Service-Häuser

»Unsere Mütter mit ihren Kindern leben in einer Isolation, die zu Dauerspannungszuständen, zu nörgelnder Gereiztheit, zu Aggressionen und Depressionen führt.«

»Immer mehr Frauen wollen frei entscheiden, ob sie Voll-Hausfrauen und Mutter sein möchten oder nach Geburt eines Kindes ihre beruflichen Tätigkeiten fortsetzen wollen.«

»Staat und Gesellschaft dürfen die Familie und insbesondere die Mütter und ihre Kinder nicht mehr im Stich lassen.«

Das sagt Hilde Kratz, 70 Jahre alt, Mutter von vier Kindern, Großmutter von dreizehn Enkelkindern, Vorsitzende des Förderkreises Service-Haus e. V. Saarbrücken.

Vor hundert Jahren, Ende 1878, schrieb August Bebel:

»Die Privatküche ist für Millionen Frauen eine der anstrengensten, zeitraubendsten und verschwenderischsten Einrichtungen, bei der ihnen Gesundheit und gute Laune abhanden kommt ... Die Privatküche ist eine ebenso rückstandige und überwundene Einrichtung wie die Werkstätte des Kleinmeisters, beide bedeuten die größte UnWirtschaftlichkeit, eine große Verschwendung an Zeit, Kraft, Heiz- und Beleuchtungsmaterial, Nahrungsstoffen usw.«[1]

In den hundert Jahren, die seitdem vergangen sind, verschwanden immer mehr unrentable Werkstätten der Kleinmeister; die Zahl der Haushalte und damit der Privatküchen jedoch wurde immer größer. Noch immer verbringen Millionen von Frauen im Durchschnitt 60(!) Stunden pro Woche mit Hausarbeit.
Angesichts dieser 60 Stunden muß man kein Sozialist sein, um zu verstehen, was diese Hausarbeit für die Frauen bedeutet: Für die Nur-Hausfrau bedeutet sie die totale soziale und ökonomische Abhängigkeit vom Mann; für die berufstätige Mutter bedeutet sie Doppelbelastung und ein ständig schlechtes Gewissen gegenüber Kind und Mann.
Damit ist die Hausarbeit[2] das größte Hindernis für die Frauen, ihrem Beruf nachzugehen, sich wie der Mann zu entfalten, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Um das zu verstehen genügt es, eine Frau zu sein.

Wofür kämpft Hilde Kratz?
Sie ist keine Sozialistin, sie ist eine Frau, die ein Leben lang Hausfrau und Mutter war; mit 70 kämpft sie für Service-Häuser, »in denen die Freiheit der Lebensgestaltung für Mütter ermöglicht werden soll«.
Über die Folgen des Hausfrauendaseins und die Doppelbelastung ist in den letzten Jahren viel geschrieben worden. Wenig aber über reale Alternativen:

»Unserem Standpunkt nach ist es notwendig, die Forderung nach Vergesellschaftung der Hausarbeit inhaltlich zu füllen, das heißt zu fragen, welche Inhalte von Hausarbeit unbedingt in die Gesellschaft zu überführen sind, und zugleich, was heute schon möglich ist«.[3]

Vor hundert Jahren hatte die Sozialdemokratie konkrete Vorstellungen, wie Staat und Gesellschaft die berufstätigen Mütter entlasten können. In seinem damals durch das Sozialistengesetz verbotenen Buch »Die Frau und der Sozialismus« beschrieb Bebel das Bild einer sozialistischen Gesellschaft, in der die Hausarbeit durch die Gesellschaft organisiert ist:

»Die gemeinsame Küche, in der »alle möglichen technischen und maschinellen Einrichtungen vorhanden sind, welche die unangenehmsten und zeitraubendsten Arbeiten spielend erledigen«, und die Zentraleinrichtungen und Zentralanstalten, die Wasch- und Reinigungsarbeiten übernehmen, sollen die Frauen freisetzen, »ihre physischen und geistigen Kräfte und Fähigkeiten nach Bedürfnis (zu) entwickeln und (zu) betätigen... die Gebiete für ihre Tätigkeit zu wählen, die ihren Wünschen, Neigungen und Anlagen entsprechen«.[4]

Eine sozialistische Utopie? Keineswegs. Mindestens ein Teil davon ist für Hunderte von Frauen im Service-Haus Sollentuna in Schweden eine Realität.

Zwanzig Minuten vom Zentrum Stockholms entfernt liegt Sollentuna. Dort bauten die Schweden Mitte der sechziger Jahre das bisher größte Service-Haus. Es ist der Versuch, den schwedischen Frauen Beruf und Familie zu ermöglichen. Damit setzten die Schweden fort, was sie dreißig Jahre vorher begonnen hatten, als die Frauen durch rapide sinkende Geburtenzahlen deutlich machten, daß sie sich für Berufstätigkeit entscheiden, wenn Kinderkriegen weiterhin Verzicht auf eine eigene Lebensperspektive bedeutet. Damals, in den dreißiger Jahren, antwortete die schwedische Regierung mit dem Bau der ersten Service-Häuser. Mitte der sechziger Jahre besannen sie sich auf diese Lösung und bauten Sollentuna: 10 neungeschossige Häuser und 1 dreigeschossiges langgestrecktes Zentralgebäude, das alle Häuser durch lange Gänge miteinander verbindet. 1250 Wohnungen für 2500 Bewohner. 1 bis 5-Zimmer-Wohnungen, die Mieten wie bei uns im Sozialen Wohnungsbau. In den Mieten enthalten ist die Benutzung der Wasch- und Bügelmaschinen, der Sauna, der Turnhalle, der Hobbyräume und Werkstätten. Im Erdgeschoß: Restaurant, Cafe, Bank, Post, Schuster, Apotheke, Arztpraxen, Frisör, Blumengeschäft, Chemische Reinigung, Zeitungsstände, ein Lebensmittelgeschäft - bis 20 Uhr geöffnet. Das Herz des Hauses: die Service-Station, in der von 7 bis 20 Uhr vier Hostessen für die Bewohner des Hauses da sind. Nach Wunsch nehmen sie die Post entgegen, gießen Blumen, füttern Hunde und Katzen, gehen einkaufen, holen Geld, bestellen Babysitter, empfangen Gäste, besorgen Theaterkarten. Dieser Service kostet jeweils umgerechnet 50 Pfennige.
Frau Nord, 40 Jahre alt, Sekretärin, verheiratet mit einem Verkäufer, 2 Kinder, 10 und 7 Jahre alt:

»Bequemer als hier könnte ich es gar nicht haben. Ich muß mich überhaupt nicht um den Haushalt kümmern. Ich arbeite oft länger. Dann haben die Hostessen für mich eingekauft und den Reinigungsdienst in die Wohnung geschickt. Außerdem brauche ich mich auch nicht um die Kinder zu sorgen. Die gehen im gleichen Haus in die Schule und die Schularbeiten werden nachmittags im Kinderhort gemacht.«

Im Service-Haus von Sollentuna ist auch die Kinderbetreuung und Erziehung organisiert. Im Hause sind für alle Kinder zwischen 6 Monaten und 6 Jahren Kinderkrippen und Kindergärten von 7 bis 18 Uhr geöffnet. Die 7-bis 10jährigen besuchen im gleichen Haus die drei ersten Schulklassen. Die Kinder von berufstätigen Eltern gehen nachmittags in sogenannte Freizeitheime, wo sie spielen oder Schularbeiten machen.
Frau Soeren, 32 Jahre alt, geschieden, Mutter von 2 Kindern, 5 und 3 Jahre alt, von Beruf Sozialarbeiterin:

»Ich wohnte vorher in Stockholm in einem ganz normalen Haus. Als ich geschieden wurde, mußte und wollte ich wieder arbeiten. Ich mußte auch Geld verdienen. Aber wo sollte ich die Kinder lassen? Dann bin ich hierher gezogen. Hier ist alles einfacher. Der Weg bis zum Kindergarten dauert nur 4 Minuten. Er ist auch bis 18 Uhr geöffnet. Ich muß mich also nicht abhetzen. Und selbst, wenn ich mal später komme, dann weiß ich, die Kinder sind bei Nachbarn oder sie sind schon in die Wohnung gegangen. Im Vergleich zu früher geht es meinen Kindern hier besser. Sie sind nicht mehr so isoliert. Denn sie haben ständig Kontakt zu anderen Kindern. Sie brauchen sich auch abends häufig nicht von ihren Freunden zu trennen, wir wohnen alle im gleichen Haus.«

In seinen Vorschlägen zur Kindererziehung in der sozialistischen Gesellschaft erklärt Bebel diese zur gesellschaftlichen Aufgabe. Er sagt:

»Auch können die allermeisten Eltern ihre Kinder nur sehr ungenügend erziehen. Der sehr großen Mehrzahl fehlt es an Zeit dazu; die Väter haben ihren Geschäften, die Mütter den Haushaltungsarbeiten nachzugehen, wenn sie nicht selbst zur Erwerbsarbeit gehen müssen. Haben sie aber selbst zur Erziehung die Zeit, so fehlt ihnen in unzähligen Fällen die Fähigkeit dazu. Wieviel Eltern sind denn imstande, den Bildungsgang ihrer Kinder in der Schule zu verfolgen und ihnen an die Hand zu gehen? Sehr wenige«.[5]

In Sollentuna, wo die Mütter erwerbstätig sind, wird die Erziehung zur Aufgabe der Gemeinschaft, die die erforderlichen Einrichtungen schafft und organisiert: In den Kindergärten kommt jeweils 1 Erzieher/in auf 5 bis 7 Kinder. Und die Erzieher haben, im Gegensatz zu den Eltern, Erziehung als Beruf gelernt. Die Schulklassen sind auf 20 Kinder begrenzt. Schularbeiten werden in kleinen Freizeitgruppen mit Hilfe von Erziehern gemacht. Die Eltern sind also weitgehend von diesen Aufgaben entlastet. Hier können auch die Mütter ihren Interessen nachgehen, ohne dabei Schuldgefühle zu haben:

»Wieso Schuldgefühle«, sagt Frau Nord, »ich kann hier viel mehr Zeit mit meinen Kindern in Ruhe verbringen als jede berufstätige Frau, die woanders lebt. Und die Schulaufgaben und dergleichen machen die Erzieher sowieso viel besser als ich.«

Schuldgefühle haben diejenigen Frauen, die keine passenden Einrichtungen für ihre Kinder haben. Schuldgefühle haben auch diejenigen, denen immer wieder gesagt wird, daß das Kind für seine Persönlichkeitsentwicklung unbedingt die ständige Anwesenheit der Mutter brauche. Und wie steht es mit der Persönlichkeitsentwicklung der Mutter? Berufstätige Mütter hören schließlich nicht auf, ihre Kinder zu erziehen. Im Gegenteil. Es gibt heute immer mehr wissenschaftliche Untersuchungen, die nachweisen, daß eine berufstätige Mutter ihre Erziehungsfunktion viel besser wahrnehmen kann als die Nur-Hausfrau. So resümierte z.B. der Erziehungswissenschaftler Rüdiger Koch die Ergebnisse zahlreicher internationaler Studien folgendermaßen:

»Weder lassen sich die berufsbedingte Abwesenheit noch die Erwerbstätigkeit einer Mutter als entwicklungshemmende Faktoren beim Kind nachweisen. Es besteht vielmehr Grund zu der Annahme, daß die Erwerbstätigkeit eine Mutter in der Wahrnehmung ihres Erziehungsauftrags unterstützt und ihre Fähigkeit als Erzieherin wesentlich erhöht. Nicht zuletzt aus dieser Fähigkeit ergibt sich die besondere Bedeutung der außerhäuslichen Erwerbstätigkeit von Müttern für einen günstigen Verlauf der Persönlichkeitsentwicklung ihrer Kinder«.[6]

Die Frauen in Sollentuna leben dort nicht aus ideologischen Gründen, und für die allermeisten von ihnen ist Bebel kein Begriff. Aber Sollentuna bietet ihnen die einzige Möglichkeit, berufstätig zu sein und Kinder zu haben, ohne dabei zugrunde zu gehen. Aus diesem Grund sind sie eingezogen, aus diesem Grund denken sie nicht daran, auszuziehen.
Ein Service-Haus ist überflüssig, wenn die Frauen in dem Hausfrausein die Aufgabe und das Ziel ihres Lebens sehen. Damit allerdings würden sie sich so verhalten, wie es der Gesetzgeber der Bundesrepublik Deutschland von ihnen erwartet:

»... Vielleicht kann diese neue Art der Ehegattenbesteuerung ein wenig dazu verhelfen, daß die eine oder andere berufstätige Mutter die außerhäusliche Berufsarbeit aufgibt und erkennt, daß Ehefrau und Muttersein nicht nur im Sinne der Steuergesetze, sondern auch in Wirklichkeit ein das Leben voll ausfüllender Beruf ist«.[7]

Eine Formulierung der CDU, deren Inhalt die Sozialdemokratie allerdings mit der Steuerreformgesetzgebung von 1975 inhaltlich voll übernommen hat.
Für die Frauen, die dieser »Empfehlung« nicht zu folgen gedenken, ist das Service-Haus ein Projekt, für das es sich zu kämpfen lohnt. Hilde Kratz tut dies seit nunmehr fast 10 Jahren.
Allerdings ist das Service-Haus keine Lösung der Frauenfrage. Die Grundstruktur der Familie als privater Reproduktionseinheit wird dadurch nicht geändert und genau in diesen Grundstrukturen liegt heute die Frauenfrage begründet. Das Service-Haus zeigt aber die Entwicklungsrichtung an, die nach Vergesellschaftung der Produktion nun auch zur Vergesellschaftung der Reproduktionssphäre führen muß. Hilde Kratz will nicht die Änderung der Grundstrukturen unserer Gesellschaft. Sie will lediglich das, was heute und hier möglich und machbar ist. In Sollentuna steht in Beton und Glas der Beweis dafür. »Im Service-Haus«, sagt Hilde Kratz, »geht es darum, die Kernfamilie mit eigenem Haushalt zu erhalten, aber gleichzeitig den Frauen die Möglichkeit zu geben, sich -wenn sie es wünschen - im Beruf zu betätigen.«
In zahllosen Papieren und Appellen versucht sie seit fast 10 Jahren die Öffentlichkeit zu interessieren, die Parlamentarier und Institutionen für das Service-Haus zu gewinnen. Bisher ist es nicht gebaut worden. Es gibt nämlich Männer und Frauen, denen die Frauenmisere nicht weh tut.

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