Der ödipale Unterschied Ursprung aller Mißverständnisse

Der Ödipus-Komplex ist etwas so Bedeutsames, daß es
auch nicht folgenlos bleiben kann, auf welche Weise man
in ihn hineingeraten und von ihm losgekommen ist.
SIGMUND FREUD

Das Problem der Symmetrie/Asymmetrie der Entwicklung von Mädchen und Jungen hat uns Freud zur Erforschung aufgetragen, wenn er schließlich feststellt: »Alle Erwartungen eines glatten Parallelismus zwischen männlicher und weiblicher Sexualentwicklung haben wir ja längst aufgegeben.«[1] Wenn wir uns die Mühe machen und seine letzten Schriften über die weibliche Sexualität noch einmal lesen, fällt es uns a posteriori nicht schwer, das Grundmuster, die erste Skizze dieses berühmten Unterschieds der Geschlechter auszumachen, den Freud immer wieder auf einen angenommenen Körpervergleich zwischen Kindern zurückführen wollte, während er doch merkwürdigerweise alles für eine andere Erklärung in Händen hatte: man muß nur, was er an Feststellungen dazu in loser Folge ausgestreut hat, ordnen, um etwa die folgende Argumentationskette zu erhalten: »Hören Sie, das Merkwürdigste am Geschlechtsleben des Kindes scheint mir, daß es seine ganze, sehr weitgehende Entwicklung in den ersten fünf Lebensjahren durchläuft...«[2] »... in den ersten Kinderjahren stellt sich die Relation des Ödipus -Komplexes her, in welcher der Knabe seine sexuellen Wünsche auf die Person der Mutter konzentriert...«[3] »Die erste Objektwahl des Kindes ist also eine inzestuöse.«[4] »Es macht uns keine Schwierigkeiten, dieses Ergebnis für den Knaben abzuleiten. Die Mutter war sein erstes Liebesobjekt; sie bleibt es...«[5] »Anders für das kleine Mädchen. Ihr erstes Liebesobjekt war doch auch die Mutter; wie findet sie den Weg zum Vater? wie, wann und warum macht sie sich von der Mutter los?«[6] »Der Ödipus-Komplex des kleinen Mädchens birgt ein Problem mehr als der des Knaben.«[7] »Die schicksalhafte Beziehung von gleichzeitiger Liebe zu dem einen und Rivalitätshaß gegen den anderen Elternteil stellt sich nur für das männliche Kind her.«[8] Der »Ödipus« ist also die Geschichte des unbewußten sexuellen Begehrens: sehr schön oder sehr traurig, je nachdem, ob man sie als Vorläufer jeder späteren Liebesgeschichte nimmt oder sie für alle Schwierigkeiten in der Liebe verantwortlich macht. Allerdings existiert dieser kreuzweise »inzestuöse« Ödipus der Geschlechter - das auf die Mutter gerichtete Begehren des kleinen Jungen und das der Mutter hin zum Sohn - nur einseitig: Der von Freud selbst als »in der Kindheit des Individuums präsent und wirkmächtig« bezeichnete Inzestwunsch prägt in unserer Gesellschaft ausschließlich die Atmosphäre im Umgang zwischen dem männlichen Kleinkind und seiner Mutter oder einer anderen Frau, die es betreut. Was aber geschieht im gleichen Lebensabschnitt mit dem Mädchen, das von der Mutter betreut wird und von seinem »inzestuösen Objekt«, also dem Vater, weitgehend ferngehalten wird und somit die kreuzweise Geschlechterbeziehung nicht kennen lernt? Lebt es in einem luftleeren Raum, der sich später dann so oft in Ängsten vor der Leere, in erschreckenden Anfällen von Eßsucht (Bulimie) und dann wieder in aufsehenerregender Anorexie (Magersucht) ausdrückt? Es gibt allzu viele Probleme bei den Frauen in diesem Bereich (die Leere und die Überfülle), als daß sich nicht die Frage aufdrängen müßte: Womit füllt sich das kleine Mädchen psychisch, wenn es das Fläschchen von einer Frau gereicht bekommt, die ihm gegenüber kein Begehren empfindet, da ja beide das gleiche Geschlecht haben? Kann das Mädchen sich mit seiner Mutter »zufriedenstellen«? Offenbar nicht, denn nach dieser ersten Beziehung zu einer anderen Frau finden wir die Mehrzahl der Frauen später wieder in der Abhängigkeit vom Begehren des Mannes. Wie sind sie dahin gekommen? Ihr Verhältnis zum Begehren muß sich in besonderer Weise entwickelt haben, wenn sie später jeden Preis dafür zahlen, um nur ja nicht oder nicht wieder aus dem Bannkreis männlichen Begehrens herauszugeraten. Dieses einzigartige Festhalten an der Position des »begehrten Objekts« birgt für die Frauen viele Tücken; vor allem macht es sie ausbeutbar für alle Ideologien, die dem Mann nützen. Heute morgen hat mir eine Frau gesagt: »Wenn man mich begehrt, dann bin ich nicht nichts.« An welches »Nichts« erinnert sie sich dabei? Und was ist dieses »man«, das sie begehren kann, wenn nicht der Mann? Es ist der Mann, den man im Leben des kleinen Mädchens vergebens sucht, denn der Mann fehlt an der Wiege und hat jedenfalls nicht die Aufgabe, sich um dieses Kind zu kümmern. Wie kann jemand übersehen, daß die »fatale« ödipale Beziehung für das Mädchen über lange Jahre nicht existiert? Wo begegnet sie dem Mann, der sie und ihr Geschlecht begehrt? Bestimmt nicht auf der Wickelkommode. Und auch nicht in der Kinderkrippe, dem Reich der Frauen. Wo in der neuen Literatur, in welchen noch so ausgefallenen Comics (außer in denen von Claire Brètecher) sehen wir den Vater beim »Bevatern« seines Kindes? Beim Fläschchengeben oder beim Säubern? Das gibt es bisher nur selten oder als fast anstößige Ausnahme. Denn alles in allem wünscht der Mann es nicht. Und wenn er es wollte, würde die Frau es ihm zugestehen? Mann und Frau sind sich einig über eine Art Rollenteilung, bei der der Mann die Frau von gesellschaftlichen Funktionen fernhält und ihr nur den familiären Bereich zuweist. Der Sexismus zeigt sich innerhalb der Familie als ebenso unnachgiebig wie außerhalb. Die Frau widmet sich dem Kind, der Mann dem Gelderwerb. Wer wird das leugnen in einem Land, wo seit mehreren Jahren ein Lohn für Mütter gefordert und wo jeder Vorschlag für einen längeren Vaterschaftsurlaub zurückgewiesen wird? Der Vater ist in unseren romanischen Ländern[9] nicht dazu bestimmt, sich um das »Kleine« zu kümmern, sei es das eigene oder das der anderen. Er ist abwesend bei der Erziehung des kleinen Kindes, und er muß ungewöhnlich eigensinnig sein, will er sich daran beteiligen! Und zwar sowohl bei seinen männlichen Kollegen als auch bei seiner Frau, die ihm nur teilweise die Aufgaben überträgt, die sie für ihre natürliche und angeborene Berufung hält, wie man es ihr immer wieder sagt. Die Hauptaufgabe des Mannes scheint es zu sein, das Geld zu verdienen, um die verschiedenen Hauptdarsteller des Dramas, das sich unter seinem Dach abspielt und an dem er im allgemeinen nicht teilnimmt, zu ernähren. Das Kind und seine Neurose ist immer eine Geschichte, die von der Mutter erzählt wird, selten vom Vater, der das seiner Frau überläßt (meist das einzige, was er ihr läßt ... ) Alles andere nimmt er auf sich, und wenn er abends nach Hause kommt, dann hat er nur noch den Wunsch, daß man ihn entlaste; was er sich sehnlichst wünscht, ist Frieden, als ob er den Krieg nicht ertragen könnte und dieser sein täglich Brot wäre - ganz so, als stünde er außerhalb wie innerhalb der Familie nur auf dem Schlachtfeld. Was hat es auf sich mit der Beziehung des Mannes zum Krieg, dem Krieg, den er früher mit seiner Mutter geführt hat, bis zu dem, den er heute zwischen seiner Frau und seinem Sohn wieder erlebt? Ist ihm die Bezi.ehung Mutter-Kind in so schlechter Erinnerung, daß er da um keinen Preis wieder hineingezogen werden will? Ist er von seiner eigenen »inzestuösen Wahl« von einst derart gezeichnet, daß er sich um keinen Preis zwischen seine Frau und seinen Sohn stellen will? Ist da etwa immer noch ein Stück Furcht vor der allmächtigen Mutter, wenn er es nicht wagt, sich seiner Frau entgegenzustellen in ihrer Macht, die sie über ihrer beider Sohn ausübt? Ist es die Erinnerung an den Krieg, die ihn heute nichts sehnliche r wünschen läßt als den Frieden? So wird er also wegen seines eigenen Ödipus den seines Sohnes vernachlässigen und den seiner Tochter unmöglich machen. Meist zieht er dem Familienleben die Lektüre oder die Berichte von Kriegen und Konflikten draußen vor: er vertieft sich in die Zeitung, er fordert Ruhe beim Fernsehen und zwingt damit jeden, seine persönlichen Konflikte zugunsten der nationalen und internationalen Verwicklungen zu verdrängen. Was für einen seltsamen Vater haben wir da, der Kinder haben wollte, um sich dann nicht mit ihnen zu beschäftigen! Was für eine seltsame Mutter erleben wir hier, die mit innerer Genugtuung die ganze Last der Kinderaufzucht auf sich nimmt! Und doch muß es wohl nicht allzu gut bestellt sein mit diesem System, denn Kinder will man, so scheint es, immer weniger. Diese starren familiären Rollen, diese monosexistisch geprägte Erziehung erlebt besonders der Psychoanalytiker, in dessen Sprechzimmer fast immer die Frauen allein mit dem Kind auftauchen (es aber auch so haben wollen). Die Neurose des Kindes ist nicht Sache des Vaters, außer wenn der Analytiker wirklich nicht locker läßt. Das von beiden Eltern begehrte Kind wird durch seine Geburt in den Schoß einer patriarchalischen Familie ausschließliches »Objekt der Mutter«. Es gibt nur sehr wenige Frauen, die sich nicht für unersetzliche Erzieherinnen des Kindes halten, und der Mann scheint für diese Dinge ganz und gar unnötig zu sein! Von wem aber haben sie diese Ideen, wenn nicht vom Mann selbst, der - in seinem Bestreben, die Frau zu meiden die Lasten so verteilt hat? Er hat sich den äußeren Bereich reserviert und damit den inneren seiner Frau überlassen, so daß sie sich beide, so glaubt er, nie auf demselben Terrain begegnen können. Gewiß - aber ist dieser den Frauen überlassene Bereich nicht enorm, riesig, an dem des Mannes überhaupt nicht zu messen? Wenn alle Bemühungen des Mannes sich um Wohlstand und Konsum drehen ... sind dann die Frauen aufgefordert, Appetit und Gelüste des künftigen Konsumenten zu wecken? Hat sich Freud darüber auch nur einen Moment lang getäuscht? Ob sie es will oder nicht, ob sie es weiß oder nicht, die Mutter ist der Quell für alle Empfindungen des Säuglings, für all seine Lusterlebnisse. Von ihr wird er sie lernen, bis hin zur Masturbation, die lediglich eine Fortsetzung der von der Mutter erhaltenen Liebkosungen ist: »Der Verkehr des Kindes mit seiner Pflegeperson ist für dasselbe eine unaufhörlich fließende Quelle sexueller Erregung und Befriedigung von erogenen Zonen aus, zumal letztere - in der Regel doch die Mutter - das Kind selbst mit Gefühlen bedenkt, die aus ihrem Sexualleben stammen... Die Mutter würde wahrscheinlich erschrecken, wenn man sie darüber aufklärte, daß sie mit all ihren Zärtlichkeiten den Sexualtrieb ihres Kindes weckt und dessen spätere Intensität vorbereitet... Verstünde die Mutter mehr von der hohen Bedeutung der Triebe für das gesamte Sexualleben, für alle ethischen und psychischen Leistungen, so würde sie sich übrigens auch nach der Aufklärung alle Selbstvorwürfe ersparen. Sie erfüllt nur ihre Aufgabe, wenn sie das Kind lieben lehrt; es soll ja ein tüchtiger Mensch mit energischem Sexualbedürfnis werden...«[10] Klarer kann nicht gesagt werden, daß die Mutter die Wegbereiterin der Erotik ist - und daß das Kind mit seiner Lust auf die Lust der Mutter antwortet. Ihr eigenes genitales Begehren wird sich entscheidend auf die sexuelle Erweckung des Säuglings auswirken. Nachdem er es angesprochen hat, scheint Freud sich aber nicht mehr groß um das Sexualleben der Mutter und ihr gewöhnlich auf das männliche Geschlecht bezogene Begehren gekümmert zu haben. Aufgrund ähnlicher Bedürfnisse von verschieden geschlechtlichen Kindern nahm er auch eine Ähnlichkeit in der Erwiderung von seiten des Erwachsenen an. Das brachte den Jungen wie das Mädchen auf sexueller Ebene in eine gleiche Stellung, sie waren nicht mehr zu unterscheiden, und der Unterschied mußte von Freud dann durch einen mehr oder weniger verspäteten und hypothetischen anatomischen Vergleich unter Kindern eingeführt werden. Wenn man indessen im Blick behält, daß das Kind (in der Mehrzahl der Fälle) von einer Frau erzogen wird, die nur im Geschlecht des Mannes ihre Ergänzung finden kann, dann leuchtet sofort ein, daß ihr Sohn, nicht ihre Tochter, für sie ein »Sexualobjekt« ist. Umgekehrt hat der Junge in seiner Mutter ein »befriedigendes Sexualobjekt«, während das Mädchen das nur in seinem Vater hätte. Bella Grumberger schreibt in ihren Studien zum Aufbau der weiblichen Sexualität: »Wie Freud betont hat, ist die einzige wirklich befriedigende Beziehung die zwischen der Mutter und ihrem männlichen Kind, und wir haben allen Grund zu der Annahme, daß sich auch die liebevollste Mutter gegenüber ihrer Tochter ambivalent verhält. Ein wirkliches Sexualobjekt kann nur gegengeschlechtlich sein, und so kann - außer im Fall angeborener Homosexualität - die Mutter für die Tochter nicht in gleicher Weise befriedigendes Objekt sein wie für den Sohn... Freud sagt ja auch, daß das kleine Mädchen sich der Schwierigkeit gegenüber sieht, das Sexualobjekt zu ändern und von der Mutter zum Vater überzuwechseln. Wir können aber auch sagen, daß das kleine Mädchen das Objekt gar nicht wechseln kann, denn es hat zunächst gar keines.« Ich vertrete nicht allein die Auffassung, daß das Geschlecht des Säuglings für das Begehren im Blick des erwachsenen Erziehers in keinem Moment gleichgültig ist. Diese Konfrontation zwischen, einer kindlichen, auf autoerotische Befriedigung gerichteten Libido des Säuglings und der stark genitalen elterlichen Libido prägt das männliche oder weibliche Individuum. Die Tatsache, daß die gleiche Mutter sich um den Jungen und um das Mädchen kümmert, erzeugt eine grundlegende Asymmetrie der Geschlechter: das männliche Geschlecht verfügt von Geburt an über ein adäquates Sexualobjekt, das andere nicht. Es muß auf die Begegnung mit dem Mann warten, um Befriedigung kennenzulernen, und es besteht kein Zweifel daran, daß die fehlende Befriedigung zutiefst den Charakter der Frauen prägt. Wegen der Mutter gibt es von Anfang an keine Symmetrie der Geschlechter, und dieser aus der Wiege herrührende Unterschied wird im Erwachsenenalter zu einer Divergenz, mit der fertig zu werden Männer und Frauen sich schwer tun. Übrigens, wenn Freud seinen Gedankengang oder auch nur die Gegenüberstellung seiner verschiedenen Behauptungen weiterverfolgt hätte (die Aussage über die Erweckung der kindlichen Sexualität durch die Mutter und die Aussage, daß das erste »Objekt« des Kindes ein »inzestuöses« sei, dann hätte er selbst herausgefunden, daß schon in jenem ersten Moment des Lebens für das Mädchen ein Problem entsteht und daß es sich dem Vater zuwendet (eine von Freud nicht gelöste Frage), wenn es im Umgang mit der Mutter sexuell nicht erweckt werden konnte. Im Rahmen der Freudschen Theorie, nach der der Ödipus die Person strukturiert, kann sich das Mädchen nicht strukturieren. Es kann es nur auf andere Weise und ohne Fixierung auf das andere Geschlecht. In der ersten Zeit wird der Körper, das Geschlecht des Mädchens, von niemandem begehrt. Hatte Freud Angst vor seiner eigenen Entdeckung? Es ist ja die Besinnung auf seine eigene Argumentation, auf seine eigene Logik, die uns zu der Einsicht bringt, daß das Mädchen kein erstes Liebesobjekt hat, denn die Väter, die zu Hause bleiben und ihre kleine Tochter wiegen, sind rar. Ödipale Frauen, die als erstes Liebesobjekt den Vater gehabt hätten, gibt es nicht - oder noch nicht. Uns sind nur Mädchen bekannt, die mit der Mutter eine von Begehren freie Beziehung durchlebt haben und die sich nur mit mehr oder weniger großer Verspätung dem Vater zuwenden. Wenn die Zeit kommt, in der der von den Feministinnen geforderte »Neue Mann« das Umsorgen seines Kindes nicht mehr ablehnt, wird nicht nur ein »Neuer Sohn«, sondern vielmehr eine »Neue Tochter« sich entwickeln, die von ihrer Geburt an ein angemessenes »Sexualobjekt« vorfindet. Diese Tochter wird nicht mehr von den dämonischen Gefühlen des »Unbefriedigtseins« verfolgt werden und ihre Selbstbestätigung nicht mehr im Perfektionismus suchen müssen.

Entwicklung des Jungen

Wir werden mit ihm beginnen, da für Freud seine Entwicklung »logischer« ist und leichter deutbar als die des Mädchens. Was sehen wir? In der Tat eine äußerst einfache Kindheitssituation: Der Junge ist von Geburt mit dem anderen Geschlecht konfrontiert, er hat die Mutter als Liebesobjekt, ist also in einer elementaren ödipalen Situation. Das berühmte »inzestuöse« Objekt ist da, über die Wiege gebeugt. Durch seine Geburt in die Hände einer Frau braucht das männliche Kind den Ödipus nicht erst herzustellen oder in ihn einzutreten, es ist in dieser Situation, von Anfang an. Es fällt kopfüber in den Ödipus, und für dieses Kind wird es besonders schwer sein, wieder aufzutauchen, herauszukommen aus dieser »fatalen« Verbindung der Geschlechter und dabei seine Integrität zu bewahren. In ihrem Sohn hat die Mutter nämlich die einzigartige Gelegenheit, sich in männlicher Gestalt zu sehen: dieses aus ihr hervorgegangene Kind ist vom anderen Geschlecht, und die Frau kann hier an den alten Menschheitstraum glauben, an die Bisexualität, an die so oft in griechischen Statuen dargestellte Zweigeschlechtlichkeit.
Seht doch, wie sie ihn stolz herum trägt, diesen Sohn, der kommt, um sie zu vervollständigen, wie kein anderer es kann, seht den Zustand der Erfüllung, der in das Gesicht all dieser Madonnen gemalt ist. Lobpreisen nicht all die italienischen »Madonnen mit Sohn« dies Mutterweib, das Glück und Vollständigkeit finden kann ohne den Umweg über den Vater, der in einen Mythos verwandelt wird. Gott der »Vater«... Eine Männer-Religion, verordnet von Männern, die an der Frau nur den Bauch anerkennen, der sie getragen hat. Es muß eine ödipale Religion gewesen sein, da man den Vater verschwinden ließ zugunsten der Mutter, wie in unseren Tagen. Mutterschaft: sie ist das verlorene Paradies des Mannes, sie verfolgt ihn so sehr, daß er Meister sein und über sie bestimmen will. Wenn er es schon nicht austragen kann, dieses Kind, dann kann er doch wenigstens die »andere« verpflichten, es herumzutragen. Die Frau »gerät in Umstände« Sie kennen den Ausdruck.[11] Als ob sie ganz plötzlich einen Unfall hätte, etwas, das sie nicht hätte voraussehen können, etwas, das sie »stolpern ließ«. Wir haben Männer gesehen, die sich wegen des Problems Mutterschaft und Abtreibung in Wutanfälle von seltener Heftigkeit hinein steigerten, Männer, die die Mutter fördern, um die Frau besser verschwinden zu lassen, und die ihr nicht einmal das Recht auf den »Wunsch« nach einem Kind zuerkennen. Darüber wird für sie entschieden. Sie ist nicht die Meisterin. Wie haben wir unter den Neidgefühlen und den Mythen gelitten, die der Mann wegen unserer Gebärfähigkeit mit sich herumschleppt! Die Frau, die einen Sohn hat, hält also das Glück in Händen. Nicht umsonst betont Lacan, daß »die Frau nicht ganz sei«,[12] auf daß sie sich ja nicht an diesem Platz wähne, um den der Mann sie beneidet, der sich zur eingeschlechtlichen Einsamkeit verdammt sieht. Aber nein, seien Sie versichert, diese Mutter ist nicht »ganz«, selbst wenn sie das sehr gern glauben möchte, denn dieser kleine Junge ist nicht sie und gehört ihr auch nicht, und falls die Mutter einen Moment lang hat glauben können, im Besitz des anderen Geschlechts zu sein, so wird ihr Sohn nicht aufhören, sie eines Besseren zu belehren, während er heranwächst. Sein Widerwille wird um so heftiger und ausdauernder sein, je länger der Glaube der Mutter an die Einmaligkeit der Beziehung zu ihrem Sohn angedauert hat. Wenn die ersten Monate der Abhängigkeit und der Mutter-Kind-Symbiose für den Jungen weniger Probleme als für das Mädchen in sich zu bergen scheinen, so wird das für die folgende Periode der analen Auseinandersetzung und der Selbstbehauptung nicht so sein. Dann werden nämlich die Schwierigkeiten auf der Seite des Jungen sein, der sich gegen das mütterliche Ganzheits-Phantasma wird wehren müssen, um seine Unabhängigkeit zu erlangen, die die Mutter selbst nur halbherzig wünscht. Die Frau hat unbewußt Schwierigkeiten, auf das einzige männliche Wesen zu verzichten, das sie je bei sich gehabt hat; denn der Vater war nicht für sie da, und ihr Mann ist meistens abwesend. Der kleine Junge muß da eine (von Freud nicht beschriebene) zusätzliche Schwierigkeit überwinden, denn er muß sich aus dem Ödipus heraus retten, gegen seine Mutter, die weder möchte, daß er sich entfernt, noch, daß er sie verläßt. Hier beginnt der längste und subtilste aller Kämpfe gegen das weibliche Begehren; hier beginnt der Junge den ödipalen Krieg der Geschlechter. Mit seiner Mutter. Drückt nicht seine Mutter ihr Verlangen aus, wenn sie zu ihm sagt »Du wirst schon schnell genug groß werden«? Ist das nicht eine Verhaltensweise, die ihn zurückhalten soll? Habe ich doch Mütter gekannt, die ihren Söhnen empfahlen, ihre ersten Barthaare, Zeichen des beginnenden Mannesalters, auszureißen! Bleibt nicht der Junge wegen des von der Mutter kommenden Begehrens viel länger »klein«, im Vergleich zum gleichaltrigen Mädchen, und sehen wir nicht anhand der Tests einen beträchtlichen Reifungsabstand zwischen den Geschlechtern bis hin zur Pubertät, und selbst darüber hinaus? Hier kann man ohne Zweifel die Spuren der Schwierigkeit erkennen, die der Junge beim Heranwachsen hatte, »festgehalten« in der Falle der mütterlichen Liebe. Ist er nicht der Bettnässer, der Einkoter, mit einem Wort der, der sich weigert, groß zu werden? Das männliche Kind durchlebt da einen schwierigen Zeitabschnitt, dessen Spuren es immer tragen wird, in Form der Furcht vor der weiblichen Herrschaft. Die vom Mann so oft erwähnte berühmte »Falle« scheint die Symbiose mit der Mutter zu sein, die als »einsperrend« gesehen wird. Symbiose, Psychose? Auf jeden Fall »Gefängnis«, das beim Mann Panik vor jeder Symbiose mit jeder anderen Frau auslösen wird. Sich nie mehr am gleichen Ort verschmolzen wiederfinden, im gleichen Begehren wie dem der Frau: das wird die hauptsächliche treibende Kraft hinter der Frauenfeindlichkeit des Mannes sein. Das vorrangige Ziel des männlichen Kampfes wird es sein, die Frau weit von sich wegzuhalten, sie festzuhalten an den einzig und allein für sie vorgesehenen Orten (Familie, Erziehung, Haus). Zwischen sich und ihr immer eine physische oder soziale Schranke errichten, sich ihrem Verlangen auf jedwede Weise widersetzen, den Abstand mit allen Mitteln halten, wird seine hauptsächliche Zwangsvorstellung sein. Selbst das sexuelle Verhalten des Mannes wird davon beeinflußt: er wird Gesten und Worte verkürzen, die ihn an Momente der symbiotischen Zärtlichkeit mit der »Mutter« erinnern. Aus dem Ödipus herauszukommen ist gefährlich und unsicher; der Mann bleibt auf ewig gezeichnet vom Mißtrauen gegenüber der Frau. Ein manchmal unmögliches Herauskommen, das den kleinen Jungen und seine Mutter zum Psychoanalytiker führen wird: wir sehen in diesem Lebensabschnitt dreimal so viele Jungen wie Mädchen (die werden wir später sehen). Dies allein ist schon ein Beweis für die Schwierigkeit, die der Kampf mit der Mutter für das männliche Kind darstellt. Im Fall einer Neurose hat dieser Kampf aus dem Jungen machen können:

  • Entweder ein Kind, das der Mutter so sehr hat widerstehen wollen, daß es vergessen hat, für sich selbst zu leben; ein Kind, in dem jedes Begehren abgestorben ist. Man nennt es amorph, es äußert sich weder in der Klasse noch zu Hause, das Sichverschließen ist global: um zu lernen, sich von ihr und ihrem ständigen Begehren zu befreien, hat der Junge sich von allem Begehren befreien müssen;

oder

  • ein aggressiv gewordenes Wesen, zunächst gegen seine Mutter und dann erweiternd gegenüber allen Menschen, weiblich und männlich. Er widersetzt sich dem Lehrer, streitet mit den Kameraden und macht die Mädchen herunter. Er schleppt den Krieg mit sich herum, und überall, wo er hinkommt, sät er Panik, denn er will sich unbedingt als der Stärkste erweisen. Stärker als sie und dann stärker als alle. Was er nämlich will, ist seine Mutter zu überwinden, sie und ihre Kontrolle. Bisweilen flatterhaft und unstet, sucht er ihr durch seine dauernde Unruhe ständig zu entkommen.

Und was tut der Vater während dieser Zeit? Wo ist er? Sieht er nichts, weiß er nichts, obgleich er es doch selbst erlebt hat, was vorgeht? Gewiß weiß er es, erinnert er sich. Aber er wagt nicht, seinen Sohn der weiblichen Macht zu entreißen, der einzigen, über die seine Frau ganz unangefochten verfügt, denn alle andere Macht liegt bei ihm. Der Sohn kann kaum auf seinen Vater zählen, um aus dieser schwierigen Situation mit der Mutter herauszukommen, denn der Vater hält sich absichtlich aus dem Konflikt heraus. Der Junge wird die Gleichgeschlechtlichkeit (Homosexualität) meistens erst als Heranwachsender mit den anderen Jungen seines Alters kennen lernen, die wie er aus dem gefährlichen Irrgarten kommen. Und die männliche Gleichgeschlechtlichkeit dient dort der Verteidigung gegen die Mutter, die Frau, das Mädchen. Die Gleichgeschlechtlichkeit bei Jungen ist vor allem Abwehr gegen das andere Geschlecht. Wir werden sehen, daß diejenige des Mädchens nichts mit dieser Art von Abwehr zu tun hat. Das Problem des männlichen Ödipus, hier also zusammen gefaßt in seinen Grundzügen und in seinen Wandlungen: Frucht des fatalen Aufeinandertreffens der Geschlechter durch die Geburt des Mannes in die Hände einer Frau, denn hier entsteht für den Mann die zärtlichste aller Lieben, gefolgt vom längsten aller Kriege. Der Mann entrinnt ihm, gezeichnet von Mißtrauen, Schweigen, Frauenfeindlichkeit, kurz gesagt: mit all dem, was die Frau ihm vorwirft. Es ist keine leichte Arbeit für den Mann, sich, von der Person, die er am meisten geliebt hat und von der er am meisten geliebt wurde, abzulösen (keine Mutter wird mir widersprechen, wenn ich sage, daß der Junge sehr viel liebevoller ist als das Mädchen). All dies ist wohl das Ergebnis der Begegnung der Geschlechter innerhalb der Familie, in der die Frau allein die Rolle der Erzieherin ausfüllt und in der sie in, größter Nähe mit ihrem Sohn leben muß. Früher gab es den Großvater, den Onkel, den Cousin, Mengen von Männerbildern, geeignet, dieses gefährliche Tête-à-tête zu unterbrechen. Heute lebt die allmächtige »Mutter« allein mit ihrem Sohn, der sie für all ihre Entbehrungen von früher entschädigen muß, für die durch den abwesenden Vater entstandene Leere wie für das Weggehen des Mannes. Das Kind, es ist da, es wird also für jene bezahlen. Was wollen Sie, man muß den Mann nehmen, wo man ihn findet, und wenn es in der Wiege ist. Wie soll der Mann nach dem schmerzlichen Kampf mit dieser allmächtigen Mutter sich nicht wie in einem Meer von Mißtrauen bewegen, wenn er es mit der Frau und ihrer einengenden Macht zu tun hat? Was anderes bleibt ihm übrig, als unseren Platz einzugrenzen, uns mit unseren Pflichten einzuschließen? Wie könnte die Liebe eines Mannes zu einer Frau anders sein als widersprüchlich? Welcher Mann, welcher Sohn kann von sich sagen, er hätte sich von seiner Mutter abgelöst? Sicher, er hat sie verlassen, aber wie weit? In welchem Alter? Zu wessen Vorteil? Welche Mutter könnte selbst mit achtzig Jahren sagen, sie habe ihren Sohn aufgegeben? Er bleibt der »Einmalige« selbst wenn dies nicht gesagt wird, selbst wenn es der Respekt anderen gegenüber verlangt, daß man darüber schweigt, selbst wenn die Männer mutig und die Mütter verehrenswert sind. Das im Dunkel der Kindheit geknüpfte Band wird den Sohn und die Mutter immer unauflöslich miteinander verbinden, und die Frauen heiraten immer nur die Söhne einer anderen Frau. Daher kommen die Schwiegermutter-Schwiegertochter-Konflikte um denselben Mann, so lange, bis die Jüngere selbst einen Sohn hat. Sie gibt dann den Kampf mit der Vergangenheit auf für die Zukunft mit ihrem Sohn: sie konnte sich nicht auf Dauer mit dem erwachsenen Mann verbinden, der nicht frei war, da er auf geheimnisvolle Weise immer mit seiner Mutter verbunden blieb, immer hin- und hergerissen zwischen seiner Vergangenheit und seiner Zukunft. Eine Geschichte, die sich von Generation zu Generation wiederholt: der heimlich seiner Mutter verbundene Sohn nimmt eine Frau, um funktionieren und sich fortpflanzen zu können, zu der er aber eine gewisse Distanz behält und der er keine anderen Rechte zuerkennen wird als das der ersten Nacht und das der Mutterschaft. Ohne Mann, ohne Entsprechung für ihr eigenes Dasein, zahlt die Frau den Preis für den Krieg, in den sie sich hineingezogen findet, nur weil sie die Nachfolge der »Mutter« antritt; die Frau, die in ihrem Sohn den einzigen Mann finden wird, der ihr im Leben nahe steht. Der Kreis ist geschlossen, der Ring hat sich vollendet: eine Frau, von ihrem Mann auf Distanz gehalten, wird sich an ihren Sohn binden und in ihm die »Distanz« vorbereiten für die andere, kommende Frau. Eine Frau legt die Saat der Frauenfeindlichkeit für eine andere.

Entwicklung des Mädchens

Betrachten wir jetzt von der anderen Seite aus, was vorgeht: Während der kleine Junge verzweifelt versucht, sich von der Bindung seiner Mutter an ihn zu befreien, was geschieht mit dem kleinen Mädchen angesichts derselben Mutter, die es sexuell nicht begehrt und darum auch nicht an sich fesselt? Man kann sofort die Frage stellen: Ist das Mädchen ungestörter, da es dem »fatalen« Aufeinandertreffen der Geschlechter entgeht? Überhaupt nicht, aber die Gefahren sind nicht die gleichen, und die Ergebnisse sind es auch nicht. Wenn es das Problem des Jungen ist, sich von einem »allzu entsprechenden«, komplementären. Objekt abzulösen, dann ist es das Drama des Mädchens, auf seinem Weg das ihm entsprechende Objekt nicht zu finden und so bis in ein fortgeschrittenes Lebensalter außerhalb des Ödipus bleiben zu müssen. Während der Junge mit einer wechselseitigen Entsprechung, einer Verschmelzung beginnt, beginnt das Mädchen sein Leben mit einer Körper-Geist-Spaltung: Es wird als Kind geliebt, wird aber als Mädchenkörper nicht begehrt. Es ist sexuell kein »genügendes« Objekt für seine Mutter, es könnte es nur für seinen Vater sein, und nur für ihn. Nur der Vater könnte seiner Tochter die ihr angemessene Stellung als geschlechtliches Wesen geben, denn er sieht das weibliche Geschlecht als komplementär zu seinem eigenen und als unentbehrlich für sein Lustempfinden. (Etwas, was die Mutter ihrer Tochter nur selten entgegenbringt, weil sie, von Ausnahmen abgesehen, ihr eigenes Geschlecht nicht lustvoll begehrt, sondern das ihrem eigenen komplementäre, das des Mannes nämlich.) Als nicht ödipales Objekt für die Mutter - denn es wird ja von ihr nicht begehrt - wird sich das Mädchen als ungenügend empfinden: das Mädchen, später die Frau, ist nie zufrieden mit dem, was sie hat, mit dem, was sie ist; sie wünscht sich immer einen anderen Körper als den ihren; sie möchte ein anderes Gesicht, einen anderen Busen, andere Beine ... Wenn man sie reden hört, findet jede Frau, daß etwas an ihrem Körper nicht richtig ist oder anderen nicht gefällt. Die erste Sache, die nicht gefiel, bezog sich in der Tat auf den Körper, der bei der Mutter kein sexuelles Begehren auslöste. In den Augen der Mutter ist das kleine Mädchen niedlich, reizend, anmutig, artig und vieles mehr, nur nicht sexuell anziehend oder begehrenswert. Dem von Frauenhänden umsorgten kleinen Mädchen fehlt »die Farbe« des Begehrens.« Sein Geschlecht existiert indessen sehr wohl in jener Zeit, und der vulva-klitorale Bereich ist sehr sensibel für die Liebkosungen der Mutter, wenn sie ihr Kind wäscht. Die Klitoris ist aber nicht Objekt des Begehrens für die Mutter, die, kulturell bedingt, diesen Teil bei sich selbst sowieso nicht als typisch weiblich anerkennt und es vorzieht, ihre Vagina einzusetzen als den vom Mann für »lustfähig« erklärten Ort. Die Mutter ist also die erste, die ihrer Tochter das klitorale Lustempfinden versperrt und das Schweigen einführt, das diese Lust umgibt. Das »Du bist ein kleines Klitorismädchen« ist im mütterlichen Unbewußten ersetzt durch »Du wirst eine Vaginafrau sein, die mit einem Mann Lust erleben wird, später«. Diese im Namen einer erwarteten Zukunft verbotene Gegenwart wird allzuoft das Verhalten von Frauen bestimmen, die immer weiter auf den Orgasmus der erwachsenen Frau warten. Wie das kleine Mädchen meinen sie, daß es eine noch kommende Lust geben muß, die ihnen aber im Augenblick nicht zuteil wird. Dem kleinen Mädchen wird so die eigene Kindheitssexualität verweigert. Es wird auf die zukünftige Frauensexualität verwiesen; es hat zu verschweigen, was es ist: ein kleines Klitorismädchen. Und es soll an etwas glauben, was es nicht ist: eine Vaginafrau. Diese ihm aufgezwungene Dialektik versteht es wohl, und es errät, daß nur die Frau als Geschlechtswesen anerkannt wird. Also spielt es Frau: es ahmt die Kunstgriffe nach; den Lippenstift, die Absätze, die Handtasche. Das kleine Mädchen verkleidet sich als Frau, so wie die Frau sich später verkleiden wird in eine andere Frau als die, die sie wirklich ist. Dies ist der Ursprung der permanenten »Entfremdung« der Frau von ihrem eigenen Körper. Sie hält es immer für nützlich, hier und da zu mogeln, um als Frau akzeptiert zu werden; ihr tatsächliches Geschlecht reicht nicht aus, es muß immer noch etwas hinzukommen. Wovon sprechen denn die sogenannten Frauenzeitschriften? Von einer »Frau, natürlicher als Natur«, von einer »total weiblichen Frau«, von einer »Super-Frau« usw. Als ob dem eigenen Geschlecht der Frau immer noch irgend etwas hinzugefügt werden müßte, als ob die Frau nicht Frau von Natur aus wäre, als würde ihr Geschlecht ihre Weiblichkeit nicht ausdrücken. Ist es nicht immer noch und immer wieder die Geschichte des kleinen Mädchens, das, anstatt so zu sein, wie es ist, sich in anderer Weise geschlechtlich beweisen muß? Hat die Frau nicht in ihrer Kindheit, seit ihrer Kindheit, begonnen, zu schwindeln in bezug auf das Geschlecht, das das ihre war? Es gibt kein wahres kleines Mädchen, es gibt nur eine falsche kleine Frau. Jeder weiß, daß es nicht genügt, ein Mädchen zu sein, um als solches anerkannt zu werden. Ohne Unterlaß müssen Beweise der Weiblichkeit hinzukommen, die häufig nichts mit dem Geschlecht zu tun haben: »Der Junge wird ... um seiner selbst willen geliebt ... Das Mädchen ist überhaupt nur dann erwünscht - und das nicht immer - wenn es die Eigenschaften erfüllt, die man von Mädchen erwartet

  • Mädchen sind zärtlicher (...)
  • sie sind dankbarer (...)
  • sie sind hübsch und süß (...)
  • sie helfen bei der Hausarbeit (...)[13]

Kurz und gut, das kleine Mädchen wird als »Mädchen« akzeptiert, aus tausend Gründen, die nichts mit seinem Geschlecht zu tun haben; es wird nur bedingt als »Mädchen« anerkannt, während der Junge einzig und allein aufgrund seines Geschlechts als Junge anerkannt wird. Das Mädchen muß immer Beweise seiner Weiblichkeit erbringen. Wie sollte die Frau nach alldem nicht von der Idee besessen sein, die Zeichen ihrer Weiblichkeit zur Schau stellen zu müssen? Was für ein hartes Los, lebenslang beweisen zu müssen, daß sie wirklich eine »Frau« ist! Eine Frau, die selbst nie wirklich sicher ist, es zu sein, denn ihre soziale Identität schien nie in ihrem physischen Geschlecht begründet zu sein. Ein schmerzhaftes Dilemma, in dem die Identifikation (Sein-wie) die Identität (Selbst-Sein) in den Hintergrund drängt und in dem das »Tun-als-ob« den Platz des Authentischen einnimmt. Eine Identität, die durch das Fehlen des vom anderen Geschlecht kommenden Begehrens verunsichert ist, eine Identifikation, die durch die Schwierigkeit gefährdet ist, seinen Körper als gleichartig mit dem der »Mutter«, wahrzunehmen. Das sind die beiden Klippen auf dem Weg des kleinen Mädchens. Das Drama des kleinen Mädchens ist, daß sein Körper wie niemandes Körper ist. Es hat weder das Geschlecht des Vaters noch die Formen der Mutter (keine Brüste, keine schlanke Taille, keine Hüften und Schamhaare). Nackt sieht sich das kleine Mädchen flach und geschlitzt, den asexuellen Puppen gleichend, die in den Geschäften verkauft werden. Etwas, das »wie« ist, existiert gleichwohl beim kleinen Mädchen, aber es ist ganz tief in seinem Schlitz vor seinem Blick verborgen. Und nie spricht irgend jemand mit ihm darüber, über das einzige sexuelle Organ, das mit dem der Mutter vergleichbar ist. Die Klitoris, von den Feministinnen geltend gemacht, von den Machos verunglimpft, könnte sehr wohl eines der ersten Glieder einer bruchfesten Kette sein, wenn man die weibliche Sexualität aus der Dunkelheit hervorholen. will. In der Tat spricht man zum kleinen Mädchen nie von diesem Teil seiner Sexualität, man lehnt es ab , ihm zu sagen, was es hat, und spricht lieber ganz allgemein über den restlichen Genitalapparat, der noch gar nicht in Funktion ist: Man erzählt ihm also von dem, was es nicht hat (Fortpflanzung, Regel), was die »Mutter« aber besitzt. Die »Mutter« kann aus diesem Grunde kein Identifikationsobjekt für ihre Tochter sein, und ein Gefühl gleichgeschlechtlicher Liebe zwischen ihnen erweist sich als unmöglich. Das Mädchen wird einen ihr ähnlichen Körper erst als Heranwachsende entdecken, und deshalb ist die Freundschaft zwischen Mädchen in dieser Zeit so wichtig, denn hier bildet sich die Weiblichkeit, die sich mit der »Mutter« nicht bilden konnte. Gegenüber dieser ungleichen und besser ausgestatteten »Mutter« entwickelt das Mädchen Neid und Eifersucht, die, im Gegensatz zu dem, was Freud glaubte, sich nicht auf den Körper des Mannes richten, sondern durch den niederschmetternden Vergleich mit dem der Mutter-Frau entstehen. Nicht selten sieht man ein kleines Mädchen immer wieder die Brüste seiner Mutter berühren, dann seine eigene Brust, um mit trauriger Miene zu verkünden: »Karin keinen Busen...« Weit eher als das männliche Geschlechtsteil werden doch die sexuellen Trümpfe der Frau/Mutter - zumal sie am meisten mit dem Kind zusammen ist - vom Jungen wie vom Mädchen als fehlend empfunden, wenn sie ihre eigenen Körper betrachten. Beim Jungen erzeugen sie das Bewußtsein unabänderlichen Mangels und das ewige Phantasma von der Süße der weiblichen Brust. Beim Mädchen bewirken sie, daß es sich ständig mit der Mutter vergleicht und eifersüchtig ist auf jeden anderen Busen (und jeden anderen Körper), der besser geformt ist als der eigene. Wenn es mit den Frauen soweit gekommen ist und die Eifersucht die gleichgeschlechtliche Solidarität verdrängt hat, dann auf jeden Fall deshalb, weil es die »Mutter« als die Frau, die ihr zuerst begegnet, nicht gewagt hat, am Körper ihrer Tochter anzuerkennen oder zu benennen, was diese mit ihr gemeinsam hat. Hat sie sich geschämt? Hat sie Angst gehabt? Keine Frau spricht je von der Klitoris zu ihrem kleinen Mädchen ... Und das kleine Mädchen, verzweifelt, weder ein Geschlecht (Klitoris nicht anerkannt) noch ein sexuelles Objekt zu haben (Vater abwesend), wird seine Sexualität nicht, wie Freud es glaubt, verdrängen, sondern es wird diese nicht mögliche Sexualität verlagern.. Sexuelles, wenn schon nicht im Geschlecht selbst, wird es aber überall sonst geben. Das Mädchen sexualisiert alles: seinen Körper, den es weiblich Wal, seine Handlungen, die denen seines Geschlechts entsprechen sollen, seine Sprache, die verführerisch wird. Die Frau wird alles sexualisieren, was an ihr vom anderen gesehen werden kann. Da sie in ihrem Geschlecht als kleines Mädchen nicht anerkannt wurde, wird die Frau es verstehen, den ganzen nicht sexualspezifischen Rest ihres Körpers anerkennen zu lassen. So weit, daß sie gelegentlich ihren ganzen Körper als Sexualsignal verstehen und sich schämen wird, ihn überhaupt zur Schau zu stellen; wie jene Frau, die mir eines Tages sagte: »Wenn ich aufstehen und sprechen soll und alle mich sehen, weiß ich nicht mehr, was ich zu sagen habe, ich habe nichts mehr im Kopf, ich bin stumm vor Scham, ich fühle nur meinen Körper, und ich weiß nicht, wohin ich mich verkriechen soll.« Die Frau lernt im Laufe ihrer Kindheit, sich ihres Äußeren zu bedienen, um ihr inneres Geschlecht zu kennzeichnen: das kleine Mädchen verbringt seine Zeit damit, äußere Beweise seiner Weiblichkeit zu liefern, die von den Erwachsenen, die es umgeben, verheimlicht wird, und von da an wird es nicht mehr richtig unterscheiden können zwischen dem, was sexuell ist, und dem, was nicht sexuell ist. Man sagt, sie werde hysterisch, weil sie fortwährend den Blick des anderen suche, um sich ihre sexuelle Identität zu bestätigen. Welch ein Unterschied zum Mann, der diesen von der Mutter kommenden, begehrenden Blick von Anfang an erhält. Beim Mädchen scheint das Fehlen des väterlichen Blickes im frühen Lebensalter ein sexuelles Minderwertigkeitsgefühl zu erzeugen, einen ständigen Zweifel an der Identität, den es im Erwachsenenalter immer auszuräumen, immer wieder durch den Blick eines anderen zu beheben gilt. Welche Frau will behaupten, ihr seien die Blicke gleichgültig, die auf sie gerichtet sind? Ob sie nun als aufbauend oder als vernichtend empfunden werden, es fällt der Frau schwer, den Bannkreis der Blicke zu verlassen und insbesondere die Aufmerksamkeit des Mannes zu verlieren. Dies erklärt die Schwierigkeit und die Ambivalenz bei den Frauen, wenn es gilt, die phallokratische Welt des Mannes zu verlassen, um in die Welt der ferm»nistischen Frau einzutreten, die dem Urteil des Mannes überhaupt keinen Wert zumißt und aus der Beachtung durch ihn keinerlei Prestige herleitet. Frauen fürchten, hier etwas zu verlieren, was mit dem Dem-Mann-Gefallen« zu tun hat. Frauen vertrauen anderen Frauen nicht, wenn es um ihre Anerkennung geht; sie fürchten, unter Frauen die Rivalität wieder anzutreffen, die sie schon mit der ersten aller Frauen erfahren haben, mit ihrer Mutter. Der Krieg mit der »Mutter«, der Krieg mit Jokaste, hat eher das Mißtrauen inthronisiert als die gleichgeschlechtliche Solidarität. Den Frauen fällt es sehr schwer, ihr gegenseltiges Mißtrauen zu überwinden. »Schwesterlichkeit« ist keine Selbstverständlichkeit und bedeutet auf die von außen empfangene Existenz zu verzichten, um sich jene zu eigen zu machen, die von innen kommt. Ein für eine Frau sehr unüblicher Schritt. In bezug auf die Frau muß Descartes' Überlegung »Ich denke, also bin ich« umgeformt werden in »Ich gefalle, also bin ich«. Dies schafft zwischen der Körperlichkeit und der geistigen Verfassung eine Unvereinbarkeit, die nur den Frauen eigen ist, Beispiel: die Magersucht des Jungen Mädchens, die sich in der Adoleszenz einstellt, wenn die weiblichen Geschlechtsmerkmale offensichtlich werden und wenn es unmöglich wird, dem Gefallen zu entfliehen. Manche jungen Mädchen empfinden diesen Übergang als Verlust ihrer eigenen Identität zugunsten einer Identität von außen, die ihnen durch den Blick des »anderen« zuteil werden wird. Deshalb tun sie alles, um diesen Blick zu vermeiden, um diese neuen Reize zu verbergen, die sie als ihren eigenen Untergang ansehen. Die Magersüchtige ist Frau »für sich«, und sie weigert sich, Frau »für die anderen« zu sein. Sie lehnt also alle allgemein üblichen Regeln der Schönheit und der Weiblichkeit ab und lebt nach ihren eigenen Normen, die es ihr erlauben, dem »Begehren« zu entgehen. Die magersüchtigen jungen Mädchen lassen durch ihre häufig selbstmörderische Haltung erkennen, daß die Heranwachsende sich vor eine fundamentale Wahl zwischen Körper und Geist gestellt sieht; denn während sie ganz offensichtlich den Körper als ein für den Blick der anderen preiszugebendes Objekt ablehnen, zeigen sie ein viel höheres intellektuelles Niveau als die meisten ihrer Gefährtinnen, die sich in den Clan der begehrenswerten Frauen eingereiht haben... Es kann auf dem Weg zur »Weiblichkeit« viele tückische Fallen geben, und wenn die Psychoanalytiker auch wenig kleine Mädchen sehen - weil sie dem Körper-Geist-Dilemma noch nicht unterliegen und in Träumen und Sublimierungen leben, die ihre Körper noch nicht auf ein Geschlecht festlegen - so sehen sie um so mehr Heranwachsende und Frauen, die sich weigern zu gefallen. Diese Frauen geben im allgemeinen der Beziehung zu ihrer Mutter die Schuld, die sie schließlich als Ursprung ihrer Leiden erkannt haben, weil sie ihnen nur eine asexuelle Rolle gegeben hat. Sie lehnen die Rolle der Frau ab, die man ihnen geben will, zu spät und mit Bedingungen verknüpft. Die ödipale Opposition des Mädchens (Opposition gegen das vom anderen Geschlecht kommende Begehren) kann sich erst bei der Begegnung mit dem männlichen Begehren einstellen, also in der Adoleszenz, und sie kann das ganze Leben lang andauern. Der Status »begehrte Frau«, da zu spät angenommen, wird für die Frau immer widersprüchlich bleiben oder wird offene Empörung hervorrufen wie z. B. heutzutage im Feminismus in der konsequenten Weigerung, sich dem Verlangen des »begehrenden« Mannes zu unterwerfen. Und dieser ist ganz überrascht: Die Heftigkeit seiner Gefährtin erstaunt ihn; schockt ihn, denn er hat bis heute nicht wirklich begriffen, daß die Beschäftigung damit, Frau zu sein, bedeutet, auf viele andere Erfolge an anderer Stelle zu verzichten, und daß die »Superfrauen« ein Leben als »intellektuell Unterentwickelte« führen. Es scheint, daß Frauen erst in dem Moment beginnen zu sprechen , zu schreiben, zu zeichnen, zu singen ..., indem sie bewußt darauf verzichten zu »gefallen«. Trotzdem ist das eigenartig! Gibt es also doch einen Zusammenhang zwischen dem »Gefallen« und dem »Wissen«, zwischen der »Objekt-Frau« und der »lntellekt-Frau«? Das gesellschaftliche Ideal liegt darin, das gefährdete Gleichgewicht zwischen diesen beiden Frauen in der Balance zu halten.

Die ödipale Spur

Von den Spuren der »Mutter« gezeichnet und vom »Vater« träumend, verlassen wir alle zutiefst verwundet diesen Ödipus, in dem der Vater so sehr fehlte, während die Mutter um so mehr vorhanden war. Beim Mann bildet sich ein Ressentiment gegen die Frau, von dem sich kein Mann je vollständig oder endgültig lösen kann. Die Identität des Mannes ist von der Weigerung gekennzeichnet, die Frau als gleichwertig anzuerkennen. Bei der Frau findet ein hemmungsloser Wettlauf hin zum männlichen Begehren statt, eine Haltung, die sie zur Sklavin unter dem Gesetz des Mannes machen wird, mißtrauisch gegenüber anderen Frauen. Die Identität der Frau ist vom Verlangen gekennzeichnet, dem in ihrem Leben so lange abwesenden Mann zu begegnen. Hier schließt sich also der Teufelskreis, indem die in ihrer Kindheit nicht begehrte Frau im Erwachsenenalter dem Begehren und der Anerkennung des Mannes nachjagt. Der Mann, in die Stellung des Herrn versetzt, nutzt seine Macht, um mit der Frau abzurechnen (in Erinnerung an die nicht geglückte Abrechnung mit seiner Mutter). Die Frau, die die wiedergutmachende Liebe des Mannes sucht, wird auf die kastrierende Liebe desjenigen stoßen, der endgültig entschieden hat, daß sie nie wieder herrschen wird. Die mit Jokaste erlebte Geschichte ruft sowohl die Eifersucht unter Frauen bei der Eroberung des Mannes als auch die Frauenfeindlichkeit des Mannes hervor, so daß der Frau schließlich von beiden Geschlechtern mißtraut wird, und es wird für sie schwierig sein, diesem Krieg zu entkommen. Es fällt schwer sagen zu müssen, daß die Frauen selbst erzeugt haben, worunter sie leiden, indem sie die Erziehung des kleinen Kindes für sich allein beanspruchen, sagen zu müssen, daß es die Mütter sind, die die zukünftigen Frauenfeinde zurichten, unter denen ihre Töchter leiden werden... Erfahren wir, eine wie die andere, von alldem etwas? Wohl eher nicht, scheint es, denn bei den Frauen bleibt der Anspruch auf das kleine Kind lebendig, gleichzeitig mit dem Bedürfnis, vom reifen Mann »anerkannt« zu werden. Die Frauen kommen von dem Platz nicht weg, auf den sie sich vom Mann verwiesen finden. Darüber beschweren sie sich gegenwärtig, ohne daran zu denken, daß dies für den Mann das einzige Mittel ist, um über seine Mutter zu siegen: über die erste Frau seines Lebens. Welche Gestalt auch immer die Paarbeziehung annehmen mag, es ist immer der Bereich, in dem die Frau sich von dem »anerkennen« lassen will, der ihr die »Anerkennung« nicht geben kann, ohne selbst in Gefahr zu geraten.
Daher die männliche Taubheit gegenüber den doch häufig begründeten feministischen Vorwürfen. Die Frauen werden die Ungerechtigkeiten nicht dadurch beseitigen können, daß sie Schlußfolgerungen für Voraussetzungen ausgeben. Wenn sie die Voraussetzungen ändern, werden sie andere Männer hervorbringen, die, wenn sie in ihrer Kindheit weniger ihrer Macht ausgesetzt sind, dann auch weniger stark das Bedürfnis empfinden werden, sich im Erwachsenenalter wehren zu müssen. Die Beschuldigungen kommen von den Frauen, denn sie sind es, die im gegenwärtigen System am meisten unterdrückt sind, aber sie müssen einsehen, daß sie das phallokratische System, das sie eingesperrt hält, immer weiter fortsetzen, je mehr sie die Aufsicht über das Kind verlangen (wie es ihnen täglich vom Staat vorgeschlagen wird). Das eine Geschlecht muß sich zurückziehen, damit das andere seinen Platz im Ödipus des kleinen Kindes einnehmen kann. Sind die Frauen bereit zu diesem Verzicht? Sind die Männer bereit, ihren Teil der ödipalen Macht zu übernehmen?