Die Demontage der Mütter

Der Vater - auf ihn kann nicht verzichtet werden;
auch ein schlechtes Vorbild ist besser als keins.
Die Mutter - sie macht alles falsch,
liebt zuviel oder zuwenig, ist zu stark oder zu schwach.
Wem nützt ihre Demontage?

»Ihre Gesichter sind müde. Ihre Stimmen sind angespannt.«
So beginnt ein Artikel in der renommierten amerikanischen Tageszeitung »Washington Post«. Und von welchen bedauernswerten Geschöpfen ist da die Rede? Bestimmt geht es um Obdachlose, um Flüchtlinge, um Drogensüchtige? Aber nein, die Rede ist von Frauen, von einer ganz besonders bedauernswerten Frauengruppe: von »Müttern, die ihre Söhne allein erziehen«.

Himmlische Väter

Geschrieben im dezidierten Ton der wissenschaftlich gesicherten Erkenntnis, zeichnet der Artikel das überaus düstere Bild einer Erziehungskatastrophe. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, daß hier keine neuen Forschungsergebnisse präsentiert werden, sondern daß lediglich ein einsamer Reporter mit 19 willkürlich ausgewählten Müttern gesprochen hat und überdies mit Müttern, die aus extrem verschiedenen Lebenszusammenhängen kommen. Die Zwischenüberschriften schlagen hingegen den Ton gesicherter Wahrheit an: »Mütter sind nicht genug.« »Zeit und Mühe sind kein Ersatz für männliche Vorbilder.« »Mütter versuchen verzweifelt, ihre Söhne allein zu erziehen.« »Alleinstehende Frauen fragen sich, wie aus ihren Söhnen jemals Männer werden sollen.« Wer sind diese Frauen? Etwas gewagt, sie in einen Topf zu werfen. Da gibt es die Ghetto-Frau und die Vorort-Mutter, die Sozialarbeiterin, die Wohlfahrtsempfängerin und die Architektin. Manche sind geschieden, manche ledige Mütter, einige sind Witwen. Doch der Verfasser des Artikels erkennt in ihnen eine große Gemeinsamkeit: ihre Unzulänglichkeit gegenüber der Aufgabe, ohne Mann im Haus ein männliches Kind zu erziehen. Ein Mann im Haus - verweilen wir kurz bei diesem Gedanken. Was genau soll er beitragen, was bringt eine Frau allein einfach nicht zuwege? Worin liegt der einmalige, der unverwechselbare Beitrag des Vaters zur Entwicklung der Söhne, wie macht der Große aus dem Kleinen einen Mann? Der Artikel bemüht sich um Antworten, die wir Ihnen nicht vorenthalten wollen. Eine gewisse Sheila befürchtet, daß ihre Söhne sie als hilflos erleben und sich von ihr nicht beschützt fühlen - weil sie den Kühlschrank nicht allein rücken kann und nicht weiß, wie man ein Basketballnetz befestigt. Marita kennt die Namen der Fußballspieler nicht. Eine dritte Frau versteht nicht, warum ihr Sohn »die Teller spült, aber die Gläser schmutzig herumstehen läßt«, und fragt sich: »Ist hier vielleicht männliches Denken im Spiel?« Ach! Hätte sie bloß einen Mann im Haus, dann könnte sie diese essentielle Frage beantworten! Selbst wenn wir dem Reporter glauben, daß tatsächlich 19 dermaßen dumme Frauen im Umkreis von Washington leben, selbst wenn wir seine Sätze für bare Münze nehmen, stehen wir vor einem Rätsel. Sollen unsere Söhne lernen, daß Männlichkeit eine Art existentielles Möbelrückertum ist? Der Mann - Bezwinger des Kühlschranks. Und was soll der unvollständig abspülende Sohn vom Vater genau lernen? Besser abzuspülen? Oder die Gläser weiterhin stehenzulassen, aber daraus einen Identitätsgewinn zu erzielen?
Sheilas siebenjähriger Sohn, erzählt sie sorgenvoll, stand kürzlich mitten in der Nacht vor ihrem Bett, weil er Angst hatte und nicht schlafen konnte. Welches Ehepaar hat noch nie spät in der Nacht Besuch von einem ängstlichen Kleinkind erhalten? Eine andere Mutter hat eine noch grundlegendere Sorge: Wer, fragt sie händeringend den Reporter, soll ihrem Sohn beibringen, »wie ein Mann zu gehen«?
Aha, spannende Frage. Was ist die spezifische männliche Gangart, wie geht ein Mann? Wie John Wayne vielleicht, O-beinig vom vielen Reiten? Wenn es eine spezifische männliche Gangart gibt, ist sie dann nicht ein angeborenes Talent, über das der Sohn sowieso verfügt? Der Reporter weiß sofort, was gemeint ist. Ein Mann muß eine »aufrechte, selbstsichere und maskuline« Körperhaltung an den Tag legen, da er andernfalls angreifbar wirkt. Und von einer Mutter lernt er doch nur ein demütig gekrümmtes Kriechen oder bestenfalls ein graziles Dahintrippeln.
Kauft sich Stöckelschuhe. Wird Transvestit.
Die Hälfte der Interviewten sind schwarze Frauen, die mit ihren Kindern in den Ghettobezirken im Herzen von Washington leben müssen, in jenen Stadtvierteln, die die höchste Kriminalitätsrate in den USA aufweisen. Dort hilft, ganz nebenbei erwähnt, auch keine resolute Körperhaltung, kein »Männlicher« Gang. Im Gegenteil: Selbstbewußtes Einherstolzieren ist geradezu das Markenzeichen der jugendlichen Banden, die sich dort mörderische Straßenschlachten liefern. Überhöhte Männlichkeit kann in amerikanischen Slums buchstäblich »tödlich« sein. Und ein Vater könnte einen dort höchstens dann effektiv beschützen, wenn er der örtliche Drogen-Oberboß wäre.
Der Reporter berichtet des weiteren von einer Mutter, die der Herausforderung nicht gewachsen war und das Handtuch warf. Eileen - ihr 14jähriger wurde frech und frecher, bis ihr Streit schließlich einen schrecklichen Höhepunkt erreichte. Eileen packte den störrischen Sohn am Hemdkragen, Jeff packte sie am Arm, sie fielen gemeinsam auf das Sofa, und es entstand ein entwürdigendes Gerangel, wodurch Eileen erkannte, daß dieses Kind mehr Autorität brauchte, als sie auszustrahlen imstande war. Also schickte sie ihn weg, nein, nicht zum Vater. Der lehnte es ab, den Sohn aufzunehmen, wie er es auch seit Jahren schon abgelehnt hatte, finanziell oder sonst irgendwie für ihn dazusein. Eileen schickte den Sohn zur Großmutter. Und erlebte ihre Mutterschaft als gescheitert, weil sie der körperlichen Auseinandersetzung mit dem Sohn nicht gewachsen war. »Alleinstehenden Müttern«, schreibt der Autor, »fehlt eine wichtige Waffe. Sie können nicht sagen: >Warte nur, bis dein Vater heimkommt.<« Bei den schwarzen Frauen, die befragt wurden, haben die Sorgen sehr konkrete Ursachen, die aber mit Erziehung wenig zu tun haben. Sie müssen in Umgebungen leben, in denen die kör ? erliche Sicherheit ihrer Kinder minütlich massiv gefährdet ist: auf den Straßen, in den Schulen und sogar in der eigenen Wohnung, die vor Einbrüchen und wilden, ziellosen Schießereien nur wenig Schutz bietet. Den weißen Vorort-Müttern gelingt die Erziehungsaufgabe laut Artikel jedoch kaum besser als ihren schwarzen Leidensgenossinnen im Ghetto. Marita »kämpft« darum, sich in ihre Söhne hineindenken zu können. »Ich sehe mir die Baseball-Sammelkarten meines Sohnes an, aber ich kann mir einfach nicht merken, wer diese Leute alle sind. Dafür braucht mein Sohn einen Mann«, überlegt sie weiter. »Denn so entstehen männliche Bindungen.« Unserer Beobachtung zufolge sind es primär die Gleichaltrigen, die sich wirklich und authentisch für Sportsammelkarten und dergleichen begeistern können und durch Tauschen und bewunderndes, gegenseitiges Betrachten dieser Karten Bindungen bilden.
Auf welcher Ebene ist dieser Artikel zu diskutieren? Inhaltlich wohl kaum. Es wird kaum Männer geben, die einen Kühlschrank - wohlgemerkt einen amerikanischen, also einen überdimensionierten Riesenkübel - ohne den Einsatz von Möbelpackern einfach lässig durch die Gegend schwingen können. Das Befestigen eines Basketballnetzes dagegen ist, wenn schon geschlechtsgebunden, dann eine prädestiniert weibliche Aufgabe, da es sich dabei um das Durchfädeln von Schlingen in Ösen und damit um Handarbeit handelt, die eine ausgesprochene Fingerfertigkeit verlangt. Sheila, Architektin und somit vermutlich mit zumindest minimaler Feinmotorik ausgestattet, könnte das auch. Und Eileen, wenn sie der körperlichen Auseinandersetzung mit ihrem Heranwachsenden nicht gewachsen ist, wie wird dann die kleine alte Oma mit ihm fertig? Offensichtlich verfügt sie über eine andere Form von Autorität und pädagogischer Taktik, die sich auch ohne Prügeln realisieren läßt. Einige Monate, nachdem dieser Artikel erschienen ist, lesen wir in einer anderen Zeitschrift [1] die Geschichte einer schwarzen Mutter, die im Kriegsgebiet des Ghettos alle drei Söhne verloren hat. Frances Davis lebt in Brooklyn, in einem Viertel, in dem Gewehrfeuer zu den ganz normalen Straßengeräuschen gehört. Ihr ältester Sohn wurde auf der Straße überfallen und ausgeraubt; als er Widerstand leistete, wurde er erschossen. Der zweite Sohn wurde danach zunächst verstört und aggressiv, schien sich aber wieder zu fangen. Er ging wieder zur Uni und verlobte sich, doch dann geriet er in einem Lokal in einen Streit, und der andere Mann schoß ihn nieder. Der dritte Sohn wurde getötet, als er vor seiner eigenen Haustür stand und mit einem Nachbarn plauderte. Mitglieder einer Bande verließen gerade das Nebengebäude, eine feindliche Bande lag schon auf der Lauer, und zufällig wurde der Sohn von einer Kugel getroffen, die für einen anderen bestimmt war. Danach, sagt Frau Davis, wollte sie »nach Hause gehen, eine Schachtel Tabletten schlucken und nie mehr aufwachen«. Doch dann sagte sie sich, daß sie nun die letzte Vertreterin ihrer drei Söhne war, die letzte Stimme von drei jungen Männern, die auf den Straßen niedergeschossen worden waren. Seither hat sich Frau Davis mit vielen anderen Müttern zusammengetan. Sie hat Programme ausgearbeitet, um den Hinterbliebenen von Mordopfern zu helfen. Und sie hat eine Gruppe namens »Mothers of all Children« gegründet, die das Ziel hat, »unseren Kindern gewaltfreie Techniken der Konfliktlösung beizubringen«. Darin, und nicht im »Männlichen Gang« eines Asphaltcowboys, liegt ein Entwicklungsweg für unsere Welt.

Teuflische Mütter

Kaum eine gesellschaftliche Rolle ist in den letzten Jahrzehnten so stark unter Beschuß genommen worden wie die Rolle der Mutter. Das begann mit Freud und seinen nachfolgenden Interpreten und setzt sich heute fort mit immer neuen Akzentsetzungen. Cherchez la mére, das ist bis heute der Leitsatz von Psychologen, Pädagogen und Gesellschaftskritikern. Die Mütter sind schuld, in jedem Fall. Sie haben das Kind überbehütet oder unterversorgt, waren zu egoistisch oder zu aufopfernd, zu traditionell oder zu progressiv, zu sehr Hausmütterchen oder zu emanzipiert... Die Diskussion über die Alleinerziehenden sagt eigentlich alles: Sogar noch die Mutter, die verantwortlich ihre Kinder erzieht, mit viel Mühe und vielen persönlichen Einbußen, wird ins Fadenkreuz genommen. Die Diskussion über den abwesenden Vater hat nicht eigentlich ihn als Thema, stellt sich nicht die Frage, warum er abwesend ist, sich nicht kümmert, sondern der Frau wird noch als zusätzliches Vergehen vorgeworfen, daß sie ihren Kindern keinen Mann bietet. Die konsistenten Angriffe auf Mütter und Mutterschaft spiegeln eine grundsätzliche gesellschaftliche Wende wider. Sie stellen einen kurzsichtigen Versuch dar, althergebrachte soziale Machtrelationen zu verteidigen, und nehmen dafür das Risiko auf sich, eine der wenigen noch funktionierenden sozialen Bindungen in unserer Kultur zu gefährden.
Der Schwachpunkt in jeder autoritären sozialen Ordnung ist die Zuneigung und Verbundenheit, die ihre Mitglieder füreinander empfinden. Vernichtungsbefehle und blinder Gehorsam sind nur dort möglich, wo diese Verbundenheit geschwächt oder aufgelöst werden kann, sonst schießt der deutsche Wehrmachtsoldat nicht auf das jüdische Kind, sonst schickt eine Mutter ihren geliebten Sohn nicht an die Front. Die Beziehung der Mutter zu ihren Kindern ist eine der stärksten Bindungen überhaupt. Solange die soziale Ordnung diese Bindung benutzen kann, um Frauen in ihrer Freiheit einzugrenzen, sie abhängig zu machen und von ihnen Dienstleistungen einzukassieren, gibt es keine Probleme. Wenn aber Mütter drohen, dieser Kontrolle zu entgleiten und statt dessen die subversive Kraft ihrer Gefühle für die Kinder und ihres Einflusses auf diese Kinder mit Überlegung einzusetzen, stellen sie ein Risiko dar. Sie müssen dann bekämpft werden, mit allen Mitteln. »Gib mir ein Kind für die ersten fünf Jahre seines Lebens, und es gehört mir für immer«, schrieb Augustinus im 4. Jahrhundert n. Chr. Was Augustinus sich wünschte, haben Generationen von Frauen ganz selbstverständlich besessen: vollen Zugang zu Kindern während der prägenden ersten Jahre ihres Lebens. Alle gebührende Anerkennung den sonstigen Umwelteinflüssen den angeborenen Neigungen, den späteren Wendepunkten, doch es steht außer 7,weifel, daß die ersten Lebensjahre eine ganz wesentliche Rolle bei der Prägung des Menschen spielen. Religiöse Sekten, kommunistische Bewegungen, sie alle versuchen, auf Menschen in möglichst jungem Alter Einfluß zu nehmen. Frauen fällt das buchstäblich in den Schoß, doch was machen sie daraus? Nicht sehr viel, wenn wir den bisherigen Erfolg ihrer Erziehungsarbeit betrachten. Noch der ärgste Frauenfeind ist aus den Armen einer Frau, seiner Mutter, emporgestiegen. Doch es ist nicht schwer, dafür eine Erklärung zu finden. Frauen verkörperten in der bisherigen Geschichte keine selbständige Instanz, sondern waren Befehlsausführer. Eigentlich waren sie nicht viel mehr als brave Dienstmädchen für das Patriarchat; sie erzogen ihre Söhne vatergefällig, staatstragend, und ihre Töchter wurden so brav und so bescheiden wie sie selbst. Wenn es einen Krieg gab, verabschiedeten sie die Söhne tränenreich, aber protestlos. Sie waren schon zufrieden, durch die Geburt eines Sohnes als Frau und Mutter aufgewertet worden zu sein, durch das männliche Kind ein wenig an der erhabenen gesellschaftlichen Stellung von Männern teilhaben zu dürfen. Heute ist das anders, oder es beginnt jedenfalls, sich zu ändern.
Die heutigen Frauen sind gebildet und selbständig, und es steht ihnen ein Fundus an Wissen und Information zur Verfügung. Sie wären allmählich in der Lage, ihre Hilfsfunktion als Vollstrecker in der von männlichen Experten und vom männlichen Familienoberhaupt vorgegebenen Frziehungsdevise abzulegen. Sie überlegen, hinterfragen und bringen eigene Inhalte ein. Es ist nicht mehr ungefährlich, ihnen für die »ersten fünf Jahre des Lebens« die Köpfe und Seelen der nächsten Generation anzuvertrauen. Denn es ist nicht mehr so sicher, ob sie diesen Zugang nicht auch wirklich nutzen. Werden diese Frauen sich abwenden, wenn ihr Sohn geschlagen, geprügelt wird, in der traurigen Einsicht, daß er eben ein Mann und daher abgehärtet und unempfindlich werden muß? Oder werden sie sich endlich solidarisch zeigen mit dem Menschen, mit dem zerbrechlichen Individuum, das dieser Sohn, dieses Kind darstellt? Wenn früher Angst, Abhängigkeit und mangelndes Wissen die Mittel waren, mit denen Mütter verunsichert, ihr sozialer Einfluß eingedämmt wurde, so wird heute gegen die selbstbevv,ußteren Mütter mit härteren Waffen vorgegangen: In der Entwertung von Mutterschaft drückt sich die Erkenntnis aus, daß man sich auf diese Frauen nicht mehr verlassen, daß man diese Frauen nicht mehr kontrollieren kann und sie daher aus ihrer Mutter-Position entfernen muß.
Die Kritik an der Mutter, wie sie uns heute mittlerweile ganz normal und selbstverständlich erscheint, ist in Wahrheit kulturgeschichtlich auffallend und ein absolut neues Phänomen. Sie ist außerdem spezifisch für die modernen westlichen Entwicklungsländer. Sehr bezeichnend dafür war eine große Werbekampagne der Telefonmultis »AT&T«, die sich an unterschiedliche Zielgruppen wandte. Die Anzeigen für schwarze und weiße amerikanische Mittelschichtfamilien zeigten eine überglückliche Mutter, die sich mit feuchten Augen und hingerissenem Blick über einen Anruf ihres erwachsenen Sohnes freut. Die Botschaft (für den Sohn) war klar: Beiß die Zähne zusammen, und ruf die Alte halt mal an, sie freut sich dann. Für das japanische Zielpublikum war die Reklame ganz anders: Man sieht einen gerührten erwachsenen Sohn, der sich mit einer würdevollen älteren Dame unterhält, Text dazu: »Du hast ein Leben lang von ihrem Rat profitiert, ruf an!« Der ideologische Prozeß, der aus einer Mutter eine lästige, neurotische Person macht, die man möglichst rasch abschütteln muß, hat in Japan ganz offensichtlich noch nicht eingesetzt. Selbst in Kulturen, in denen Frauen sonst nichts zu sagen haben und als minderwertig gelten, ist ihre Position als Mütter unantastbar. Einer Mutter gebührt Achtung, Dankbarkeit und Liebe. Nicht so bei uns, nicht mehr. Bei uns ist die Mutterschaft, seit Freud, systematisch in Mißkredit gebracht worden. Mütter sind bei uns assoziiert mit Neurosen, Faschismus und Kitsch; sie machen krank, man muß sich ihrem Einfluß entziehen, und ihre Zuneigung zu ihren Kindern ist suspekt, vor allem die zu den Söhnen. Diese radikale Abwertung einer über Jahrhunderte gewürdigten und gepriesenen Frauenrolle ist verdächtig und läßt sich nur verstehen als die neueste Variante im jahrhundertealten Bestreben, Kontrolle über die Mütter, die Erzieherinnen zu behalten.
Eine ungebildete, gefügige Frau konnte man gefahrlos loben und ihr die Kinder anvertrauen. Früher war es unbedenklich, den Frauen die Hauptarbeit der Kinderaufzucht zuzuweisen; sie hatten gar keine Möglichkeit, verändernd auf diese Kinder einzuwirken. Heute kann das gefährlich sein, denn heute kann man sich nicht mehr darauf verlassen, daß Frauen gehorsame Bürger und patriarchale Männer erziehen. Heute muß man dieses Erziehungsziel anders verfolgen. Man muß die potentiell aufmüpfigen Mütter bei der Stange halten, indem man sie pädagogisch verunsichert; man muß ihre soziale Position unterminieren, indem man ihre Erziehungsbefugnis gesetzlich schwächt; außerdem muß man ihnen den Vater, und zwar einen konventionellen, angepaßten Vater, der sich im Ernstfall für die bestehende Ordnung entscheidet und nicht für das individuelle Glück seiner individuellen Familienmitglieder, erneut als männliches Kontrollorgan vorsetzen. In den kritischen Grundsatzattacken auf Mütter und Mutterschaft und in den aggressiven Versuchen, väterliche Autorität wiederherzustellen, manifestiert sich deutlich dieses Bemühen, eine traditionelle männliche Erziehungsherrschaft wiederherzustellen.
Frauen werden dabei an ihren schwächsten Stellen angegriffen: Ihre Liebe zu den Kindern und ihre oft mangelhafte Selbstsicherheit werden dazu benützt, sie zu verunsichern. Ihre geringere soziale Macht wird dazu eingesetzt, sie institutionell auszuschalten, indem zum Beispiel die Gerichte das mütterliche Sorgerecht ganz prinzipiell in Frage stellen. Gleichzeitig wird der Vater ideologisch auf- und überbewertet. Was früher für die Berufswelt galt - gab es zwei Kandidaten, einen männlichen und einen weiblichen, dann kam auf jeden Fall der Mann zum Zug, auch wenn die Frau weitaus qualifizierter und besser war, geschieht jetzt tendenziell in den Familiengerichten. Nicht mehr das Wohl des Kindes und das Prinzip der bestmöglichen Ausübung von Elternschaft, sondern die Wahrung männlicher Vorrechte wird verstärkt beachtet. Es ist verständlich, daß Verfechter traditioneller Werte die Position der Mütter heute untergraben wollen; für ihre Wertvorstellungen ist es essentiell, daß sie den Frziehungsprozeß beherrschen und sein Ziel bestimmen, und das setzt eine unmündige, schwache Frau voraus, die sich aus Angst oder Unwissenheit als Komplizin einsetzen läßt. Doch diese Strategie ist in hohem Maße gefährlich. Sozial gesehen, verfolgt die traditionelle Ordnung damit eine Politik der verbrannten Erde. Nachdem Ehe und Familie als Institutionen ohnehin schon in Auflösung begriffen sind, ist es höchst bedenklich, die wenigen noch einigermaßen intakten sozialen Bereiche mutwillig zu zerstören. Denn die Mutter-KindBindung ist so ziemlich die letzte Form von Zwischenmenschlichkeit, die in unserer Gesellschaft überhaupt noch funktioniert. Mit der Auflösung der Mutter-Kind-Beziehung wird das letzte Fundament des gesellschaftlichen Zusammenlebens untergraben. Die Disziplinierung der Frauen erfolgt über die Psyche; sie werden verunsichert, an ihr Gewissen und an ihre Liebe zu den Kindern wird appelliert. Sie sollen in der ständigen Furcht leben, der Entwicklung ihrer Söhne zu schaden. Diese Taktik funktioniert glänzend und hält Frauen davon ab, ihrem Instinkt und ihrem eigenen Rechtsgefühl zu folgen. So stehen Frauen sehr oft vor dem Dilemma, gegen ihren Impuls zu handeln und dem Sohn Hilfe oder Nähe zu verweigern zu seinem »eigenen Besten«. Er darf nicht »verhätschelt« werden. In der öffentlichen Erziehungsdiskussion geht es oft in erster Linie um die Erziehung durch Mütter; mittels einer wenig subtilen schwarzen Pädagogik sollen sie ihren Kindern, insbesondere ihren Söhnen, entfremdet werden.
Die modische Diskussion über weiblichen Inzest ist weitgehend als Teil dieses Programms zu sehen, denn alle seriösen Experten sind sich einig, daß Frauen nicht einmal ein Prozent der echten Inzest-Täter ausmachen. Olga Silverstein, Mitbegründerin der Familientherapie-Bewegung, beschreibt in einem kürzlich erschienenen Buch, wie Frauen dazu gebracht werden zu glauben, daß ihre Liebe den Sohn »verkrüppeln« könnte, und wie schädlich gerade diese Befürchtung und die daraus resultierende mütterliche Zurückhaltung für den Sohn sind. Frauen »mischen sich nicht ein«, wenn ihre kleinen Söhne vom Vater unnötig bestraft oder sonstwie brutal behandelt werden: Einen ruhigen, introspektiven Sohn, der gerne liest und Musik hört und weniger gerne herumtobt und rauft, betrachten auch Mütter mit Besorgnis. Die Mütter, beobachtet Silverstein, »kollaborieren« mit dem Bestreben, ihre kleinen Söhne »abzuhärten« und den Erwartungen »ihrer Umgebung oder ihrer Väter gerecht zu werden. Sie erzählt von einem Fünfjährigen, der mit einem Mädchen gespielt hatte und sich von ihr eine Haarspange ins Haar hatte stecken lassen. Als die Mutter ihn abholte, geriet sie in Panik und war bloß froh, »daß sein Vater das nicht gesehen hat«, weil es dem Sohn sonst »schlecht gehen« würde. In ihren Familientherapien hat Silverstein immer wieder mit Müttern zu tun, die über den »Verlust« ihrer Söhne traurig sind. Oft sind diese Söhne noch Schulkinder, doch die Frauen haben sich überzeugen lassen, daß sie zum Besten des Sohnes so früh wie möglich beginnen müssen, einen Abstand zu ihm einzuhalten, ihn von sich wegzustoßen, um ihn nicht zu »verweiblichen«. Daß ein Sohn spätestens mit 18 aus dem Haus geht und man danach nie wieder eine innige Beziehung zu ihm haben wird, während die Beziehung zu einer Tochter im Glücksfall zu einer lebenslangen Freundschaft werden kann, gehört mittlerweile zum standardisierten Glaubensgut.
Damit wird die Welt für Söhne nicht nur kälter und härter, sondern auch einsamer. Wenn es auch nicht artikuliert wird, so spüren sie den inneren Rückzug ihrer Mütter und ihre eigene Auslieferung an die »andere Seite«. Wie empfindet ein Kind, das noch keinen Einblick in die Komplexitäten unserer kulturellen Sexualpolitik hat, diese Ablehnung? Auch Silverstein stößt in ihren Therapien immer wieder auf den Begriff des »Rollenmodells«. Bei zwei ihrer Klienten war das Thema gerade virulent. Es handelt sich um eine gewisse Jean und ihren Mann Alex. Jean ist im siebenten Monat schwanger und weiß infolge der Amniozentese, daß sie einen Sohn bekommen wird. Daher ist die Erziehung dieses Kindes schon ein konkretes Thema in ihrer Ehe. Jean erörtert ihre Bereitschaft, den Sohn zuerst an den Vater und später an die Welt »auszuhändigen«, und macht auch ihre Traurigkeit über diese, wie sie meint, unausweichliche Entfremdung von ihrem (noch nicht geborenen!) Kind deutlich. Ungern zwar wird sie sich aus seiner Erziehung heraushalten, denn das schuldet sie ihrem Mann und auch ihrem Sohn. Warum? Weil »ein Junge einen Mann braucht - als Rollenmodell, für Sport und solche Sachen«. »Sport - und welche Sachen noch?« fragt Silverstein nach. »Naja, er soll nicht ein Muttersöhnchen werden, das immer an meinem Rockzipfel hängt. Er muß über Arbeit und Verantwortung Bescheid wissen.« Aha, sie ist nicht berufstätig? folgert Silverstein. Daraufhin lachen Jean und Alex herzlich, und Alex erwidert, daß Jean sogar außerordentlich in ihren Beruf involviert ist, als Sozialarbeiterin eine eher extreme Verantwortung trägt. Zwischen ihnen ist das sogar ein Streitpunkt, denn Alex sieht die Dinge lässiger. Abschließend faßt Silverstein zusammen: »Diese Frau war bereit, ihr Kind schon vor der Geburt aufzugeben, weil sie sich hatte einreden lassen, daß ein Sohn von ihr nicht profitieren und von ihr nichts lernen konnte. Um seiner Mannwerdung nicht im Weg zu stehen, wollte sie sich schon jetzt emotional einstimmen auf die Trennung von ihm. Sie ging davon aus, daß ein Sohn sich von der Mutter abwendet... doch in Wirklichkeit war sie es, die sich schon jetzt von ihm abgewendet hatte. In der Therapie dann sprachen Jean und Alex über ihre Vorstellungen, darüber, was es heißt, in der heutigen Welt ein Mann zu sein. Sie überlegten, was sie jeweils an persönlichen Eigenschaften besaßen, die sie ihrem Sohn gern mitgeben möchten. Wir erforschten auch ihre eigenen Familienhintergründe, um zu entdecken, wie diese extreme Rigidität ihrer Geschlechterbilder zustande gekommen war.« [2]
Das innere Abwenden der Mutter von ihrem Sohn, ihre Weigerung, ihn so zu beschützen und zu verteidigen, wie sie es eigentlich möchte, dieses Phänomen wird nicht diskutiert, weil es nicht ins aktuelle Bild paßt. Unser aktuelles Schreckgespenst ist die übermäßig zugewandte Mutter, denn das Abwenden ist kulturell erwünscht. Wie werden Mütter dazu gebracht, hier mitzuspielen? Silverstein zählt zwölf Beweggründe auf:

  1. Der Wunsch, den Sohn vor Spott und Mißbilligung zu schützen. Er soll nicht als Baby, als Muttersöhnchen verspottet werden.
  2. Der unreflektierte Glaube, daß Männer und Frauen verschiedene Attribute haben sollten, so daß eine Frau ihren Sohn kontaminiert, wenn sie ihn zu sehr prägt.
  3. Der Wunsch, den kommenden Trennungsschmerz für beide Beteiligten zu verringern, indem man schon j etzt eine innere Distanz schafft.
  4. Mangelndes Selbstvertrauen, so daß die Frau es sich nicht zutraut, für einen Sohn auch ein Vorbild sein zu können.
  5. Übermäßige Opferbereitschaft, so daß die Frau ihren Sohn hingebungsvoll erzieht, ohne sich ihm als echte Person mit eigenen Gefühlen und Problemen zu erkennen zu geben.
  6. Zögern davor, über ein männliches Kind Autorität auszuüben, aus einem Gefühl heraus, daß das unschicklich und für den Sohn »entmännlichend« wäre.
  7. Die Idee, daß ein Junge den Männern »gehört«, eine Art Geschenk der Frau an ihren Mann (oder an ihren Vater) darstellt.
  8. Wertüberhöhung eines männlichen Kindes, die ihn zu einem Hoffnungsträger macht und dem Kind damit sehr viel aufbürdet.
  9. Angst vor Homosexualität, gekoppelt mit der Vorstellung, daß eine zu starke Bindung an die Mutter den Sohn schwul macht.
  10. Die Vorstellung, daß eine Mutter einen Sohn nicht wirklich verstehen kann, besonders ab der Pubertät.
  11. Angst davor, eine sexuell verführerische Mutter zu sein und den Sohn zu neurotisieren.
  12. Die Bereitschaft, den Sohn an die Peer-group anderer männlicher Jugendlicher und deren Einflußsphäre abzutreten.

Bei aller Unterschiedlichkeit stellt doch jeder dieser Punkte eine Form von mütterlichem Rückzug, ein Verlassen des Sohnes dar. Er wird dem Vater, der »Männlichkeit«, der Jungengruppe oder sich selbst überlassen. Mitunter wird er diese Haltung nicht verstehen und nicht nachvollziehen können; mitunter wird er dadurch in Situationen geraten, denen er nicht gewachsen ist; er wird sich allein gelassen fühlen. Es ist durchaus möglich, daß die berühmten späteren Bindungsängste und Beziehungsprobleme von Männern auf diesen frühen mütterlichen Rückzug zurückzuführen sind. Vieles, was am Verhalten erwachsener Männer rätselhaft erscheint, ließe sich so aufschlüsseln: Aufgewachsen mit dem undefinierbaren Gefühl eines innerlichen weiblichen Rückzugs, erwidert der junge Mann reflexhaft die Distanzierung. Er spürt bei seiner Mutter schon die Botschaft des Abschieds, wodurch »Abschiednehmen« für ihn eine Komponente seiner Beziehung zu Frauen wird. Nachdem er eine Kindheit hindurch subtil, unausgesprochen und sozusagen ohne erklärbaren Grund »verlassen« wurde, setzt er dieses Verhalten in seinen späteren Beziehungen fort, läßt sich niemals 100prozentig auf etwas ein. Kann das sein? Lieben wir unsere Söhne - aus Angst, sie zu sehr zu lieben - in Wirklichkeit zu wenig?

Was heißt hier Liebe

Mit der Mutterliebe ist etwas Seltsames passiert in den letzten 40 Jahren: Sie ist fast unsichtbar geworden. In einer Zeit der wenigen Tabus ist sie tabu, und begrifflich ist sie auch schwer zu fassen. War dieses Gefühl so schlecht und so verwerflich, daß es diese kulturelle Ausradierung verdient hat? Das heißt ausradiert ist es ja nicht. Es lebt im Untergrund weiter, in der Verbannung, im Exil der sentimentalen Muttertagskarten und in den heimlichen wohlgefälligen Blicken, mit denen Mütter auf Spielplätzen oder vor den Schulen ihr jeweils eigenes Kind als das kostbarste, das schönste aller Kinder erkennen. Besser, solche Gefühle für sich zu behalten. Mutterliebe das ist Kitsch, das ist reaktionär wenn nicht gar tendenziell faschistoid, zu Mutterliebe paßt Mutterkreuz, Heintje, Gartenzwerg und neuerdings auch noch verkappter Inzest. Mütter leben heute mit dem Gefühl, es könnte in jedem Augenblick ein Psychiater »an ihrem Wohnzimmerfenster vorbeifliegen« - wie eine amerikanische Kommentatorin es treffend formulierte. Und dann soll dieser nur eine Frau antreffen, die in sich total gefestigt ist, die von ihren Kindern nichts erwartet, die räsonnierend und in jedem Augenblick schonungslos selbstkritisch den pädagogisch gebotenen Weg geht. Sogar der Soziologe Gerhard Amendt beklagt die Tatsache, daß der Elternschaft die »intuitive Gewißheit« verlorengegangen ist, daß viele Eltern heute »keinen Schritt mehr tun, ohne in Handbüchern sich über die pädagogische Korrektheit ihrer Absichten vergewissert zu haben« [3]; ironischerweise schreibt er das in einem Buch, das sich hervorragend dazu eignet und auch darauf angelegt zu sein scheint, die Verunsicherung der Mütter noch kräftig zu steigern. Die Intensität der Gefühle zwischen Mutter und Kind, kulturell nicht mehr gebilligt, offenbart sich dennoch in den Details. Zum Beispiel in der furchtbaren Angst um das Wohlbefinden der Kinder. Die Feministin Phyllis Chesler schreibt darüber, über ihre eigene Panik, dem Kind könne etwas zustoßen. Alle Mütter kennen das, die schreckliche Angst, manchmal begründet, oft völlig irrational. Der geplante Arbeitsnachmittag, an dem das Aupair-Mädchen mit den Kindern ins Schwimmbad fährt, während die Journalistin Anke vier Stunden lang ganz konzentriert etwas fertigschreiben möchte. Und dann kann sie sich überhaupt nicht konzentrieren, weil ihr ständig Unglücksvisionen vorschweben. Kann das Aupair-Mädchen wirklich gut genug Auto fahren? War es nicht Leichtsinn, ihr die Kinder anzuvertrauen? Hat man ihr wirklich eindringlich genug beschrieben, wie gefährlich die zweite Kreuzung ist? Wird sie auch wirklich aufpassen, oder wird sie vielleicht verträumt eine Modezeitschrift lesen, während das kleine Kind unbemerkt zum tiefen Becken watschelt und hineinfällt...
Die Mutterschaft bedeutet die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft der Angst. Du läufst mitten an einem Bürotag nach Hause, weil dort seit einer Stunde niemand das Telefon abhebt, während sie aber zu Hause sein müßten (alle sind wohlauf, der Hörer war nicht richtig aufgelegt); dein Herz bleibt sekundenlang stehen, weil die Schule anruft mit dem Satz »es hat einen kleinen Unfall gegeben« (Tochter hat ihre Brille zerbrochen, keine Verletzung). Früher wußten alle Menschen, was von dieser Liebe zu halten war: Sie war natürlich, und normal. Mütter waren einfach so: besorgt, mitunter überbesorgt. Heute sollen wir darüber nachdenken, warum wir so hysterisch sind. Kommen in diesen Ängsten nicht heimliche Aggressionen, übermäßige Besitzansprüche zum Ausdruck? Sind wir nicht neurotisch? Ist es normal mitzuleiden, wenn das Kind traurig ist, sich zu freuen, wenn es sich freut, durch seine bloße Existenz mit Freude erfüllt zu sein? »Niemand hatte sie vorgewarnt«, schreibt Mary Gordon.[4] »Niemand hatte ihr erzählt, wie das ist, wenn man ein Kind liebt, wie körperlich das Gefühl ist und trotzdem so ganz anders als alle anderen Formen der körperlichen Liebe. Der Drang, ihr Kind zu berühren, war wie der Drang, einen Geliebten zu berühren, und dennoch war er ganz anders: ohne die Spannung, die Gier, die Unsicherheit und die Eitelkeit. >Du hast meinem Leben die reinste, die tiefste Freude gebracht<, dachte sie oft. Aber das sagte sie natürlich nicht. Sie sagte statt dessen: >Wie war die Schule heute? Hattest du deine Mathematikprüfung?<«

  • Als Kind hat es mich genervt, wenn meine Großmutter, statt auf den Fernsehschirm, abends manchmal auf mich schaute. Sie saß einfach da, sie sagte nichts und sah mich ganz genau an. Ich sah auf das Fernsehprogramm, und sie sah auf mich. Wenn ich es bernerkte, machte es mich nervös. »Was ist los?« fragte ich dann, und sie sagte: »Nichts, ich schau dich nur an.« Ich vermutete Kritik oder Beaufsichtigung, aber heute weiß ich, was es war. Genauso sehe ich heute meine Kinder an, wenn sie in irgend etwas vertieft und daher betrachtbar sind; ich sehe sie nur an wie ein großes Kunstwerk, vor dem man einfach nur stehen möchte. Wie ein Wunder.
    Cheryl

Lieben wir unsere Kinder zu sehr, vor allem unsere Söhne? Daß wir unsere Liebe falsch äußern, dafür spricht einiges. Daß wir sie verwöhnen und damit einen Standard setzen für das Maß weiblicher Liebe, der für ihre späteren Beziehungen verhängnisvoll ist. Daß wir ihren gesunden Instinkt für Gegenseitigkeit - den Instinkt, der sie dazu bewegt, uns immer und bei allem »helfen« zu wollen -, daß wir diesen Instinkt lahmlegen mit der Einseitigkeit unserer Zuwendungen, das mag ja alles wahr sein. Aber lieben wir sie wirklich zu sehr? Bei dieser Frage wurden wir unweigerlich an unsere vielen Untersuchungen über Ehekonflikte erinnert. Der unmittelbare Anlaß für Gewalt zum Beispiel war meist trivial und betraf sehr oft eine Versorgungsleistung der Frau: Das Essen war nicht fertig, die Suppe zu heiß oder zu halt, im Badezimmer hing kein frisches Handtuch. Man konnte das als Tyrannei beschreiben: Die Frau, die Dienerin, hatte nicht funktioniert und mußte bestraft werden. Aber die Szenen, die uns immer wieder beschrieben wurden, waren damit noch nicht zufriedenstellend erklärt. Tatsächlich benahmen sich diese Männer nicht wie erhabene Patriarchen, sondern wie randalierende Kleinkinder.
Genauso wütend wird ein kleines Kind, wenn es müde ist und sich irgend etwas in den Kopf gesetzt hat und es nicht bekommt. Genauso zornig kann es dann reagieren, mit Gegenständen werfen, losschlagen, in einen Taumel der Wut und Zerstörung geraten. Meine Kinder habe ich so erlebt, mit eineinhalb oder zwei. 60 Sekunden warten, bis die Milch warm ist? Unmöglich. Etwas nicht sofort bekommen? Verzweiflung. Die Duplo-Steine lassen sich nicht aufeinanderstecken? Grund genug, sie auf die nächststehende Person zu schleudern. Bei einem kleinen Baby kann ein solcher Wutanfall sehr komisch wirken. Winzige Füße stampfen auf, winzige Fäuste ballen sich neben einem zornigen kleinen Gesicht. Im Lauf der ersten Lebensjahre aber weckt das Kind mit diesem Verhalten nicht nur Heiterkeit, sondern auch Ablehnung und findet mit wachsender sprachlicher Begabung andere Möglichkeiten, seinen Willen zu vermitteln und durchzusetzen. Doch bei manchen Kindern wird dieser Reifungsprozeß offensichtlich unterbrochen, und sie können zu gewalttätigen Ehemännern, die nie Selbstbeherrschung gelernt haben, werden. Doch wodurch? Haben ihre Mütter sie zu sehr geliebt? Ihre Untersuchung bringt die Soziologin Klein [5] auf die umgekehrte Schlußfolgerung. Problematische Männer haben ihrer Beobachtung zufolge zu wenig mütterliche Fürsorge erhalten, wurden zu früh dem Männlichkeitsstandard ausgesetzt: »Kleine Jungen werden viel früher als kleine Mädchen einer beängstigenden Welt ausgeliefert. Zeichen der Ängstlichkeit oder Bedürftigkeit werden (in traditionellen Familien) bei einem Sohn als unpassend erlebt. Die Väter entreißen ihre Söhne zu früh der mütterlichen Fürsorge und setzen sie einer groben Welt aus. Die Zeichnungen oder Erzählungen solcher Jungen sind bedrohlich und gewalttätig, es wird darin geschlagen und gestoßen und zerbrochen.« Ein letzter Fall aus Silversteins Therapieerfahrung scheint diese Interpretation jedenfalls zu bekräftigen. Die Familie Grant, Vater, Mutter, Tochter und Sohn, hatte schon einige Jahre zuvor, bedingt durch eine psychosomatische Erkrankung der Tochter, die Beratung aufgesucht. Damals war festgehalten worden, daß der Vater in der Familie stärker auftreten solle, vor allem gegenüber seinem Sohn, der damals 8 Jahre alt war. Nun war er 16, seine Schwester war 14, und die Familie kam in einer akuten Krise zu Silverstein: George war verhaftet worden!
Angefangen hatte das Ganze, als George 12 Jahre alt war. Er wurde von drei älteren Jungen auf dem Schulweg überfallen. Sie nahmen ihm sein Geld weg und schlugen ihn zusammen. Er lief nach Hause, in Tränen und mit zerfetzten Kleidern, seine Mutter tröstete ihn. Doch sein Vater war wütend, als er von der Sache erfuhr, wütend auf seinen Sohn, der sich wie ein »Feigling« benommen hätte, und wütend auf seine Frau, die ihn »verhätschelte«. Er machte mit seinem Sohn Box-Übungen und ließ ihn Gewichte stemmen. Die Mutter hielt sich heraus; das Erlebnis ihres Sohnes hatte auch sie erschreckt, und ihr Mann war sich sicher, die Antwort darauf zu wissen. Zum »Abhärtungsplan« für George gehörte auch, daß sie weg sein sollte, wenn er aus der Schule kam. Er sollte durch ihre Anwesenheit nicht dazu animiert werden, sich »auszuweinen«. George freundete sich mit einigen Jungen an, die als harte Jungs bekannt waren. Seine Mutter hatte Bedenken - diese Jungen hatten keinen guten Ruf, galten als wild. Ihr Mann aber förderte die neue Freundschaft. Nun war George, gemeinsam mit vier dieser Jungen, verhaftet worden. Sie hatten einen alten Mann zusammengeschlagen und ausgeraubt. An diesem Punkt in ihrer Erzählung angelangt, schreit der Vater plötzlich den Sohn zusammen. Dieser beginnt zu weinen, was den Vater noch mehr in Rage bringt. »Hör auf zu winseln! Sei ein Mann!« Die Therapeutin schaltet sich ein. »Warum, meinen Sie, sollte er nicht weinen? Hat er nicht allen Grund dazu?« Nachdem sich alle beruhigt haben, kommt es zu einem aufschlußreichen Gespräch, bei dem der Vorfall vor 8 Jahren im Mittelpunkt steht. »>Damals habe ich meine Mutter sehr enttäuscht, weil ich nicht besser gekämpft habe<, erklärt George. Die Mutter stritt das entschieden ab. >Das stimmt nicht, ich wußte nicht, daß du das denkst. Ich war nicht enttäuscht, ich hatte bloß Angst um dich, ich wollte nicht, daß du wieder geschlagen wirst. Deswegen habe ich es unterstützt, daß dein Vater dir das Kämpfen beibringt.< George hatte sich damals geschämt und hatte dieses Gefühl auf seine Mutter projiziert. Ihren Rückzug hatte er als Beweis für ihre Enttäuschung und Ablehnung verstanden... sie hatte an ihm das Interesse verloren, sie wollte ihn nicht mehr beschützen. >Nachdem ich zusammengeschlagen wurde, wollte sie mit mir nichts mehr zu tun haben.<« Die Botschaft seiner Eltern verstand George so: Aggression gehört zum Männerleben. Andere Gefühle, wie Angst oder Trauer, sind unmännlich, nur Wut ist eine annehmbare Gefühlsäußerung. Als eher kleiner, schmächtiger Junge fand George für sich einen Platz als Mitläufer bei einer Gruppe starker Jungen. Worauf laufen all diese Gedankengänge hinaus? Relativ deutlich zeichnen sich unseres Erachtens zwei Schlußfolgerungen ab:

  • daß jedes Kind, unabhängig von seiner Geschlechtszugehörigkeit, als Kind und als Individuum behandelt werden sollte, daß es als Kind die volle und uneingeschränkte Akzeptanz, Zuwendung und Zuneigung der Mutter braucht und als Individuum nicht einer Verhaltensschablone veralteter Männlichkeitstugenden unterworfen werden darf.
  • daß beide Eltern, Mutter und Vater, bzw. alle Erziehungsbeteiligten sich genau überlegen sollen, was sie für dieses spezielle Kind wirklich erreichen und was sie persönlich ihm wirklich vermitteln wollen.

Damit läßt sich die Sozialisationsdiskussion versachlichen, kann adäquater auf die Persönlichkeit und die Bedürfnisse aller Beteiligten, auch der Eltern, auch der Kinder, eingegangen werden. Auch das Schlagwort von den »Rollenbildern« läßt sich damit heilsam relativieren, denn die vielgepriesenen »Männlichen Vorbilder« erweisen sich bei ehrlichem Hinsehen als menschliche Vorbilder, mit dem Spezifikum, daß es zufällig Männer sind, die im konkreten Fall die jeweils wünschenswerte Eigenschaft vorweisen. Mein Sohn z. B. äußerte sich kürzlich lobend über Pete Sampras, weil dieser im Gegensatz zu anderen Tennisstars so sympathisch auftritt. Wenn er ein Spiel gewinnt, triumphiert er nicht und ist nicht arrogant, sondern er zeigt ein normales Ausmaß an Freude und klopfte dem Verlierer kollegial auf die Schulter; wenn er verliert, dreht er nicht durch und wirft seinen Tennisschläger auf den Boden. Nach einem Basketballspiel stellt Alexander das Verhalten seines eigenen Klassenlehrers dem Verhalten des gegnerischen Coachs gegenüber. Wenn die andere Mannschaft einen Korb verpaßt, schreit dieser Coach seine Mannschaft wütend an und beschimpft sie. Sein Lehrer hingegen ruft nur: »Macht nix! Ihr schafft es! Weiter so!« Wie arm seien diese anderen Kinder, mit einem so unangenehmen Coach. Man kann ohne weiteres sagen, daß diese zwei Männer der Tennis-Star auf dem Bildschirm und der Lehrer - für meinen Sohn als »männliche Rollenmodelle« fungieren.
Aber nicht deshalb, weil sie Männer sind, denn auch der jälizornige McEnroe und der gegnerische Teamcoach sind Männer, und auch sie haben Eigenschaften. Es gibt nur zwei pädagogisch berechtigte Verallgemeinerungen, die man hier treffen kann: daß man erstens einem Kind so viele verschiedene Erwachsene wie nur möglich vorführen soll, damit es aus einem möglichst großen Pool an Verhaltensmöglichkeiten auswählen kann, und daß man bei Söhnen darauf bedacht sein soll, daß sie nicht vorwiegend von unsympathischen Männern umgeben sind, damit sie nicht irrtümlich zu der Schlußfolgerung kommen, auch sie müßten unsympathisch sein, um männlich zu wirken.
Dazu schreibt Myriam Miedzim [6], die als Kind mit ihrer Familie vor den Nazis flüchtete und später ein Buch über männliche Sozialisation schrieb: »Mein Vater bot uns ein Rollenbild, das nichts mit Härte, Dominanz, emotionaler Kälte, Gefühllosigkeit gegenüber Frauen oder Risikofreude zu tun hatte. Diese Eigenschaften, die das herkömmliche männliche Profil ausmachen, hatten für ihn einen rein negativen Beigeschmack. Er dachte dabei an Krieg, Vergewaltigung und Konzentrationslager. Auch sonst habe ich viele Männer kennengelernt, die sanft, fürsorglich und sensibel und trotzdem keine Schwächlinge sind. Ihre Sensibilität war oft kombiniert mit außergewöhnlichem Mut, mit Neugier, Abenteuerlust und innerer Unabhängigkeit.« Ein Mann kann zum Rollenmodell werden, weil er gute Eigenschaften hat, und nicht, weil er ein Mann ist. Einen Vater zum Rollenmodell zu stilisieren, der lediglich seine Geschlechtszugehörigkeit anzubieten hat, ist ein propagandistischer Trick, mit dem Väter sich aus der Verantwortung stehlen wollen. Sie müssen sich nicht bemühen, sie müssen charakterlich nichts vorweisen, sie müssen nichts tun, sie müssen bloß sein, Männer sein. Ich bin, also bin ich gut. Und die Mutter ist fragwürdig, wie richtig sie auch alles macht, wie sehr sie sich auch bemüht, weil sie eine Frau ist, »nur« eine Frau. Und die Söhne büßen Liebe und Zuwendungen ein, die sie brauchen und die ihnen zustehen, nur weil irgend jemand meint, man müsse sie abhärten. Hier haben wir ein Rezept, das garantiert nicht gelingt.