgeschaltet werden.
Über die Gleichstellung, Gleichberechtigung der Frauen hinaus, wurde das Ziel einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse angestrebt. Für Teile der bürgerlichen Frauenbewegung war die Gleichberechtigung nur ein Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Sie traten für die gesellschaftliche Anerkennung und Aufwertung der weiblichen Werte ein. Die Frauen sollten diese Werte nicht nur im privaten Bereich, sondern auch in der Öffentlichkeit zur Geltung bringen. Durch das öffentliche Wirken der Frauen versprachen sie sich eine Änderung der nach männlichen Werten normierten Berufswelt. Mit der Kritik an der männlichen Dominanz verknüpften sie eine umfassende Gesellschaftskritik. Sie wollten zwar keinen Klassenkampf, aber sie wollten eine »Kulturrevolution«. In den beiden feministischen Konzepten von »neuer Weiblichkeit« bzw. »organisierter Mütterlichkeit« wurde eine Einheit unter den Frauen postuliert. Weiblichkeit und Mütterlichkeit waren Kategorien, die klassenübergreifend wirken sollten. Der feministische Einheitsgedanke basierte somit nicht auf einem abstrakten Politikverständnis, da er an der Lebenspraxis aller Frauen anknüpfte.[10]

Zur »organisierten Mütterlichkeit« des gemäßigten Flügels
Die Entwicklung des Begriffes der »organisierten Mütterlichkeit« ist vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit den Positionen der proletarischen Frauenbewegung und den radikalen Strömungen innerhalb des BDF sowie den Auseinandersetzungen mit männlichen Standpunkten zu sehen.[11]
Während vom radikalen Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung die aus der Aufklärung/französischen Revolution stammenden naturrechtlichen Vorstellungen von der Gleichheit der Geschlechter zum Ausgangspunkt der Emanzipationsansprüche erhoben und die Befreiung der Frau durch die Berufstätigkeit postuliert wurde, wobei sich die sozialistische Richtung einseitig auf die Bedeutung der Industriearbeit bezog, die radikalen Frauen dagegen die Erschließung intellektueller Berufe betrieben, nahm der gemäßigte Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung mit seiner Idee von der »organisierten« (auch »sozialen« oder »erweiterten«) Mütterlichkeit Bezug auf den Widerspruch zwischen dem abstrakten Gleichheitspostulat und der Lebenspraxis der Mehrheit der Frauen. Hier wurde die These von der Polarität der Geschlechter vertreten, bei der die Gleichwertigkeit, aber Verschiedenartigkeit der Frau gegenüber dem Mann im Vordergrund stand. Aus der »Tatsache der durchgängigen körperlichen und seelischen Verschiedenheit der Geschlechter« (Programm des ADF 1905, o.S.) leiteten die gemäßigten Frauen ab, daß »nur in dem gleichwertigen Zusammenwirken von Mann und Frau alle Möglichkeiten kulturellen Fortschritts verwirklicht werden können« (ebd.), und daß die zentrale Bestrebung der Frauenbewegung darin liegen müsse, »den Kultureinfluß der Frau zu voller innerer Entfaltung und freier sozialer Wirksamkeit zu bringen« (ebd.).
Das Konstrukt des »weiblichen Kultureinflusses« findet seine konkrete inhaltliche Ausfüllung in der (»sozialen«/»organisierten«) »Mütterlichkeit« als allen Frauen gemeinsamer Geschlechts-/Sozialcharakter, der als politische Programmatik gewendet, die Politisierung und Einbeziehung aller Lebensbereiche von Frauen (aller Klassen) in die Theorie und Praxis der Frauenbewegung verficht.
Der von den radikalen und sozialistischen Positionen systematisch vernachlässigte Reproduktionsbereich erhält aus dieser Perspektive als zentraler Aspekt des weiblichen Lebenszusammenhangs einen besonderen Stellenwert, indem — kontrastierend zu den radikalen und sozialistischen Auffassungen — die Vorstellung von der sich im Zuge des Fortschritts technologisch-ökonomischer   Entwicklung   »von   selbst«   erledigenden Hausarbeit als unrealistisch zurückgewiesen und demgegenüber die besondere gesellschaftliche Relevanz der Frauenarbeit in der Familie hervorgehoben wurde. Auf dem Hintergrund einer Analyse zur Situation der Frau bezogen die gemäßigten Frauen die von sozialistischer und radikaler Theorie ausgeblendete Doppelbelastung von Frauen in Beruf und Familie in das Zentrum theoretischer Überlegungen und politischer Strategien und Forderungen ein. Im folgenden wird zu untersuchen sein, wie die Kategorie der »organisierten Mütterlichkeit« als Ausdruck einer spezifisch weiblichen Identität und zugleich als politische Programmatik gewonnen und wie sie gedacht wurde in bezug auf die unterschiedlichen Lebensbereiche von Frauen, welche Forderungen und Politikformen sich aus ihr ableiteten. Die Entwicklung dieser Kategorie ist zu verstehen auf der Grundlage einer Geschichtsinterpretation, die davon ausging, daß durch die Entstehung der modernen Industriegesellschaft und der damit einhergehenden Zunahme der Bedeutung der Geldwirtschaft ein Zurückdrängen und Verlust von weiblichen Einflußsphären stattgefunden habe, indem durch die Schaffung einer »objektiven Kultur« immer mehr Tätigkeiten aus dem Binnenraum der Familie in den gesellschaftlichen Bereich verlagert wurden, auf den die Frauen im Gegensatz zu den Männern keinen Einfluß hatten. Lediglich die Mutterschaft stellte einen Bereich dar, der sich gegen diese Hinausverlagerung als resistent erwiesen hatte (vgl. Lange 1980, 21).
Während in der Agrargesellschaft noch keine strenge geschlechtsspezifische Trennung der Sphären der Arbeit vorhanden gewesen und von einem gleichwertigen Beitrag von Frau und Mann selbstverständlich ausgegangen worden sei, habe die Rolle des Mannes im Zuge der Verlagerung seiner Arbeit in den öffentlichen Bereich und die Tatsache der Entlohnung seiner Arbeit eine Aufwertung zur »Ernährerrolle« erfahren, bei der Frau sei es dagegen zu einer »innere(n) Abhängigkeit im persönlichen Leben und eine(r) mindere(n) Einschätzung [der Familienarbeit; d.Verf.] innerhalb der sozialen Gemeinschaft« (ebd., 115) gekommen. Ausschließlich verwiesen auf den engen Rahmen einer immer mehr an Funktionen einbüßenden Familie, hätten die Frauen somit im Zuge der Konstituierung einer öffentlich-gesellschaftlichen Sphäre, welcher ihr traditioneller häuslicher Bereich als »Privatsphäre« gegenübergestellt wurde, einen Verlust an Bedeutung und Macht zu verzeichnen, den es wieder zurückzugewinnen gelte (vgl. Stoehr 1983, 229).

  • »... die moderne Entwicklung (hat) einerseits den an die Familie gebundenen Wirkungskreis der Frau eingeschränkt, und sie andererseits auf unmittelbare Beteiligung am wirtschaftlichen und sozialen Leben hingewiesen, ohne ihr doch dazu die innere und äußere Bewegungsfreiheit zu geben.« (Programm des ADF 1905, o.S.)

Die Rückgewinnung des verlorengegangenen weiblichen Einflusses wurde jedoch nicht gedacht als ein Streben nach formaler Gleichberechtigung. Eine solche Vorstellung negierten die gemäßigten Frauen als »Ausdruck jenes voraussetzungslosen Idealismus, der ohne Rücksicht auf geschichtlich gewordene und geschichtlich zu begreifende Verhältnisse seine absoluten Forderungen aufstelle« (Lange 1980, 43).
Weder von der Forderung eines Rechts auf Arbeit an sich noch von der Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln wurde die Lösung der Frauenfrage bzw. die Erweiterung der weiblichen Einflußsphäre erwartet, die nur zu erkämpfen sei durch eine Frauenbewegung, die auf »alle Lebensbeziehungen der Frau« (ebd.) eingehe und das Vorhandensein einer spezifisch weiblichen Identität zugrunde lege.[12] »Es handelt sich also darum, der Frau zu einer Anpassung an die modernen sozialen Verhältnisse zu helfen, bei der ihr für sich selbst die größtmögliche Entfaltung der Persönlichkeit und ihres Lebens gewährt ist und die zugleich die Aufgabe erfüllt, von der Frauenkraft den weitgehendsten, zweckmäßigsten, wertvollsten Gebrauch für die Zwecke der Allgemeinheit zu machen.« (ebd., 30) Das sollte erreicht werden durch den besonderen weiblichen Kulturbeitrag, durch das Hineintragen von Mütterlichkeit in Beruf und Politik und alle anderen gesellschaftlichen Bereiche — als Betonung von Menschlichkeit im Gegensatz zur verdinglichten, von Rationalität getragenen Männerwelt — mit dem Ziel, »Frauenkraft als Frauenkraft« (ebd., 26) in die  gesellschaftliche Sphäre zu integrieren und diese entgegenzusetzen der die »Welt der gesellschaftlichen Produktion mit der schauerlichen Unpersönlichkeit ihres Mechanismus, der den einzelnen rücksichtslos zu einer Triebkraft im Räderwerk macht« (ebd.). Damit sollte eine »spezifisch weiblich geartete Kultur als Einschlag und Ergänzung der männlichen Art auf allen Lebensbereichen« (ebd., 45) geschaffen werden durch die Beteiligung von Frauen an den Kultursystemen des Berufslebens und der Politik.
Das Konstrukt der »organisierten Mütterlichkeit« wies dabei die von Männern geprägten Ideale der Weiblichkeit entschieden zurück als Widerspiegelungen »männlicher Bedürftigkeit«, um somit der Funktionalisierung weiblicher Fähigkeiten im männlichen Interesse zu begegnen (vgl. Stoehr 1983, 225). Der Begriff der »Mütterlichkeit« stellte im Gegensatz  zur Kategorie der »Weiblichkeit« nicht ab auf ein Verständnis der Frau als Geschlechtswesen, welches ohne die Zuordnung zum Manne nicht denkbar war, sondern zielte auf eine allen Frauen gemeinsame Identität, die den Frauen eine neue Perspektive/Handlungsebene erschließen sollte zur Rückgewinnung verlorengegangener Macht (ebd., 226). »Organisierte Mütterlichkeit« wurde dabei nicht verstanden als eine Befestigung der traditionellen Frauen- und Mutterrolle, sondern als eine Theorie und Praxis, die mehr Menschlichkeit beinhalten und den Frauen die Möglichkeit bieten sollte, aus der begrenzten häuslichen Sphäre herauszutreten, ohne ihre Identität aufgeben zu müssen, sondern in ihrer Berufsarbeit und ihrer politischen Arbeit anzuknüpfen an ihren bisherigen Erfahrungen und den damit verbundenen positiven Werten. Es handelte sich in diesem Zusammenhang um die Eröffnung einer Perspektive gerade auch für Frauen, die keine Mütter waren, denn es wurde eine soziale, geistige Mütterlichkeit (ein Abstraktum der realen Mütterlichkeit) postuliert, die nicht (nur) verstanden wurde als Arbeit innerhalb der Familie, sondern gerade darüber hinausweisend als Mütterlichkeit in Beruf und Politik.
Erwerbstätigkeit und Professionalisierung der Mütterlichkeit Ein vorrangiges Ziel des Postulates der »organisierten Mütterlichkeit« hatte zunächst in einer Legitimation der Berufstätigkeit kinderloser bzw. »unversorgter« Frauen[13] und in der Durchsetzung und besonderen inhaltlichen Ausformung qualifizierter Berufe für Frauen bestanden. Dabei galt es zum einen, Berufe für Frauen zurückzuerobern, die traditionell dem weiblichen Tätigkeitsfeld zuzuordnen waren — wie etwa der Arztberuf und die Krankenpflege, kreative Berufe und die Bildung (hier hebt die gemäßigte Frauenbewegung besonders auf die Mädchenbildung ab) —, aus denen die Frauen von Männern verdrängt worden seien (vgl. Lange 1980, 136). Zum anderen wurden neue Tätigkeitsbereiche erschlossen vor allem in der Sozialarbeit/Familienfürsorge, Rechtsberatung und im Rahmen von autonomen — nach dem Selbsthilfeprinzip organisierten — Aus- und Weiterbildungsprojekten für Frauen, Bereiche, die anknüpften an die Vorstellung der »sozialen« bzw. »organisierten Mütterlichkeit« und wegbereitend für die Professionalisierung des gesamten Sektors der Sozialarbeit wirkten. Diese Bestrebungen galten zunächst der Eröffnung von Berufsmöglichkeiten für kinderlose Frauen. Obwohl sich der gemäßigte Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung gegen die Propagierung der prinzipiellen Verbindung von Beruf und (realer) Mutterschaft als Idealform wandte, die wegen der Doppelbelastung der Frau abgelehnt wurde, mußte, doch eingeräumt werden, daß die Familie nicht mehr die volle Kraft der Frau das ganze Leben hindurch beanspruche, und daß »fast die Hälfte der gesamten Lebensjahre aller erwachsenen Frauen in Deutschland der Erwerbsarbeit, nur wenig über die Hälfte noch der Arbeit in der Familie gehörten« (Lange 1980, 23).
Als zentrales Problem wird in diesem Zusammenhang die Verbindung zwischen Mutterrolle und Berufsrolle diskutiert. Die Verknüpfung dieser beiden Sphären stellte sich in unterschiedlichen konkreten Erscheinungsformen dar als zeitliches Nacheinander, ebenso wie als mühsames Nebeneinander in der Doppelrolle. Die Forderung nach einer Trennung von Berufs- und Familientätigkeit wurde nicht vertreten, da die »wirtschaftliche und geistige Entwicklung im Frauenleben diese Lösung heute nicht mehr gestattet. Und zwar sowohl aus wirtschaftlichen als auch aus inneren Gründen.« (ebd., 106)
Denn die Arbeit von Müttern stelle in vielen Familien eine Existenzfrage dar und darüber hinaus biete die Familientätigkeit keinen für ein ganzes Leben ausreichenden Lebensinhalt mehr. Eine eindeutige Antwort auf die Form der Lösung des im »Doppelberuf der Frau« liegenden Problems wird nicht geliefert mit dem Hinweis, daß ein Arrangieren mit diesem Widerspruch an den individuellen Gegebenheiten orientiert sein müsse und daher vielgestaltig ausfallen könne (vgl. Lange 1980, 117).
Die Vorstellung allerdings, daß bereits in der Berufsarbeit an sich das Erstrebenswerte liege, da sie als Mittel zur ökonomischen Unabhängigkeit zu betrachten sei, wird mit der Begründung zurückgewiesen, daß als erstrebenswert vielmehr diejenige Arbeit anzusehen wäre, durch welche »ein Maximum an wertvollen Leistungen zu erreichen ist« (Lange 1980, 117). Dabei wird davon ausgegangen, daß in den »unteren Berufsschichten« mit ihrer undifferenzierten Industriearbeit der Familienberuf mehr Möglichkeiten zu persönlich wertvoller und befriedigender Arbeit bieten könne als die Erwerbsarbeit. Deshalb sei Berufstätigkeit nur in dem Maße anzustreben, als sie neben dem Mutterberuf zu bewältigen sei. »Das entspricht durchaus dem Empfinden der Arbeiterinnen selbst.« (ebd.) Aufheben ließe sich der Widerspruch im Leben der Frauen jedoch nicht vollständig, daher wurde es zum Ziel der Frauenbewegung erhoben, soziale Institutionen zu schaffen, die »der Frau die Ausrüstung für ein befriedigendes Dasein auf dem Arbeitsmarkt ermöglichen« (ebd.)- Hier setzten die politischen Strategien des gemäßigten Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung an mehreren Punkten an — wie der Forderung nach einer Schutzgesetzgebung für Arbeiterinnen und berufstätige Mütter, Maßnahmen zur Unterstützung der Arbeiterinnen bei ihren Familienaufgaben durch Hauswirtschaftsunterricht, Säuglingsfürsorge (vgl. Stoehr 1983,230 u. 245) etc. und darüber hinaus durch Bestrebungen für eine entsprechende Mädchenbildung zur Vorbereitung auf einen qualifizierten Beruf, der ihnen Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung bieten sollte. Die Berufe für höher qualifizierte Frauen (wie Lehrerinnen, Ärztinnen etc.) ließen den Widerspruch der Aufteilung zwischen den beiden Sphären von Mutterschaft und Erwerbstätigkeit nicht so krass zu Tage treten, da die Frauen hier keine so starre zeitliche Einbindung erfahren würden wie beispielsweise Industriearbeiterinnen, außerdem wurde in Betracht gezogen, daß »die Mutter sich in dieser Hinsicht durch andere Kräfte entlasten« (Lange 1980, 119) könne von der Hausarbeit. Außerdem wirke »eine berufstätige Frau unter Umständen für die Entwicklung ihrer Kinder wohltätiger ... als eine ängstliche Mustermama, die unausgesetzt an ihnen «erzieht»«, (ebd.)
Die Erschließung und besondere inhaltliche Ausformung qualifizierter Frauenberufe und die Schaffung besserer Arbeitsbedingungen bezeichnen nur eine Strategierichtung der Politik des gemäßigten Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung, die ja auf die Einbindung aller Lebensbereiche von Frauen zielte.
Eine zweite Richtung knüpfte an die Lebenspraxis der Frauen an, die ausschließlich als Hausfrauen und Mütter lebten. Ausgehend von der Vorstellung, daß nur die Umlaufform des Arbeitsertrages an der ökonomischen Abhängigkeit der Frau vom Manne schuld sei, wurde es als realisierbar angesehen,
»den Wert der hauswirtschaftlichen Leistungen der Frau in das allgemeine Bewußtsein zu erheben, auch wenn sie keinen Preis auf dem Arbeitsmarkt erhalten.« (ebd., 115)
Diesem Mißstand sollte durch die Forderung nach einer rechtlichen Regelung Rechnung getragen werden, die der Frau einen bestimmten Anteil des männlichen Einkommens zur freien Verfügung überläßt und dabei sicherstellen müsse, daß die Frau vor »Willkür und Laune« geschützt »die ihr zustehende Summe nicht als eine jedesmalige Gunst, sondern als anerkanntes Recht in Anspruch nehmen könnte«, (ebd., 123)
Neben dieser Forderung nach Sicherstellung einer ökonomischen Unabhängigkeit zielte die Politik des gemäßigten Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung darauf ab, die gesellschaftliche Bedeutung der Frauenarbeit ins öffentliche Bewußtsein zu heben. Dies geschah zum einen durch eine spezifische Ausbildung zur Mütterlichkeit, indem den Frauen ein gewissermaßen »professionelles« Verhältnis zu ihrer Arbeit im Haus vermittelt wurde. Dabei handelte es sich um eine Ausbildung, die dem Dualismus von volkswirtschaftlichen/beruflichen und familienwirtschaftlichen Anforderungen gleichermaßen gerecht werden sollte und zur Vorbereitung sowohl auf die Hausarbeit als auch auf die »erweiterte Mütterlichkeit« im Rahmen von Berufsarbeit (= Sozialarbeit) diente, wodurch die Einstellung vermittelt werden sollte, daß mütterliches Handeln in der Familie gesellschaftlich von großer Relevanz, für das Gemeinwohl förderlich und somit auch von zentraler politischer Bedeutung sei (vgl. Stoehr 1983,  236). Aus dieser Perspektive ist auch die Betonung der Bedeutung der Hausarbeit und Mutterschaft in der Verwendung der Begriffe »Familien- bzw. Mutterberuf« zu verstehen als ein Hinweis auf die soziale Relevanz dieser Arbeit als besondere Kulturleistung im Dienste der Gesellschaft.  Überlegungen zur Abschaffung der Hausarbeit erschienen den Frauen des gemäßigten Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung als Aufgabe eines Machtpotentials, das infragezustellen sie nicht bereit waren, da nach ihrer Auffassung der Mutterberuf innerhalb der Familie mehr Befriedigungsmöglichkeiten bot als die Masse der für Frauen im Bereich der gesellschaftlichen Produktion bereits gestellten Arbeitsplätze, die sich insbesondere in der Industrie mehrheitlich durch Monotonie und ungünstige Arbeitsbedingungen auszeichnete.

Exkurs: Zum Frauenleitbild des radikalen Flügels

Nachdem zuvor die Positionen des gemäßigten Flügels und das von ihm propagierte Leitbild der »organisierten Mütterlichkeit« als eine alle Lebenszusammenhänge von Frauen umspannendes und über »das Haus« hinausweisendes politisches Programm skizziert wurde, soll im folgenden auf den vom radikalen Flügel entworfenen Frauentypus eingegangen werden.
Ausgehend von der naturrechtlichen Gleichheitsidee (die die radikalen Frauen mehrheitlich vertraten[14] — ebenso wie die proletarische Frauenbewegung) forderte der radikale Flügel gleiches Recht von Mann und Frau auf Arbeit, auf Entfaltung im Beruf, auf politische Mitbestimmung und auch auf Sexualität (vgl. Schenk 1981, 151). Damit wurde die Vorstellung von einem Idealbild der emanzipierten Frau verbunden, die Mutterschaft und Beruf gleichzeitig in Personalunion bewältigt. Als unabdingbare Voraussetzung für die Mutterschaft wird angesehen, daß die Frau zuvor die Möglichkeit erhalten hat, sich ungehindert der »Entfaltung aller ihrer Fähigkeiten« (Stöcker 1906, 77) zu widmen. Nachdem die Frau sich selbst gefunden habe, könne sie sich »in freier Selbstbestimmung... dem zuwenden, was ihrer Natur am gemäßesten ist« (ebd.) — dem Mutterberuf. Allerdings dürfe dieser nicht zum Dogma erhoben werden, da so verhindert würde, daß die Frauen erst selbst ihr Leben erleben könnten — ein Weg, der »die freie Entwicklung der einzelnen Frauenpersönlichkeit hemmt und von vornherein Fesseln schlägt« (ebd.). Eine »seelisch entwickelte Frau« sei viel eher in der Lage, eine »beglückendere Mutter« zu sein als die »geistig hilflose, unreife Frau der Vergangenheit« (ebd., 79). Das Auftreten eines schweren Konflikts zwischen Persönlichkeits- und Mutterpflichten wird zwar konstatiert.
»Die doppelten Pflichten, die ihr Geschlecht ihr auferlegt bedingen es freilich, daß der Mann im allgemeinen Wettkampf der äußeren Leistungen ihr voran ist. Er hat nur ein Gebiet, wo sie zwei hat, von denen jedes eigentlich einen ganzen Menschen beansprucht.« (ebd., 81)
Aber die Frauen werden darüber hinweggetröstet mit dem Hinweis, daß »der Konfliktreichtum des Frauenlebens [zwar; d. Verf.] ein äußerer Schade, aber ein innerer Gewinn« (ebd.) sei. Zu denken gibt dabei, daß als Beispiele für diese Lebensform Künstlerinnen[15], Agitatorinnen, Ärztinnen und Predigerinnen angeführt werden — also Berufe mit einem relativ hohen Autonomiespielraum zum Beispiel hinsichtlich der Zeitgestaltung —, jedoch auf den beruflichen Alltag der Mehrheit der Frauen nicht abgehoben wird, die sich nicht — wie die o.a. privilegierten Frauen — von vielen Familienpflichten durch Inanspruchnahme von Hilfskräften entlasten konnten.
Die Rolle des Mannes hinsichtlich der Entlastung der Doppelbelasteten bleibt dabei auch relativ unklar. Zwar wird eine »immer bewußtere, ernstere Entwicklung des väterlichen Verantwortungsgefühls« (ebd., 78) gefordert, aber von einer Gleichverteilung der Familienpflichten/-arbeiten wird hier nicht gesprochen. Es handelt sich offenbar mehr um eine »moralische« Verpflichtung des männlichen Parts.
Den Frauen bleibt — als Resultat ihrer Doppelbelastung in Familie und Beruf — die Verheißung:

  • »Aus so heißen seelischen Kämpfen geht am Ende jene Hingabefähigkeit, jene nie versagende Güte hervor, wie sie das Kind braucht, um im warmen Sonnenschein mütterlicher Zärtlichkeit zu einem starken und frohen Menschen heranzuwachsen.« (ebd., 81)

So soll den Frauen über die von den Radikalen konstatierte physische und intellektuelle Überlegenheit des männlichen Geschlechts (vgl. Stöcker 1906, 81) hinweggeholfen werden, indem auf die »sittlich-seelische Überlegenheit der Frau« (ebd.) hingewiesen wird.
Schleicht sich hier dann doch eine Geschlechterpolarität wieder ein, um die Widersprüchlichkeiten der verschiedenen Lebenszusammenhänge von Männern und Frauen bzw. die Zuschreibung der zusätzlichen Verantwortlichkeit für den »Mutterberuf« zu rechtfertigen?

Selbsthilfeorganisation als Politikform
Sowohl der gemäßigte als auch der radikale Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung betrieben Sozialarbeit im Rahmen von Selbsthilfeprojekten. Diese Selbsthilfemaßnahmen griffen auf unterschiedlichen Ebenen. So wurde aus dem Programm der »organisierten Mütterlichkeit« u.a. eine spezifische Mädchen-/Frauenbildung abgeleitet, aus der Projekte wie z.B. eine Frauenschule für Sozialarbeit und eine Frauenhochschule entstanden. Darüber hinaus entsprangen im Zusammenhang mit der Idee der »sozialen/organisierten Mütterlichkeit« — aus der Einsicht in die elende Lebenssituation der Arbeiterinnen — zahlreiche Organisationen, die es sich zur Aufgabe machten, die Frauen von ihren Familienpflichten zumindestens teilweise zu entlasten durch soziale Hilfsmaßnahmen in diesem Bereich — wie etwa Hausarmenpflege und Säuglingsfürsorge (vgl. Stoehr 1983, 245). Die 1893 gegründeten »Mädchen und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit« vertraten in der Zielsetzung eine systematische Ausbildung und praktische Einführung im Rahmen der sozialen Hilfsarbeit bei diversen Wohlfahrtsorganisationen; diese Organisationen verfochten eine autonome Frauenpolitik als Prinzip der Selbsthilfe und verstanden sich als Ausbildungsprojekt für Frauen und Mädchen, Koordinatoren für Neugründungen von Selbsthilfeorganisationen von Frauen in diesem Bereich und Berufsfeld für im Rahmen der erweiterten Mütterlichkeit ausgebildete Frauen (vgl. ebd., 239).
Im Rahmen dieser Projekte wurde ausgegangen von einer klassenübergreifenden Frauenverständigung und -Solidarität. Als konkrete Vorhaben wurden u.a. Erholungsheime und Unterkünfte für junge Arbeiterinnen realisiert (vgl. ebd., 240).
Der radikale Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung betrieb im Zusammenhang mit der Idee der Neuen Ethik im Rahmen des 1905 gegründeten Bundes für Mutterschutz und Sexualreform ebenfalls praktische Sozialarbeit nach dem Selbsthilfeprinzip. Ziele stellten dabei insbesondere die soziale Hilfsarbeit für ledige Mütter durch Beratungsarbeit, Gründung von Mütter- und Kinderheimen dar sowie Sexualaufklärung und Informationen über Geburtenregelung für Frauen aus allen Bevölkerungskreisen (vgl. Stocker 1906, 173ff.). Die »Verbindung von praktischer sozialer Tätigkeit und intensiver theoretischer Propaganda« (ebd., 173) beschreibt das Tätigkeitsfeld der Radikalen.
Alle diese Projekte waren getragen von dem Gedanken, daß nur Frauen eine Hilfe für Frauen leisten könnten und daß es notwendig sei, das Leben von Frauen hier und heute zu verändern.
Insgesamt läßt sich feststellen, daß dies Gebiet der Frauenselbsthilfe Projekte, zu dem auch die Modelle der Hausgenossenschaften/Gemeinschaftsküchen (die z.T. von Frauen des radikalen Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung ebenso wie von den Reformistinnen innerhalb der Sozialdemokratie propagiert wurden) zuzurechnen sind, in der vorliegenden Literatur relativ wenig erschlossen scheint und sich hier u.E. ein breites Feld eröffnet, auf dem es weiterzuforschen gilt.
Wir stellen hier die These auf, daß die Frauen der bürgerlichen Frauenbewegung die Subjekte der Vergesellschaftungsprozesse u.a. im Bereich der Kindererziehung und des Haushaltswesens waren. Unserer Meinung nach gelang es der bürgerlichen Frauenbewegung — im Unterschied zur proletarischen —, den Vergesellschaftungsprozeß voranzutreiben.