Unsere Meinung

Und wir, die Autorinnen,
wie bewähren sich unsere theoretischen Modelle
in der Praxis? Eigentlich ist wieder alles ganz anders.

Aus Überlegungen im letzten Kapitel wollen wir uns nicht ausnehmen, denn mit unseren Söhnen traten diese Fragen auch in unser Leben.

Cheryl

(Söhne Alexander, 10, und Maximilian, 3)

Nicht nur Mütter, sondern jeder Mensch, der politische Wertvorstellungen hat, steht in Erziehungsfragen vor einer gravierenden Grundsatzentscheidung. Diese Entscheidung stellt eine echte Weggabelung dar, und ein großes Risiko. Soll man versuchen, seine Kinder ganz gezielt zu beeinflussen, oder kann man darauf bauen, daß das eigene Vorbild und die objektive Überzeugungskraft der eigenen Werte genügen? Soll man sie indoktrinieren oder darauf vertrauen, daß sie von selber eine »richtige« Entwicklung nehmen? So formuliert, erscheint die Antwort klar: »Indoktrinieren« hat einen negativen Beigeschmack, Vertrauen hingegen ist etwas Schönes. Doch die Propagandisten fast aller bestehenden Wertsysteme, und zwar nicht nur der extremen, der radikalen, sondern auch der staatstragenden, die wir für ganz selbstverständlich halten und die über weitreichenden Konsens verfügen, gehen den ersten Weg. Sie indoktrinieren die Kinder, bleuen ihnen die Glaubenssätze frühestmöglich und immer wieder ein, präsentieren ihnen diese Glaubenssätze als wahr und richtig und alles andere als falsch und schlecht. Dieses Vorgehen stellt einen sehr starken Eingriff in die Person des Kindes dar. Ein Kind ist notgedrungen vertrauensvoll, kann Auskünfte noch nicht abschätzen, den Wahrheitsgehalt nicht selber überprüfen und sich innerlich nicht abschotten gegen Prägungen und die geschickte Steuerung durch einen umfassend stärkeren und klügeren Erwachsenen, von dem es abhängig ist, dem es gefallen will, den es liebt und von dem es geliebt werden möchte. Eigentlich ist es Mißbrauch, intellektueller Mißbrauch, einem Kind neben den legitimen und generalisierbaren ethischen Grundsätzen auch noch die politische oder religiöse Richtung vorzugeben: Aber alle tun es. Wie frei ist man mit 21, etwas zu beurteilen, etwas gutzuheißen oder abzulehnen, das einem ab dem 4. Lebensjahr eingeimpft wurde? Eigentlich kann man einem Kind guten Gewissens nur sagen: Ich glaube das und jenes. Mir ist das und das wichtig. Doch damit verbindet sich ein enormes Risiko. Nicht nur deshalb, weil das Kind, wenn es frei entscheiden darf, sich auch gegen die Dinge entscheiden kann, die einem selber die liebsten und teuersten sind. Sondern vor allem auch deshalb, weil die Entscheidung dagegen am Ende ja vielleicht auch nicht wirklich frei war. Vielleicht liefert man sein Kind, wenn man es selber nicht indoktriniert, damit bloß der Indoktrinierung durch andere aus. Auch die gegenteilige Entscheidung bedeutet ein Risiko. Wenn man ein Kind in das eigene Denken einführt, rebelliert es vielleicht notgedrungen irgendwann dagegen, obwohl das Denken gut und richtig ist und dem Kind sonst entsprechen würde. Es lehnt dieses Denken eines Tages vielleicht trotzdem ab, weil es in der Natur des Menschen liegt, sich irgendwann gegen die Eltern aufzulehnen und aus Prinzip das Gegenteil von dem zu tun, »was die Eltern glauben und wollen und hoffen. Grundsätzliche Erziehungs- und Prinzipienfragen dieser Art beschäftigen einen, wenn man vorausschauend an das Leben mit Kindern denkt. Wenn sie dann da sind, stellt einen der Alltag vor ganz andere, kleinere und größere Entscheidungen. Die politische Bildung, die verantwortungsvolle soziale Aufklärung von, in meinem Fall, Söhnen ist dabei noch eine relativ einfache Aufgabe. Sie ergab sich ganz von selbst aus dem Leben von Kindern, dem Leben mit Kindern. Ungerechtigkeit, Gewalt, Diskriminierung, es ist erstaunlich leicht, mit Kindern diese Begriffe zu diskutieren. Sie kennen das alles schließlich aus persönlicher Erfahrung. Ihre Entrüstung oder Verwirrung, wenn sie schlecht oder ungerecht behandelt werden, läßt sich empathisch ausweiten. Ich kann mich dann gemeinsam mit den Kindern ärgern über die Ungerechtigkeit, die ihnen widerfahren ist, und ihnen gleichzeitig mitteilen, daß es sehr vielen anderen Menschen auch so geht: weil sie schwarz sind oder behindert oder weiblich oder alt. Mit Kindern finde ich mühelos eine gemeinsame politische Basis in der Erkenntnis, daß es in der Welt unendlich viel Dummheit gibt, unendlich viele dumme Möglichkeiten, um sich selber wichtig und anderen Menschen das Leben schwer zu machen. Es stellt sich heraus, daß die meisten Dinge, über die ich nachdenke, einem Kind absolut plausibel sind.
Daß z.B. körperlicher Zwang, ausgeübt von einem Stärkeren, ärgerlich, frustrierend und demütigend ist, weiß jedes kleine Kind; man muß es nur in Worte fassen, um es zu einem einleuchtenden Prinzip zu machen. Und zu hoffen, daß dieses Prinzip den Söhnen auch dann noch erinnerlich bleiben wird, wenn sie eines Tages selbst zu den körperlich Stärkeren gehören. Auch die Erfahrung, nicht angehört zu werden, ist männlichen Kindern vertraut. Es passiert ihnen oft. Da gibt es z. B. die Lehrerin, die nicht gelten lassen will, daß Alexander seinen Nachnamen richtig zu schreiben vermag. Er hat ihn richtig auf den Heftdeckel geschrieben, und sie hat ihn dann - falsch - auf Bernard »ausgebessert«; seinen Einwand dagegen hat sie nicht gelten lassen, weil er erst fünf ist und somit nicht so gut Bescheid wissen kann wie sie, nicht einmal über seinen eigenen Namen. Oder die andere Lehrerin, die ihn zwingt, am ersten Schultag vor der Klasse aufzustehen, damit sie ihn den anderen Kindern vorstellen kann, weil er ein »Neuer« ist. Er ist aber kein Neuer, sondern war nur ein halbes Jahr im Ausland. Die Klasse kennt ihn bestens, nur die Lehrerin kennt ihn nicht, weil sie neu ist. Aber sobald er den Mund aufmacht, um das Mißverständnis aufzuklären, heißt sie ihn schweigen. »Ich stand dort und durfte nichts sagen«, erzählt er finster. Das sind keine schrecklichen Dinge, die ihm widerfahren, sondern Kleinigkeiten. Trotzdem: Er empfindet sie als ungerecht, und sie sind auch ungerecht. Es ist unangenehm, nicht sprechen zu können, weil jemand Stärkerer einen einschüchtert. Dieses Gefühl gehört für Frauen in vielen Situationen zum Alltag; Männer haben keine SensibiIität dafür, weil sie sich nicht daran erinnern können, ein Kind oder Jugendlicher gewesen und das gleiche gefühlt zu haben. Ein gutes Gedächtnis ist oft der Schlüssel für soziales Empfinden.
Manchmal sind unsere diesbezüglichen Erlebnisse identisch. Zum Beispiel fliegen wir beide aus einem Schwimmbad, ich zwar nur indirekt, weil ich im amerikanischen Großhotel in Saudiarabien schon an der Pforte das große Schild lese, demzufolge weiblichen Gästen die Benutzung des Schwimmbades verboten ist. Alexander aber fliegt, mit sechs, buchstäblich hinaus, an einem strahlend schönen Sonntag, weil die Benützung des Schwimmbades in diesem Ferienkomplex »am Wochenende für Kinder unter 15 verboten« ist. Dabei war er an diesem Tag zufällig ein Musterkind. Er hat nichts getan, um den Vorfall zu provozieren. Er war genaugenommen nicht einmal im Schwimmbad, sondern saß nachdenklich und mucksmäuschenstill am Rand des Beckens und konnte gar keinen Erwachsenen stören, weil kein Erwachsener im Wasser war. Lediglich Alexanders Füße befanden sich auf verbotenem Terrain, doch das genügte schon, um einen Choleriker von seinem Liegestuhl hochfahren zu lassen. Und so komme ich doch noch dazu, meinen Vortrag über Schwimmen und Bürgerrechte zu halten - den Vortrag, den ich in Saudiarabien verfaßte, aber in Ermangelung eines geeigneten Publikums für mich behielt. Am Schwimmbeckenrand halte ich einen Vortrag über Diskriminierung und Familienfeindlichkeit. Wie kann ein Schwimmbad ausgerechnet am Wochenende, wenn alle Familienmitglieder zusammen sein können, für Kinder verboten sein? Man kann vielleicht Musik verbieten, Ballspielen und Planschen und Krach, aber doch nicht Kinder an sich. Was ist das für eine Regel, die einen Menschen nicht infolge seines Verhaltens, sondern infolge seiner Gruppenzugehörigkeit trifft? Später erzähle ich Alexander von meinem Erlebnis in Saudiarabien. »Das ist ja noch schlimmer«, urteilt er großzügig, »weil Frauen machen ja keinen Lärm, aber Kinder könnten vielleicht Lärm machen im Schwimmbad.« Ich glaube, daß die fehlende Betroffenheit von Männern, ihre Ignoranz im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen der Situation von Frauen und den auch von ihnen erw-ünschten Veränderungen in der Welt das vielleicht größte Hindernis für progressives Denken ist. Ein Kind kann noch reagieren und mitreagieren. Es ist notwendig, das empathische Vermögen männlicher Menschen zu fördern. Lernen heißt Wiedererkennen, und man muß kein Mädchen sein, um Zwan, Ungerechtigkeit, Bevormundung, stumpfsinnige Pauschalurteile zu erleben. Selbst beim Sexismus geht es nicht wirklich um Frauen; es geht um das, was eine stärkere Personengruppe willkürlich einer schwächeren Personengruppe antut. Für die Schwächeren bedeutet es immer dasselbe: ausgeschlossen werden, nicht ernstgenommen werden, keine volle Stimme haben, belächelt werden, kommandiert werden, in der Autonomie der eigenen Person nicht respektiert werden. Kinder erleben das, ununterbrochen.
Daraus kann wahrscheinlich der Wunsch entstehen, später zu den Stärkeren zu gehören. Aber es kann auch moralisches Lernen fördern, indem man die erlebten Umstände ablehnt, prinzipiell und für alle. Ich glaube ferner, daß wirklich gefestigte politische Werte nicht aus der gezielten Indoktrinierung entstehen, sondern aus viel zufälligeren Beeinflussungen, die den Charakter formen. Wenn ich überlege, warum ich Feministin wurde, dann finde ich in meiner Erziehung drei Elemente, die mit Feminismus eigentlich nichts zu tun haben. Das erste: eine starke Neigung zu Sozialkritik, zum Widerspruch gegen jegliche Art von Ungerechtigkeit bei allen mich erziehenden Personen, Eltern und Großeltern. Das zweite: ein ausgeprägtes Prinzip der Loyalität. Das Prinzip meiner Eltern war ein einfaches und altes: Die Familie sollte zusammenhalten. Ärger in der Schule, Probleme mit irgendwem? Später, zu Hause, wurde der Vorfall ausführlich besprochen, wurde man gerügt, doch nach außen hin präsentierten alle Familienangehörigen eine geschlossene Front. Später, als Feministin, kam mir dieses Prinzip zugute: Ich hatte Rückendeckung von zu Hause, und sogar mein traditioneller, südländischer Vater bemühte sich, manchmal kopfschüttelnd, meinen Argumenten zu folgen, einfach aus Zuneigung zu mir. Der dritte Faktor hing mit unserem Lebensstil zusammen. Bedingt durch den Beruf meines Vaters, mußten wir alle paar Jahre umziehen. Wir lebten in isolierten Militärsiedlungen und mitten in der Großstadt, in konservativen Gegenden und in kosmopolitischen, in Europa und in Amerika. Überall waren die Regeln ein wenig anders; jede Schule, jede Gemeinde hatte ihre Bestimmungen, auf deren Einhaltung sie bestand. Wenn wir Kinder irgendwo aneckten oder uns über etwas ärgerten, verteidigten unsere Eltern nicht automatisch die lokalen Bestimmungen. Das wäre, angesichts der enormen Variationsspanne dieser Regeln, auch kaum möglich gewesen. Oft waren die Regeln auch offenkundig absurd. In Kalifornien z.B. durften Mädchen in der Schule Sandalen tragen, die Jungen aber nicht. Warum? Bis heute hat mir niemand diese Frage beantworten können. Für diese und für sehr viele anderen Regeln gibt es keine bessere Erklärung, als daß an diesem Ort eben diese Regeln und Gewohnheiten herrschten, was immer wir auch persönlich davon halten mochten. Und daß wir uns zwar nicht damit anfreunden mußten, innerlich nicht zustimmen und uns auch nicht unbedingt anpassen mußten, daß wir aber irgendeinen Modus finden mußten, um damit umzugehen. Das war verdaulicher, als wenn meine Eltern die Regeln verteidigt hätten, und oft konnte man irgendeine Situation leichter ertragen, wenn man nicht auch noch zu Hause so tun mußte, als würde man sie gut finden.
Diese quasi-ethnologische Einstellung zur Welt kann sehr nützlich sein. Sie ist pädagogisch überzeugend, weil sie wahr ist. Wenn zu den Kategorien »richtig« und »falsch« noch eine Kategorie für »ortsüblich« kommt, lebt man damit oft leichter. »Ortsüblich« eignet sich besonders gut als Erklärung für geschlechtsspezifische Regeln, die zwar nicht wirklich schlüssig sind, aber dennoch nach einer gewissen Einhaltung verlangen. Ich hatte vor, meine Söhne politisch sorgfältig zu erziehen, doch in der Praxis sieht das dann oft anders aus. Doch ich betone die Analogie zwischen der Behandlung von Frauen und der Behandlung von Kindern. Ich nutze die Empirie für mich, um zu zeigen, daß viele gesellschaftliche Denkweisen, auch solche über Frauen und Männer, ganz manifest nichts mit Fakten, sondern nur mit Vorurteilen zu tun haben. Zum Beispiel dürfen Frauen in Saudiarabien nicht Auto fahren, weil man davon überzeugt ist, sie könnten das nicht. Dagegen ist für jedes europäische Kleinkind augenscheinlich, daß dies nicht stimmen kann. Ich ermutige sie, Dinge, die in ihren Augen ungerecht sind, nicht schweigend hinzunehmen, und sie erleben in mir und meinen Freundinnen streitbare Personen, die sich oft engagieren und oft damit Erfolg haben. Es erfordert keine besondere Anstrengung, grundsätzliche Dinge mit Kindern zu erörtern, und man muß dazu auch nicht besonders abstrakt werden. Das Thema der Gerechtigkeit ist in jedem Kinderleben zentral, weil Kinder laufend sehr ungerecht behandelt werden. Sie werden bevormundet, zu Unrecht bestraft, ignoriert. Das kann man ihnen nur begrenzt ersparen, doch man kann ihnen helfen, daraus zumindest die richtige und nicht eine falsche Lehre zu ziehen. Wenn Regeln unsinnig sind, und Kinder sind oft mit unsinnigen Regeln konfrontiert, dann dienen diese Regeln meist der symbolischen Zurschaustellung von Macht.
Denn Macht manifestiert sich am besten in der Willkür. Oder wie soll ich folgendes Ereignis interpretieren: Alexander ist sechs und geht in die zweite Klasse. Eines Tages kommt er sehr hungrig nach Hause. Das Mittagessen in der Schule konnte er nicht essen, erwähnt er beiläufig als Erklärung dafür. Warum nicht? Na, weil er, als er sich in der Schulcafeteria angestellt hatte für sein Essen, vergessen hat, das Besteck aufs Tablett zu legen. Erst beim Hinsetzen hat er das bemerkt. Er wollte sich ein Besteck holen gehen, aber das darf man nicht. Die Aufsichtsperson hat gesagt, daß ihm das früher hätte einfallen müssen, und hat ihm nicht erlaubt, noch einmal nach vorn zu gehen. Er hat dann versucht, mit den Fingern zu essen, aber das ging nicht und war außerdem peinlich. Also hat er nicht gegessen. Er hat dieses Essen bezahlt, wie ein Kunde in irgendeiner Cafeteria. Nur wäre es in jeder anderen Cafeteria undenkbar, daß einem das Besteck verweigert wird, daß man statt Service eine Belehrung erhält und hungrig aufstehen muß. Macht ist in den Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen äußerst wichtig, die Erwachsenen legen darauf großen Wert. So war ich erstaunt, von der Aushilfslehrerin in der ersten Volksschulklasse zu erfahren, man habe heute über die Schulpflicht gesprochen. »Wir haben den Kindern erklärt, daß sie dazu verpflichtet sind, weil das Gesetz es verlangt. Es ist wichtig, daß sie das wissen.« Ich kann nicht erkennen, was daran wichtig sein soll und warum sie so stolz darauf ist, den Kindern mit diesem Verweis auf Pflicht und Gesetz den Schulbesuch zu vermiesen. Gerade in der ersten Volksschulklasse sind die Kinder stolz, bereits »Schüler« zu sein, und begierig darauf, lesen und schreiben zu lernen. Der Tag, an dem mit echter Tinte geschrieben wird, ist ein Höhepunkt in ihrem Leben, und Ekstase bricht aus, wenn sie einen Taschenrechner verwenden dürfen. Schrelbschrift ist das Statussymbol schlechthin, und die Klasse fiebert dem Tag entgegen, an dem sie diese Kulturfertigkeit erlernt. Schlechte Lehrer mögen es mit der Zeit ja fertigbringen, daß diese Lust am Lernen vergeht, aber in der ersten Volksschulklasse ist der Enthusiasmus noch vorhanden. Warum muß man mit dem Gesetz drohen? Und noch dazu Kindern, die eigentlich gar nicht die Adressaten des Gesetzes sind. Denn die Schulpflicht entstand historisch und richtete sich ganz gezielt an Eltern, um sicherzustellen, daß Kinder nicht in Fabriken oder auf dem Bauernhof ausgebeutet wurden, sondern in die Schule gehen durften. »Politische Bildung« in späteren Jahren kann nicht wettmachen, was Kinder in ihrem Schulalltag und Kinderleben an undemokratischer Gesinnung serviert bekommen.
Ich denke dabei an einen Vorfall in der Volksschule. Während der Turnstunde hatte ein Kind names Amar ein anderes Kind gestoßen, so daß das Kind ziemlich fest gegen die Mauer fiel. Der Lehrer hatte das gesehen und wollte den Schuldigen rügen. »Komm sofort zu mir«, hatte er drohend gerufen, dabei aber auf einen anderen Schüler, auf den kleinen Mah, gedeutet. Der völlig unschuldige Mah trottete zum Lehrer und ließ sich zusammenschimpfen. »Sie sind beide Chinesen, und wahrscheinlich hat der Lehrer sie verwechselt«, erklärte mir mein Sohn diesen Vorfall. Warum hat Mah nicht protestiert? Er hatte es ja versucht, doch der Lehrer ließ ihn nicht ausreden. »Dieser Lehrer mag es nicht, wenn man ihm widerspricht«, erläutert Alexander weiter. »Er schickt einen dann gleich zur Direktorin.« Als Mutter sind meine Möglichkeiten zur Intervention begrenzt; man kann nicht ständig mit Beschwerden in der Schule auftreten. Doch man kann die Ereignisse ernst nehmen und gemeinsam mit dem Kind interpretieren. je nach Interpretation kann ein solcher Vorfall dazu benutzt werden, Sensibilität zu erhöhen oder sie zu reduzieren. Die Schule, aus der diese letzte Anekdote stammt, ist in Amerika. Dort läuft, während mein Sohn in der zweiten Volksschulklasse seine Erlebnisse macht, gerade der GolfEinsatz, und die Zeitungen berichten ausführlich über die Entsendung der Truppen. Die Angehörigen Verlobte, Ehefrauen, Mütter - beschreiben sich als »stolz«. Und die Jungen Männer? Auf den Zeitungsfotos sehen sie jung, schrecklich jung, und unsicher unter ihren Helmen hervor, aber sie antworten lässig. Es gäbe eben einen »Job zu erledigen«, meinen sie. Die »Los Angeles Times« zitiert einen gewissen Sgt. Bunting: »Wenn der Präsident den Befehl gibt zu schießen, dann schießen wir. Wenn der Präsident sagt, >Springt!< dann fragen wir nur, >wie hoch denn?<« Ist es meine Einbildung, oder gibt es einen Zusammenhang zwischen diesem Zitat und dem Turnlehrer? So brav wie die Jungen Männer ist man doch nur, wenn man - am besten schon mit sechs oder sieben gelernt hat, nicht zu widersprechen, willkürliche Regeln zu befolgen, nicht allzuviel über Gerechtigkeit nachzudenken. Daher geht es auch nicht wirklich darum, wieviel Zivilcourage man von einem kleinen Kind erwarten kann (nicht zu viel). Mehr noch geht es um das Nachdenken. Wie kann ein Kind in die Lage versetzt werden, die sinnvollen Regeln von den unsinnigen zu unterscheiden, zwischen notwendiger Anpassung und schädlicher Demütigung zu differenzieren?
Der einzige Experte, der sich mit der Möglichkeit eines solchen empathischen, moralischen, politischen Lernens bei Kindern befaßt hat, ist der amerikanische Forscher Robert Coles. Er untersucht die selbständigen sozialen Wahrnehmungen von Kindern; eine seiner Studien hatte den Rassismus in amerikanischen Südstaaten zum Thema. Er machte diese Studie zur Zeit der großen Rassenunruhen in Amerika, als die Regierung versuchte, die Apartheid in den Südstaaten aufzuheben und die Schulen zu integrieren. Gegen dieses Ansinnen leisteten die Weißen erbittert Widerstand. Der Junge aus Georgia, den Coles in dieser Studie als Beispiel anführt, war 14 Jahre alt. Über seine schwarzen Mitbürger dachte er so wie alle Weißen in seinem Umfeld: Sie waren »Nigger«, drittklassige Lebewesen, und die Idee, sie in weiße Schulen zu schicken, war eine kommunistische Dummheit aus dem Norden. Seinen Weg zu einer persönlichen ethischen Entscheidung beschrieb dieser Junge in einem Gespräch mit Coles sehr plastisch: »Ich wollte sie nicht in meiner Schule haben«, äußert er sich zu den schwarzen Schülern, die auf Regierungsbefehl eingeschleust werden sollten.

»Ich fand, daß die Schwarzen unter sich bleiben sollten, und wir Weiße sollten auch unter uns bleiben. Alle fanden das. Doch dann haben sie diese zwei Jungen hierhergeschickt. Es ist ihnen schlecht gegangen hier. Die Schule mußte sie unter Polizeischutz stellen. Wir wollten sie nicht hier haben, und das wußten sie. Wir haben es ihnen auch immer wieder deutlich gezeigt, damit sie es ja nicht vergessen würden. Ich war auch dabei. >Hau doch ab, Nigger!< habe ich zu ihnen gesagt. Doch dann, nach ein paar Wochen, sah ich mir einen dieser Jungen genauer an, und er kam mir gar nicht mehr so richtig wie ein Nigger vor, sondern einfach wie ein Junge. Egal, wie hart es zuging, er hat immer gelächelt, er stand immer ganz gerade da und war immer korrekt. Ich sagte zu meinen Eltern, >schade, daß ausgerechnet so ein netter Junge das alles ertragen muß, nur weil irgendwelche blöden Richter sagen, daß alle Schulen integriert werden müssen.< Und dann geschah es. Ich sah, wie einige meiner Kameraden ihn wieder einmal beschimpften. >Dreckiger Nigger< und so, haben sie zu ihm gesagt, und dann fingen sie an, ihn herumzustoßen. Die Polizei war gerade nicht da, und es sah schlecht aus für ihn. Ich ging hinüber und stellte mich dazwischen. Ich sagte, >He, Schluß damit.< Sie haben mich alle angestarrt, als ob ich verrückt geworden wäre, meine Klassenkameraden und sogar der Nigger. Aber sie ließen ihn los, und der Nigger konnte weggehen.
Bevor er aber wegging, sagte ich etwas zu ihm. Ich wollte es gar nicht tun! Die Worte kamen einfach von alleine, ich war selber ganz überrascht. >Es tut mir leid!< habe ich zu ihm gesagt. Dann ging er weg, und meine Freunde fielen über mich her. >Was soll das heißen, es tut dir leid!< Ich wußte nicht, was ich antworten sollte, also habe ich gar nichts gesagt. Dann war es Zeit für die Turnstunde. Es war der merkwürdigste Augenblick in meinem Leben.«

Der Augenblick war »merkwürdig«, weil eine nie reflektierte Abstraktion plötzlich ein Gesicht bekam und das Gesicht der Abstraktion widersprach. Unerwartet und ungebeten meldete sich die Stimme seines eigenen Urteilsvermögens, und sie war lauter als die Stimme der Konvention. D iese Stimme sagte ihm, daß es sich hier, egal was Umwelt und Nachbarn behaupteten, um einen Jungen handelte, der ihm ähnlich war, um einen Jungen, in den er sich einfühlen, den er sogar bewundern konnte, weil er sich in einer schwierigen Lage so tapfer verhielt. Diese Geschichte kontrastiert bedenklich mit einer anderen Geschichte, die eine prominente amerikanische Feministin mir erzählt hat. Es ging um ihren Sohn, neun Jahre alt. Eines Tages kam er nach Hause und erzählte, er sei auf dem Heimweg an einem Spielplatz vorbeigegangen. Dort habe er gesehen, wie drei Jungen gerade ein kleines Mädchen verprügelten. Und da habe er einfach nicht gewußt, welche Reaktion die korrekte sei. Sollte er dem Mädchen helfen, oder wäre das schon Ausdruck männlicher Herablassung, weil er damit zum Ausdruck brächte, daß er es ihr nicht zutraue, allein mit der Situation fertigzuwerden? In seiner Unschlüssigkeit sei er schließlich weitergegangen. Meine Bekannte betrachtete das als Erfolg ihres Bewußtseinsbildungsprozesses: Ihr Sohn hatte ein Verständnis für die Komplexitäten der Thematik entwickelt. Ich konnte ihre Freude nicht so recht teilen; andere Reaktionen wären mir zwar weniger diffizil, dafür aber gesünder und begrüßenswerter vorgekommen. Diskriminierung, Rassismus, Sexismus heißt ja gerade, daß man ohne eigenes Dazutun in unfaire, unangenehme Situationen gerät. Warum soll man sich ganz allein daraus befreien müssen? Und wie konnte ihr Sohn das augenscheinlichste, einfachste Merkrnal dieser Situation verkennen: daß drei zu eins in jedem Fall unfair ist und nach Intervention verlangt? In anderer Richtung über das Ziel hinausgeschossen ist meiner Ansicht nach eine andere Feministin, Judith Arcana. In ihrem Buch »Every Woman's Son« beschreibt sie ihren Versuch, beim Sohn politisches Bewußtsein zu wecken. Sohn Daniel ist zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt, und irgendwo hat er den Ausdruck »Vergewaltigung« gehört und will wissen, was das bedeutet. Arcana versucht es ihm zu erklären, aber ihre Erklärung verwirrt ihn bloß. Aus einem vorangegangenen Aufklärungsgespräch ist ihm erinnerlich, daß Sexualität etwas Angenehmes und Gutes sein soll, und nun kennt er sich nicht mehr aus. Seine Mutter vermittelt es ihm so: »Ich beugte mich über ihn und streichelte seinen Arm. >Ist das angenehm?<, fragte ich ihn. Er nickte. Plötzlich schlug ich ihn auf den Arm. Er fiel hin. >Siehst du<, sagte ich >mit meiner Hand kann ich dich streicheln, oder ich kann dir wehtun damit. Genauso kann ein Mann beim Sex mit einer Frau zärtlich sein, oder er kann ihr wehtun.<« Über die Erfolgschancen dieser Didaktik möchte ich keine Prognosen abgegen; ob dieser Anschauungsunterricht bei Daniel sehr sympathiefördernd wirkt, ist zu bezweifeln.
Robin Morgans Standpunkt, man müsse ein Kind ganz konsequent in die eigene Weltanschauung und politische Aktivität einbeziehen, verunsichert mich manchmal, aber ich gehe dann einen anderen Weg. Ich beschließe, auf die Intelligenz, den Gerechtigkeitssinn und das Urteilsvermögen junger Männer zu setzen; ob die Rechnung aufgeht, wird sich herausstellen. Viele Mütter haben berechtigt Angst davor, daß die herrschende Ordnung ihre Söhne irgendwann, irgendwie »einkassiert«. Gegen diese Entführung können wir ihnen ein paar Leibwächter zur Seite stellen, und das sind: Vernunft, Humor und emotionale Einbindung in ein besseres, faireres Wertesystem.
Alexander ist sechs, seine Freundin Jamie, Tochter von Nachbarn, ist acht Jahre alt. Ich sitze an meinem Computer und überhöre ein Gespräch, das die beiden im Nebenzimmer führen. Jamie wird gerade adoptiert von dem Ehepaar, bei dem sie nun schon seit zwei Jahren lebt. Eine Therapie soll ihr helfen, die Ereignisse ihres bisherigen bewegten Lebens zu verarbeiten. Soeben ist sie von einer Therapiestunde heimgekommen, sie ist noch etwas aufgenwühlt, und sie erzählt meinem Sohn einige Details über ihr Leben. Sie hat jahrelang in einem Heim gelebt. Sie hat einen kleinen Bruder, der von einer anderen Familie adoptiert wurde und von dem sie, infolge des Datenschutzes, keinen Aufenthaltsort weiß. Ihre leiblichen Eltern leben beide noch, aber auch von ihnen hat sie keine Adresse. Ihren Bruder und ihre Mutter will sie suchen, später, wenn sie größer ist. Ihren Vater will sie nicht suchen. »Der hat versucht, mich umzubringen«, erzählt sie Alexander, ganz sachlich, im Plauderton. »Er hat versucht, mich zu ertränken, weil er kein Mädchen wollte. Deshalb haben sie mich ihm weggenommen.« Alexander ist fassungslos. »Der muß ja blöd sein«, kommentiert er entrüstet die Geschichte. Ich sitze im Nebenzimmer, höre das Gespräch mit, billige insgeheim die Reaktion meines Sohnes und denke darüber nach, wie bescheiden meine Erwartungen eigentlich sind. Im Grunde erwarte ich von erwachsenen Männern nicht viel mehr als eine solche Reaktion. Sie sollen Partei ergreifen, sollen ohne 25 Zusatzklauseln eine Meinung haben, sollen einer Frau zuhören und auf das Schicksal anderer Menschen spontan reagieren. Das würde mir schon reichen, doch die wenigsten erwachsenen Männer bringen das noch zustande. Die wenigsten können auf solche Erzählungen antworten, ohne sofort ein »aber« hinzuzufügen. Die meisten fühlen sich durch jede Ungerechtigkeit, die einer Frau widerfährt, persönlich kritisiert und daher aufgerufen, jedes von Männern verursachte Übel irgendwie noch zu verteidigen. Wann wird im Laufe der Entwicklung aus dem spontanen Gerechtigkeitsgefühl eine blinde Geschlechterloyalität? Was soll's denn werden? Ich kann nicht zählen, wie oft mir diese Frage gestellt wird, während meiner beiden Schwangerschaften. Ich weiß es zwar, und trotzdem erschreckt mich die Häufigkeit, mir der immer noch angenommen wird, ich wollte lieber einen Sohn bekommen. »Wollen Sie tauschen?« fragt mich meine Sitznachbarin im Warteraum des Frauenarztes, nachdem wir beide per Ultraschall einen Blick in die Zukunft geworfen haben. Ihr Scherz verbirgt ein Körnchen wahren Kummers - ihr Mann will einen Sohn, unbedingt einen Sohn, und heute muß sie ihm sagen, daß daraus nichts wird. »Na ja, dann eben beim nächsten Mal«, tröstet sie eine andere Wartende. Nächstes Mal? Fünf Monate dauert es noch, bis erst einmal die Tochter auf der Welt ist, und schon soll sie auf das nächste Mal hoffen? In meinem Bekannten- und erweiterten Freundeskreis ist es nicht viel anders. Eine Kollegin bedauert ihre Fehlgeburt. fügt sie noch »Und dabei wäre es sogar ein Junge geworden«, hinzu. Mutter seines Sohnes - dann hätte ihr Freund, ein konservativer Arzt, sie bestimmt endlich geheiratet, glaubt sie, denn er hat sich schon immer einen Sohn gewünscht, von seiner Frau hat er nur zwei Töchter.
Oder die beste Freundin meiner Schwägerin. »Wie geht es Birgit?« frage ich beiläufig. Es geht ihr, erfahre ich, schlecht. Sie hat drei Töchter und alle Hände voll zu tun, aber trotzdem hat sie sich von ihrem Mann überreden lassen, es noch einmal zu versuchen, nämlich zu versuchen, doch noch einen Sohn zu bekommen. Und nun hat der Ultraschall verraten, daß es eine Tochter, eine vierte Tochter wird. Wird diese Tochter nie erfahren, daß sie ihre Existenz der vergeblichen Sehnsucht nach einem Sohn verdankt? Haben die anderen Töchter nichts von all dem mitgekriegt? Ist ihnen unbekannt, daß auch sie nur gescheiterte Genexperimente verkörpern? Und dann noch Vera, die adrette Soziologin im Demographischen Institut, mit der ich mich oft unterhalte, wenn ich die Bibliothek besuche. Vera ist so alt wie ich, ihr Mann ist lässig und witzig und arbeitet für den Rundfunk; politisch sind sie ein bißchen links. Soeben hat Vera das Ergebnis der Amniozentese erfahren, alles okay, sie ist sehr erleichtert. »Der Arzt wollte mir gleich das Geschlecht sagen«, erzählt sie, »aber ich wollte es nicht wissen.« Ihr Mann nämlich will unbedingt einen Sohn und wäre enttäuscht, wenn sich jetzt herausstellen sollte daß es ein Mädchen wird. Wenn das Baby dann erst da ist, ist es ja etwas anderes. Dann freut man sich so oder so. Aber jetzt will Vera sich ihre letzten Schwangerschaftsmonate nicht durch seine Enttäuschung verderben lassen. Ich bekomme zwei Söhne, worauf meine Umwelt unterschiedlich reagiert. Menschen, die mich nicht kennen, gratulieren mir ganz besonders zu einem Sohn; »besonders beim ersten Kind« sei das doch einfach ideal. Einige meiner Gegner betrachten es als amüsante Ironie, daß gerade ich zwei Söhne habe. Mein Alltag hat sich, soviel stimmt, in gewisser Hinsicht maskulinisiert, und ich selbst habe mich merklich verändert. Ich werde z. B., was meine Turnlehrerinnen jahrelang vergeblich anstrebten, sportlich(er). Ich kann beim Basketball mithalten und bin, wenn alle Stricke reißen und wirklich Not am Mann ist, ein brauchbarer Torwart. Mein Fernsehgerät steht überproportional oft auf Eurosport, und Michael Jordan ist mir fast schon so vertraut, als wäre er ein weiteres Familienmitglied. Ich kann in einem Gespräch über Casino Salzburg durchaus mithalten; ich kann die Vor- und Nachteile von Reusch-Fußballhandschuhen erörtern; ich kenne die Namen der vier Ninja-Schildkröten und kann an der Farbe ihrer Stirnbänder erkennen, welche von ihnen Leonardo ist. Daß ein Baukran eigentlich ein ästhetischer Gegenstand ist, auf den das Adjektiv »schön« paßt, ist eine Einsicht, die ich in vielen, vielen schmerzvollen Stunden der erzwungenen Betrachtung erweben konnte. Meine Feinmotorik profitierte vom Versuch, Mario über den menschenfressenden Pilz springen zu lassen. Ich machte den Führerschein, nicht nur weil Kinder immer so viel Gepäck haben, sondern auch, weil es mir peinlich war, meinen Kindern einen autofahrenden Vater und eine nichtautofahrende Mutter zu präsentieren. Es steht außer Zweifel, daß meine Söhne nicht die einzigen sind, die im Laufe unseres Zusammenlebes »sozialisiert« wurden. Zwei Söhne zu haben bedeutet auch, daß einem die Welt der jungen Männer zur ausgiebigen Beobachtung offensteht und daß man ausführlich erfährt, was die restliche Umwelt über junge Männer denkt. »Oh«, sagt die Nachbarin, freundlich bestrebt, uns nach unserem Umzug in der neuen Nachbarschaft willkommen zu heißen. »Bestimmt sucht Alexander Kinder in seinem Alter, mit denen er spielen kann.« Sie denkt angestrent nach, runzelt die Stirn, schüttelt dann bekümmert den Kopf. »Ich wüßte schon ein paar Kinder in seinem Alter«, sagt sie dann, »aber es sind alles Mädchen.« Ein Junge mag nicht mit Mädchen spielen - unzählige Male wird mir im Alltag diese Wahrheit serviert, zuerst bei Alexander, dann bei Max. Zum Zeitpunkt dieser Gespräche sind sie eineinhalb oder zwei Jahre alt, und die Geschlechtszugehörigkeit ihrer Spielgefährten ist ihnen, wie ich mit Sicherheit weiß, vollkommen egal.Später wird es heißen, Kinder würden »ganz von selber« geschlechtsgetrennt spielen, doch die Erwachsenen leisten auf jeden Fall ihren Beitrag dazu, vielleicht ohne sich dessen richtig bewußt zu sein. Ganz selbstverständlich laden sie, zu Geburtstagsfeiern, meist geschlechtsgleich ein. Mehr als einmal ruft mich, während dem Kindergarten- und Volksschulalter, eine Mutter an, die sich vergewissern will, daß ihre Tochter nicht bloß irrtümlich in eine Knabenfeier hineingeraten ist. Ein gewisses Maß an scheinbar zwanghafter, von den Kindern ausgehender Apartheid ist nicht zu leugnen. John Leo beschreibt es plakativ, aber nicht unzutreffend so: »Einmal die Woche war ich in unserem Kinderkollektiv an der Reihe. Um 8.30 Uhr trafen die Kinder ein, und um 8.31 Uhr hatten sie sich nach Geschlecht sortiert. Danach saßen die Mädchen an einem langen Tisch, plauderten, bastelten und zeichneten, und die Jungen schleuderten sich gegen die Wände, schrien, zertrümmerten Spielzeug und machten mich fertig.« Diese Segregation ist zweifellos gegeben, aber sie ist nicht lückenlos. Alexander hatte von Anfang an auch Freundinnen. Sein allererster richtiger »Freund« im Kindergarten war ein Mädchen, Sarita, in weiteren Jahren gefolgt von Candice, Jamie und Tara. Wenn ich mir diese Mädchen ansah, hatten sie ein gemeinsames Merkmal: Sie waren, abstrahierte man von ihren Locken und ihren grazilen Bewegungen und ihren süßen Gesichtern, androgyne Typen. Sie zeichneten nicht leise am Tisch wie die anderen Mädchen, aber sie schleuderten sich auch nicht gegen die Wand wie viele der Jungen, sondern boten ein mittleres, gemäßigteres Spielverhalten. Mit seiner Wahl zeigte Alexander, daß er immerhin integrierter war als ich; in meiner Kindheit hatte ich, ab dem Alter von fünf Jahren, nie einen männlichen Spielgefährten. Wenn sich allerdings Blöcke bildeten (und ab der dritten Klasse sowieso), war er bei den Jungen. Auch aus Interesse; die Tunzen hatten die Mask-Autos, und die waren jederzeit attrakiver als die Mein-Kleines-Pony-Plastikpferdchen der Mädchen. Nur bei den Klatschspielen der Mädchen wären etliche Buben gerne dabei. Ich sehe es ihnen an, wenn ich in die Schule komme und einige der Jungen am Rand der Mädchengruppe stehen, unauffällig und ganz cool, aber insgeheim fasziniert von der Fingerfertigkeit und den Rhythmen. Aber der Zusammenhalt der Jungengruppe ist stärker. Da wird gestoßen, gerauft, teilweise sichtlich nur in einem Übermut der physischen Energien, teilweise aber mit Zusammenhängen, die mir nicht einleuchten, die mir aber barbarisch erscheinen. Danach befragt, schildert mein Sohn komplexe Regeln, die mir nicht weiterhelfen, die ihm aber ziemlich plausibel zu sein scheinen. Es eröffnet sich mir eine neue Welt mit einer fremden Logik. »Was habt ihr heute in der Pause gemacht?« »Gekämpft. Der Gregor, der Fabian und ich haben gegen den Vanja und den Manfred gekämpft.« (Erstaunen meinerseits) »Aber der Vanja war doch immer dein bester Freund!« »mmmmmhmm, ist er eh.« »Wieso wart ihr dann gegeneinander?« (geduldig) »Na, weil sonst hätten wir ja nicht kämpfen können. Es muß ja zwei Seiten geben.« »Aber warum war Vanja nicht auf deiner Seite?« »Na, weil ich beim Kämpfen immer mit dem Gregor bin, und der Vanja ist immer mit dem Manfred.«
Anfangs denke ich an meine eigene Kindheit und begreife nichts. Mit meinen allerbesten Freundinnen, Sonja, Elisabeth und Uschi, »kämpfte« ich nicht. Wir stritten manchmal, doch dann war es ernst, und es konnte viele Tage dauern, bis wir uns wieder versöhnten. Die »beste Freundin« durfte sich gewiß nicht zur Gegenseite bekennen; im Kodex der Mädchenfreundschaft war das undenkbar. Die beste Freundin war in jedem Fall die beste Freundin, egal, ob das dem Spiel nützte oder schadete. Wenn Teams gebildet wurden, mußte man sie als Mitspieler wählen, sonst wäre sie zu Recht beleidigt und gekränkt; Freundschaft war schließlich wichtiger als irgendein Spiel. Wer sich ein Team wählen durfte, wählte nicht nach sportlicher Begabung, sondern nach Zuneigung, und aus der Reihenfolge des Aufgerufenwerdens konnte man erkennen, wo man in der Rangliste der Freundschaft bei dieser Person stand. Bei den Jungen gelten - ich weiß es aus der soziologischen Literatur und kann es im Alltag meiner Söhne jeden Tag bestätigt sehen - andere Regeln. In Alexanders Volksschule in der Währingerstraße entfaltet sich die soziologische Theorie so akkurat und täglich, als ob die Kinder frühmorgens den Text studieren und ihn dann geflissentlich umsetzen würden: »Die Jungen bilden zweckorientierte Gruppen, und ob die einzelnen Mitglieder der Gruppe sich mögen oder nicht, ist nicht so wichtig. Auch ein aggressiver oder sonstwie unbeliebter Mitschüler darf mitmachen, wenn er irgendein Talent hat, das dem Spiel dienlich ist. Die Mädchengruppe hingegen ist gewillt, ein bestimmtes Mädchen nur deshalb auszuschließen, weil >wir sie nicht mögen<« [1]
Das Sozialverhalten der Jungen ist anders. Das heißt nicht, daß bei ihren Freundschaften keine Gefühle aufkämen. Erik muß nur zu Vanja sagen, daß er ab nun nicht mehr sein Freund ist, und schon fließen Tränen. Was mir als obsessiver Soziologin besonders gut gefällt, ist die Chance für ununterbrochene Diskussion über soziale Belange. Warum schaut diese Frau so böse? Warum darf man dies, aber nicht das? Die Neugier eines Kindes gegenüber den sozialen Regeln und dem sozialen Verhalten anderer Menschen ist grenzenlos, ihre Hemmschwelle gering. Eigentlich ist jedes Kind ein Soziologe. Aber nachdenklich stimmt mich in den ersten Jahren des Zusammenseins nicht ihre Geschlechtszugehörigkeit, sondern die Stellung meiner Kinder als Kinder, gegenüber den Erwachsenen, zu denen ich zähle. Da ist allein schon die Tatsache, plötzlich »Mutter« zu sein. Als Mitglied der hochpolitisierten Protestgeneration war »Mutter« in meinen Augen ein Amt, ein Titel, der ein gewisses Mißtrauen weckte. Eltern waren, fast wie Polizisten, Autoritätsträger - eine Funktion, in der ich mich nicht so recht sehen konnte. Doch die Geburt von Kindern schafft Fakten. Zum ersten Mal in nieinem Leben hatte ich damit z. B. das Gefühl echter Verantwortung. Zwar war ich schon sehr oft in Situationen gewesen, die allgemein als verantwortlich bezeichnet werden: ein Seminar leiten, ein Referat halten. Doch den Kindern gegenüber hatte ich zum erstenmal das Gefühl, daß »Verantwortung« mehr war als eine Floskel. Erstmals traf ich Entscheidungen stellvertretend für einen anderen Menschen, der noch nicht mitreden konnte, der von mir und meinem Urteilsvermögen abhängig war. Zum Beispiel lehnte ich für eines meiner Kinder die vom Arzt empfohlene Behandlung ab, weil ich fand, daß sie mehr Trauma als Nutzen bringen würde. Dazu mußte ich unterschreiben, daß ich die ärztliche Intervention verweigere. Wie sich herausstellte, hatte ich damit recht, ging es dem Kind noch am selben Nachmittag wieder viel besser, aber in der unmittelbaren Situation war es ein Risiko. »Auf eigene Verantwortung, gegen ärztlichen Rat«, stand auf dem Zettel, und ich mußte tief durchatmen, bevor ich ihn unterschrieb. Als Mutter habe ich nicht nur Verantwortung, sondern auch Macht. In der Mutterrolle dreht sich die sonstige Situation von Frauen um: Im Umgang mit Kindern, also auch mit Söhnen, sind sie die Größeren, die körperlich Stärkeren, diejenigen, die mehr Geld und mehr zu sagen haben. Als Mutter habe ich die Gelegenheit, zwischen Macht und Verantwortung balancierend meine demokratische Gesinnung auf die Probe zu stellen. Wann muß ich Druck, sogar Zwang ausüben gegenüber einer Person, die noch nicht in der Lage ist, Konsequenzen richtig abzuschätzen? Wie fair bin ich gegenüber einem unterlegenen Kontrahenten? Was ist das überhaupt, eine Mutter? Wie soll die Erziehung sich gestalten? Die Literatur dazu ist so umfangreich wie widersprüchlich. Zu jedem Aspekt, profan bis philosophisch, gibt es ausufernde Fachliteratur, und gleichzeitig sind sich die Experten nicht einmal darüber einig, ob ein Säugling auf dem Rücken schlafen soll oder auf dem Bauch. Der Mangel an Orientierungshilfen, der sich in diesem Fall geradewegs aus dem Überfluß ableitet, war für mich nur kurzfristig ein Problem. Es tun sich zwei Quellen auf, die mir unerwartet die Richtung weisen: Was ich in der Pädagogik vergeblich suche, finde ich in Philosophie und Science-fiction. Endlich verstehe ich, warum ich an der Uni zwei Pflichtsemester Philosophie absolvieren mußte: Das Dekanat dachte dabei vorsorglich an meine kommende Mutterschaft. Die esoterischen Fragen, die wir im Seminar behandelten, für meine kleinen Kinder sind sie selbstverständlich und dringend. Was ist Realität? Was ist Wirklichkeit und was nur Schein? Kinder stehen, zumindest in den allerersten Monaten und Jahren, echt und ehrlich vor diesen Fragen und wissen keine Antwort darauf. Und außerdem sind Kinder auch noch kleine, intergalaktische Touristen, die von unbekannter Stelle auf diesem Planeten gelandet sind und sich hier, in der totalen existentiellen Fremde, irgendwie zurechtfinden müssen. Mit der Hilfe Ortskundiger.
Erziehung? Disziplin? Ich kann wenig Zusammenhang erkennen zwischen diesen Forderungen und den Situationen, in denen Kinder sich befinden. Ein Kind ist in erster Linie jemand, der hier neu ist, und völlig fremd. Alexander ist eineinhalb. Er sitzt in der Badewanne, besonders lang, sehr zufrieden. Plötzlich ist er beunruhigt. Er stellt eine schreckliche Veränderung an seinen Fingern fest: Die schönen Fingerkuppen, sie sind ganz verrunzelt! Sind sie jetzt für immer kaputt? Er ist drei und macht eine tolle Entdeckung. Wenn er sich schnell im Kreis dreht, dreht sich danach auch das ganze Zimmer. Er ruft mich herbei, damit auch ich an dem fantastischen Ereignis teilhaben kann. Er dreht sich erneut, diesmal für mich, dann plaziert er mich sorgfältig an genau die Stelle, an der er gerade gestanden hat und sieht mich erwartungsvoll an: jetzt muß auch ich das sich drehende Zimmer sehen können. Für ihn stellt sich das Ereignis so dar: Durch sein Drehen hat er das Zimmer dazu gebracht, daß es sich ebenfalls dreht. Und: Wenn ich genau dort stehe, wo er gestanden hat, muß ich folgerichtig auch genau das sehen, was er gesehen hat.
Kinder sind Menschen ohne Selbstverständlichkeiten. Sie können nichts annehmen, nichts voraussetzen, sie haben keine vorgefaßten Meinungen. Jeden Tag sind sie umzirkelt von komplizierten Grundsatzfragen. Was ist Wirklichkeit? Was sind die Eigenschaften der Dinge? Wann ist etwas kaputt, und wann hat es nur vorübergehend eine andere Gestalt angenommen? Was heißt Leben? »Armer Käfer«, sagt der einjährige Alexander mitleidsvoll zur verletzten Biene, die sich am Wegrand dahinschleppt. Genauso anteilnehmend sagt er wenig später »armes Papier« zu einer zerrissenen Heftseite im Buch. Welche Beziehung herrscht zwischen Ereignis und Wahrnehmung? Wenn etwas passiert, und keiner nimmt es wahr, ist es dann überhaupt wirklich geschehen? Wenn einer etwas wahrnimmt, müssen die anderen es dann nicht auch alle sehen können? Alexander ist zwei. Wir essen in einem Gasthaus, und er hat ein riesiges Glas Wasser. Es rutscht ihm aus der Hand, fällt auf den Boden und zerbricht. Ein Kellner kommt und räumt sehr freundlich, ohne jeden Vorwurf, die Scherben weg, aber Alexander weint. Alle trösten ihn, der Kellner beeilt sich, ihm ein neues Glas Wasser zu bringen. Aber er kann sich nicht beruhigen. Er will kein anderes Wasser haben; er will sein Wasser wiederhaben, das Wasser, das da auf dem Boden liegt. Sein Ansinnen wirkt irrational, es sei denn, man denkt an Heraklit. Die vorplatonischen Philosophen würden ihn verstehen: Er hat einen Augenblick lang Einsicht gehabt in die Bedeutung von Verlust, von Zeit, von Vergänglichkeit. Er will etwas ungeschehen machen, doch das geht nicht. Jede Sekunde ist einmalig, und keine kehrt jemals wieder; »Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen, die Dinge sind, und sie sind nicht.« Wenn ich eine mütterliche Rolle für mich suche, dann orientiere ich mich am Berufsbild der Fremdenführerin. Ich kann die Sehenswürdigkeiten zeigen, die Gewohnheiten der Eingeborenen erklären und dolmetschen. Ich kann die Sitten schildern und erläutern, daß manche Verstöße dagegen von den Eingeborenen ganz und gar nicht geschätzt werden. Oft bin ich auch noch Advokatin, die ihren kleinen, viel zu gutgläubigen Mandaten aus diversen Patschen hilft. Meine Pädagogik des Tourismus bewährt sich in kleineren Alltagssituationen. Mein Sohn geht in die erste Klasse. Er macht seine Hausaufgabe, ich sitze neben ihm und lackiere meine Fingernägel lila. Das gefällt ihm; er will, daß ich seine Fingernägel ebenfalls lackiere. Ich will es ihm nicht verwehren, will ihm aber auch nicht verschweigen, daß es dazu eine ausgeprägte gesellschaftliche Meinung gibt: Nagellack tragen üblicherweise nur Mädchen und Frauen. Warum? Darauf gibt es nur eine ethnologische Antwort. Weil die Menschen hier einfach glauben, daß es so sein soll: Es ist ortsüblich.
Anderswo ist das anders, in anderen Ländern schminken sich auch die Männer. In Persien zum Beispiel malen sich viele Männer der älteren Generation die Hand- und Fußflächen mit Henna rot an und verwenden Kajal rund um die Augen. Hier aber wird ein Junge, der mit Nagellack in der Schule erscheint, höchstwahrscheinlich zu hören bekommen, das sei nur für Mädchen. »Na und?« meint mein Sohn schulterzuckend, also lackiere ich ihm experimentell einmal zwei Fingernägel. Am nächsten Nachmittag kehrt er heim, tief beeindruckt von meinen prognostischen Fähigkeiten. Tatsächlich hieß es, Nagellack sei nur für Mädchen. Diesen Hinweis habe er mit seiner momentanen lakonischen Lieblingsantwort »na und?« quittiert. Danach hätten sich die anderen Jungen die Fingernägel mit Filzstift angemalt. Nicht jede Regel läßt sich so schmerzlos brechen, das weiß ich. Aber der Grundsatz gilt eigentlich immer: Ich kann Information anbieten und dazu noch meine persönliche Meinung. Ihr Leben bestimmen, für ihre Entscheidungen geradestehen und die Konsequenzen ausbaden müssen unsere Kinder letztendlich selber. »Die psychische Struktur«, schreibt der Sozialpsychologe Lloyd de Mause, »muß durch den engen Kanal der Kindheit gelangen. Deswegen sind, wenn wir eine Kultur verstehen wollen, ihre Methoden der Kindererziehung nicht nur ein Aspekt unter vielen. Sie sind die Voraussetzung für die Weitergabe und Entfaltung aller anderen kulturellen Elemente. Sie setzen dem, was diese Kultur erreichen kann, feste Schranken.«[2]
Sexismus ist auch ein »kulturelles Element«. Seine Fortsetzung verlangt nicht wirklich einen starken Mann, sondern eigentlich einen ängstlichen, einen angepaßten, einen, der nicht zu viele Fragen stellt und nicht nachdenkt. Insofern sehe ich keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Erziehungsziel für Töchter und für Söhne. Töchter wollen wir stark machen. Aber Söhne müssen wir auch stark machen. Nur wenn sie stark sind, können sie anders denken, selber denken.

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Tochter Laura, 7 und Sohn Rafael, 5

An einem kalten Februarmorgen spaziere ich mit meiner einjährigen Tochter Laura quer durch den Wiener Volksiarten zum Krankenhaus.Wenige Stunden später gehen wir denselben Weg zurück. Mittlerweile wissen wir, daß unser vorwiegend weiblicher Haushalt im August einen kleinen Buben beheimaten wird. Mein Arzt ist bei der Mitteilung des Testergebnisses in aufgeräumter Stimmung. Die Kombination feministische Mutter und Sohn ist für ihn Anlaß für eine Reihe von humoristischen Anmerkungen wie zum Beispiel: »Sie können jetzt mit der Veränderung der Männer bei der Stunde Null anfangen.« Die Mutterschaft ist insgesamt noch eine sehr kurze, neue Lebensphase für mich. Ich sehe viele Dinge des Alltags, die ich früher in die Kategorie Banalitäten eingereiht hätte, unter einem neuen Blickwinkel. Die faltbaren Buggies lerne ich hassen, sie klemmen ewig, sie sind nicht sehr stabil dafür aber teuer, was leider ins Gewicht fällt, da ein aufgewecktes Kind wahrscheinlich mindestens zwei Modelle verbrauchen wird. Bei einem Einkauf treffe ich einen bekannten Kinderpsychologen.
Sein mißbilligender Blick fällt auf den friedlich schlummernden Säugling im Kinderwagen. »Wie kannst du dein Kind in diesem Gefährt liegen haben«, poltert er los. »Ich bin ein alter Mann, aber stark genug, um das Kleine quer durch die Stadt zu tragen!« Sein Blick streift allerdings nicht das vollgestopfte Lebensmittelsackerl, das im Gepäckgitter des Kinderwagens deponiert ist. Diese Szene wirft ein interessantes Licht auf die Konstellation: Mutter, die psychologischen Ansprüche an Mutterschaft, die damit verknüpfte Arbeit (Lebensmitteltransport), der männliche Blick auf Frau und Kind - abstrakt und unberührt von den existentiellen Erfordernissen des Alltags. Die Erziehung eines Kindes gestaltet sich wie eine Reise mit unbekanntem Ausgang. Man ist ausgestattet mit einer Unzahl von schriftlichen und mündlichen Informationen, Richtlinien, Anweisungen, Wünschen und Hoffnungen. Fest steht nur der Beginn der Expedition, aber nicht ihr Ausgang.
Als Rafael geboren wird, ist Alice Millers »Drama des begabten Kindes« [3] gerade ein vieldiskutierter Bestseller. Sie beschreibt ihre Analysanden als Menschen, die mit einem Bild einer glücklichen, zufriedenen Kindheit in die Analyse kamen. Diese Menschen müßten eigentlich ein starkes, stabiles Selbstbewußtsein haben, überlegt Miller. Aber das Gegenteil scheint eingetroffen zu sein. Miller sieht die Ursache für nicht positiv verlaufende Erziehungsprozesse in der emotionalen Befindlichkeit der Erziehungspersonen bzw. in deren eigenen frühen narzistischen Störungen. »Je mehr man Einsicht gewinnt in die ungewollte, unbewußte Manipulation der Kinder durch die Eltern, desto weniger bleiben einem Illusionen über die Veränderbarkeit der Welt und die Neurosen-Prophylaxe erhalten.« Diese Sätze stimmen sehr nachdenklich, weil die Vorstellung, ein Kind zu erziehen, nicht loslösbar ist von der eigenen Geschichte, dem eigenen Weltbild. Wieviel kann man aber legitimerweise bevwußt lenken? Welchen Bemühungen liegen unbewußte Motive zugrunde, wo sind die eigenen Schwachstellen und blinden Flecke angesiedelt? Jede Mutter wird bestrebt sein, sensibel und einfühlsam auf den Entwicklungsprozeß ihres Kindes zu reagieren.
Das Leben mit Kindern wirft ein neues Licht auf die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Bestimmte Gefühlsausbrüche, Ungeduld, Eile, bekommen eine neue Dimension, weil sie - wenn sie gegenüber den Kindern auftreten - mit dem Selbstbild einer guten, kompetenten Mutter kollidieren. »Eine Mutter, wie wir sie selbst gebraucht hätten - empathisch und offen, verstehend und verständlich, verfügbar und verwendbar, durchsichtig und klar, ohne unbegreifliche Widersprüche, ohne beängstigende Pequisitenkammer - eine solche Mutter haben wir nicht gehabt, und die kann es ja gar nicht geben, denn jede Mutter hat in sich ein Stück unbewältigter Vergangenheit, das sie dem Kind unbewußt vermittelt. Jede Mutter kann nur da empathisch sein, wo sie von ihrer Kindheit freigeworden ist, und muß unempathisch reagieren, sofern sie durch Verleugnungen ihres Schicksals unsichtbare Ketten trägt.« [4] Wie will ich als Mutter sein? Die Antwort liegt auf der Hand. Tolerant, nicht manipulativ, ein gutes Rollenmodell.
Die Ansprüche der Kinder sind schwierig zu erfüllen, sie wollen alles. Rafael ist drei Jahre alt. Wir sind auf dem Spielplatz, ein Flugzeug fliegt relativ niedrig über unsere Köpfe hinweg. Er springt aufgeregt auf und ruft seinem Freund zu, er soll sofort herkommen. Stolz erzählt er ihm: »Meine Mama kann auch fliegen, gestern war sie dort oben.« Er meint, daß ich am Vortag von einer Flugreise zurückkam. Einerseits ist er begeistert, wenn ich ihm von meinen Reisen erzähle, er fragt auch immer, wie die Kinder an den jeweiligen Orten leben, gleichzeitig möchte er, daß ich immer, jede Minute des Tages, bei ihm bin. In der Straßenbahn deutet meine Tochter fasziniert auf den Fuß einer Inderin im traditionellen Sari. Sie trägt Ringe an ihren Zehen, die Laura völlig faszinieren, sie will mit mir umgehend darüber sprechen, wie schade es doch ist, daß wir Ringe nur an den Fingern tragen. In der Zwischenzeit hat sich Rafael seinem Lieblingsspiel zugewandt: Er versucht die Typen der vorbeifahrenden Autos zu identifizieren. Jeeps und Landrover haben es ihm besonders angetan, er fragt hartnäckig nach, warum sich ein solches Objekt seiner Begierde nicht in unserem Familienbesitz befindet. Ich war keine entschlossene Vertreterin der »Buben spielen mit Puppen«-Fraktion, weil ich selbst klassische Mädchenspiele langweilig fand. Meine Tochter hatte auch mehr Spaß an nicht unbedingt rollenkonformen Aktivitäten, so daß ich sehr überrascht war über die Vehemenz der offensichtlich genetisch determinierten Impulse bei Rafael. Selbst die Kleidungsfrage stellt zeitweise ein Dilemma dar. Unentschlossen hält er sein Lieblingshemd in der Hand und fragt mich, ob Gelb eigentlich eine Mädchenfarbe sei. Ich werde oft gefragt, ob es schwieriger ist, ein Mädchen oder einen Buben zu erziehen. Eine Freundin wünscht sich speziell ein Mädchen, als sie schwanger wird, sie glaubt, sich besser vorstellen zu können, welche Klippen und Fallen man sorgfältig umschiffen muß, um ein selbstbewußtes und starkes Mädchen zu erziehen. Identifikation und Intimität scheinen, an der Oberfläche betrachtet und schon allein aufgrund der eigenen Lebensgeschichte, mit einer Tochter leichter, selbstverständlicher, wenn auch konflikthafter realisierbar.
Das Wort »Erziehung« weckt bei vielen von uns nicht unbedingt positive Assoziationen. Ich bin zwar mit einer resoluten Großmutter, einer ambitionierten Mutter und einem milden Vater aufgewachsen, die mich in meinen Bestrebungen nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit nie einschränkten, trotzdem waren die Botschaften meiner Umwelt in den späten fünfziger Jahren sehr gemischt. Selbst in unserer Klasse verlief zwischen den Buben und den Mädchen eine unsichtbare Demarkationslinie. Schlechte scliulische Leistungen wurden bei Buben und Mädchen deutlich anders bewertet, Buben wurden viel stärker unter Druck gesetzt, den Anforderungen zu entsprechen, sie saßen schon in ihren adoleszenten ahren als kleine prospektive Familienerhalter in den Bänken, während es für Mädchen, deren Leistungen zu wünschen übrig ließen, noch den halb ehrenhaften Absprung in die »Knödelakademie« gab (ein hauswirtschaftlich orientiertes Gymnasium). Ich glaube, daß heute vieles für Mädchen leichter geworden ist - trotz aller Ungerechtigkeiten und fortdauernden Diskriminierungen.
Die meisten Einschränkungen im Sozialisationsprozeß sind relativiert worden, Mädchen werden sportlich genauso gefördert wie Buben, sie kleiden sich viel bewegungsfreundlicher als die früheren Mädchengenerationen. Buben hingegen sind oft in einem Dilemma: Die alten Spiele machen ihnen noch ungeheuren Spaß, aber die meisten klassischen Mädchenspiele langweilen sie und sind ihnen eigentlich nicht zuzumuten, weil sie objektiv langweilig sind und sich die Mädchen auch teilweise davon abzusetzen beginnen. Natürlich haben zum Beispiel trotz meines anfänglichen Widerstandes auch bei uns die Barbiepuppen Einzug ins Kinderzimmer gehalten, natürlich bekam Rafael die männliche Version, einen gewissen Ken, geschenkt. Nach kurzer Zeit wurde die kleinen Plastikungeheuer aus ihrer adretten BarbieStube entfernt und von den Kindern »operiert«. Heute liegen sie in einem Korb aufgehäuft, der ein Hospital darstellen soll, während Laura und Rafael lieber in den Prater Baseballspielen gehen.
Der Individualpsychologe Alfred Adler hat den Begriff »Gemeinschaftsgefühl« ins Zentrum seiner analytischen Betrachtung zur Sozialisationstheorie und menschlichen Entwicklung gestellt, und die Realisierung dieses Begriffs scheint mir absolut essentiell für die Sozialisierung der zukünftigen Männer zu sein. Wenn man den Beschwerden der Frauen zuhört, drehen sich diese in konzentrischen Kreisen um den mangelnden Kooperationswillen und die nicht vorhandene Orientierung auf die Gemeinschaft seitens der Männer, sowohl auf der Ebene der Familie als auch der Gesellschaft. »Auf der Suche nach den Wurzeln des Gemeinschaftsgefühls, die Möglichkeit einer Entwicklung desselben beim Menschen vorausgesetzt, stoßen wir sofort auf die Mutter als den ersten wichtigsten Führer. (... ) Der Vater, die anderen Kinder, Verwandte und Nachbarn haben dieses Werk der Kooperation zu fördern, indem sie das Kind zu einem gleichberechtigten Mitarbeiter zum Mitmenschen anleiten.« [5] Kooperation und Gemeinschaftsorientierung als Erziehungswerte und -prinzipien sind zentraler Teil der Lebensgestaltung von Müttern gemeinsam mit ihren Kindern.
Die Väter werden noch sehr daran arbeiten müssen, um ihr männliches Rollenbild nicht nur physisch zu verkörpern, sondern endlich mit Inhalten zu füllen. Und es scheint kein anderer Weg dorthin zu führen als über direktes Sprechen. Ein kleiner Ausflug in einen japanischen Forschungsbericht zum Verhältnis von Teenagern zu ihren Vätern macht die Dringlichkeit dieser Forderung deutlich: Über die Hälfte der 13- und 14jährigen geben an, daß ihre Väter »nie« mit ihnen sprechen.