Darum lieferte Gott sie entehrenden Leidenschaften aus

Die weibliche Homoerotik bei Paulus

Von zentraler Bedeutung für die Aussagen des Paulus über weibliche Sexualität, weibliches Wesen und das Verhältnis der Geschlechter zueinander ist seine Verurteilung sexueller Liebesbeziehungen zwischen Frauen in Römer 1,26. Durch die ausschlaggebende Rolle des Christentums in Europa haben die ethischen Weisungen des Neuen Testaments, seine Bilder über Frauen und Männer und seine Einstellungen zur Sexualität die westliche Welt durchdrungen. Sie sind für die Entwicklung westlicher Vorstellungen über die Familie und die gesellschaftliche Stellung der Frau sowie die Gesetzgebung im Bereich von Ehe und Sexualität grundlegend gewesen. Der Brief des Paulus an die Römer, geschrieben in der Entstehungszeit des Christentums, wurde im Laufe der Zeit zur maßgebenden Norm christlicher Theologie. Er gehört zu den Büchern des Neuen Testaments, die am meisten gelesen werden und über die am häufigsten gepredigt wird. In der gegenwärtigen kirchlichen Diskussion über die Ordination von lesbischen Frauen und homosexuellen Männern spielen die Aussagen des Paulus über sexuelle Liebesbeziehungen zwischen Frauen und Männern (Römer 1,26-27) eine wichtige Rolle. In den politischen Diskussionen unserer Zeit ziehen konservative Gruppen der Kirche oft die Autorität des Römerbriefes heran, um lesbischen Frauen und homosexuellen Männern das Recht auf Schutz vor Diskriminierung, etwa bei Anstellung und Wohnungssuche oder in bezug auf das Sorgerecht für ihre Kinder, abzusprechen.
Es war eine wichtige Erkenntnis der Frauenbewegung, daß Sexualität etwas mit Macht zu tun hat und daß wir als Frauen nicht selbstbestimmt leben können, solange andere Macht über unseren Körper haben. Feministinnen haben enthüllt, daß Sexualität nicht einfach eine Sache romantischer Liebe und auch kein unwandelbares, rein biologisches Phänomen ist; Sexualität ist vielmehr bestimmt durch gesellschaftliche Strukturen. Wenn wir betrachten, was die Ethik jeweils über weibliche Sexualität zu sagen hat, und gleichzeitig untersuchen, wie Frauen Sexualität erleben, dann lernen wir etwas über Unterordnung und Überordnung in einer bestimmten Gesellschaft. Wenn wir also weibliche Sexualität verstehen lernen, dann verstehen wir nicht nur einen Bereich unter anderen im Leben von Frauen. Dann verstehen wir einen Bereich weiblicher Existenz, in dem Macht auf nachdrückliche Weise zum Ausdruck gebracht wird.
Es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem, was Männer über die Sexualität von Frauen lehren, und den tatsächlichen Erfahrungen, die Frauen mit ihrer Sexualität machen. Die Ansichten des Paulus sind nicht einfach mit dem Denken oder dem Leben von Frauen im frühen Christentum gleichzusetzen. Nichtsdestoweniger hat sein Denken einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, wie im Christentum weibliche Sexualität verstanden und gelebt wird; und deshalb ist es vollkommen in das Leben christlicher Frauen einbezogen worden. 
Es ist Absicht dieser Studie, Paulus im Rahmen seiner kulturellen Umwelt zu verstehen. Das wird uns dazu helfen, unsere eigenen Ansichten über weibliche Sexualität und weibliches Wesen sowie die Aneignung des paulinischen Denkens im Rahmen unserer eigenen kulturellen Umwelt kritisch zu überprüfen.

Eine zentrale Botschaft im Brief des Paulus an die Römer ist die Rechtfertigung aller, die an Christus glauben. In Römer 1,18 bis 3,2 beschreibt Paulus den Hintergrund dieser Botschaft, indem er darlegt, daß alle Menschen der Rechtfertigung bedürfen, daß sie ohne Christus unter der Macht der Sünde leben und verdammt sind. Alle hatten die Gelegenheit, Gott zu erkennen, da Gott sich in seiner Schöpfung offenbart, und deshalb gibt es für diejenigen, die sich von Gott abkehrten und sich Götzen zuwandten, keinerlei Entschuldigungen. Sie haben vielmehr schwerwiegende Konsequenzen zu tragen:
»24 Darum lieferte Gott sie durch die Begierden ihres Herzens der Unreinheit aus, so daß sie ihren Leib durch ihr eigenes Tun entehrten. 25 Sie vertauschten die Wahrheit Gottes mit der Lüge, sie beteten das Geschöpf an und verehrten es anstelle des Schöpfers - gepriesen ist er in Ewigkeit, Amen 26 . Darum lieferte Gott sie entehrenden Leidenschaften aus: Ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen; 27 ebenso gaben die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in Begierde zueinander; Männer trieben mit Männern Unzucht und erhielten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verirrung» (Römer 1,24-27, Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift).
Demnach sieht Paulus in gleichgeschlechtlichen Beziehungen eine Folge des Götzendienstes. Sie sind ein Zeichen der Entfremdung menschlicher Wesen von Gott.
Dieser Aufsatz wird vor allem Vers 26 behandeln, in dem von unnatürlichen Beziehungen zwischen Frauen die Rede ist. Denn obwohl die Verurteilung männlicher Homosexualität in Vers 27 in Zusammenhang steht mit Vers 26, handelt es sich nicht um einen Parallelfall und kann nicht einfach unter sexuellen Liebesbeziehungen zwischen Frauen subsumiert werden.

Ich vertrete die These, daß bei Paulus die Verurteilung weiblicher Homoerotik in engem Zusammenhang mit seiner Forderung nach geschlechtsspezifischem Aussehen steht, und zwar deshalb, weil der Mann das Haupt der Frau sei (vgl. 1. Korinther 11,2-16). 
Paulus könnte sehr wohl übereinstimmen mit anderen zeitgenössischen Äußerungen zur weiblichen Homoerotik und zu der den Frauen zukommenden Geschlechtsrolle, daß Frauen durch ihre sexuellen Beziehungen zueinander versuchten, wie Männer zu sein, das heißt die Grenzen der ihnen von Natur aus zugeteilten passiven, untergeordneten Rolle zu überspringen. Die Worte »vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen» sind meines Erachtens so zu verstehen, daß Frauen die passive, untergeordnete Geschlechtsrolle mit einer aktiven, selbstbestimmten vertauschten. Wenn meine These zutrifft, ist auch klar, daß bei Paulus die Verurteilung sexueller Liebesbeziehungen zwischen Frauen grundlegende Bedeutung hat für sein Verständnis weiblicher Sexualität überhaupt.

Weibliche Homoerotik in der griechisch-römischen Welt

Paulus war in seinem theologischen Denken von seiner kulturellen Umwelt bestimmt. Um seine Ansichten zu verstehen, müssen wir feststellen, wo Römer 1,26 in das Spektrum antiken Denkens über weibliche Homoerotik einzuordnen ist. Wir müssen den historischen Zusammenhang verstehen, damit wir bei der Auslegung des Paulus nicht anachronistisch vorgehen, sondern den Ort seines Denkens innerhalb der zeitgenössischen Diskussion über weibliche Sexualität, wie sie sich zu seiner eigenen Zeit darstellte, bestimmen.

Jüdische Autoren
Sexuelle Beziehungen zwischen Frauen werden in der hebräischen Bibel nicht untersagt, obwohl männlich-homosexueller Geschlechtsverkehr verboten wird: »Schläft einer mit einem Mann, wie man mit einer Frau schläft, dann haben sie eine Greueltat begangen; beide werden mit dem Tod bestraft; ihr Blut soll auf sie kommen» (Einheitsübersetzung Levitikus (3. Mose) 20,13; vgl. Levitikus 18,22). In der nachbiblischen jüdischen Literatur wird die Frage des Geschlechtsverkehrs zwischen Frauen dann doch aufgenommen. Das griechisch geschriebene Werk »Die Sprüche des Phokylides», das wahrscheinlich von einem jüdischen Autor der Diaspora abgefaßt wurde, enthält einen Abschnitt über angemessenes sexuelles Verhalten, Ehe- und Familienleben.[1] Auf das Verbot männlich-homosexueller Praxis folgt ein ähnliches Verbot in bezug auf Frauen: »Auch sollen Frauen nicht das Beilager von Männern nachahmen» (Zeile 192). Der Autor beschreibt männliche Homosexualität als eine Überschreitung der Grenzen der Natur (Zeile 190), die in der Tierwelt nicht vorkomme (Zeile 191). Leser und Leserinnen werden davor gewarnt, einen Sohn langes oder geflochtenes Haar oder einen Haarknoten tragen zu lassen, da langes Haar typisch für wollüstige Frauen sei (Zeilen 210-212). Außerdem heißt es, schöne Knaben seien vor homosexueller Umwerbung zu schützen und junge Frauen müßten bis zu ihrem Hochzeitstag in Abgeschlossenheit leben (Zeilen 213-216). 
 Die Sexualethik dieses Gedichts basiert also auf strenger Geschlechterunterscheidung in Aussehen und sexueller Rolle. Mädchen müssen für die Ehe bewahrt werden, und nach der Hochzeit dürfen sie nicht aus den Grenzen der Ehe heraustreten. Hat eine Frau zu einer anderen sexuelle Beziehungen, wird sie bezichtigt, einen Mann nachahmen zu wollen[2].

In einem rabbinischen Kommentar über Levitikus, Sifra genannt, einer Spruchsammlung aus tannaitischer Zeit (d. h. etwa 220 n. Chr.), kommt das Thema ebenfalls zur Sprache: »lhr sollt nicht tun, was man in Ägypten tut... und ihr sollt nicht tun, was man in Kanaan tut« (Levitikus 18,3). Man könnte das so verstehen, daß sie nicht Gebäude bauen und keine Pflanzen pflanzen sollen wie jene. Deshalb lehrt die Schrift: >Ihre Bräuche sollt ihr nicht befolgen< (Levitikus 18,3) ... Und was taten jene? Ein Mann heiratete einen Mann und eine Frau eine Frau, und eine Frau wurde mit zwei Männern verheiratet.»[3]
In Ermangelung eines biblischen Verses, der sexuelle Beziehungen zwischen Frauen untersagt, wird hier also ein anderer Vers aus dem Buch Levitikus so ausgelegt, als weise er auf derartige Beziehungen hin. Dabei handelt es sich nicht um ein besonderes Verbot. Vielmehr wird von Ägyptern und Kanaanitern gesagt, sie schlössen männlich-homosexuelle und lesbische Ehen, und den Israeliten wird verboten, Gesetze zu befolgen, die das erlauben.

Im Jerusalemer Talmud, einer um das fünfte Jahrhundert n. Chr. redigierten Sammlung von Texten, werden Frauen erwähnt, die sexuell miteinander verkehren, wörtlich: miteinander »hin- und herschwingen»[4]. Der Text berichtet von einer Meinungsverschiedenheit zwischen zwei rabbinischen Schulen des ersten Jahrhunderts. Strittig war die Frage, ob diese sexuellen Praktiken Frauen für das Priestertum untauglich werden lassen, das heißt untauglich, in die Priesterschaft einzuheiraten und die Opfergaben zu essen. Hintergrund der Auseinandersetzung ist das Gebot, daß ein Priester keine Frau heiraten soll, die eine »Dirne» war (Levitikus 21,7), und daß ein Hoherpriester eine Jungfrau heiraten muß (Levitikus 21,13). Die Streitfrage ist also, ob sexuelle Beziehungen zwischen Frauen als Geschlechtsverkehr gelten, was zur Folge hätte, daß die Ehe mit einem Priester verboten wäre. Dem Text zufolge wertet die Schammai-Schule sexuelle Beziehungen zwischen Frauen als Geschlechtsverkehr, der eine Frau untauglich zur Verheiratung mit einem Priester macht; die Hillel-Schule dagegen nicht. In späteren jüdischen Quellen wird diese Diskussion gelegentlich fortgesetzt.[5]

Zusammenfassung: 

Die frühesten jüdischen Quellen, die sexuelle Beziehungen zwischen Frauen ansprechen, stammen aus der römischen Zeit. Die sich abzeichnende Auseinandersetzung mit der Frage könnte besagen, daß Frauen begannen, größere Offenheit an den Tag zu legen, und möglicherweise, daß sie ihren Freundschaften zu Frauen häufiger sexuellen Ausdruck gaben denn Besorgnis über ein Phänomen zeigt im allgemeinen an, daß dieses Phänomen tatsächlich existiert. Die Berücksichtigung sexueller Beziehungen zwischen Frauen bei Paulus paßt gut zu der Tatsache, daß sich jüdische Autoren gerade zu dieser Zeit mit dieser Frage auseinandersetzten.

Nicht-jüdische Autoren
Der früheste eindeutige Hinweis auf weibliche Homoerotik in der griechischen Literatur[6] findet sich wohl in Platons »Symposion».[7] In einem Gespräch über die Ursprünge der Menschheit redet Aristophanes von hetairistriai: Frauen, die sich zu Frauen hingezogen fühlen. Sie seien aus den uranfänglichen Wesen hervorgegangen, die jeweils aus zwei verbundenen Frauen bestanden hätten. Er erwähnt diese Wesen parallel zu den anderen ursprünglichen Geschöpfen, die aus zwei Männern oder aus einer Frau und einem Mann bestanden hätten. In der Vorstellung des Aristophanes fühlt sich jedes menschliche Wesen zu einem Partner, einer Partnerin des Geschlechts hingezogen, mit dem er oder sie ursprünglich verbunden gewesen sei. In seinem letzten Werk »Gesetze»[8] bezeichnet Platon sexuelle Beziehungen zwischen Männern und zwischen Frauen als »widernatürlich» (para physin), und er fügt hinzu, »daß diese Frechheit zu den allerersten Vergehen gehört, wegen der Unbeherrschtheit gegenüber der Lust»[9] 
Während also Platon im »Symposion» Aristophanes voraussetzen läßt, daß gleichgeschlechtliche Liebe genauso natürlich und normal sei wie heterosexuelle Liebe, wird in »Gesetze» das Gegenteil behauptet.

Im dritten Jahrhundert v. Chr. verfaßte Asklepiades ein Epigramm über zwei samische Frauen, Bitto und Nannion, die nicht in Übereinstimmung mit Aphrodites Gesetzen leben wollten. Statt dessen kehrten sie den von Aphrodite gutgeheißenen sexuellen Praktiken den Rücken, um sich anderen, »nicht schönen» zuzuwenden. Asklepiades beschwört Aphrodite, diese Frauen, die den Geschlechtsverkehr innerhalb ihres Reiches fliehen, zu hassen. Ein antiker Kommentar fügte erklärend hinzu, Asklepiades bezichtige die Frauen, tribades zu sein.[10] Tribas war die gebräuchlichste griechische Bezeichnung für eine Frau, die in einer gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehung lebte.

In der lateinischen Literatur des frühen Römischen Reiches gibt es eine ganze Reihe von Hinweisen auf Frauen, die ihre Liebe zu einer anderen Frau auch sexuell ausdrückten. Alle diese Belege sind abschätzig. Seneca der Ältere (etwa 55 v. Chr. bis 40 n. Chr.) behandelt in seinen fiktiven Rechtskontroversen den Fall eines Mannes, der zwei tribades, seine Frau und eine andere Frau, im Bett ertappte und sie beide umbrachte. Ein Verteidiger beschrieb die erste Reaktion des Ehemannes: »Ich schaute zuerst auf den Mann, um zu sehen, ob er natürlich war oder aber angenäht.» Ein anderer Verteidiger bemerkte, daß man die Tötung eines männlichen Ehebrechers unter diesen Umständen nicht dulden könne, fügte aber hinzu: »wenn er aber einen Pseudoehebrecher gefunden habe...» Da können sich die Leser und Leserinnen über diese Ungeheuerlichkeit nur entsetzen, nachdem sie zu der Einsicht geführt worden sind, daß die Tat des Ehemannes gerechtfertigt sei.[11]


Ovids (43 v. Chr. bis 18 n. Chr.) »Metamorphosen» enthalten die Geschichte zweier Mädchen, lphis und lanthe, die einander liebten und heiraten wollten.[12] Weil sich ihr Vater einen Sohn gewünscht hatte, hatte ihre Mutter lphis als Knaben aufgezogen und das vor ihrem Mann verborgen. lphis beklagt nun ihre unglückselige Lage und nennt ihre Liebe unerhört und sogar ungeheuerlich. 
Da die Götter sie zerstören wollten, wehklagt sie, »hätten ein Leid sie verhängt im Bereich der Natur und der Sitte». Bei den Tieren liebten Weibchen keine Weibchen, sagt sie, und in ihrer Verzweiflung wünscht sie sich, nicht länger weiblich zu sein. lphis weiß, daß sie sich als Frau akzeptieren und nach dem streben sollte, was dem göttlichen Gesetz entspricht, nämlich zu lieben, wie es sich für eine Frau gehört. Und doch liebt sie lanthe, obwohl sie weiß: »die Natur, sie verwehrt's; sie ist stärker als alle»[13] Angesichts dieser auf tragische Weise aus dem Rahmen fallenden Umstände - unvereinbar mit dem göttlichen Willen, der Natur, der Sitte und ganz unerhört - sind die Leser und Leserinnen erleichtert, als Isis eingreift und lphis in einen jungen Mann verwandelt, um die Ehe mit lanthe zu ermöglichen.[14]

Der Dichter Phaedrus (gestorben um die Mitte des ersten Jahrhunderts n. Chr.) verfaßte eine Fabel, in der er die Existenz von tribades und passiven homosexuellen Männern (molles mares) auf einen Irrtum von Prometheus zurückführt. Denn als Prometheus einmal berauscht war und schläfrig von einem Festmahl heimkehrte, habe er versehentlich auf männlichen Körpern weibliche Sexualorgane und auf Frauen männliche Glieder angebracht. »Und daher kommt es jetzt zu pervertierter Lust.»[15]
Zwei Epigramme widmete Martial (etwa 40 bis 103 /104 n. Chr.) Philaenis, »Tribade der Tribaden». Er schildert Philaenis als sexuell aggressiv gegenüber Knaben und Mädchen, wobei sie von den letzteren »elf am Tage, wilder als ein von Gier gespannter Mann noch», bearbeitet. Sie verbringe viel Zeit mit Sport: Fangball, schweren Sprunggewichten, Ringkämpfen. 
Sie habe Freude daran, sich von einem gesalbten Trainer mit der Peitsche schlagen zu lassen.[16] Vor dem Essen erbricht sie schon sieben Portionen unvermischten Weines. Nachdem sie sechzehn Fleischgerichte verschlungen hat, kehrt sie dann zum Wein zurück. »Nach dem allen, wenn neu die Gier erregt ist, küßt sie nicht - denn das wär zu wenig männlich - sie verschlingt gradezu den Schoß der Mädel.»[17] Die Logik der letzten Handlung kann Martial nur verachten. Wie könnte sie Cunnilingus für männlich halten? Klar ist, daß aggressives Sexualverhalten, Sport, Wein, Fleisch alle in den männlichen Bereich gehören. Daß aber diese Art der Beschäftigung mit dem weiblichen Körper männlich sein soll, ist nicht einzusehen.

In einem dritten Epigramm wendet sich Martial an eine gewisse Bassa, eine Frau, die er zuerst für ebenso keusch gehalten hatte wie die berühmte Lucretia, weil er nie Bassa sich mit Männern habe paaren sehen und von keinen Skandalgeschichten über sie gehört habe. Im Gegenteil, sie war immer von Frauen umgeben. Aber dann wird ihm klar, daß sie ein fututor »Ficker» war.[18] Ihre »unnatürliche Lieb spiegelt den Mann dabei vor».[19] Ob es ohne einen Mann Ehebruch geben könne, ist eine dem Rätsel von Theben würdige Frage.

Wer Martial interpretieren will, muß vorsichtig sein. Die vulgäre und gewalttätige Sprach- und Bildwelt in den drei Epigrammen begegnet uns nicht nur hier, sondern ist für Martials Stil überhaupt typisch. Bemerkenswert jedoch ist vor allem seine präzise Bildersprache. 
Tribas nennt er eine Frau, die versucht, wie ein Mann zu sein. Der sexuelle Eroberungswille der Philaenis ist unersättlich; sie versucht durch ihr aggressives Drängen, so viele Knaben und Mädchen wie möglich zu erobern. Der Hinweis auf die anscheinend sado-masochistischen Freuden im Zusammenhang mit dem Trainer soll bei den Lesern und Leserinnen besonderes Entsetzen hervorrufen. Könnte es sein, daß die Bereitschaft, sich freiwillig der Gewalttätigkeit auszusetzen, symbolisiert, daß Philaenis sogar die Anwendung von Gewalt gegen sie selbst bestimmen kann? Es sieht hier so aus, als ob allein dann eine Schande vorliegt, wenn ein Mann gegenüber einer Frau nur dann gewalttätig werden kann, wenn sie es erlaubt. Dank dieser Autonomie hat Philaenis aufgehört, eine Frau im Sinne der kulturellen Definition zu sein, und ist zum Mann geworden. Martial kann es dann nur lächerlich erscheinen, daß sie Interesse für weibliche Genitalien zeigt. Denn wie könnte ein vernünftiger Mensch Cunnilingus (weil Frauen daran Gefallen finden könnten?) für männlich halten? Trotz all ihrer Macho-Geschichten ist Philaenis demnach doch kein richtiger Mann. Martial läßt in den Gedichten eine kreative Spannung entstehen, indem er die Bemühungen der Frau, männlich zu sein, übertreibt und diese Bemühungen dann als absurd anprangert. Sie sind jedoch nicht einfach lächerlich. Ein solches Verhalten ist gefährlich und verdient deshalb, als »ungeheuerlich» charakterisiert zu werden.

In einem sehr aufschlußreichen Vortrag über »Autonomie als Anomalie: Römische und nach-klassische griechische Reaktionen auf weiblich homoerotisches Verhalten»[20] vertritt Judith Hallett die These, daß Martial Philaenis bewußt als physisch männlich, das heißt als zu einer Penetration (z. B. von Knaben) fähig, darstellt.[21] Sie weist außerdem darauf hin, daß römische Autoren - so wie etwa Martial in den Epigrammen über Philaenis - weibliche Homoerotik so darstellen, als sei es ein griechisches Phänomen, das mit ihrer eigenen Wirklichkeit nicht viel zu tun habe. Dazu bedienen sie sich zum Beispiel des Griechischen[22] oder griechischer Lehnwörter, von denen eine ganze Reihe in Martials Epigrammen über Philaenis vorkommen. 
Das Wort tribas selbst ist ein griechisches Lehnwort und klang wohl für römische Ohren schon immer ausländisch. Halletts Hypothese ist:
»In gewissem Maße ist dieses männliche Interesse an physischer Männlichkeit, besonders am Besitz des Penis, eine notwendige Komponente weiblich-sexueller Autonomie und Homoerotik. Diese Darstellung weiblich-sexueller Autonomie als ausländisch und nicht römisch scheint einen Versuch darzustellen, derartiges weibliches Verhalten in symbolischer Sprache zu beschreiben, und zwar als eine imaginäre und allzu starke Abweichung von den weiblicher Sexualität gesetzten Grenzen, eine Abweichung, die römischen Männern nur vermittels männlicher Begrifflichkeit erklärbar war.»[23]

Hallett argumentiert wie folgt: Im Gegensatz zu römischen Männern, die die passive sexuelle Phase, während der ein anderer Mann in sie eindringen konnte, etwa im Alter von zwanzig Jahren hinter sich ließen, wurde von den Römerinnen erwartet, daß sie auch als Erwachsene in der passiven Rolle verharrten. Frauen, die die passive sexuelle Rolle ablehnten, waren offenbar am einfachsten zu verstehen, wenn man sich vorstellte, sie hätten - wie die Männer - das nächste Stadium erreicht, zu dem es gehört, in jemanden einzudringen. 


Juvenals (etwa 67 v. Chr. bis?) »Sechste Satire» enthält einen Hinweis auf gewisse Frauen: »Wenn sie am alten Altar der Züchtigkeit vorbeikommen, pissen sie mit langem Strahl auf das Bild der Göttin; dann besteigen sie einander, und der Mond ist Zeuge ihrer (unzüchtigen) Bewegungen.»[24]

An einer anderen Stelle läßt Juvenal eine Frau namens Laronia Frauen mit homosexuellen Männern vergleichen. Unter Frauen, so meint Laronia, »findet man kein Beispiel für solche Abscheulichkeiten»[25]

Auch griechisch schreibende Autoren der römischen Zeit schilderten weibliche Homoerotik fast immer nur negativ. Der Philosoph und Biograph Plutarch (etwa 45 bis etwa 120 n. Chr.) ist eine wichtige Ausnahme. Er beschreibt die Knabenliebe im Sparta des legendären Urhebers der spartanischen Verfassung, Lykurg, ziemlich wohlmeinend als der Erziehung der Jugend förderlich. Nebenbei fügt Plutarch hinzu: »Aber wenn auch die Liebe bei ihnen etwas so Anerkanntes war, daß auch echte Frauen Jungfrauen zu ihren Geliebten machten, so gab es darin doch keinen feindlichen Wettstreit...»[26] Mit keinem Wort erklärt er diese Liebe für pervers oder abscheulich. Dennoch sollten wir uns davor hüten, einfach anzunehmen, daß Plutarchs Bewunderung für die Sitten im alten Sparta bedeutete, daß er Liebesbeziehungen zwischen Fratien oder weiblich-sexuelle Autonomie zu seiner Zeit ebenfalls akzeptiert hätte.[27]
Auch die griechischen Autoren des zweiten Jahrhunderts nach Christus und danach, die sich zur weiblichen Homoerotik geäußert haben, greifen immer wieder die hier skizzierten Motive auf. Der Schriftsteller Jamblichus (nach 100 bis?) erzählt von der Liebe der Berenike, der Tochter des Königs von Ägypten, zu Mesopotamia, mit der sie schlief. Jamblichus sagt von Berenike, sie habe »wilde und gesetzeswidrige Liebesaffären»[28]

Im fünften Gespräch der »Hetärengespräche» Lukians, eines Autors des zweiten Jahrhunderts, geht es um ein Erlebnis, das Leaena mit zwei anderen Hetären, Megilla und Demonassa, hatte. Megilla, einer wohlhabenden Frau aus Lesbos, war es gelungen, Leaena zu verführen, obwohl sich Leaena dieser seltsamen Zuwendung schämte. Es stellt sich heraus, daß Megilla ihr wahres Selbst darin sieht, eine Megillus zu sein, und daß sie Demonassa als ihre Ehefrau betrachtet. Um ihre kurzen Haare zu verbergen, trägt Megilla eine Perücke. Sie habe, so sagt sie, zwar kein männliches Glied, dafür aber eine Art Ersatz. Leaena weigert sich, die sexuelle Begegnung genau zu beschreiben, weil es zu »schändlich» sei.[29]

In Dialogform geschrieben sind auch die »Amores» des Pseudo-Lukian (wahrscheinlich frühes 4. Jh.). Einer der Redner spricht darin von »tribadischer Ausschweifung» und wiederholt das bekannte Motiv, Frauen mit homoerotischen Neigungen verhielten sich wie Männer.[30]
In seiner Abhandlung über Traumdeutung erwähnt Artemidoros (2. Jh.) Träume, in denen eine Frau eine andere sexuell besitzt.[31] Die beiden von Soranus im zweiten Jahrhundert verfaßten Traktate »Über chronische Krankheiten» und »Über akute Krankheiten» sind nur in der lateinischen Übersetzung des afrikanischen ärztlichen Schriftstellers Caelius Aurelianus (5. Jh.) erhalten. 
Darin ist von der Krankheit der tribades die Rede; sie würden so genannt, weil sie an beiden Formen der Liebe interessiert seien, obwohl sie Frauen bevorzugten und ihnen mit einer schon fast männlichen Eifersucht nachstellten.[32]
Einige antike Astrologen erwähnen sexuelle Beziehungen zwischen Frauen als eine von den Sternen und Planeten verursachte Störung. So schreibt Ptolemäus (2. Jh.) über tribades: Sie »werden widernatürlichen Begierden unterliegen, geil sein und ... der Sexualität in männlicher Art ... fröhnen», und sie bezeichnen sogar Partnerinnen manchmal als »rechtmäßige Ehefrauen». An einer anderen Stelle nennt er tribades »kastrierte (Männer)»[33] Nach Vettius Valens (Mitte des 2. Jh.) sind die tribades »ausschweifend, unterwürfig, und sie tun schändliche Dinge»[34] Und Manetho (wahrscheinlich 4. Jh.) sagt von ihnen, sie »verrichten Taten nach der Art von Männern»[35]

Zusammenfassung 

Die meisten der hier besprochenen Autoren sehen sich offensichtlich nicht in der Lage, weibliche Homoerotik als etwas Rechtmäßiges und Natürliches anzusehen; nur Aristophanes in Platons »Symposion» und Plutarch in bezug auf Sparta .5.n eine andere Ansicht. Die anderen Autoren stellen tribades mehr oder weniger so dar, als seien sie Männer oder versuchten zumindest, wie Männer zu sein (Seneca d. Ä., Martial, Phaedrus, Lukian, Pseudo Lukian, Caelius Aurelianus in seiner Übersetzung der Werke des Soranus, Ptolemäus, Manetho, Firmicus Maternus, möglicherweise ist auch Artemidoros so zu verstehen; vgl. Pseudo-Phokylides). Demnach könnte das eigentliche Problem dort liegen, wo Frauen die Grenzen der ihnen von der griechisch-römischen Kultur auferlegten weiblichen passiven Rolle überschritten. Im Grunde ginge es dann um die Frage der weiblichen sexuellen Autonomie, und das würde auch erklären, warum zum Beispiel Martial selbstbewußtes sexuelles Verhalten gegenüber Jugendlichen auch männlichen Geschlechts mit der tribas Philaenis in Verbindung bringt.[36] Lukian und Ptolemäus erwähnen einige Frauen, die ihre Partnerinnen »Ehefrauen» nennen.[37] Weibliche Homoerotik wird als Verstoß gegen die Gesetze der Aphrodite gewertet und als nicht schön (Asklepiades), als ungeheuerlich (Ovid, Martial), unnatürlich (Platon, Ovid, Ptolemäus, implizit auch Seneca), schändlich (Lukian), gesetzwidrig (Jamblichos) und so weiter.
Nach der Soran-Übersetzung des Caelius Aurelianus handelt es sich um eine Geisteskrankheit, die entsprechend zu behandeln sei, Phaedrus denkt an einen göttlichen Irrtum, und die hier erwähnten Astrologen machen bestimmte Planeten-Konstellationen verantwortlich.

Andere Belege
Zwei griechische Vasenmalereien, die Frauen in einer Haltung erotischer Zuneigung abbilden, sind hier zu erwähnen, obwohl sie aus einer früheren Zeit stammen. Ein Teller (etwa 620 v. Chr.) von der Insel Thera zeigt zwei Frauen von ungefähr gleicher Größe, von denen eine der anderen auf typische Weise den Hof macht, indem sie ihre Hand unter das Kinn der anderen legt.[38] Eine attische rotfigurige Vase (etwa 500 v. Chr.) zeigt eine kniende Frau, die die Klitoris einer anderen Frau streichelt.[39] Es ist nicht ausgeschlossen, daß diese Vase dazu diente, Männer sexuell zu erregen. Die Vase war eine Kylix, das heißt ein Trinkgefäß für Wein. Für den Teller trifft das jedoch wohl nicht zu, denn darauf sind beide Frauen vollständig bekleidet, während sie auf der Vase nackt sind. Beide Bilder stellen die Frauen in keiner Weise, männlich oder pseudomännlich dar, und beide unterscheiden sich von griechischen Vasen, auf denen männliche Paare abgebildet sind, insofern, als die Frauen jeweils etwa gleich alt zu sein scheinen, während männliche Paare fast immer aus einem bärtigen Erwachsenen und einem bartlosen Jugendlichen bestehen.[40]
Wichtig ist auch, wie die Dichterin Sappho in der römischen Zeit gesehen wurde. In der ältesten Sappho Biographie (P. Oxy. 1800, Fr. 1, 2./3. Jh.) heißt es: »Sie ist von einigen beschuldigt worden, unsittlich und eine Liebhaberin von Frauen zu sein.» In seinen Ausführungen über ihre Verstechnik nennt Horaz sie »männliche Sappho», aber das braucht sich nicht auf ihre Sexualität zu beziehen.[41] Plutarch[42] und Maximus von Tyros[43] verglichen sie mit Sokrates, der für seine Vorliebe für Männer bekannt war. Ovid schreibt, sie habe Frauen geliebt, und nimmt die Legende auf, nach der sie sich in einen Mann namens Phaon verliebte, der diese Liebe aber nicht erwiderte. Eine Geschichte, die wahrscheinlich eine Reaktion auf das Bild von der frauenliebenden Sappho ist.[44] Der christliche Schriftsteller Tatian (2. Jh.) bezeichnet Sappho als Hetäre und nennt sie eine »liebestolle Frauenhure, die ihre eigenen Ausschweifungen besang»[45] Der Kontext ist eine Reihe von abschätzigen Bemerkungen über vierzehn griechische Schriftstellerinnen, deren Werke fast alle verloren gegangen sind. Nach dem mittelalterlichen Lexikon »Suda», in das viele frühere Traditionen aufgenommen wurden, wurde Sappho von manchen der »schändlichen Liebe» zu Frauen beschuldigt.[46] In der römischen Zeit und darüber hinaus läßt sich also ein wachsendes, gewöhnlich von Mißbilligung begleitetes Interesse an Sapphos Liebe zu Frauen feststellen. Diese Art der Sappho-Rezeption fügt sich gut in die für die römische Zeit schon festgestellte allgemeinere Entwicklung ein: eine zunehmende Beschäftigung mit sexuellen Beziehungen zwischen Frauen, die vehement abgelehnt wurden.

Die Verurteilung weiblicher Homoerotik bei Paulus

In Römer 1,18-32 beschreibt Paulus eine Reihe von tragischen Vertauschungen[47] Obwohl die Menschen Gelegenheit hatten, Gott aufgrund des göttlichen Schöpferwerks zu erkennen, vertauschten sie die Wahrheit über Gott mit einer Lüge und verehrten und beteten Abbilder eben dieser Schöpfungswerke an. Die Folge dieser grundlegenden Unordnung und Verwirrung in der menschlichen Beziehung zu Gott und zu seiner Schöpfung sind weitere Vertauschungen: Gott lieferte sie der Unreinheit aus, so daß sie ihre Leiber entehrten (Vers 24); Gott lieferte sie schändlichen Leidenschaften aus (Vers 26); Gott lieferte sie einem verworfenen Denken und unziemlichen Tun aus (Vers 28). Die dem Götzendienst zugrundeliegende Unordnung und Verwirrung wiederholt sich in der Unordnung und Verwirrung gleichgeschlechtlicher Liebe (Verse 26-27)[48] und anderen unziemlichen Verhaltensweisen (Verse 29- 32).

Wir haben gesehen, daß das Motiv der tribas, die ein Mann wird oder ein Mann ist oder versucht, Mann zu sein, in der Diskussion über tribades in der Literatur der griechisch-römischen Welt immer wieder auftaucht. Tribades sind Frauen, die die Grenzen ihrer Weiblichkeit gemäß der kulturellen Definition überschreiten. Sie stellen eine Anomalie dar, weil sie weder in die maßgebliche Kategorie des Weiblichen noch in die des Männlichen hineinpassen. Aus Struktur und Terminologie von Römer 1,18 - 32 und 1. Korinther 11,216 geht das Anliegen des Paulus hervor, daß die Ordnung, die er als Schöpfungsordnung verstand, in bezug auf Geschlechterrollen und Geschlechterpolarität aufrechterhalten werden sollte. Paulus sah in der weiblichen Homoerotik eine unzulässige Grenzüberschreitung, eine Verwischung der Kategorien männlich und weiblich.

Unreinheit in Römer 1, 24
Zum Verständnis des komplexen Begriffs »Unreinheit» können anthropologische Einsichten hilfreich sein. Mary Douglas[49] weist nach, daß die Reinheitsgesetze systematisch erforscht werden müssen. In bezug auf das alte Israel schreibt sie:
»Die Reinheitsgesetze der Bibel. . . setzen die großen inklusiven Kategorien fest, denen zufolge das ganze Universum in eine Rangordnung gestellt und strukturiert ist. Ihre Bedeutung erschließt sich, wenn dieselben Grundregeln von einem Zusammenhang auf einen anderen übertragen werden.»[50]
Zwischen den jeweiligen Klassifizierungen für Tiere, Menschen, Opfertiere, Priester und Frauen besteht eine Symmetrie. Douglas schreibt:

»Dem Begriff der Reinheit bei Tieren (in Levitikus 11 und Deuteronomium 14) liegt das Prinzip zugrunde, daß sie der Klasse, der sie angehören, voll entsprechen müssen. Unrein sind die Arten, die unvollkommene Mitglieder ihrer Klasse sind oder deren Klasse das allgemeine Kategorienschema der Welt durcheinander bringt.»[51]
Diese Überlegungen erleichtern das Verständnis des Begriffs Unreinheit in Römer 1,24. Die Vertauschung natürlicher Beziehungen für widernatürliche in den Versen 26-27 konkretisiert die in Vers 24 beschriebene Unreinheit und Entehrung des Leibes.[52] Gleichgeschlechtliche Liebe ist also Unreinheit und Entehrung des eigenen Körpers. Die Kategorien männlich und weiblich sind dann nicht mehr eindeutig. Bei sexuellem Verkehr mit Angehörigen des anderen Geschlechts sind die Geschlechterrollen eindeutig, bei sexuellen Beziehungen zwischen Angehörigen desselben Geschlechts herrscht Verwirrung der Rollen. Der biologisch männliche Partner könnte sich weiblich (so wie es kulturell definiert wird) verhalten; und die biologisch weibliche Partnerin - könnte sie wie ein Mann werden? Durch gleichgeschlechtliche Liebe entsteht eine Klasse, die »das allgemeine Kategorienschema der Welt durcheinanderbringt». Männlicher und weiblicher gleichgeschlechtlicher Liebe ist jedenfalls das gemeinsam, daß sie die Grenzen der Geschlechterrollen überschreiten. Der jüdische Philosoph PhiIon von Alexandrien, ein Zeitgenosse des Paulus, schreibt über männliche Homosexualität:
»Während es früher als große Schande galt, auch nur davon zu sprechen, rühmen sich ihrer jetzt nicht nur die, welche sie üben, sondern auch diejenigen, die sich dazu gebrauchen lassen; zu krankhafter Frauenart haben sie sich durch Gewöhnung erzogen, geben Leib und Seele dem Zerfall preis und lassen (gleichsam) keinen Funken ihrer Mannesart mehr fortglimmen: mit auffallend gekämmtem Haupthaar, wohlgeputzt, die Augen mit Bleiweiß, Purpurfarbe und ähnlichen Dingen geschminkt und bemalt, mit duftenden Salben fein gesalbt - denn an allen sorgfältig herausgeputzten Menschen übt von solchen (Reizmitteln) der schöne Duft am stärksten anlockende Wirkung aus -, schämen sie sich nicht, künstlich durch gewisse Mittel ihre männliche Art in weibliche umzuwandeln. Gegen diese Menschen muß man schonungslos vorgehen nach der Vorschrift des Gesetzes, daß man den >weibischen Mann<, der das Gepräge der Natur verfälscht, unbedenklich töten und keinen Tag, ja keine Stunde am Leben lassen soll, da er sich, seinem Hause, seinem Vaterlande und dem ganzen Menschengeschlecht zur Schande gereicht. Und der Knabenschänder soll wissen, daß ihn die gleiche Strafe trifft, weil er widernatürlicher Lust nachgeht und an seinem Teile auf die Verödung und Entvölkerung der Städte hinarbeitet, wenn er seinen Samen zu Grunde richtet, weil er sich ferner zum Verkünder und Lehrer der schlimmsten Laster macht, der Unmännlichkeit und Weiblichkeit ...»[53]
Philons Voraussetzung, daß zum Geschlechtsverkehr ein aktiver und ein passiver Partner gehören (in der Regel ein Mann und eine Frau), seine Ansicht, daß passive homosexuelle Männer weiblich werden, ja an der Krankheit der Verweichlichung leiden, und seine Abscheu gegen rollenverletzendes, weibliches Aussehen sind charakteristisch für antike Verurteilungen männlicher Homosexualität.[54] Direkte Parallelen zwischen Paulus und Philon sind: Beide mißbilligen männliche Homosexualität. Beide verwenden den Begriff »unnatürlich» oder »widernatürlich» (para physin).[55] Beide lehnen Haartrachten, die auch Frauen tragen, für Männer ab (siehe 1. Korinther 11, 2-16). Beide denken an eine physische Vergeltung für homosexuelles Verhalten bei Männern. Ferner erleben beide als Diasporajuden den Widerspruch zwischen offen gelebter männlicher Homosexualität in ihrer Umgebung und dem levitischen Verbot homosexueller Beziehungen.
Philons Worte verraten Ekel, ja sogar Abscheu vor dem zweideutigen anomalen Menschen, der durch die männliche Homosexualität geschaffen worden ist. Das entspricht genau dem Verständnis von unrein als dem, was seiner Klassifizierung nicht vollkommen entspricht.

Das Gegenteil von Unreinheit ist für Paulus Gerechtigkeit (Römer 6,19), oder Heiligkeit (1. Thessalonicher 4,7 und 1. Korinther 7,14). Zu diesem Thema Mary Douglas: »Heiligkeit fordert von Individuen, der Art, zu der sie gehören, genau zu entsprechen. Und Heiligkeit erfordert, daß Dinge verschiedener Klassen nicht vermischt werden.»[56] In 1. Thessalonicher 4,3-8 unterscheidet die Heiligkeit die Christen von den »Heiden, die Gott nicht kennen». Zur Heiligkeit gehört, sich des verbotenen Geschlechtsverkehrs zu enthalten und »daß jeder von euch lernt, mit seiner Frau (wörtlich Gefäß) in heiliger und achtungsvoller Weise zu verkehren» (1. Thessalonicher 4,4, Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift.[57]) Heiligkeit ist hier das Merkmal, das Christen von der übrigen Welt unterscheidet. Sie besteht darin, die vorgegebenen Grenzen im Bereich der Sexualität einzuhalten.

In Römer 1,24-27 sind Entehren und Schande unmittelbar in bezug zu Unreinheit gesetzt. Bruce Malina wendet anthropologische Kategorien auf das Neue Testament an:
»Symbolisch gesehen bezeichnet Ehre den angemessenen Platz einer Person in der Gesellschaft, ihre soziale Stellung. Dieser Ehrenplatz wird abgegrenzt durch ein bestimmtes Maß an Macht, sexuellem Status und die Stellung in der sozialen Rangordnung. Aus strukturalistisch-funktionalistischer Sicht ist Ehre der Wert, den eine Person in ihren eigenen Augen hat, zuzüglich dem Wert, den diese Person in den Augen ihrer sozialen Gruppe hat.»[58]
Die Aussagen im Römerbrief in Vers 24 über die Entehrung ihres Leibes »durch ihr eigenes Tun» und in Vers 26 über die »sie entehrenden Leidenschaften» würden dann bedeuten, daß gleichgeschlechtlich Liebende nicht mehr ihren angemessenen Platz in der Gesellschaft einnehmen. Malina ist der Meinung, Ehre bedeute für Frauen etwas anderes als für Männer.[59] Ich lege die obige Stelle aus dem Römerbrief dahingehend aus, daß einige Männer den ihrem Geschlecht zustehenden Ehrenplatz aufgegeben haben und daß »ihre Frauen» (beachte das unterordnende relativierende »ihre») sich nicht an die ihrem Geschlecht gebührende Schamhaftigkeit[60] und die ihnen angemessene Geschlechtsrolle gehalten haben. Weil sie damit die mit ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihrem Platze in der Schöpfungsordnung gegebenen Grenzen überschritten haben, leben sie in Unreinheit und Schande. Im Gegensatz dazu wird sich ein christlicher Mann, der diese Grenzen respektiert, seine Frau in Heiligkeit und Ehre nehmen (1. Thessalonicher 4,4-8).

Nicht zufällig wird in Römer 1,24-27 gerade die gleichgeschlechtliche Liebe als eine Wiederholung des in bezug auf den Götzendienst festgestellten Vertauschungsmusters hervorgehoben. Götzendiener, das heißt Anhänger und Anhängerinnen aller griechisch-römischen Religionen, das Judentum ausgenommen, leben völlig außerhalb des Reiches der Heiligkeit. Daraus folgt für Paulus, daß bei ihnen eine äußerste Kategorienverwischung oder Unreinheit herrscht. Die Verwischung der Kategorien Männlichkeit und Weiblichkeit stellt eine grundlegende »Symbolverwirrung» dar.[61] Daß sexuelle Reinheit für Paulus grundlegender war als beispielsweise die Reinheit und Unreinheit von Speisen, zeigt sich daran, daß er die Begriffe »rein» und »unrein» ausdrücklich nicht auf Speisen anwendet (Römer 14,20-21; vgl. 1. Korinther 8,10; Galater 2,11-14), im Bereich der Sexualität aber weiterhin das Klassifizierungsschema von Unreinheit und Heiligkeit anwendet (vgl. 1. Korinther 5,1-13; 7,14; 1. Thessalonicher 4,3-8).

Römer 1, 26 und 1. Korinther 11, 2-16
1. Korinther 11,2-16 greift Paulus in einen konkreten Konflikt in einer Gemeinde ein, die er selbst gegründet hatte und gut kannte. Römer 1,26-27 dagegen steht im Zusammenhang einer allgemeinen Abhandlung über die menschliche Sündhaftigkeit und wendet sich an eine Gemeinde, die Paulus nicht selbst gegründet hat. Trotz dieser Unterschiede ist es sinnvoll, 1. Korinther 11,2-16 mit heranzuziehen, um zu verstehen, warum Paulus gleichgeschlechtliche Liebe als Unreinheit und Entehrung des eigenen Leibes bezeichnet. Im Verwischen der Geschlechterunterschiede sieht Paulus einen Verstoß gegen die Natur und gegen die Stufenordnung von Gott - Christus Mann - Frau. In 1. Korinther 11,2-16 steht:[62]

»2 Ich lobe euch, daß ihr in allem an mich denkt und an den Überlieferungen festhaltet, wie ich sie euch übergeben habe,
3 Ihr sollt aber wissen, daß Christus das Haupt des Mannes ist, der Mann das Haupt der Frau und Gott das Haupt Christi.
4 Wenn ein Mann betet oder prophetisch redet und dabei sein Haupt bedeckt hat, entehrt er sein Haupt. 5 Eine Frau aber entehrt ihr Haupt, wenn sie betet oder prophetisch redet und dabei ihr Haupt nicht verhüllt. Sie unterscheidet sich dann in keiner Weise von einer Geschorenen. 6 Wenn eine Frau kein Kopftuch trägt, soll sie sich doch gleich die Haare abschneiden lassen. Ist es aber für eine Frau eine Schande, sich die Haare abschneiden oder sich kahl scheren zu lassen, dann soll sie sich auch verhüllen. 7 Der Mann darf sein Haupt nicht verhüllen, weil er Abbild und Abglanz Gottes ist; die Frau aber ist der Abglanz des Mannes.8 Denn der Mann stammt nicht von der Frau, sondern die Frau vom Mann. 9  Der Mann wurde auch nicht für die Frau geschaffen, sondern die Frau für den Mann. 10 Deswegen soll die Frau mit Rücksicht auf die Engel das Zeichen ihrer Vollmacht auf dem Kopf tragen. 11 Doch im Herrn gibt es weder die Frau ohne den Mann noch den Mann ohne die Frau. 12 Denn wie die Frau vom Mann stammt, so kommt der Mann durch die Frau zur Welt, alles aber stammt von Gott. 13 Urteilt selber! Gehört es sich, daß eine Frau unverhüllt zu Gott betet? 14 Lehrt euch nicht schon die Natur, daß es für den Mann eine Schande, 15 für die Frau aber eine Ehre ist, lange Haare zu tragen? Denn der Frau ist das Haar als Hülle gegeben. 16 Wenn aber einer meint, er müsse darüber streiten: Wir und auch die Gemeinde Gottes kennen einen solchen Brauch nicht» (Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift).

In dieser Perikope verlangt Paulus in bezug auf Haartracht und Kopfputz eine strenge Geschlechterunterscheidung. Frauen und Männer sollten nicht gleich aussehen. Das ist für Paulus von theologischer Bedeutung. Er begründet die Notwendigkeit einer sich in der äußeren Erscheinung ausdrückenden Geschlechterpolarität damit, daß der Mann das Haupt der Frau so wie Christus das Haupt des Mannes und Gott das Haupt Christi sei, daß die Frau Abglanz des Mannes, der Mann dagegen Abbild und Abglanz Gottes sei, und daß die Frau aus dem Mann und für den Mann geschaffen sei. Zwischen Frau und Mann besteht ein Unterschied, und dazu gehört, daß die Frau auf ihr Haupt hin, nämlich den Mann, von dem sie abstammt, ausgerichtet sein soll (die Zugeständnisse, die Paulus in den Versen 11 und 12 macht, ändern nichts an dieser Grundstruktur). Die Grenzen zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit dürfen nicht dadurch verwischt werden, daß Frauen kurze oder Männer lange Haare tragen. Doch selbst wenn Frauen lange Haare haben, wird der Unterschied noch nicht in ausreichendem Maße hervorgehoben. Als ein sichtbares Zeichen ihres Platzes in der Schöpfungsordnung sollen Frauen vielmehr zusätzlich noch einen Schleier tragen. Wie schon Römer 1,26-27 beruft sich Paulus auf die Natur. 
Die Natur lehre, daß es für einen Mann eine Unehre (atimia) sei, langes Haar zu haben, während es für eine Frau schandbar (aischron) sei, das Haar kurz zu tragen; eine unverschleierte Frau schände (kataischynei) ihr Haupt. Also ist hier die Natur die Grundlage für eine strenge Geschlechterunterscheidung im Aussehen. Sich der Natur zu widersetzen bedeutet für einen Mann Ehrverlust, das heißt, er nimmt nicht mehr den rechtmäßigen Platz in der Gesellschaft ein.
Diese Ausführungen zu Kopfputz und Haartracht erinnern an Äußerungen in der Antike über die gleichgeschlechtliche Liebe. Ein Mann, der wie eine Frau aussieht, muß befürchten, seine Männlichkeit zu verlieren und auf die Ebene einer Frau herabzusinken. Trägt eine Frau kurze Haare, dann ist es ein Zeichen dafür, daß sie zu einem Mann wird oder wie ein Mann zu sein versucht. Das erinnert an Lukians[63] Megilla / Megillus, die ihre Perücke abnahm, um ihr kurzes Haar zu enthüllen, und sich selbst als Demonassas Ehemann bezeichnete. Eine Frau kann nicht auf die Ebene eines Mannes herabsinken.  Sie kann nur den lächerlichen, jedoch bedrohlichen Versuch machen, sich auf die Ebene des Mannes zu erheben. Einige Exegeten haben erkannt, daß es in 1. Korinther 11,2-16 möglicherweise auch um gleichgeschlechtliche Liebe gehen könnte. Frühkirchliche Auseinandersetzungen mit gleichgeschlechtlicher Liebe beinhalten oft einen Hinweis auf diese Perikope.[64]

Im 19. Jahrhundert schrieb Johannes Weiss: »Die >Geschorene< ist die Sittenlose, die sich das Haupt rasiert, um aus lasziven Gründen männliche Erscheinung vorzutäuschen»; und in einer Anmerkung fügt er mit Bezug auf Apuleius hinzu, daß die »perversen Frauen» gemeint seien, »die das lesbische Laster treiben»[65] In jüngster Zeit wurde ein derartiger Zusammenhang zuletzt von Jerome Murphy-O'Connor hergestellt, der in dem korinthischen Verhalten eine Reaktion auf Galater 3,28 sieht: »Wenn es nicht mehr Mann oder Frau gäbe, fühlten sich die Korinther/innen frei, den Unterschied zwischen den Geschlechtern zu verwischen ... Der konsequente Infantilismus der Korinther/ innen traf ihn an einer empfindlichen Stelle, und die Haartrachten ließen die beunruhigende Frage der Homosexualität in der Gemeinde aufkommen.»[66]

Paulus und die weibliche Nicht- Unterordnung
Es wäre falsch, zu behaupten, Paulus sei grundsätzlich für die Unterordnung der Frauen. Indem er Frauen empfiehlt, unverheiratet zu bleiben (1. Korinther 7,8 - 9. 25 - 35. 39 40), befürwortet er faktisch, daß Frauen anomal, nämlich nicht in direkter Unterordnung unter einen Ehemann, leben. Indem er außerdem die Taufformel von Galater 3,28 zitiert »Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid >einer< in Christus Jesus» - macht er den Weg frei für eine Verwischung der Geschlechterrollen und für eine Veränderung geseIlschaftlicher Strukturen. Daß die Formel wirkmächtig war, zeigt sich an der Tatsache, daß Paulus in 1. Korinther 12,13 eine andere Version zitiert, und zwar ohne den Satzteil über Mann und Frau, wahrscheinlich weil er erkannt hatte, daß die, Korinther und Korintherinnen die Implikationen des »nicht Mann und Frau» tatsächlich verstanden hatten. An anderer Stelle erkennt Paulus die Arbeit von Frauen für das Evangelium ausdrücklich an (Römer 16,1-16; Philipper 4,2-3), ebenso wie das Recht von Frauen, in liturgischen Versammlungen zu prophezeien (1. Korinther 11,5). Wenn die Ermahnung, Frauen hätten in Gemeindeversammlungen zu schweigen und sollten sich unterordnen (1. Korinther 14,33b -36), von Paulus sein sollte und keine spätere Interpolation ist, wäre das ein weiteres Beispiel für die schon aufgezeigte Spannung in seinem Denken.
Unklarheiten in bezug auf die Geschlechterrollen in der christlichen Gemeinschaft gehen also zumindest teilweise auf Paulus selbst zurück. Wenn er sich aber gedrängt sieht, wie etwa im Fall des äußeren Erscheinungsbildes der Geschlechter in Korinth, Stellung zu nehmen, fordert er eine strikte Unterscheidung und begründet das mit der Rangordnung der Geschlechter, wobei er das »nicht Mann und Frau» nicht zitiert, da dieser Satz offensichtlich die herrschenden Geschlechterrollen gefährdet. Vielleicht war es gerade seine positive Einstellung zum Zölibat (in sich schon eine potentielle Bedrohung der patriarchalischen Ehe), die Paulus veranlaßte, hartnäckig auf der Geschlechterporalität in Kleidung und sexuellem Verhalten und damit auch auf der weiblichen Unterordnung zu bestehen. Aufgrund seiner unmittelbaren Naherwartung und seines Verständnisses von Christus als dem Haupt von Mann und Frau konnte Paulus Frauen zwar erlauben, sich ausschließlich Christus zu widmen und dadurch einem männlichen Oberhaupt in Form eines Ehegatten zu entgehen. Er wollte aber nicht hinnehmen, daß Frauen sich durch erotische Erfahrungen ihrer eigenen Kraft in einer Weise bewußt wurden,[67] die die Stufenordnung von Gott - Christus - Mann - Frau in Frage stellen mußte.

Folgerungen und Implikationen

Der kurze Ouellenüberblick hat gezeigt, daß männliche griechisch-römische Autoren wenig Toleranz für sexuelle Liebesbeziehungen zwischen Frauen aufbringen, während ihre Einstellung zu männlicher Homosexualität recht gemischt ist. Diese unterschiedliche Betrachtungsweise in den Quellen läßt es methodologisch fragwürdig erscheinen, Liebesbeziehungen zwischen Frauen unter männlicher Homosexualität einzuordnen, wie die folgenden Beispiele zeigen. John Boswell, von dem ich trotz unserer unterschiedlichen Interpretationen viel gelernt habe, faßt seine Ausführungen über die römische Gesellschaft wie folgt zusammen:
»... in den großen Städten war Intoleranz in bezug auf diese Angelegenheit selten, ja fast bedeutungslos. Homosexuelle Frauen und Männer waren streng genommen eine Minderheit, aber weder sie selbst noch ihre Zeitgenossen hielten ihre Neigungen für schädlich, grotesk, unmoralisch oder bedrohlich, und sie waren in jeder Beziehung voll in das römische Leben integriert.»[68]
Robin Scroggs schließt die Auswertung antiker Quellen über männliche Homosexualität mit den Worten ab: »Wogegen sich demnach das Neue Testament wandte, war die Vorstellung von Homosexualität als Knabenliebe und hierbei vor allem gegen ihre schmutzigen und entmenschlichenden Dimensionen (wie das Fehlen von Gegenseitigkeit). Es wäre bedauerlich, wenn sich im Neuen Testament jemand solcher Entmenschlichung nicht widersetzt hätte.»[69]
Scroggs fügt ausdrücklich hinzu, daß er hier nur von männlicher Homosexualität spricht. Seine Ausführungen über Frauen beschränken sich auf einen viereinhalbseitigen Anhang mit dem Titel »Weibliche Homosexualität in der griechisch-römischen Welt»[70]
Obwohl Boswell und Scroggs dieselben Quellen auswerten, kommen sie zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen. Boswell behauptet, daß seine These auch auf Frauen zutrifft, Scroggs dagegen nicht.  Auf jeden Fall aber treffen weder die Schlußfolgerungen des einen noch die des anderen auf Frauen zu. Denn die hier zu Wort gekommenen männlichen Autoren hielten sexuelle Beziehungen zwischen Frauen sehr wohl für schädlich, grotesk, unmoralisch und bedrohlich; sie mißbilligten durchweg das Verhalten von Frauen, die ihrer Zuneigung zueinander sexuellen Ausdruck verliehen. Jedoch läßt sich aus den besprochenen Aussagen antiker Autoren nicht belegen, daß ihr Urteil der Ansicht entsprang, ein solches Verhalten sei, etwa wegen mangelnder Gegenseitigkeit, menschenunwürdig. Ganz im Gegenteil: Für diese Autoren hatten sich normale Beziehungen nach einer Rangordnung zu vollziehen. Abnorm war es, wenn Frauen sich dieser Rangordnung nicht unterwarfen. Es ist nicht einzusehen, daß Scroggs nicht untersuchte, warum die Quellen über Frauen seine These über Männer nicht bestätigen.
Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, daß der hier erörterte Teil der Geschichte nicht ein Stück Geschichte lesbischer Existenz, das heißt der Geschichte von Frauen ist, die sich vorrangig mit Frauen identifizierten und dies auch - oder auch nicht - in sexueller Hinsicht zum Ausdruck brachten[71] 
Vielmehr habe ich Quellen behandelt, die männliche Ansichten und Phantasien über lesbische Frauen wiedergeben und dabei ein beredtes Zeugnis von der stark genital orientierten Sichtweise der männlichen Autoren ablegen. Diese Ansichten von Männern sind für die Frauengeschichte insofern von Bedeutung, als sie die Kultur bestimmten, in der Frauen lebten. In welchem Ausmaß dieser Einfluß zum Tragen kam, bleibt noch festzustellen. Deshalb können Rückschlüsse auf die Frauengeschichte nur in sehr vorläufiger und allgemeiner Form vorgenommen werden. Die zunehmende Beachtung sexueller Beziehungen zwischen Frauen in der römischen Zeit könnte ein Indiz dafür sein, daß lesbische Frauen offener lebten und als eine größere Bedrohung wahrgenommen wurden. Auf zwei verschiedene Weisen wird der lesbischen Bedrohung begegnet: durch völliges Verschweigen und durch vehemente Ablehnung, wobei ein plötzlicher Methodenwechsel nicht unüblich ist. Die hier genannten Quellen stellen anscheinend einen solchen Wechsel von Verschweigen zu offener Ablehnung dar, obwohl gleichzeitig weithin versucht wurde, lesbische Beziehungen durch die Methode des Verschweigens an den Rand zu drängen und einzudämmen.
Wir müssen uns über die Bedeutung dieser Quellen für Paulus klarwerden und nicht annehmen, daß Paulus irgendeine der hier besprochenden Quellen persönlich kannte oder gelesen hatte. Einige wurden sogar erst nach seinem Brief an die Römer geschrieben. Aber weil es sehr verschiedenartige, Quellen sind, ist davon auszugehen, daß die darin dokumentierten Ansichten auch Paulus und seinen Lesern und Leserinnen bekannt waren. Angesichts der weit verbreiteten Mißbilligung weiblicher Homoerotik überrascht es nicht, daß auch Paulus sie verurteilt und sie mit dem Begriff para physin, »unnatürlich» oder »widernatürlich», belegt.

Das Motiv von Frauen, die wie Männer sind oder zu sein versuchen, muß Paulus gekannt haben, ebenso wie die in der männlichen Phantasie erfolgte Gleichsetzung homoerotischer Praktiken von Frauen mit sexueller Aggressivität und Ausschweifung. Könnte dies eine bewußt überzeichnende Beschreibung weiblich-sexueller Autonomie sein? Vielleicht ist es auch kein Zufall, daß Paulus diese Frage gerade in seinem Römerbrief aufnimmt. In der Zeit, in der der Römerbrief entstand, äußerten sich mehrere Autoren, die in Rom ausgebildet wurden oder dort lebten (Seneca d. Ä.; Ovid; Martial; Phaedrus), zu diesem Thema, so auch im frühen zweiten Jahrhundert Juvenal (Rom) und Soranus (Rom und Alexandrien; nach der Übersetzung aus dem 5. Jh.). Diese geographische Konzentration hängt sicherlich zum Teil damit zusammen, daß Rom zu dieser Zeit ein literarisches Zentrum war, könnte aber auch auf eine besondere Beschäftigung der Stadt Rom mit diesem Thema hinweisen.

Zusammenfassung
Die Quellen zeigen, daß Paulus und seine Kultur Männlichkeit und Weiblichkeit im Sinne einer Rangordnung verstanden. Zur Zeit des Paulus beruhten die kulturellen Strukturen auf einer Definition von Männlichkeit und Weiblichkeit, die eine strenge Rangordnung voraussetzt. Diese kulturelle Definition schlägt sich nachdrücklich nieder in der Verwerfung intimer körperlicher Liebesbeziehungen zwischen Frauen und der damit verbundenen Forderung nach Geschlechterpolarität im- äußeren Erscheinungsbild von Männern und Frauen. Diese Definition von Männlichkeit und Weiblichkeit veranlaßt Paulus, weibliche Homoerotik zu verurteilen. Deshalb kann dieses Problem nicht als eine Randfrage, die nur eine kleine Anzahl von Frauen betrifft, abgetan werden. Wo immer Menschen darunter leiden, daß sie durch eine ihnen aufgezwungene Polarität und Rangordnung als Frauen und Männer definiert werden, da muß man sich auch mit der christlichen Verwerfung lesbischer Existenz und männlicher Homosexualität auseinandersetzen, für die Paulus eine primäre Quelle ist.

Theologie und Kirchen haben die Aufgabe, über die Implikationen der Tatsache nachzudenken, daß sich Römer 1,26 weder aus seinem unmittelbaren Zusammenhang noch aus dem paulinischen. Denken über Männer und Frauen überhaupt herauslösen läßt. In den Augen des Paulus vollzog eine Frau, die ihrer Liebe zu einer anderen Frau physischen Ausdruck verlieh, noch einmal das Austauschmuster des Götzendienstes, das heißt der Enfremdung von Gott. Es ist inkonsequent, die Gleichstellung der Geschlechter zu fordern und gleichzeitig zu verlangen, Frauen sollten sich entweder auf Männer hin ausrichten oder im Zölibat leben. Ebenso inkonsequent ist es, zu behaupten, Römer 1,26 (und 27) sei für die Theologie nicht normativ, und trotzdem die übrige paulinische Theologie und theologische Anthropologie unüberlegt zu übernehmen. Die paulinische Theologie muß vielmehr sorgfältig analysiert und grundlegend neu durchdacht werden. Da das paulinische Denken die westliche Welt tief beeinflußt hat, ist das eine Aufgabe für alle, nicht nur für Christinnen und Christen[72]