In Saint-Denis war der Empfang sehr kühl. Unter dem Vorwand, daß Johanna an einem hohen kirchlichen Feiertag einen Angriff unternommen, und daß Alencon, den sie behext habe, ihr auf dem sündigen Pfad gefolgt sei, wurde dem Herzog und seiner Gefährtin vom Kanzler, von La Trémoille und von Beaucourt angekündigt, sie hätten sich zu trennen. Beide dürften den König nach Gien an der Loire zurückbegleiten, aber von dort habe Alencon sich zu seiner Gemahlin in die Grafschaft Beaumont zu begeben. Die Jungfrau werde den Damen des Hofes zugesellt, denn der König gedenke, das Heer aufzulösen und alle strittigen Punkte durch Unterhandlung zu lösen. Welch eine Zusammenballung von Bosheiten, nachdem Johannas Feinde am Hof sie offensichtlich in eine Falle hatten hineinrennen lassen. Karl wird die Bosheiten nicht ausgedacht haben, doch hat er sie auch nicht verhindert. Welch ein Sturz für die Jungfrau von Orldans, für die Jungfrau, die Karl VII. hatte krönen lassen, dem sie Stadt um Stadt gewonnen hatte, dem sie - wie sie glaubte - Gottes Schutz gebracht. Karl ließ sie durch seine Vormünder - denn was waren seine Räte anderes - ihres heiligen Amtes entkleiden und sie unter die leichtfertigen, ja, unter die lasterhaften Frauen des Hofes einreihen. Und Alencon, ihr Beau Duc, ihr Kriegskamerad, ihr ritterlicher Freund, den sie mehr liebte als ihre Brüder, er mußte sie verlassen. Johanna war in tiefster Seele verwirrt, ihr war der Boden unter den Füßen entzogen, aber hatten die Bösen ihr nicht auch die Türe zum Himmel verschlossen? Nein, nein, was immer die Menschen über sie verhängten, es war Gottes Wille, er wußte, warum sie sich demütigen sollte. In die dämmerdunkle Kathedrale von Saint-Denis, wo so viele französische Könige und der große du Guesclin schliefen, die in ihren Schreinen die heiligsten Reliquien bewahrte, trat Johanna in ihrer silbernen Rüstung, begleitet von Alencon und dessen Erzieher, Freund und Hofhistoriker Perceval de Cagny, von ihrem lieben d'Aulon und ihrem Pagen Louis de Contes. Die farbigen Fenster glühten von dem Sonnenlicht, das draußen auf die herbstliche Welt herniederstrahlte, heller als das blutrote Licht der ewigen Lampen, die frei im Raum zu schweben schienen. Die vielen hohen Kerzen vor dem Hauptaltar warfen ihr goldenes Licht auf die schmale Mädchengestalt, die zur Jungfrau Maria emporschauend, auf der untersten Stufe kniete. Johanna hatte die gepanzerten Hände gefaltet; die Tränen flossen ihr über das Gesicht wie so oft, wenn sie von der Unerklärbarkeit ihrer Mission überwältigt wurde. War ihr Weg beendet? War sie nun nichts mehr als ein nutzloses Menschenkind, ein Grashalm, der im Herbst verwelkt, ein Blatt, das mit den kalten Winden davonweht? Wie Perceval de Cagny erzählt, habe sie sich erhoben und sich den Männern, die hinter ihr standen, zugewandt. Man solle sie ihrer Rüstung entkleiden. Die Schnallen wurden gelöst. Das vertraute Klirren, das sie so gern vor dem Aufbruch zur Schlacht und nach der siegreichen Heimkehr gehört, erklang auch jetzt, als Stück um Stück abgehoben und - auf Johannas Wink - auf die Stufen vor dem Altar niedergelegt wurde. Helm und Schwert, Handschuhe und Sporen legte sie selber dazu. Da stand sie nun mit hängenden Armen, ohne Kopfbedeckung und mit leeren Händen in dem Wams eines ritterlichen Jünglings, ein verlorenes Wesen zwischen zwei Welten, zwischen Himmel und Erde. Sie wandte sich langsam ab, ließ ihre silberne Rüstung, dieses Abbild ihrer Gottgesandtheit, hinter sich liegen, schritt in ihren Seidenschuhen lautlos wie ein Geist durch das lange Mittelschiff, schwang sich draußen auf ihr Roß und begab sich, zum letzten Mal von Alencon begleitet, auf den weiten Weg nach dem Schlosse Gien, das sich nicht fern von Orléans in der breiten Loire spiegelt. Jean d'Aulon und Perceval de Cagny verließen die beiden Gefährten, die so traurig und stumm dahinritten, auf dieser Reise nicht. Der Page Louis de Contes war entlassen worden. De Cagny verehrte Johanna, wie sein Herr es tat. Er war schon ein betagter Ritter; seit sechsundvierzig Jahren diente er dem Hause Alencon. Nachdem Jeans Vater bei Azincourt gefallen war, hatte er den jungen Herzog das Ritterhandwerk gelehrt. Tag für Tag war er in all den Jahren um seinen Zögling gewesen, er hatte die Jahre der Gefangenschaft in Crotoy mit ihm durchlebt und hatte ihn auch seitdem nie verlassen. Des Nachts pflegte er, auf einem Wolfsfell, in seinen Mantel gehüllt, im Zelt oder im Gemach des jungen Herzogs zu ruhen. In den Schlachten, auf der Jagd, bei gefährlichen Ritten durch das Land, immer war er mit seinem breiten Schwert an der Seite Jean d'Alencons.
Seitdem sein Herr der Jungfrau diente, sie, wie einen Ritter das Reiten und Fechten gelehrt hatte, in den Schlachten neben ihr kämpfte, neben ihr betete, mit ihr speiste und mit ihr lachte, hatte er sorgsam alle Taten und alle Worte Johannas aufgeschrieben [50].In Gien angekommen, wurden die Freunde sogleich getrennt; erst nach einigen Tagen durften sie noch einmal einander sehen, um Abschied zu nehmen. Sie waren auf die Wiese vor dem Schloß gegangen. Perceval de Cagny blieb bei den Pferden und der Gefolgschaft; er sah nur von ferne, wie Johanna von ihrem lieben Waffengefährten Abschied nahm. Beide schienen sehr bewegt. Johanna stand in einem langen fürstlichen Damenkleid vor ihrem Freund; sie war nicht mehr der <Engel der Schlachten>, der nicht Mann und nicht Frau war. Da waren sie nun beide in dieser Abschiedsstunde sehr befangen. Die Jungfrau zürnte dem König, denn sie war kein sanftes, unterwürfiges Wesen. Empört über ihre Machtlosigkeit an diesem Hof der Falschheit sparte sie nicht an bitteren Worten über die grausame Trennung. Dann gaben sie sich den höfischen Kuß der Freundschaft. Alencon trat zurück und verneigte sich. Johannas schönes Gesicht war eine Maske der Trauer. Als Jean d'Alencon und de Cagny sich im Fortreiten noch einmal umwandten, um die Hand zum Gruß zu heben, stand Johanna immer noch unbeweglich auf der Wiese vor dem Schloß. Aus dem Tor traten die Damen, die sie zu bewachen hatten. Am Abend, in der Herberge auf einer befreundeten Burg, beschrieb Perceval de Cagny die Abschiedsstunde. Auf einem Pergamentblatt stehen die Worte: «La Pucelle demoura vers le Roy, moult ennuyée du département et par especial du duc d'Alencon que elle amoit très fort er faisoit pour lui ce que elle n'eust fait pour ung autre.» «Die Jungfrau zürnte dem König über die Abreise (anderer Waffengefährten) auch weiterhin, besonders über die des Herzogs von Alencon, den sie sehr liebte und für ihn tat, was sie für keinen andern getan hätte.» Man hat aus diesen Worten auf ein Liebesverhältnis zwischen Johanna und Alencon schließen wollen, aber man darf als sicher annehmen, daß Johanna ihre Jungfräulichkeit keinem Manne zum Opfer gebracht hat; mit einer solchen Tat hätte sie selber ihren Zauber vernichtet, weil ihr mit dem Verlust der Tugend die Gnade ihrer Heiligen - wie sie es sah verlorengegangen wäre. Johanna lebte zu Anfang des Winters 1429/30 in einer Art Gefangenschaft am Hof. Man darf wohl annehmen, daß sie den König weiter bestürmte, ihr eine militärische Aufgabe zu stellen, Paris zu erobern oder ihrem Gefährten Alencon in der Normandie beizustehen. Diese Worte, von der <Demoiselle Jeanne> gesprochen, müssen sich eigenartig ausgenommen haben. Sie wurde nur kurz abgewiesen. Niemand erzählte ihr, daß schon am 12. Oktober (1429) wichtige Beschlüsse unterschrieben worden waren. Danach sollten am 1. April 1430 in Auxerre zwischen den Vertretern Karls VII., des Regenten Bedford und dessen Verbündeten, Philipp von Burgund, Verhandlungen über den allgemeinen Frieden beginnen. Daß der Kardinal Winchester eine starke Armee in der Normandie an Land gesetzt hatte, verbesserte Karls Lage nicht. Die drei regierenden Herren sollten auf Schlössern in der Nähe von Auxerre den Verlauf der Verhandlungen überwachen. Am 13. Oktober 1429 war der Waffenstillstand verlängert und bestätigt worden, am 15. hatte Philipp von Burgund den Herzog von Savoyen eingeladen, der vorgesehenen Konferenz in Auxerre im Frühling beizuwohnen und ihn gebeten, den Kaiser zu veranlassen, bei dem Friedenswerk hilfreich mitzuwirken. Philipp von Burgund, ein Mäzen und Liebhaber aller Künste und eines kultivierten Lebens, ein Beschützer der großen Gewerbe seines Landes, war des Krieges müde. Auch stand er im Begriffe, sich zum dritten Mal zu verheiraten und zur Feier dieses Ereignisses den Orden vom Goldenen Vließ zu gründen [51] [51] In Bourges, in Meung, in Chinon, wo immer sein Gegenspieler Karl VII. weilte und sich der einschläfernden Hoffnung auf einen allgemeinen Frieden hingab, verfolgte man mit größter Anteilnahme die Gründung des neuen Ordens und hörte von den Bedingungen zur Aufnahme, die nur unbescholtenen Männern aus dem Fürstenstand oder dem höchsten Adel gewährt wurde. So lange Karl VII. unter der Beschuldigung des Mordes an Jean sans Peur stand, mußte er die Schande tragen, nicht aufgenommen zu werden. Die Sehnsucht des Königs nach Rehabilitation durch den Herzog von Burgund war stärker denn je. Der Friede mußte geschlossen werden, um jeden Preis. Und da war an seinem Hof dieses Kind aus dem Volk, rein und fromm, mutig und seinem Land ergeben, aber wie fern der Welt des Adels und seiner verwandtschaftlichen und politischen Zusammengehörigkeit, seiner Interessen und seiner Ideale. Johanna war der Abgott des Volkes, aber für ihn, ihren Gentil Roi, ein Hindernis auf dem schwer zu findenden Weg, den er durch das Dickicht von Schwierigkeiten suchen mußte, die weit über ihre Lebenskenntnis hinausgingen. Für Johanna gab es im Hin und Her zwischen den Parteien, die auf Frankreichs Boden standen, nur den einen Weg, der <Kampf unter Gottes Schutz>, des Königs im Himmel, dessen <Lieutenant> Karl VII. war. Diesem Kampf mußte der Sieg durch Seine Gnade folgen, wie konnte es anders sein? Und nun... Stillstand, Schweigen und höfisches Getriebe, um die Zeit totzuschlagen. Johanna am Hofe! Was mag sie empfunden haben, selbst wenn man ihr freundlich begegnete? Johanna hat in ihrem Prozeß zugegeben, daß ihre Stimmen schwiegen und ihre Visionen ausblieben, während sie am Hof in Meung sur Yèvre lebte, und doch erlaubte der König ihr, daß sie sich in seine Privatkapelle zurückzog und hier betete, solange es ihr gefiel. An diesem geheiligten Ort begegnete sie Karl fast täglich,und hier, wo kein spöttischer Blick, kein hämisches Wort ihn einschüchterte, wird er erkannt haben, was man seiner jungen Heiligen mit diesem Dasein antat, das ihr ewig fremd bleiben mußte [52].[52] Karl VII. hatte ein gutes und gerechtes Herz, aber sein Charakter war gebrochen worden, und noch jetzt, als gesalbter König, mit siebenundzwanzig Jahren, vermochte er sich nicht vom Einfluß und der Beherrschung durch seine Räte, vor allem La Trémoilles, zu befreien. Wie sehr er es jedoch wünschte, Johanna glücklich zu sehen, zeigen die Geschenke, mit denen er sie überhäufte. Da sie schöne Pferde über alles liebte, gab er ihr einen Marstall voll prächtiger Rosse, er schenkte ihr ein Haus in Orléans, damit sie dort wohnen und mit ihren Freunden plaudern könne, wenn ihr das Hofleben unerträglich wurde; er verschaffte ihr Einkünfte und ließ sie von der Königin mit Juwelen schmücken, sie erhielt auch allerlei kostbare Stoffe und Mäntel, alles Erdenkliche, das nur ein Frauenherz erfreuen konnte, aber Johanna war nicht zu bestechen, sie ließ nicht ab, nach Taten zu verlangen. Eine Tat, die ihr niemand aufgetragen hatte, erregte ein solches Aufsehen bei Hofe, daß der König das Ereignis für sein kostbares Stundenbuch im Bilde festhalten ließ: Johanna zu Pferd, die mit dem Schwert einige leichtfertige Weiber aus dem Schloßpark vertreibt. Das Volk erzählte später, das Schwert von Fierbois, mit dessen flacher Klinge sie die unheiligen Rücken der Weiber geprügelt habe, sei dabei zersprungen. Der Hof wird gelacht haben über Johannas Unkenntnis der höfischen Welt, die an sittenlosen Frauen keinen Anstoß nahm, während die Jungfrau in ihrem Zorne weinte, weil sie ihre Kampfeslust an schlechten Frauen auslassen mußte, während das heilige Befreiungswerk, dem sie sich geweiht hatte, in Nichts zerrann. Es scheint, als habe ein fester Plan bestanden, nach dem Johanna von dem hohen Ziel abgelenkt werden sollte, das sie in ihrer unbeugsamen Art über die schleppenden Friedensbemühungen des Königs stellte. Als Geschenke und Zerstreuungen am Hofe ohne Wirkung blieben, nahm La Trémoille die Jungfrau, die ihn mit Recht haßte, auf sein Schloß nach Berry. Da lebte sie nun bei ihrem gefährlichsten Feind. [53] Was im Hause La Trémoilles geschah, weiß man nicht, aber es könnte sein, daß er Johanna heuchlerisch eingab, eine Kriegshandlung zu unternehmen, von der er wußte, daß sie so schlecht ausgehen würde wie der Angriff auf Paris, denn nach einigen Wochen, als Johanna wieder beim König weilte, gab dieser ihren flehentlichen Bitten nach und erlaubte ihr, eine kriegerische Handlung zu unternehmen. Von Bourges wurde Geld verlangt, Orléans lieferte die Rüstungen, andere Städte Proviant und Munition; eine Armee wurde zusammengerafft, die aber nur aus unbezahlten, ewig plündernden Banden bestand. Den Oberbefehl erhielt der Sire D'Albret. Der König versprach, für Nachschub an Söldnern, Kriegsmaterial und Geld zu sorgen, vermutlich unter La Trémoilles ironischem Lächeln; niemals würde er die königlichen Versprechen ausführen lassen. Johanna, unberührt von den Bosheiten der Welt, zog in alter Siegeszuversicht davon, aber schon vor Saint-Pierre le Moutier, einem kleinen, mittelmäßig befestigten Ort, sah sie ihre Soldaten übellaunig und zur Flucht geneigt; sie waren im Begriffe, ihre Führer im Stiche zu lassen, ohne besiegt zu sein. Die Hauptleute, die Johanna begleiteten, glaubten ihrer himmlischen Macht nicht mehr, aber sie täuschten sich über die seelische Kraft, die der Jungfrau eigen war. Es gelang ihr, die Banden zu sammeln, sie mitzureißen und die Übergabe von Saint-Pierre le Moutier zu erzwingen. Jean d'Aulon staunte über die ihm unerklärliche Macht dieses jungen Menschenkindes und sprach fünfundzwanzig Jahre später noch bewundernd von diesem Tag. Eine zweite Unternehmung mißglückte jedoch: der Angriff auf La Charité-sur-Loire vom 24. November 1429. Im Prozeß gestand die Jungfrau, daß hier, wie vor Paris, ihre Stimmen geschwiegen hätten und keine himmlische Hilfe ihr zuteil geworden sei. Aber auch die irdische Hilfe war ausgeblieben; weder Nachschub noch Geld hatte ihr der König gesandt. Nun liefen die Armagnaken, die man ihr als (Armee) anvertraut hatte, auseinander, um ihren eigenen <Kriegstaten> nachzugehen. Johanna kehrte an den Hof zu Meung zurück, ohne Ruhm, ohne ihr strahlendes Vertrauen in die Zukunft. Wieder wurde sie in langschleppende Gewänder gekleidet und vom Hofgetriebe eingefangen und festgehalten. Der Winter ging vorüber, und es wurde Frühling. Im März 1430 siedelte Johanna im Gefolge des Königs nach Sully über. Die Qual der nutzlos verrinnenden Zeit drückte schwer auf ihr Gemüt. Warum war sie nicht längst eigenmächtig zu Felde gezogen? Das Heer war zwar aufgelöst, aber sie besaß noch einige Getreue, und Gott würde sie mit den himmlischen Heerscharen umgeben. Vor einem Jahr - glückselige Zeit. Da war sie gesandt worden, um aus dem Nichts Sieg und Krönung zu schaffen. Gott hatte sie nicht verlassen, nur die Menschen verspielten die Gnade des Himmels, die sie ihnen gebracht. Aber wenn ihr auch niemand mehr glaubte, was sie vor einem Jahr gekonnt, das würde ihr auch jetzt gelingen. Einmal hatte sie dem König gesagt: «Ich werde nur ein Jahr dauern.» An dieses Wort dachte sie nicht mehr, denn sie war im Begriffe dem gleichen Fehler zu verfallen wie alle Menschen, die mit übermäßigem Erfolg gesegnet werden. Das Zurücktreten in den Schatten, aus dem sie gekommen, gelingt ihnen nicht, sie taumeln, auf immer neue Triumphe hoffend, weiter, bis das Schicksal sie in den Abgrund schleudert. Am 15 . März war der Waffenstillstand zwischen Karl VII. und Philipp von Burgund abgelaufen, aber der König gedachte, den Kampf um sein Land nicht von neuem aufzunehmen. Da hielt es Johanna nicht mehr. Eines Tages verließ sie den Hof, von jean d'Aulon gefolgt, um sich in Lagny sur Marne mit einigen Kriegskameraden, die kleine Heeresgruppen führten, zu vereinigen. Es waren der schottische Edelmann, Sir Kennedy, der Sieur Ambroise de Loré und der Bandenführer Baretta. Mehrere umherziehende Banden schlossen sich an, und schließlich erschienen auch Johannas Brüder, Pierre und Jean du Lys, die jetzt die Rolle von adligen Herren zu spielen hatten. Das Gerücht vom Wiedererscheinen der Jungfrau flog durch ganz Frankreich und Unruhe ergriff viele Städte, die noch vom Feind besetzt waren. Melun erhob sich offen gegen die burgundische Besatzung und vertrieb sie; kampflos vermochte Johanna in die Stadt einzuziehen. Es war Osterzeit, und sie hätte gern geglaubt, daß dieses Fest der Auferstehung auch die Auferstehung Frankreichs bedeutete, aber gerade in dieser Zeit ihres Neubeginns überwältigte sie das eben noch unterdrückte Wissen vom nahen Ende ihrer Sendung. Auf der Mauer von Melun stehend, sagte die Vernunft ihr - sie nannte ihr Ahnen die Stimmen der heiligen Margarete und der heiligen Katharina - daß sie noch vor dem Feste Sankt Johannes in Gefangenschaft geraten würde. Welch eine Tragik für das heldenhafte Mädchen zu wissen: meine Mission bricht auf halbem Wege ab, Kerker und hundertfache Qual stehen mir bevor. Kein Mensch wird mir helfen. Und dann dieses Festklammern an den Trost, den sie sich aus Selbsterhaltungstrieb schuf: aber der Himmel wird mir beistehen. Doch auch sie sollte den Verzweiflungsschrei ausstoßen: (Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?) Johanna verließ Melun im Laufe des Monats April. Es war ihr noch ein Erfolg bei Lagny beschieden, aber so ungebeugt ihr Kampfesmut blieb, es war ein Sieg ohne Bedeutung und ohne Folgen. Nun standen Frankreich und ihr der Kampf um Compiegne bevor. Karls VII. Kriegswille war endlich erwacht, denn Philipps Janushaupt, des Gottes, der Herr ist über die Tür zu Krieg und Frieden, sein Doppelantlitz hatte sich ihm enthüllt. Daß der Herzog von Burgund den beschworenen Tag von Auxerre, den 1. April 1430, verächtlich beiseite geschoben hatte, bohrte sich wie ein Dorn in Karls Fleisch, doch war er bereit, die Friedensverhandlungen nicht sogleich abzubrechen. Er hatte seinem Vetter Philipp, der um Gottes und Teufels Willen Compiègne besitzen wollte, den Ort Pont Sainte Maxence angeboten, da Compiègne sich ja nicht hatte verschenken lassen wollen. Der Herzog erklärte sich scheinbar bereit; aber im stillen wußte er, daß er niemals Karl das starke Compiègne überlassen würde, das Paris so nahe lag.
Am 17. April als der erneuerte Waffenstillstand zu Ende gegangen war, eröffnete Burgund die Kampagne gegen Frankreich. Ihm stand eine starke Armee zur Verfügung, die er in aller Ruhe gesammelt hatte: Burgunder und Flamen, dazu kam die englische Verstärkung, die der Kardinal Winchester - der eigentliche König von England über den Kanal gebracht hatte. Zum Kommandanten des Heeres war Jean de Ligny, der Graf von Luxemburg, ernannt worden. Karl VII. war seinerseits nicht untätig gewesen, unermüdlich hatte er seinen eigenen, klar umschriebenen Weg verfolgt. Als Verwandter der meisten Fürstenhäuser des Abendlandes hatte er Bundesgenossen gegen England und Burgund gesucht und gefunden: seinen Onkel, Herzog Ludwig von Bayern, Friedrich von Österreich, verschiedene deutsche Fürsten und andere <amis et alliez>, worunter Straßburg, Basel, Bern und Zürich zu verstehen sind.[54] Inzwischen hatte die Belagerung von Compiègne durch die englisch-burgundischen Truppen begonnen. Das vereinigte Heer stand, durch die Oise von der Stadt getrennt, nicht weit entfernt bei Margny. Compiegne besaß trotz seiner Größe nur eine Besatzung von sechshundert Mann unter dem Grafen Guillaume de Flavy - einem Mann, kaum dem Jünglingsalter entwachsen, bewundert als todesverachtender Krieger, aber von niemandem geliebt wegen seiner Geldgier und seiner Grausamkeit, eine verhängnisvolle Gestalt im Schicksal Jeanne d'Arcs. In Compiègne befanden sich der Kanzler des Königs, Regnault de Chartres, Erzbischof von Reims, sodann der Graf Vendôme, Leutnant des Königs, und verschiedene der großen Heerführer. Am 13. Mai erschien Johanna mit Poton de Xaintrailles, mit d'Aulon und der zusammengewürfelten Schar von Söldnern. Sie begab sich auf das Schloß, um dem Kanzler und dem Grafen Vendôme ihre Standarte, ihr Schwert und ihren Glauben anzubieten.
18. Kapitel
Johanna kam zur rechten Zeit. De Flavy sagte ihr, sie solle einen Transport Artillerie zur Festung Choisy-le-Bac begleiten, die nahe vor der Kapitulation zu stehen scheine. Aber vorher müsse die Brücke von Pont l'Evèque in französische Hand kommen. Johannas Begeisterung würde die gewohnte Wirkung auf die entmutigte Besatzung ausüben. Die hohen Herren bedienten sich der Jungfrau nicht anders als irgendeines Mittels, um im Krieg Erfolg zu haben. Johanna war aber bis zum Schluß keine Puppe in der Hand der Minister, Diplomaten und Heerführer; sie gehorchte, jedoch nicht übertölpelt, sondern in stiller Resignation, mit ihren jungen, weisen Augen das Handeln der Großen durchschauend. Hier bei Compiègne schien es ihr von keinerlei Wichtigkeit mehr zu sein, ob sie ihrem eigenen oder einem fremden Willen folgte. Was Gott über sie beschlossen hatte, würde geschehen: Sieg oder Niederlage, Freiheit oder Gefangenschaft. Mehrmals hatte sie in dieser Zeit gesagt, sie hoffe, im Kampfe umzukommen, um den Feinden nicht in die Hand zu fallen. Aber es waren nicht nur die englischen und burgundischen Feinde, die sie fürchtete, sie fühlte Feindschaft um sich her. War der Graf von Flavy ihr geneigt? Sie wußte es nicht. Damit die Engländer nicht zum Angriff übergehen konnten, mußten die Franzosen ihnen die Compiègne nahegelegene Brücke bei Pont l'Evèque entreißen. Man hatte ja Johanna mit dieser Aufgabe betraut. Die englischen Kräfte, die den Brückenkopf hielten, waren nur schwach. Am 14. Mai 1430 begann die Jungfrau, begleitet von ihrem Kriegskameraden Xaintrailles, den Angriff auf die Befestigungen bei Pont l'Evèque. Das Glück schien sie zu begleiten; keine Burgunder weit und breit, die den Engländern zu Hilfe eilten. Schon durfte sie hoffen, noch an diesem Tag die Brücke zu erobern und die englische Besatzung zu vertreiben. Da erscheint in der Ferne die gefürchtete Staubwolke, die Pferde, Artillerie und Fußvolk aufzuwirbeln pflegen. Die Burgunder! Ein Schreckensschrei von Johanna zu Xaintrailles hinüber. Die Engländer fassen neuen Mut. Schon sprengen die ersten burgundischen Reiter heran; die Schlacht wird zu einem wütenden Handgemenge. Johanna und Xaintrailles mit ihren rasch entmutigten Söldnern müssen sich retten, damit sie nicht in die gefürchtete Gefangenschaft geraten, Die Brücke bleibt in englisch-burgundischer Hand. Nun ergab sich auch Choisy-le-Bac, so daß die Feinde hier, außer der Brücke über die Aisne, noch eine zweite Brücke über die Oise schlagen konnten.
Eine schlimme Lage für Compiègne. Die Franzosen mußten so rasch als möglich die Brücken zurückgewinnen, da die nächste freie Brücke bei Soissons an der Aisne lag. Zunächst konnten die Truppen, die in Compiègne lagen, nichts anderes tun, als nach Soissons ziehen und dort über die Aisne setzen, um die Feinde in der Flanke anzugreifen. Choisy-le-Bac mußte zurückerobert werden. Während Johanna zwischen dem Erzbischof von Reims, ihrem Feind, und dem Grafen von Vendôme, ihrem Freund, dahinritt, fragte sie sich wohl, wie der Hauptmann Guichard Bournel, der Soissons zu verteidigen hatte, sie aufnehmen würde. Schon vor Paris hatte er sie ohne Ehrerbietung wie ein Instrument der französischen Kriegsführung behandelt. Ihre Sorge war berechtigt, denn als sie mit ihren hohen Begleitern vor Soissons' Toren erschien, war Guichard schon bereit, wie ein Verräter am König von Frankreich zu handeln, allerdings ohne seine Pläne vor den Ankommenden zu enthüllen. Die beiden Räte Karls VII. und Johanna mußten sich auf die Bedingung einlassen, nur von einigen Dienern begleitet, als Gäste die Stadt zu betreten. Die Bürger Soissons' weigerten sich, dem Rat Guichards folgend, die Söldner aufzunehmen, die ihnen nur <die Vorräte auffressen würden>. Schon am nächsten Tag zog das Heer, diese unerwünschten Gäste, wieder ab, aber der Kommandant Guichard Bournel hatte versprechen müssen, Choisy-le-Bac so rasch wie moglich zurückzuerobern. Der Erzbischof von Reims und der Graf von Vendôme verabschiedeten sich in Soissons von Johanna; sie sahen sie hier zum letztenmal in ihrem Leben. Johanna ging mit dem Heer und den Kommandanten Xaintrailles und Baretta nach Compiègne zurück. Guichard, der von unerklärlichem Haß gegen die Jungfrau erfüllt war - vielleicht war es Eifersucht, die ihn wie so viele Heerführer leitete - vergaß jede Pflicht dem König, seinem Herrn, gegenüber und verkaufte die Stadt Soissons, kaum daß Johanna mit ihren Begleitern davongezogen war, an Philipp von Burgund. Gegen den Judaslohn von viertausend Goldgulden übergab er die Festung dem Leutnant des Herzogs, Herrn Jean de Ligny, dem Erben von Luxemburg. Johanna soll zornig aufgeschrien haben, als man ihr diesen Verrat meldete; aber ihr Schrei galt wohl vor allem der Erkenntnis, daß die Macht über Karls Untertanen ihr in der Hand zerbröckelte. Sie vermochte auch die Truppen nicht beieinander zu halten. Unter dem Vorwand, Compiègne könne so viele Bewaffnete nicht aufnehmen und das ausgehungerte und verwüstete Land ringsum keine Armee ernähren, verlief sich die Hauptmasse der Söldner. So blieb Johanna mit einer kleinen, undisziplinierten Mannschaft in Compiègne zurück. Nicht müßig; sie führte mit Xaintrailles und Baretta, begleitet von d'Aulon und ihrem Bruder Jean, mit zweitausend Mann - einige Quellen sprechen von wenigen hundert Mann - einen Angriff gegen die englische Garnison in der Nähe von Margny durch; aber das Glück hatte sich von ihr gewandt. Erfolglos und dreißig Tote mitschleppend, kehrte sie nach Compiègne zurück. Wie an einem Abgrund wandelte dieses junge Geschöpf von achtzehn Jahren, das den natürlichen Weg seines Daseins verlassen hatte, dahin. Es ahnte schon die Faust, die es hinunterstoßen mußte. Warum? Johanna fragte in ihrer Gefährdung den Himmel, ihre Heiligen, das Schicksal, alle Mächte, die sie nicht mehr begriff. Sie hatte gewaltige Taten vollbringen sollen und hatte sie auch vollbracht. Warum mußte sie Strafe erleiden? Warum verließen sie die Menschen, denen sie gedient hatte? Johanna verbrachte manche Stunde in der Kathedrale, sie lag betend auf den Knien, sie versäumte keine Messe, sie beichtete, sie empfing den Leib des Herrn, sie verließ den hohen Weg nicht, der sie mit ihren Heiligen und den Höchsten des Himmels verband; aber sie fand keine Antwort. Seit Reims scheint die Frage nicht mehr von Johanna gewichen zu sein, warum die Heiligen, die mit ihr zu sprechen pflegten, sie aus dem angestammten Boden gerissen und auf Sand verpflanzt hatten, der ihren Wurzeln keinen Halt gab. Wer war sie? War ihr Glaube Irrtum, waren ihre Visionen Träume gewesen? Aus der Scheu, mit der Johanna die ekstatische Verehrung des Volkes abwies, geht deutlich der Zweifel an ihrer Gottgesandtheit und ihre Verwirrung über das eigene Tun hervor. Wie sie in Lagny sich gewehrt hatte, als man sie bat, ein Kind vom Tode zu erwecken, so wehrte sie sich jetzt, wenn in der Kathedrale Hunderte sie bedrängten, Kranke, Bekümmerte, Notleidende, die ihr Gewand, ihre Hände, ihren Rosenkranz zu berühren wünschten, um Hilfe zu finden. Wie oft hat Johanna den wundersüchtigen Menschen gesagt, sie könne keine Wunder tun, sie sei ein Mensch wie alle Menschen. Aber besaß sie denn nicht die Gabe der Voraussicht? Hier in Compiègne sagte sie, ebenfalls in der Kirche, dem Volk ihre nahe Gefangennahme voraus. Zwei anwesende Jünglinge haben als alte Männer davon erzählt und Johannas Worte unter Eid aufschreiben lassen. Aber wie hätte Johanna dieses Ende ihrer kurzen, strahlenden Laufbahn nicht voraussehen sollen? Von den Ihren verlassen, mit einem letzten Häufchen Getreuer der Übermacht des Feindes preisgegebenl Versuchte nicht auch de Flavy sie in eine unvermeidliche Niederlage hineinzutreiben, in ein zweites <Paris>? Doch was immer ihr bevorstand, sie würde ihren Weg bis zu Ende gehen. Am Tage nach dem gescheiterten Unternehmen bei Margny kam die Nachricht, eine starke englische Macht sammle sich auf dem südlichen Ufer der Oise in der Nähe der königstreuen Stadt Crépy-en-Valois. Johanna beschloß, so rasch als möglich zu rekognoszieren. Sie wollte den Schutz der Dunkelheit benutzen und mit ihren Leuten auf der Straße nach Meaux durch den Wald reiten. Es war die Nacht vom 20. zum 21. Mai 1430 Trotzdem war es ein gefährliches Unternehmen. Man umwickelte den Pferden die Hufe, dem Fußvolk wurde völliges Schweigen geboten. Lautlos wie Geister zog die kleine Schar durch den Wald und erreichte Crépy bei Tagesanbruch unangefochten. Den Tag über durchforsche Johanna die Gegend; der Feind schien jenseits der Oise, in die bei Choisy die Aisne mündet. In einem abermaligen Nachtmarsch kehrte sie nach Compiègne zurück. Der Kommandant Guillaume de Flavy empfing sie mit der Nachricht, der Brückenkopf bei Margny sei schon in den Händen der englisch-burgundischen Vorhut.
Johanna drängte zu einem raschen Aufbruch, um diese geringe Feindesschar mit ihrer Gefolgschaft anzugreifen und zu vertreiben, aber die beiden nächtlichen Märsche hatten ihren Leuten jede Kampfeslust genommen; sie lagen auf dem Stroh und schliefen. Erst am nächsten Morgen ließen sie sich bewegen, einen Ausfall zu machen. Johanna glaubte, daß sie an diesem langen, hellen Frühlingstag Zeit genug zum Siegen finden würde. Die Jungfrau zog an diesem 23. Mai 1430, zwischen den Hauptleuten reitend, zum Tore hinaus, durch die erste Schranke über die lange Brücke, die auf starken Bogen ruhte, durch die zweite Schranke auf den wasserumgebenen Boulevart und durch eine dritte Abschrankung hinaus ins freie Gelände. Sie besaß nun keine silberne Rüstung mehr, nur einen einfachen Panzer; ihr Schwert aus Fierbois war ja auf dem Rücken eines leichtfertigen Weibes zerbrochen; sie trug jetzt eines, das sie vor Lagny einem besiegten Burgunder entrissen hatte. Helm und Sporen waren ihr von Xaintrailles geschenkt worden. Ihr Prunkstück war der Waffenrock aus golddurchwirktem grünem Brokat und ein Mantel, wie Fürsten ihn trugen. Der Hauptmann Baretta führte die Schar an. D'Aulon ritt wieder an Johannas linker Seite. Von Xaintrailles wird nicht mehr gesprochen. Jean d'Aulon hingegen war und blieb Johannas Beschützer, er liebte und verehrte sie. Was er im zweiten Prozeß von ihr erzählt, zeigt seine tiefe Verbundenheit mit der gottgesandten Jungfrau, die er in Johanna sah. [55] Der Graf Guillaume de Flavy blieb in Compiègne zurück, um die Zugbrücke und das Tot für die Heimkehr durch seine Bogenschützen zu sichern. Johanna kannte die genaueren Pläne für diesen Tag nicht. Froh in ihrer Siegeszuversicht ritt sie dahin; lachend hatte sie den Bürgern von Compiègne das Versprechen gegeben, Philipp von Burgund in Person gefangen in ihre Stadt zu bringen. Wie Johanna es gehofft, überraschte ihre Truppe die schwache englisch-burgundische Vorhut. Die Jungfrau schien von ihrem gewohnten Glück begünstigt. Jean de Ligny, Graf von Luxemburg, erschien ungerüstet mit einigen Begleitern auf der Anhöhe von Margny, um die Befestigungen von Compiègne zu betrachten, und wem steht er gegenüber, Angesicht zu Angesicht? Der berühmten Jungfrau, der Hexe, der Zauberin! Zum Glück waren die Herren mit ihren Schwertern bewaffnet, so kämpfte man um den Flecken Margny in wütendem Eifer. Burgundische Verstärkung mußte jeden Augenblick eintreffen; und wirklich, als sollten die Haupthelden sich auf der Bühne versammeln, traf Philipp von Burgund mit einer stattlichen Gefolgschaft ein - der Herzog, der Vetter des Königs, der große Unheilbringer für Frankreich. Den Franzosen entsank der Mut, sie zogen sich zurück, den Abhang hinunter zur Oise. Wie durften sie, die einfachen Söldner, diese fast legendäre Gestalt, den reichsten und mächtigsten Mann der Christenheit belästigen! Sie flohen, trotz Johannas Standarte, trotz ihres Gottvertrauens, mit dem sie ihre Leute zu erfüllen versuchte. Keiner hörte auf die helle, mutige Stimme, die ein Jahr lang unter den kämpfenden Franzosen Wunder getan hatte. Jetzt begannen Scharen von Engländern herabzueilen; da gab es nur noch Flucht nach Compiègne, über den Fluß hinüber. Hinein in die Boote. Die Engländer auf schwimmenden Rossen hinterdrein. Auf den Mauern Compiegnes stand die Besatzung; sie durfte nicht auf den Feind schießen, weil man dann auch die eigenen Leute getroffen hätte. Johanna und ihre Umgebung deckten den Rückzug. Auch sie setzte über die Oise, kehrte sich aber auf dem Boulevart kämpfend ihren Verfolgern zu.
Johannes Söldner rannten über die niedergelassene Zugbrücke, durch die erste Schranke zum offenen Stadttor. Die Jungfrau folgte ihnen nicht. Außerhalb des Boulevatts wehrte sie, von ihren Getreuen umgeben, die Feinde ab, aber sie umdrängten ihr Pferd immer dichter. Wie rasend schlug sie auf die Engländer ein, das haßerfüllte Geschrei«Fangt die Hexe, aber fangt sie lebendig - packt sie schlagt ihre Ritter tot - denkt nicht an Lösegeld, nur die Hexe ist wichtig!» dröhnte um sie. Johanna kämpfte mit unglaublicher Bravour, wie sogar ihre Feinde später berichteten. Sie wollte sich nicht in die Stadt zurückziehen, noch nicht! Obgleich die Ihren ihr zuschrien, es sei der letzte Augenblick zur Flucht, um noch die Stadt zu erreichen, hieß Johanna sie schweigen. Da ergriffen d'Aulon und ihr Bruder Jean die Zügel ihres Roßes und kehrten es dem Boulevart zu. Hindurch, hindurch zur Brücke! Die Schranken waren niedergerissen und zu Boden getrampelt, aber von Feinden umringt, blieb Johannas Gruppe nichts, anderes als zu kämpfen. De Flavy, der die Flucht der Söldner vom Turme aus beobachtete, unternahm keinen hilfreichen Ausfall; [56] die Bürger läuteten jedoch die Sturmglocke, daß sie gellend über Fluß und Ebene schrie, denn sie glaubten, Johanna und die Ihren hätten die äußerste Gefahr noch nicht erkannt, in der sie schwebten. De Flavy sah die ersten Engländer schon, den Boulevart überrennend, den Brückenkopf betreten, damit es der Hexe nicht gelinge, das Stadttor zu erreichen. Da schreit der Kommandant den vernichtenden Befehl hinunter: «Die Zugbrücke auf!» Die Torwächter legen die Hände an die Winden, die Ketten rasseln, die Balken heben sich; Johanna und ihre Getreuen hören es mitten im Kampfgetümmel - ein rascher Blick zurück Gott im Himmel, das Wasser, der Abgrund liegt zwischen ihnen und der rettenden Stadt!
Ein Jubelschrei der Feinde, kein Rückzug für die Hexe, jetzt waren sie ihrer sicher! Wem würde es gelingen, sie zu packen? Die Männer um Johanna, die nicht ablassen, um sich zu schlagen, werden umzingelt oder hiedergemacht. Johannas Roß steigt und wiehert wie in Todesangst, die Herandrängenden weichen vor den schlagenden Hufen zurück, aber von den Seiten her hängen sich grobe Hände in die Zügel, johannas Schwert saust hernieder auf die gierigen Fäuste, trifft und vertreibt die Männer, neue Feinde drängen herzu, halten das Pferd an Schabracke und Gurten, krallen sich in johannas Waffenrock. D'Aulon und jean sind durch eine Mauer von Engländern und Burgundern von ihr getrennt. Das ist das Ende. Träfe sie doch der tötende Stahl, sie setzt sich jedem Schwertstreich aus. Da fühlt sie sich umklammert, man will sie vom Pferde reißen, sie klemmt die Knie an, drei, vier Soldaten zerren an ihr, ein einfacher Bogenschütze wirft sie zur Erde und stellt sich mit einem tierischen Schrei über sie, den Saum ihres Wappenrockes fest in den Händen haltend die Hexe ist seinl Er hat sie gefangen, er, der Bogenschütze Lyonnel. Mit einem Ruck hat Johanna sich befreit, sie springt auf die Füße trotz des schweren Panzers, aber von beiden Seiten umklammert man ihre Arme. Da steht sie wie aus Stein unter den triumphierenden Männern, den Blick über ihre Köpfe erhoben.
Der Bogenschütze, von Glückwünschen überhäuft, darf seine Beute nicht behalten, die Hexe gehört seinem Truppenführer Wandomme. Nein, auch ihm nichtl Wohin mit der Gefangenen? Wem immer Johanna gehörte, entwaffnet wurde sie mit ihrem Gefolgsmann d'Aulon und ihrem Bruder Jean du Lys in die englisch-burgundische Zeltstadt geführt. Philipp der Gute, dem das Jubelgeschrei und die Hohnworte der Soldaten verrieten, welch einen Fang sie gemacht hatten, eilte mit seinen Herren herbei, um die Pucelle d'Orléans, das Erstaunen der Christenheit, zu sehen. Der Chronist des Hauses Burgund, Enguerrand de Monstrelet, beschreibt die Szene, leider ohne ein Zwiegespräch wiederzugeben; aber das wurde der Welt aufbewahrt, daß ein Staunen den Herzog und seine Umgebung ergriff, als sie, anstatt einem wilden Mannweib, einem jungen Mädchen gegenüberstanden, das sie, in seiner verklärten Gefaßtheit, weder zu sehen noch zu hören schien: die Jungfrau erregte die Ehrfurcht ihrer Feinde.
19. Kapitel
Die erste Tat Bedfords, des englischen Regenten, der über die Gefangennahme der Jungfrau außerordentlich erfreut war, bestand in dem Befehl, der Rektor der Universität von Paris möge die Auslieferung des Mädchens vom Herzog von Burgund verlangen, damit der Inquisitor von Frankreich es verhören könne. Aber so rasch sollten die Räder des Schicksals nicht laufen. Burgund war nicht geneigt, seine kostbare Beute auszuliefern. Den höchsten Anspruch auf die Gefangene hatte der junge König Heinrich von England und Frankreich, und diesem würde er seine Gefangene nicht billig abgeben! Es mußte noch viel Wasser die Seine hinunterfließen, bis man die Jungfrau endgültig den Engländern überantwortet hatte. So befahl Philipp der Gute seinem Lehnsmann, Jean de Ligny von Luxemburg, die Gefangene in das nahe Schloß Beaulieu zu bringen. Johanna durfte ihre Nächsten um sich behalten und wurde auch weiterhin mit Zuvorkommenheit behandelt. Jean d'Aulon bediente sie, aber er war traurig und voller Sorge. Was würde mit der Jungfrau geschehen? Er muß mit ihr hin- und herüberlegt haben, ob es keine Rettung für sie gäbe. Das einzige Heil sahen sie schließlich in Johannas Flucht. Es wird erzählt, sie habe <zwischen zwei Hölzer gepreßt> zu entweichen versucht; eine recht unklare Beschreibung. D'Aulon war nicht mit ihr. Wahrscheinlich blieb er zurück, um Johannas Anwesenheit vorzutäuschen; er trennte sich ja nie mehr von ihr. Sie gelangte glücklich bis zum äußersten Tor, aber hier wurde sie entdeckt und zurückgebracht. «Gott hat die Flucht nicht gewollt», sagte Johanna, ein anderes Mal würde der Himmel ihr helfen. Aber der Himmel schien verschlossen gegen Johannas Not, und doch betete der ganze Süden Frankreichs, der in höchste Erregung geraten war, für ihre Rettung. Es wurden Prozessionen veranstaltet und Messen gelesen, das Volk rottete sich in Orléans und in Reims zusammen, um irgendeine Hilfeleistung zu erzwingen. Der Erzbischof von Embrun, der Erzieher Karls VII., flehte den König an, bei seiner Ehre alles zu versuchen, um Johanna frei zu kaufen, wie hoch auch immer das Lösegeld sein möchte. Wenn er sich zu diesem Schritt nicht entschließe, würde er sich für immer mit der Schande der Undankbarkeit bedecken. Lösegeld! Karl wußte nur zu gut, daß kein Lösegeld, und wenn er alle Einkünfte seines Königreiches anbieten würde, Johanna der Rache der Engländer und der Burgunder zu entreißen vermochte. Sie hatten ja schon die Universität von Paris angerufen; es war ersichtlich, daß die Feinde ihr einen weithin tönenden Prozeß bereiten wollten, um der Welt zu beweisen, daß die Besiegerin der Engländer mit höllischen Mächten im Bunde gewesen. Nichts anderes konnte die englische Ehre wiederherstellen. Karls logische Schlußfolgerung war aber, daß es auch für ihn wichtig war, daß Johanna von Theologen geprüft wurde, denn wenn das Hohe Gericht der Pariser Universität, seiner Ehre getreu, den Prozeß ehrlich führte, so mußte Johanna als ein Glied der christlichen Gemeinschaft anerkannt werden. Für Karl VII. kam ein Freispruch Johannas der Bestätigung seines echten Königtums gleich; ihre Verdammung als Hexe dem Schimpf, daß er durch höllische Mittel die Krone errungen habe und somit ein falscher König war, ohne Anrecht auf das Land Frankreich. Dem Prozeß mußte man den Lauf lassen, doch wollte Karl versuchen, auf die geistlichen Richter, wer immer sie auch sein würden, Einfluß zu gewinnen. Karl würde um eine Heilige, sein kleiner Gegenspieler, Heinrich VI., um eine Hexe zu kämpfen. In diesem Mai 1430 war Jeanne d'Arc indessen noch fest in den Händen des Herzogs von Burgund. Nach dem Fluchtversuch in Beaulieu befahl Philipp dem Grafen von Luxemburg, die Gefangene, die ihm anvertraut war, auf sein eigenes Schloß, Beaurevoir, zu bringen, um sie dort von seiner Gemahlin und zwei anderen Damen des Hauses Luxemburg streng bewachen zu lassen. Johanna wurde nach Beaurevoir gebracht und - wie eine Schwester der Damen empfangen, von der alten Herzogin von Luxemburg, der Erbtante Jean de Lignys, von seiner Gemahlin, Jeanne de Béthune und von seiner Stieftochter, Jeanne de Bar. Johanna war auf Schloß Beaurevoir Karl VII. nicht unerreichbar. Die Verwandtschaft, die zwischen allen Fürstenhäusern bestand, wob ihre Fäden auch zwischen dem königlichen Hof und dem Schloß der Luxemburger. Karls VII. Schwager, René d'Anjou, war designierter Herzog von Bar, Sohn der vorzüglichen Yolande d'Anjou, die der Jungfrau wohlgesinnt war. War Johannas liebevolle Aufnahme bei den drei Damen nicht den verwandtschaftlichen Banden über René d'Anjou et de Bar, Yolandas Sohn, zuzuschreiben? Wie auch immer, im September 1430 sandte Karl VII. durch zwei Bürger von Tournai, die ihn in Bourges besucht hatten, einen Brief an den Grafen von Luxemburg in Beaurevoir. Der Inhalt des Briefes ist nicht bekannt, er wird sich aber wohl mit Johannas Schicksal beschäftigt haben. Es war immerhin der Brief des Königs von Frankreich an einen seiner Feinde, den Lehnsmann und Vertrauten des Herzogs von Burgund. Ohne sehr ernsten Grund wäre dieser Brief nicht geschrieben und nach Beaurevoir gesandt worden. Was er auch enthielt, Karl durfte sich auf die Gesinnung der Damen von Luxemburg stützen. Dank der vielen Kanäle, über die Nachrichten liefen, wird es ihm bekannt gewesen sein, daß die alte Herzogin ihren Neffen jean, auf den Knien liegend, anflehte, die Jungfrau nicht an England zu verkaufen. Standen nicht schon hier Karls Bitteri hinter den Bitten der greisen Fürstin? Es gibt Aussagen der Dankbarkeit Johannas über diese freundliche Zeit in Beaurevoir; sie erzählt darin, daß die Damen sie auf alle Weise zu überreden versuchten, ihre männliche Kleidung abzulegen, wußten sie doch, daß hier eine der Hauptanklagen lag, die gegen Johanna von der Kirche erhoben wurden. Die Damen seien bereit gewesen, ihr die schönsten Kleider zu schenken, aber sie, Johanna, habe erklärt, es sei der Wille Gottes, daß sie Männerkleidung trage.* (*Qicherat: Prozesse, Band I, S. 95-96 und S. 230)
<Der Wille Gottes > war die Umschreibung für ihre eigenen klugen, willensstarken Entschlüsse; sie gedachte zu fliehen. Eine Flucht war jedoch nur in Männerkleidung möglich. Johannas Angst vor ihrem Verkauf an die Engländer wuchs von Tag zu Tag. Sie hörte d'Aulon und die Damen darüber reden. Jean de Ligny, jetzt schon Herzog von Luxemburg genannt, obschon er das Erbe noch nicht angetreten hatte, war ein armer Edelmann, der jüngste Sohn eines jüngsten Sohnes, einer der zahllosen <Cadets>, die sich als Söldnerführer zu bereichern pflegten; er stand im Begriffe, seine Gefangene zu verkaufen. Für sechstausend Silber-Livres.** (**Ein Livre = fünfhundert Gramm Silber oder Gold. (Livre d'Argent, Livre d'Or.)
Und seine greise Tante verlangte, er solle die beste Geldquelle der Ritterschaft nicht ausnützen? Er solle auf sechstausend Livres Lösegeld verzichten, auf die einzige große Einnahme, die ihm wahrscheinlich nur einmal im Leben blühte? Philipp der Gute zahlte seinem Lehnsmann die Summe aus; er selber aber verlangte von den Engländern achtzigtausend Gold-Livres, eine Summe, wie man sie für die Auslösung eines Königs zu verlangen pflegte. Es kam der Tag, an dem die freundlichen Hüterinnen Johanna gestehen mußten, daß sie an Heinrich VI., König von Frankreich und England, verkauft sei. Was dieser <Verkauf> bedeutete, wußten sie alle, die «Vier Johannen»: Verlies, Ketten, Folter, Feuertod. Johanna wurde von übermächtigem Grausen und von Todesfurcht gepackt. Wohin konnte sie entfliehen? Nur zu Gott, zu Jesus, der Jungfrau Maria und zu ihren Heiligen. Gewiß, die Himmlischen würden sie beschützen, was immer sie unternehmen würde. Wenn sie vom Turm sprang? Würde der Herr des Himmels, ihr Seigneur, dem sie gedient, ihr nicht Flügel verleihen, auf denen sie zur Erde schwebte? Man hatte Johanna erlaubt, innerhalb des Turmes, in dem sie ein gutes Gemach, aber wohl mit vergitterten Fenstern, besaß, auf und nieder zu steigen. Der Turm war mit einer Plattform bedeckt und hatte eine Brüstung, mit Schießscharten versehen. Es war Anfang Juni. Das flache Land, das sich blühend bis nach Cambrai ausdehnte, durchzogen von dem schrnalen blauen Band der Escaut, lag wie der Inbegriff der Freiheit tief unten vor Johannas Augen, darübergespannt der leuchtende Sommerhimmel, in dem die göttliche Hilfe über ihr wachte. Sie wollte, sie mußte hinunterspringen: Wohin sie fallen würde, ob auf ein Steinpflaster, in den Burggarten, ob auf ein schrägabfallendes Wiesland, sie wußte es nicht; die vorkragende Brüstung verbarg ihr den Fuß des Turmes. Der Donjon war hoch, aber sie mußte den Sprung wagen, den Sprung in die Freiheit. [59] Da steht die schlanke Mädchengestalt auf der Brüstung, frei vor der Weite der Luft. Wer sie gesehen hätte, würde einen Schreckensschrei ausgestoßen haben, denn der Sprung bedeutete nach menschlichem Ermessen den Tod; aber Johanna trat furchtlos in die Luft hinaus und - stürzte, wie Menschen von großer Höhe stürzen. Sie blieb liegen, ohne Bewegung, ohne Besinnung. Die Knechte fanden sie, die Damen eilten herbei, man glaubte, die Jungfrau sei tot. In ihr Gemach getragen, wurde sie von d'Aulon und den drei Damen gepflegt: nicht ein Knöchelchen hatte sie gebrochen. Der Burgkaplan, der ein Heilkundiger war, untersuchte sie. Seine Diagnose ist nicht bekannt, aber Johanna scheint eine Gehirnerschütterung davongetragen zu haben. Das Bewußtsein kehrte erst nach Stunden zurück; sie war verwirrt und wußte nichts von ihrem Sprung. Tagelang vermochte sie keine Nahrung zu behalten, aber dann siegte ihre robuste Natur über den Schock. Doch scheint Johanna eine innere Verletzung davongetragen zu haben, denn wenige Monate später, als Lady Bedford auf Befehl der Richter in Rouen nochmals die Jungfräulichkeit der Angeklagten feststellen mußte, entdeckte der zugezogene Arzt, daß das Mädchen sich <eine innere Verletzung durch das Reiten zugezogen habe>. Johanna war ein großgewachsenes, kräftiges Mädchen, dem das Reiten wohl kaum einen Schaden hat zufügen können, viel eher hat das Aufprallen auf den Erdboden einen inneren Riß verursacht. Es ist viel über <das Wunder> dieses Sturzes geredet und geschrieben worden. Einige Historiker glauben, die Jungfrau habe Selbstmord begehen wollen, aber das ist bei ihrem strengen Christentum nicht anzunehmen. Johanna selber hat im Prozeß gesagt, ihre Heiligen hätten ihr den Sprung verboten, sie hätte ihn aber trotzdem gewagt.
Noch war Johanna in Beaurevoir. Sie sah den Sommer kommen und gehen, der Herbst verzauberte die fernen Wälder in eine rotgoldene Verbrämung des letzten leuchtenden Grüns, das mit Herbstzeitlosen bestickt war. Dann wurde es kalt im Turm; die Stürme, die über das flache Land brausten, heulten um ihr hohes, enges Gefängnis, doch war es nicht dunkel. Die schrägen Strahlen der Sonne fielen auf die Fliesen ihres Gemaches und auf ihr geneigtes Haupt, wenn sie Stunde um Stunde am Betschemel kniete. Die Diener steckten brennende Fackeln in die Mauerringe und unterhielten ein gutes Feuer im Kamin; aber Johanna wird mit Schaudern in die lodernden Flammen gestarrt haben. Mit welchen Worten mag ihr Gefährte d'Aulon sie dann getröstet und abgelenkt haben? Dieser Getreueste der Getreuen. Glückselige Flucht in die Welt ihres Glaubens und ihrer Hoffnung waren die Stunden der Messe in der Schloßkapelle, wenn sie sich dem himmlischen Tröster überantwortete. Während Johanna im Schutze der Damen von Luxemburg um ihre Auslieferung an die Engländer zitterte, führten die Parteien einen erbitterten Krieg um ihre Person.
Philipp von Burgund hatte die verlangte Summe noch nicht von den Engländern erhalten; er konnte warten. Der Kardinal Winchester hatte, um auf Burgund einen Druck auszuüben, schon am 10. Juli 1430 für England ein Verbot erlassen, in Antwerpen englische Wolle zu verkaufen und fertige Wollstoffe und flandrisches Leinen einzuhandeln. Auch diese Maßnahme rührte Philipp nicht. Winchester würde bald sehen, daß er sich ins eigene Fleisch schnitt. Bedford wurde ungeduldig; er wollte die Jungfrau sicher in der Gewalt haben; er war voller Mißtrauen, Philipp könne durch seinen Lehnsmann, den Herzog von Luxemburg, die Jungfrau <an den Feind ausliefern>, nämlich an Karl VII. Diese Sorge geht aus einem Brief der Universität Paris hervor, den der Bischof von Beauvais, der in englischem Dienst stand, nach Schloß Beaurevoir zu überbringen hatte. Es heißt in dem Brief, der in strengem Ton gehalten war: «Die vielfachen Übel, die diese Frau verbrochen hat, wären noch größer, wenn sie von einem unserer Feinde befreit oder entführt würde, wie man sagt, daß sie es wollen... Aber wir hoffen, daß Gott ein so großes Unglück nicht erlauben wird und daß Eure gute und edle Vorsicht es nicht dulden wird, sondern daß sie dort gut aufgehoben ist. Wenn nämlich die Befreiung geschähe, so wäre es eine ewige Schande für Euren hohen Adel und für alle, die in diese Affäre einbezogen wären.» Bemühungen zu Johannas Befreiung waren demnach bekannt. Und dann wird der Herzog von Luxemburg beschworen, die Gefangene so rasch als möglich dem Inquisitor zu überantworten, oder sie dem Bischof von Beauvais, der die Angeklagte, da sie in seiner Diözese gefangen worden war, beanspruchen dürfe, zu übergeben.* (* In den Aktebn des ersten Prozesses wiedergegeben, Quicherat: Prozesse Band I, S. 10-11)
Der Brief war am 14. Juli 1430 in Paris geschrieben worden. Dem Bischof von Beauvais, Pierre Cauchon, wurde die Jungfrau indessen noch nicht ausgeliefert, er war gezwungen, bis zum November 1430 zwischen Rouen, Paris, Flandern und Beaurevoir hin und her zu reisen. Er bot schließlich dem Herzog von Burgund, dem Verbündeten Englands, hunderttausend Livres d'Or. jetzt war Philipp endlich bereit, seine Gefangene an den König von England auszuliefern. Die Normandie mußte mit schweren Steuern an England die riesige Summe aufbringen. Es war ein schmählicher Verkauf und nicht die ritterliche Auslösung eines Gefangenen; denn Johanna erhielt ja nicht, wie es der Sinn der Auslösung war, ihre Freiheit, sondern jetzt erst die wahre Gefangenschaft und, wie die Engländer drohten, den Feuertod als Abschluß ihrer Leidenszeit.
Was weiß die Nachwelt von Karls VII. Bemühungen während dieser sechs Monate des Feilschens um Johannas Auslieferung? Sehr wenig - nur soviel, daß er und die Provinzen Frankreichs, die er besaß, sich nicht beruhigen wollten. Wie der Erzbischof von Embrun Karl beschworen hatte, die Jungfrau zu befreien, so schrien die Städte weiterhin um Hilfe für ihre Erretterin. Der Kampf um Johanna muß bis in Karls Privatgemächer gedrungen sein, denn von seinem Oberkämmerer, Guillaume Gouffier, stammt der Ausspruch: «Le Roy fut moult dolent, mais remedier n'y peut.»* (*»Der König war sehr traurig, aber ändern konnte er nichts«)
Papst Pius II. schrieb später in der Rückerinnerung die Worte: «Carolus virginis obitum accerbissime tulit.» Und in einem zeitgenössischen Gedicht heißt es aus Karls Munde: «Tout ce que nous avons pu faire par les armes et l'epée, nous l'avons tenté.»** (**»Alles was wir durch die Waffen und den Degen haben tun können, wurde von Uns versucht.«)
Das könnte eine poetische Übertreibung sein, aber ein militärisches, geheimnisvolles Unternehmen, an dem der Bastard von Orléans und Xaintrailles beteiligt waren, die Verteidigung von Louviers - das nur wenige Meilen von Rouen entfernt lag und seit dem Dezember 1429 in französischer Hand war - scheint dem Plan gedient zu haben, während des Prozesses auf verborgenen Wegen mit den Richtern in Verbindung zu bleiben. Es gibt nur wenige Dokumente und diese zum Teil in späteren Abschriften, über die Handlungen des Hofes nach Johannas Gefangennahme. Aber der Verlauf der Ereignisse läßt den Schluß zu, daß Karl eine unablässige diplomatische Tätigkeit zugunsten der Jungfrau entfaltete. Wenn er nicht offen zu ihrer Verteidigung auftrat, so war es seine Charakterschwäche, die ihn unfähig machte, sich gegen seinen Kanzler, den Erzbischof von Reims, und gegen La Trémoille durchzusetzen. Reims, das vor allem den Verlust der Jungfrau beklagte - so sehr, daß der Erzbischof und Kanzler befürchten mußte, das Volk könne sich zu Gewalttaten hinreißen lassen: Reirns wurde durch einen Brief die Begeisterung zum Einschreiten entwunden [63]. Der Erzbischof hatte Johannas guten Ruf bei den Bürgern so gründlich untergraben, daß er zum Schluß sagen durfte, den Tod, den die Engländer ihr bereiten würden, brauche niemand zu bedauern. Der Kanzler selber war <ganz unschuldig> an diesem Urteil, er sprach nur durch den Mund jenes <erleuchteten Hirten>, den er in die Umgebung Karls gebracht hatte. Der Hirte hatte gesagt, Gott habe die Gefangennahme der Jungfrau erlaubt, weil nur Hochmut sie zu ihren Taten getrieben habe, auch wegen der kostbaren Gewänder, in die sie sich gekleidet, wegen der Männertracht, die sie getragen, und weil sie ihrem eigenen Willen und nicht Gottes Willen gefolgt sei. Die Bürger von Reims waren betrübt und verwirrt, sie schwiegen und rührten sich nicht mehr. Der <Hirte>, dessen sich der Erzbischof bedient hatte, um Karls Wunderglauben auszunützen, war ein <Gottesnarr>; aber der König ließ sich nicht von ihm narren. So mußte man den <Erleuchteten> zwei Monate nach Johannas Gefangennahme laufen lassen. Die Engländer fingen ihn, steckten ihn in einen Sack und ertränkten ihn. Gegen Ende des Sommers 1430 hörte man im Frankreich Karls VII. immer deutlichere Gerüchte über einen Schauprozeß, den die Engländer der Welt vorzuführen gedachten. Es hieß, daß geistliche und weltliche Professoren und Doktoren der Universität sich in Rouen zu sammeln begannen. Jean Le Maitre, der Stellvertreter des Inquisitors, ein einfacher Mönch und schüchterner Mann, stand dem Gericht vor, sofern ihm der willensstarke und kluge Bischof von Beauvais, Pierre Cauchon, den Vorsitz nicht fortnehmen würde. Pierre Cauchon, der die Jungfrau für die Engländer von Burgund erkauft hatte, wird von der Mit- und Nachwelt als der schlimmste Feind Johannas bezeichnet. Wer war Pierre Cauchon, bevor er in die Räder der großen Auseinandersetzung zwischen Frankreich und England geriet?
Ein Bürger von Reims. In der Stadt geboren und aufgewachsen, die Jeanne d'Arcs große Tat der Krönung Karls VII. mit unendlichem Jubel erfüllt hatte. Zur Zeit der Krönung, 1429, war Pierre Cauchon, Bischof von Beauvais, schon in bezahltem Dienste Bedfords; aber in seiner Jugend war er <chanoine de Reims> gewesen, also seiner Geburtsstadt als Geistlicher verbunden. Sehr früh wurde er einer der bekanntesten Doktoren der Universität Paris, 1403 Rektor dieser einflußreichsten Stätte des Wissens in der Christenheit. Mit Vernunft und Kraft hatte er, ein <Burgunder>, 1413 den Aufstand der Cabochiens gegen die Armagnac in Bahnen gelenkt, die gute und weise Gesetze für die Gewerbetreibenden erlaubt hätten; aber seine Vorschläge wurden beiseite geschoben. Jean sans Peur ernannte jedoch den klugen, tatkräftigen Cauchon 1414 zu seinem Gesandten am Konzil zu Konstanz. 1418 wurde Cauchon vom Herzog von Burgund im Einverständnis mit den Engländern zum Bischof von Beauvais ernannt. Man rühmte Cauchon auf seiten seiner Freunde Güte, Gerechtigkeit und Unparteilichkeit nach, Eigenschaften, die ihm seit dem Prozeß, der Johanna gemacht wurde, mit Heftigkeit abgesprochen worden sind. Pierre Cauchon, der Bischof von Beauvais, gab der Mitwelt und gibt noch der Nachwelt Rätsel auf, da er als der Hauptschuldige am Tod Johannas und als der bitterste Feind Karls VII., das heißt der Franzosen, angesehen wird. Es lohnt sich, das Rätsel, wenn nicht zu lösen, so doch in seine Teile zu zerlegen, damit der Betrachter seine Schlüsse daraus ziehen kann. Der Historiker Jules Quicherat, der die guten Qualitäten Cauchons anerkennt, sagt in seinem Werk über Jeanne d'Arc: «In der Angelegenheit Johannas enthüllte er sich als ein leidenschaftlicher, falscher und korrumpierter Mann.»* (* Quicherat: Apercus neauveaux, Kap. II, S. 99)
Bei der Beurteilung Cauchons darf man aber nie vergessen, daß das Urteil über ihn, das spätere Historiker fällten, vor allem auf dem Rehabilitierungs-Prozeß Johannas beruht, bei dem Cauchon, der damals schon gestorben war, als Sündenbock benutzt wurde. Man sollte die Lage, wie sie während des ersten Prozesses war, auf ihre inneren Widersprüche hin prüfen. Cauchon war Franzose in einer Zeit des dämmernden Nationalgefühls: er stand allerdings im Dienste Burgunds. Aber auch dieser, von Geblüt ein Franzose, haßte die Engländer, seine Verbündeten, und stand seit Jahren in Friedensunterhandlungen mit Karl VII. Im Grunde waren die Engländer auch für Pierre Cauchon der Landesfeind. Wohl bezog er Revenuen von Bedford, gehörte dem Rat des jungen englischen Königs an, war in London mit allen Ehren empfangen worden; er hatte 1429 durch Karls VII. Truppen seinen Bischofssitz Beauvais verloren; und dennoch gibt es einige, nicht zu übersehende Verbindungen zwischen Cauchon und Karl, dem König von Frankreich. Als Pierte Cauchon für Johannas Prozeß an der Universität Paris jene Theologen auswählen mußte, die als Richtet zu wirken hatten, mußte er wohl oder übel Männer berufen, die zur burgundischen Partei gehörten, denn die Alma Mater duldete <im Moment> keine andere Zugehörigkeit, «point d'autres pour le moment», wie Quicherat sagt. Diese Theologen seien gemäßigt in ihren Ansichten gewesen. Drei unter ihnen hätten sicherlich zwischen den Parteien gestanden. Dieser Hinweis deutet offensichtlich auf die verborgenen Wege, die Karl VII. zu Johannas Rettung benutzen konnte.
Der erste der drei Männer, deren Überzeugung durchaus nicht königfeindlich scheint, ist Guillaume Erard, ein Mann, der von den Engländern mit Gunstbeweisen überhäuft wurde und trotzdem in ständiger Verbindung mit dem Beichtiger und Vertrauten Karls, dem ersten Freund Johannas, Gérard Machet, stand. Guillaume Erard wurde auch nach Johannas Tod nicht zu den Feinden Karls VII. gezählt, er blieb Gérard Machets Freund, und als Karl Paris zurückerobert hatte, blieb Erard unangefochten Pfarrer von Saint-Gervais in Paris.
Der zweite jener - vermutlich - im Geheimen wirkenden Männer ist Nicola Midi, der den König bei seinem Einzug in Rouen mit einer Festschrift begrüßen durfte.
Der dritte dieser Gruppe von heimlichen Franzosenfreunden heißt Thomas de Courcelles. Dieser bedeutende, ernsthafte junge Gelehrte wurde im Verlauf der Jahre als <Freund> Karls VII. bezeichnet. Man sah in Courcelles den Nachfolger des großen Gerson; er war einer der Leuchten des Konzils zu Basel. Aeneas Silvius, der spätere Papst Pius II., äußerte sich entzückt über Thomas de Courcelles; er hob seine Gelehrsamkeit, seine Bescheidenheit und seine strengen Sitten hervor. Courcelles war ohne irdischen Ehrgeiz. Und dieser vorzügliche Mann sollte ein Verderber Jeanne d'Arcs sein, deren heiligmäßiges Wesen eine so ungeheuer starke Wirkung besaß, daß sich ihr alle Wohlgesinnten zuneigten wie Durstige einer frischen Quelle?
Pierre Cauchon, der Bischof von Beauvais, der angeblich teuflische Mörder der Jungfrau, zog den hervorragenden Thomas de Courcelles lieber als irgendeines der übrigen Mitglieder des Gerichtshofes als seinen nächsten Mitarbeiter heran. Wenn Courcelles später ein wahrer Freund Karls VII. war, so muß diese Freundschaft ihre Wurzeln schon in frühere Jahre gesenkt haben. Man kann kaum etwas anderes annehmen, als daß Courcelles während des Prozesses mit dem König in Verbindung stand. Und von dieser Verbindung sollte Cauchon nichts gewußt haben? Warum Quicherat diese, seiner eigenen Entdeckung naheliegende, Schlußfolgerung nicht zieht, ist nur dadurch verständlich, daß er mit ihr sein gesamtes großartiges Werk über den Prozeß Johannas als revisionsbedürftig hätte erklären müssen. Quicherat war ein integrer Gelehrter, deshalb sagt er offen in seinen <Apercus nouveaux sur l'histoire de Jeanne d'Arc>, bevor er die drei franzosenfreundlichen Mittelsmänner im einzelnen beschreibt: «J'ai réuni dans le premier volume du procés le peu de notions que je possédais sur ces personnages lorsque je commenéais ma publication. D'autres renseignements se sont depuis présentés à moi, qui me permettent d'apprécier mieux que je faisais alors, la Position de ces hornmes entre les parties.»* (*Quicherat: Apercus nouveaux, Kap. II, S. 103: »Als ich meine Publikation begann, habe ich im ersten Band des Prozesses die wenigen Hinweise, die ich über diese Personen besaß, vereinigt. Seitdem sind mir andere Berichte in die Hand gekommen, die mir erlaubten, die Stellung dieser Männer »zwischen den Parteien« besser zu beurteilen, als ich es vorher getan.«)
<Entre les parties> - zwischen den Parteien! Wie dachte Pierre Cauchon, der französische Bischof, der Bürger von Reims, wohl im Grunde seines Herzens? Um Wahrheiten zu finden, bedient man sich oft mit Vorteil der Umkehrung einer altüberlieferten, einmal gegebenen und nicht mehr überprüften Ansicht. Wenn man Pierre Cauchon, nach diesem System, vom zynischen Heuchler, der die Angeklagte mit scheinbarer Güte in Fallen lockte, in eine Person verwandelt, die mit echter Güte und mit vorgefaßter, wohlwollender Absicht der Gefangenen die Worte in den Mund zu legen versucht, die sie retten könnten, wenn man Pierre Cauchons Tränen des Mitleids nicht bitter verspottet, sondern seiner Ergriffenheit glaubt, so steht plötzlich eine Gestalt vor dem Betrachter, die in Karls VII. Interesse handelte. Warum aber handelte Cauchon nicht offen? Weil er ein Mensch war und keiner der stärksten und uneigennützigsten. Die Engländer waren die mächtige Besatzungsmacht, die sein Leben in der Hand hielt, er war nicht frei zu handeln, wie es ihm gefiel, auch war er schwach dem Gelde gegenüber, das er, wie alle Großen seiner Epoche, übermäßig liebte. In der Angst um seine Person ist auch diese <Falschheit> ein Zeichen seiner Zeit. Besaß doch sogar Philipp der Gute von Burgund, der Stifter eines Ordens <zur Förderung der Tugend>, einen undurchsichtigen Charakter... Er, der Verbündete und nahe Verwandte Bedfords und zugleich ein wilder Hasser Englands, das ihm in Flandern zu Schaden suchte, wie es nur konnte, war ein Mann, der um Frankreichs willen, dessen Sprache er sprach, dessen Blut in seinen Adern rollte, nur zu gern mit Karl Frieden geschlossen hätte. Seine ganze Existenz war auf Lügen aufgebaut. Dem Herzog von Burgund drohte von englischer Seite keine persönliche Gefahr; aber ein Bischof von Beauvais, ein Instrument in der Hand der Siegermacht, wußte, daß ein <Verrat> an den Interessen des Königs von England, Heinrichs VI., mit der im Gesetz festgelegten Strafe für Hochverrat: Folterung und Vierteilung bei lebendigem Leibe, geahndet werden würde. Märtyrer sind selten, und Pierre Cauchon gehörte nicht zu diesen Seltenen; aber unter der Hand - so darf man annehmen - war er gewillt, nach Karls Wünschen zu handeln, so gut er es vermochte. Ein Mittel war ihm gegeben: den Prozeß hinauszuziehen und immer wieder hinauszuziehen. Vielleicht, daß Karl VII. die Verhandlungen mit Burgund wieder aufnahm, oder daß England in offner Feldschlacht besiegt würde? In einem, in zwei Jahren konnte vieles geschehen. Es ist bekannt, wie groß die Ungeduld und schließlich die Wut der Engländer wurde, weil die Richter zu keiner Urteilssprechung kamen. Und wie betonen doch die Historiker späterer Zeiten das nutzlose Geschwätz, den Leerlauf der Verhandlungen, die Wiederholungen der immer gleichen Befragungen.