Kindheit und Jugend

Das von der State Historical Society of Wisconsin verwahrte Material setzt ungefähr um die Zeit der Anneke-Verehelichung ein. Aus früheren Tagen sind nur vereinzelte Briefe und Dokumente erhalten. Lediglich eine unvollendete Autobiographie, die Mathilde Franziska Anneke auf Drängen ihrer Freundin, der amerikanischen Dichterin Mary Booth, in der Schweiz schrieb, ist in der Anneke-Sammlung vorhanden. In dem an die Freundin gerichteten Vorwort sagt sie: Das Buch der Vergangenheit willst Du aufgeschlagen haben, meines wechselvollen Lebens Buch! Nimm es hin, wie Du es willst ...Im Angesicht der ewigen Alpen, die morgen vielleicht wieder in ihrem reinen, weißfunkelnden Glanze in meine stille Zelle blicken, schreibe ich nieder, was ich durchlebt und durchweint habe... Für Dich allein ist es, Mary. Diese Autobiographie umfaßt nur ihre ersten drei Lebensjahre. Schon das dritte Kapitel, »Frühling«, das wohl die Jugendzeit auf Blankenstein beschreiben sollte, endet bereits nach dem ersten Satz. Kindheitserinnerungen und ihre Verbundenheit mit Blankenstein stellt Mathilde Anneke in ihrem Aufsatz »Eine Reise im Mai 1843«[1] dar. Wilhelm Schulte ist es gelungen, mehr Material über die Familie Giesler und über Mathildes erste Ehe zusammenzutragen. Seine ausführliche Darstellung, auf die ich mich für diesen Abschnitt zum Teil stütze, beruft sich auf westfälisches Quellenmaterial.[2] Kurz zusammengefaßt ergibt sich aus den Unterlagen die folgende Entwicklung: Mathilde Franziska wurde am 3. April 1817 als Tochter des Domänenrates Karl Giesler auf dem Gut ihres Großvaters zu Leveringhausen, nahe Blankenstein in Westfalen, geboren. Ihr Großvater war nicht adeliger Herkunft, doch muß er ein angesehener Mann gewesen sein, der mit bedeutenden Persönlichkeiten Umgang pflegte. Die Familie war zum Beispiel mit dem Freiherrn vom Stein freundschaftlich verbunden, auf dessen Gut Cappenberg Mathilde oft fröhliche Stunden verbrachte. Der Freiherr war der Taufpate  ihres Vaters. In der Anneke-Sammlung befindet sich ein Brief des  Freiherrn an den »Hochedelgeborenen Herrn Franz Giesler zu Leveringhausen«, in dem der Großvater Giesler zur Geburt seines Sohnes (Mathildes Vater) beglückwünscht wird. Mathildes Mutter, Elisabeth Hülswitt, war eine außerordentliche Frau, die ihrer Tochter ein stets geliebtes und verehrtes Vorbild blieb. In einer ihrer Erzählungen, »Als der Großvater die Großmutter nahm«, stellt Mathilde Anneke die kraftvolle Persönlichkeit ihres Großvaters und die romantische Liebesgeschichte ihrer Eltern dar.

Hauptsächlich für ihre Kinder geschrieben, liefert Mathilde damit ein poetisches Bild jener Zeit, der Sitten und Gebräuche, des beschaulichen Daseins auf Leveringhausen sowie auf Gut Cappenbergbeim Freiherrn vom Stein und von dem turbulenten Leben während der Freiheitskriege, in denen ihr Vater verwundet worden war. Sowohl in ihrer Autobiographie als auch in dieser Geschichte verwendet Mathilde den Namen ihrer Geburtsstätte in der modernisierten Form »Lerchenhausen«, welche in Wirklichkeit nie gebraucht worden ist.[3]
Um 1820 übersiedelte die Familie an die Ruhr, nach Blankenstein, wo ihr Vater Domänen-Direktor der königlich-preußischen Güter war. Mathilde Franziskas Erziehung besorgte ein Privatlehrer. Überdies wurde sie durch den gebildeten Freundeskreis des Elternhauses zu ausgiebigem Lesen angeregt. So erhielt sie zum Beispiel von einem Prinzen ein Exemplar des Cid. Neben ihrer lebhaften Phantasie besaß sie eine außergewöhnliche Merkfähigkeit. In späteren Jahren las sie als Lehrerin ihren Schülern die Fridtjhofsaga vor und deklamierte dann frei die Übersetzung, die sie als elfjähriges Kind gelesen hatte.[4] Über Blankenstein spricht sie sich wiederholt enthusiastisch aus. Es bot den Reiz einer Umgebung, die dem lebensfrohen, naturverbundenen Kind eine ungehinderte Entwicklung gewährte. Als sie nach etwa vierzig Jahren die Gegend wieder besuchte, berichtet sie: Wohin ich zuletzt in meiner Heimat auch kam, jedermann gedachte meiner auf der kleinen Isabella (ihrem Pferd, d. Verf.), die Maid von Blankenstein, mit dem Silberpfeil im Haar, wie ich durch Felder und Wälder gezogen kam und so recht lieb gewesen sei. (Brief vom 20. 12. 1863)

Unvollendete Autobiographie:

1. LERCHENHAUSEN
Der wechsel-und wundervolle Monat April trug mich ins Leben. Ob er als wüster Unhold oder als lächelnder Frühlingsbote sich angetan hatte oder gar im Tränenmantel erschien - ich weiß es nicht, ist mir erzählt worden, daß es gerade Mittag zwölf Uhr geschlagen hatte und die Tafel meines Großvaters mit grünen Pfannkuchen, wie es in der Osterwoche und noch dazu am Gründonnerstage meiner Heimat ist, besetzt war - als ich meiner sehr jungen, wunderschönen Mutter, meinem heiteren Vater und der Welt geschenkt wurde. Ich wurde in einem großen alten Familiensaal auf dem Gute meiner Großeltern geboren und, ein braunlockiges Mägdlein, in den Buchenhainen desselben dem jungen Frühling entgegengetragen
Meine ersten Reisen in die benachbarten Dörfer und Gehöfte machte ich zu Pferde, vor dem Vater auf dem Sattelknopf sitzend, und meine 
nächsten »Weltreisen« - so möchte ich sie nennen - in der Kiepe auf dem Rücken unseres edlen Johanns. Johann war ein Allerweltsmann, wie mein Großvater sich auszudrücken pflegte» der Rat in allen Dingen wußte. Eines Tages, als mein Großvater, der ein ungemein galanter Ritter gegen seine liebenswürdige Schwiegertochter war, meine Mutter zu einer Exkursion zu Pferde einlud, erklärte sie, daß sie ohne ihr kleines zweiundeinhalbjähriges Töchterlein - das war ich - das Haus nicht verlassen, daß sie aber noch weniger - wie mein Vater, mich vor sich aufs Pferd nehmen könne. Das schwierige Problem, wie mich mitzubekommen, ward gar bald durch den Scharfsinn Johanns gelöst. Er hatte seine Kiepe, einen aus Weiden geflochtenen korbähnlichen Behälter, auf den Rücken geschnallt, einen kleinen Schemel darin angebracht, auf welchem ich einen Sitz , besser als auf einem Königsthron, bekam. Mit Polstern und Kissen umgeben saß ich darin und schaute in die schöne Welt hinaus. Ich jauchzte vor Lust, und Johann pfiff sein Liedchen und schritt mit seiner leichten Bürde fürbaß. Großvater und Mutter folgten auf ihren stolzen Rossen in gewisser Entfernung und ergötzten sich über Johanns, des Allerweltmanns praktischen Einfall- Meine zwei Meilen weite Reise in dieser originellen »porte chaise«, meine Beobachtungen auf dem Wege, der durch ein freundliches Gelände, Tal und niederes Gebüsch abwechselnd führte, sind meinem jugendlichen Gedächtnis so eingeprägt, daß ich sie nie vergessen werde.
So erwachte ich unter glücklichen Umständen zum ersten fröhlichen Bewußtsein an meines Großvaters gesegnetem Herd, an dem mein Vater, der der einzige Sohn meines Großvaters war, sich nach seiner Heirat mit meiner Mutter niedergelassen hatte. Dieses glückliche Ereignis, die Heirat nämlich, fiel in das unglückliche Regenjahr, dem das Hungerjahr von 1817 folgte. Das junge Ehepaar, dem nur die Rosen des Lebens zugelächelt hatten, sollte - so wollte das gütige Geschick und der noch gütigere Großpapa es - die Flitterwochen seines jungen Glücks in der härm- und sorgenlosesten Weise von der Welt genießen. Es sollte die Füße unter die wohlbesetzten Tafeln des reichen großväterlichen Hauses setzen und sich von Krieg und Hungersnot nicht anfechten lassen. Der vielgeliebte Sohn konnte sich an der Seite seines jungen schönen heimgeführten Weibes für die Heldentaten, die er, ein Eisenritter, in den Jahren 14, 15 und 16 gegen Napoleon Bonaparte verübte, belohnen und von den Strapazen dieses Feldzuges, die er als freiwilliger Jägersmann zu Pferde mitgefochten, in einem müßigen Dolce far niente solange, als es ihm beliebte, ausruhen. Der Großvater lebte an der Seite seiner liebenswürdigen Schwiegertochter, die er fast mehr noch als sein eigenes Kind liebte, seinen zweiten Frühling aus und hatte sich und den Seinen, so weit es der Hungerschrei der Zeit erlaubte, einen Himmel auf Erden geschaffen. Obwohl meine Geburt nun mitten in das Hungerjahr 1817 fiel, so bin ich doch glücklich genug, nichts von den Schrecken desselben anders als vom Hörensagen erzählen zu können.
Lerchenhausen liegt in einer wilden Gegend. Die Wälder ringsumher waren die Hinterhalte des Schinderhannes und Rinaldinos des angrenzenden reichen bergischen Landes. Sie waren die Heimat der gefürchteten »Knüppelrussen«, die sich in den sogenannten Freiheitskriegen dem bedrängten König von Preußen in wohlgeordneten Scharen, mit Knüppeln als einziger Waffe versehen, anboten und sich verbindlich machten, den großen Napoleon mit dem kleinen Hütchen, mit Haut und Haaren aufzufressen. In dieser Gegend war es auch, in der die gefürchteten »Brothusaren« auftauchten, und zwar in Banden von fünfzig und hundert Männern, alle mit Kohle schwarz gefärbt und mit Stöcken oder Knüppeln, gleich den Knüppelrussen, bewehrt.  Sie fielen bei Nacht und  Nebel über die königlichen Magazine her, die noch Korn in Hülle und Fülle aufspeicherten und das hungernde Volk mit dem süßen Bewußtsein, daß vor dem Todhungern gesorgt sei, abspeisten und damit die königliche Vaterhuld offenbarten. Sie zogen regelmäßig jede Nacht aus und setzten alles in Schrecken, was sich noch zu sättigen wagen durfte. In meines Großvaters Haus war man gesichert vor den Überfällen der »Brothusaren«, denn abgesehen davon, daß an dessen Türen mitgegeben wurde, solange noch Vorrat da war, hatte der alte menschenfreundliche Mann außerdem noch große Sorge getragen, fremdländisches Korn (ich weiß nicht, woher) herbeizuschaffen, um die Not der Armen in jeder Weise zu lindern.
Nach dieser schweren Zeit der Not und, nachdem ich beinahe mein drittes Lebensjahr erreicht, führte ein selbständiger Beruf meines Vaters uns fort von Großvaters Herd. Mir war es daher nur noch vergönnt, als kleiner ungebetener Gast wochenlang zu Besuch auf Lerchenhausen zu sein. Die freie Ungebundenheit in dem großen Gebäude hier, die unzählig vielen Hof- und Haustiere, der hübsche Garten mit den Terrassen und verschiedenen sonstigen Anlagen, die mannigfachen herrlichen Blumen und Obstarten, vor allem aber der unmittelbar daran stoßende tiefe, tiefe Buchen-, Eichenwald, in welchem der Jäger des Hauses die vielen Vögel und Hasen schoß und in welchem der Vogelherd war, auf dem die Krammetsvögel mit einem Schlag gefangen wurden - alles das hatte einen solchen Reiz für meine jugendliche Phantasie, daß ich mir mein ganzes Leben lang Lerchenhausen wie ein Zauberreich vorstellen muß.

2. DER HIRTENBUB
»Helon, helon«, tönte das Echo im Walde, und hilf Himmel, wenn die Lisbeth bei diesem Frühruf des Hirten nicht fertig werden konnte mit meiner kleinen Toilette und besonders mit dem Ordnen meines schweren Lockenhaares. Helon! Helon! »Mache doch hurtig sonst verspäte ich mich und der Hirtenjunge geht allein in die Felder und Wälder und läßt mich zu Hause!« Da gab's oft Tränen und ich mußte Haare lassen, um nur fort, der Herde nachzukommen. Gewöhnlich war es um die Herbstzeit, wenn es in die Stoppeln ging. Der Nebel lag wie ein weißes, dichtes Flortuch über die Gegend gebreitet. Kühe, Schweine, Kälber, Schafe und Ziegen folgten wie eine »happy family« dem Signal des Hirten, und auch ich folgte dem melodischen Helon des Knaben, der ungesehen vor uns im Nebel voranschritt. Nie wird das Echo dieses Tones aus meiner Seele schwinden, und alle Lieder, die ich jemals hörte, sind unvergleichbar zu diesem einen, das immer weiter durchs Land, von Tal zu Höhe, von Höhe zu Tal erklang. Die alten Hirten meiner Heimat nämlich verehrten in ihren Hainen eine Göttin, deren Name »Helon« war. Aus grauer Vorzeit hat der Name sich als Gesang bis in unsere Tage erhalten. Und ohne die Bedeutung zu ahnen, rufen die Hirten in ihren klangreichen Melodien das Wort einander zu, bis es endlich als harmonischer Wechselgesang am frühen Morgen durchs ganze Land ertönt.
Wie harmlos glücklich war ich, wenn ich so unter Gesang und Getön des Hirtenhornes Einzug in Feld und Auen hielt. Die Tiere zerstreuten sich und ergaben sich, je  nach  ihren verschiedenen Neigungen, dem Grasen im frisch betauten Kleeacker. Der Hirt schürte die Asche auf dem Opferstein, der noch vom vergangenen Tage glühte, und bald schlug die Flamme des brennenden Reises hoch empor. Meine laute Lust hatte keine Grenzen, und ich tanzte um die Opferflammen im Kreise und klatschte in meine kleinen Händchen, bis die Reiser niedergebrannt und aus der hohen Flamme ein glühendes Feuer geworden war. Dann saß ich still und blickte unverwandt in die dämonische Glut, und der Hirtenknabe saß zur Seite mir und blickte auch hinein und wir beide konnten uns die Schönheit dieser Funken und dieser Strahlen nicht erklären. So saßen wir oft recht lange in metaphysische Meditationen versunken, bis die knisternden Kartoffeln in der glimmenden Asche uns daraus erweckten und zum einfachen Frühmahl einluden. Nichts auf der Welt ist je küstlicher befunden worden als das Gericht der in der Asche gebratenen Kartoffel, zu welcher mir der Hirt den Labetrunk reichte in einer Schale frischgemolkener Ziegenmilch. Die Schale war nichts als eine rohe Scherbe, eine alte römische oder germanische Antiquität, die in einem, auf eben diesem Felde aufgeworfenen Hünengrabe gefunden war und die einst als Aschenkrug der Verwesung gedient haben mochte. Oft brachte ich ganze Tage lang bei Herde und Hirten auf diesem freien Felde zu, das sich bis zum Waldessaum hin erstreckte. Das dicke, dunkel hängende Blatt der Hülskrabbe mit seinen Stachelzacken, das das Waldesgrün so verschönte und dem zarten Licht des weichen Laubes den ersten Schatten verlieh, die Efeuranke, das Moos und die Buchen, woraus mir der Hirt die Körbchen flocht, das glimmende Feuer mit seinen Schätzen in der Asche und endlich der Hirt und die Herde selbst bewahrten mich vor einer anderen Sehnsucht. Diese Welt war genug, mich zu erfreuen, tage- und wochenlang. Einstmals bei einer Abendheimkehr erreichte mich ein Mißgeschick. Unser Weg führte über einen Graben, über welchem ein schwankender Steg lag. Beim Beschreiten desselben, gerade als der Hirt in sein Horn stieß und zum letzten Abendgesang sein melodisches Helon anstimmte, verlor ich das Gleichgewicht und plumpste hinein ins Wasser, das für meine kleine Gestalt tief genug war, um mich zu ersäufen. Ein solches Finale des Hirtenliedes hatte ich mir nicht träumen lassen. Dem armen Buben und seinem edlen Schäferhündchen gelang es erst nach mühsamen Anstrengungen, mich lebendig herauszuziehen und mich hurtig an den wärmenden Kochherd in Großvaters Haus zu bringen. Der Vorfall sollte - so war es mein und des Hirten Beschluß - womöglich verheimlicht werden. Damit das geschehen konnte, war es nötig, daß meine Kleider am Leibe getrocknet wurden. Zwischen dem erglühten Kochherd und dem hochlodernden Herdfeuer saß ich, im wahren Sinn des Wortes still wie ein begossener Pudel, auf einem Stuhl, bis plötzlich Mamsell Jonas, so hieß die Haushälterin auf Lerchenhausen, den kleinen Bach entdeckte, der sich von meinen triefenden Kleidern stromweise auf die Erde ergoß. Diese Entdeckung kam zu früh für die Geheimhaltung meines kleinen Mißgeschicks, aber zu spät, um mich vor einer bedeutenden Erkältung zu schützen. Denn trotzdem, daß ich der kleinen Lisbeth zur Pflege übergeben und mit Fliedertee getränkt in Betten gepackt wurde, trug ich doch einen Husten davon, der mich fast einen halben Sommer und einen ganzen Winter meiner Freiheit beraubte und mich nur selten aus dem Gefängnis meiner Kinderstube im väterlichen Hause zu Blankenstein entrinnen ließ. Die Kinderstube hatte zwar auch ihre mannigfachen Reize, die durch das dem Kinde zugetane Herz meines alten Großtantchens  (einer Tante meiner Mutter) geschickt geordnet und verteilt waren. Schaukelpferd, Bilderbücher, ein lebendiger Dompfaff im Käfig, Spielsachen allerlei Art - Puppen waren davon für mich ausgenommen - und besonders eine freie Aussicht auf ein weites, wogendes Kornfeld gewährten zwar Abwechslung in der Unterhaltung, genügten aber keineswegs meinem unbändigen Sinn, der sich rastlos in die Weite sehnte.  Im Winter war es zunächst die glatte Eisfläche, die so verführerisch seitwärts von meinem Fenster herüberspiegelte, aut deren glatten Bahnen ich ein vollständiges Wettrennen unternahm mit dem gerade nicht steifen Diener, der mich einzufangen nachgeschickt worden war. Dem Weihnachtskindchen gelang es auch eine kurze Zeit, mich wieder ans Haus zu fesseln. Der Duft der Fichten, der mit ihm ins Haus zog, und vor allem das süße Geheimnis, von wannen es kommen und woher es stamme, bannte mich für eine Weile an die verschlossene Türe des Salons, wo das Bäumchen aufgepflanzt wurde. Die Zweifel stiegen zwar nicht selten auf, an das ätherische Christkindchen, das seinen Weg durchs Schlüsselloch nehmen und seine beschwerliche Winterreise zu all den armen Kindlein in der ganzen Welt im weißen goldbrokatenen Kleide auf dem beflügelten Schimmel machen sollte. Aber wenn endlich doch der ersehnte Abend kam, die Klingel ertönte und die großen Flügeltüren sich öffneten und all den zauberischen Glanz erscheinen ließen, dann machte mein kleines Herz dem skeptischen Koptcne solche Gedanken zum argen Vorwurf, und von neuem bekannte ich mich zu dem Glauben, daß dies Bäumchen doch nur im Himmel gewachsen sein könne. Als aber der rohe Jägersmann später einmal im Walde zu Lerchenhausen mir den Wurzelstumpf in der Gruppe üppig wachsender junger Tannen und Fichten zeigte und mürrisch bemerkte, daß er den schönsten Baum daraus zu dem »dummen Christkindwitz« habe abschneiden müssen, da war das Märchen allen Zaubers entkleidet, und wütend sprang ich auf ihn zu und schlug mit dem geballten Händchen auf ihn los und schrie: Du hättest mir das auch nicht zu sagen brauchen!

3. FRÜHLING

Einen schönern, ja einen andern Frühling kaum, kann es nirgendwo geben als auf Blankenstein.

Fast zwanzig Jahre später kam Mathilde wieder nach Blankenstein, als sie eine größere, ihre erste Reise ins Ausland machte. In ihrem Westfälischen Jahrbuch von 1846 schreibt sie darüber:

Also hinaus aus meinem poetischen Stilleben, ich, die ich niemals über die nächste Grenze geschritten bin; hinaus über die Borkenberge, die unser stilles Westfalenland westlich begrenzen und die ich mit Schweigen als die Hügel der in diesem Sandmeere gefallenen Römer überschreite. Von dem Lande, das hinter diesen braunen Wällen liegt, kenne ich nur meine Heimat, mein Ruhrtal, mein Blankenstein! Daß es da weiter hinaus noch andere Länder geben könne, so schön und so reich, wollte mir einstmals ganz fabelhaft bedünken...
Zunächst soll ich nun meine Heimat wiedersehen, ich soll die Eindrücke, die sie des Kindes Seele gegeben hat, mir noch einmal wieder tief einprägen, ich soll sie mit mir tragen hin zu den gewaltigen Denkmälern riesiger Größe und unermeßlichen Reichtums, ich soll des Kindes Begriffe mit meinen jetzigen in diesem bedeutenden Kontraste vergleichen ...
In stiller Abenddämmerung, in heiliger Sonnabendfeier habe ich Dich erreicht, liebliches Blankenstein, Eldorado meiner glücklichen Kindheit, Ziel meiner träumerisch-dichtenden Sehnsucht...
Ich trat ein in das arme, reinliche Kirchlein, darin ich oft wohl als Kind meine kleinen Händchen gefaltet und gewiß hurtig, aber doch innig... gebetet; darin ich meine mädchenhaften und bräutlichen Wünsche und Hoffnungen vor Gott gestammelt und ihm sie dargebracht habe; darin - doch nein, schweigen, schweigen, wenn es im Herzen so laut spricht, so laut, und wenige es dennoch verstehen; drum schweigen will ich und im Stillen den heutigen Jahrestag feiern, der mich tief bewegt...
Ich sank nieder und betete. Es währte noch lange, ehe der Dienst begann, und wenige saßen zerstreut in den Bänken. Sie alle, unter denen ich einstmals gespielt, unter deren Augen ich aufgewachsen, sie ahnten wohl nicht, daß heute ein ernstes Gebet mit ihnen zu Gott gesandt wurde, ein Gebet aus einer Brust, die einstmals hier so leicht in kindlichem Glück sich bewegte . ..
Noch einmal den Segen hier zu empfangen - das war mir nun vergönnt. Er fiel mir ins offene Herz . ..
Zur Ruine Blankenstein lenkte ich meine einsamen Schritte. In des hohen Turmes schaurig niedriger Kammer wohnte ja meine alte Burgfrau, die mir so viele Märchen erzählt hatte... leer, leer, die Burgkammer - wüst und brach das Blumengärtlein, das in seiner stillen festen Umfriedung von Steinen da blühte und einstmals, gewiß in gleicher Gestalt, eines Burgfräuleins Kämmerlein gewesen. Jetzt alles wüst und leer, und ach, der guten Alten tiefe gewölbte Kammer, die damals Fleiß und Ordnung so säuberlich gehalten, wie war sie jetzt?...
Glück auf. Noch einmal Glück auf, Dir meinem Blankensteine!
Mir selber auch hier zuerst wieder ein »Glück auf.« im neuen Sonnenlichte, das so lieblich durch schwere Wolken anbricht, die beim Scheiden von meinem Jugendorte mit mir gezogen und dunke und trübe über mir verhängt geblieben*...[5]

(* In poetischer Umschreibung bezieht sich Mathilde Franziska hier auf ihre unglückliche erste Ehe.)

Von Blankenstein zog die Familie in die Stadt, nach Hattingen. Die Übersiedlung hing wohl mit dem Zusammenbruch der Familienfinanzen zusammen. Ihr Vater hatte durch mißglückte Spekulationen in Bergwerken der Grafschaft Mark, durch ein verfehltes Projekt (Anlage einer Eisenbahn zur Kohlenförderung) einen Teil seines ziemlich beträchtlichen Vermögens verloren6. Die Folgen seines Mißgeschicks muiste auch die Familie tragen. Während Mathilde, um diese Zeit schon fast erwachsen, noch in Wohlstand und mit sorgfältiger Erziehung aufgewachsen war, mußte der Vater nun sich, seine Frau und sechs noch unversorgte jüngere Geschwister vom Ackerbau ernähren, was »bei der größten Sparsamkeit kaum für die zahlreiche Familie hinreichte«. 1836 heiratete Mathilde den begüterten Alfred von Tabouillot. Wilhelm Schulte nimmt an, daß zu dieser verhängnisvollen Verbindung wohl der Ruin des Elternhauses [7] beigetragen habe. Dem ist nicht zuzustimmen. Mathilde scheint ihren ersten Gatten geliebt zu haben, was Gedichte, Briefstellen und ihre Reminiszenzen aus Blankenstein, die sie in ihrem Westfälischen Jahrbuch [8] veröffentlichte, vermuten lassen. Ebenso deutet darauf auch ihre Besprechung von Louise Astons Roman in ihrer Schrift »Das Weib im Conflictmitden socialen Verhältnissen«[9] hin. Obwohl es sich dabei um eine Streitschrift zur Verteidigung Louise Astons handelt, verurteilt sie diese, weil sie sich dem ungeliebten Manne hingegeben habe. Das läßt darauf schließen, daß Mathilde nicht eine der damals üblichen Versorgungsehen eingegangen ist. 1843 kam es dennoch zur Scheidung. »Fanny«, das Kind aus dieser Ehe, geboren am 27. November 1837, wurde Mathilde zugesprochen. Der Prozeß erregte Aufsehen und wurde in der Presse reichlich kommentiert. Repräsentativ für das Verhalten der Gesellschaft kann das gelten, was Annette von Droste-Hülshoff in ihren Briefen über Mathilde sagt: Mama hat die Tabouillot sehr hübsch gefunden ...hat freundlich mit ihr gesprochen, sie aber nicht eingeladen und sagte mir nachher, die Tabouillot scheine ihr eine gute, unschuldige Frau, aber sehr genant, und ich möge ihr lieber aus dem Wege gehen. Mir ist's ganz recht...[10] Diese Reaktion ist typisch für die Gesellschaft nicht nur jener Zeit. Mathilde war eine geschiedene Frau und als solche »genant«. Nichts änderte daran die Tatsache, daß sie im Scheidungsprozeß für schuldlos befunden worden war, daß ihr daher das Kind dieser Ehe zugesprochen und die Familie Tabouillot in zwei Instanzen zur Zahlung einer Abfindung von monatlich acht Talern an Mathilde verurteilt worden war. Der schuldige Mann blieb gesellschaftsfähig, die unschuldige Frau wurde als »genant« geächtet. Nach der Scheidung ihrer Ehe konnte Mathilde Franziska nicht auf die Hilfe ihrer Eltern rechnen. Sie nützte daher ihr schriftstellerisches Talent und wurde Journalistin.
Trotz der Almanache, die sie redigierte, trotz der erfolgreichen Aufführung eines von ihr verfaßten Theaterstücks, trotz vieler Artikel und Feuilletons - es war ein kümmerliches Dasein, das sie führen mußte. Lange blieb diese bittere Erfahrung in ihrer Erinnerung und kam viele Jahre später in einem Brief vom 4. Dezember 1861 zum Ausdruck: ...es beschleicht mich wieder jenes Gefühl einer unterdrückten Taglöhnerin, das ich in so reichlichem Maße empfunden, als ich nur von diesem Lohn mein und meines Kindes Leben fristete. Befremdend klingt die lieblose Haltung aus einem Droste-Brief:
Ich bin gewiß, die Tabouillot würde mich ganz aussaugen an Beutel, Geist und Körper. Sie ist nämlich blutarm und muß sich und ihr Kind allein mit Schriftstellern ernähren. Bis jetzt hat sie die Kost (ich glaube auch die Wohnung) hei ihrer Herzensfreundin Klementine Amelunxen eigentlich umsonst, d. h. für einen Silbergroschen per Tag... und die arme Klementine liegt ohne Hoffnung an der Schwindsucht, vor vier Wochen erwartete man täglich ihren Tod. Du siehst, wohin eine Bekanntschaft mich führen würde.
Später hatte Mathilde Gelegenheit, bei einem Onkel Unterhalt zu finden. Wieder erfahren wir dies aus einem Droste-Brief: Sage Maman doch, die Tabouillot sei vorläufig aus Münster fort, in Düsseldorf (oder Elberfeld) mit ihrem Kinde zu Besuch bei einem sehr reichen und sehr von ihr eingenommenen Onkel, einem Kaufmann, bei dem sie förmlich das Amt eines Rechnungsführers verwaltet. Rosine schien mir sehr froh darüber und voll Hoffnung, daß sie nun ganz dort bleiben würde. Icn glaube, ihr ist schon länger bei dieserpauvren Dichterfreundschaft etwas bänglich geworden, besonders da Bernardine jetzt so leicht zu mißbrauchen ist.[12] Das bewußt Abfällige, das aus den Zeilen spricht, wirft ein ungünstiges Bild eher aut die Schreiberin selbst als auf Mathilde, die auch in anderen Droste-Briefen übel wegkommt. Fast klingt es wie Neid aus jenen Briefen, und man fragt erstaunt, warum eine Droste, die das Schicksal in jeder Beziehung so viel freundlicher bedacht hatte, solche Gefühle gegenüber einer armen, sich mühsam durchs Leben ringenden Frau empfinden sollte.
Vielleicht handelt es sich um jenes Symptom, das erst in unseren Tagen so offen und klar gedeutet worden ist:

Wäre es nur die männliche Kritik, die wir zu fürchten haben, schreibt eine moderne Amerikanerin, aber jede Frau, die sich einma auf einem Gebiet hervorgetan hat, weiß von der bittersten aller Erfahrungen zu berichten, von dem Mangel an Verständnis, von dem Neid unserer Kolleginnen. Wir sind streng gegen uns selbst und streng gegeneinander. Wir sind wirkungsvoller in unserer zerstörenden Kritik als unsere männlichen Rivalen, weil wir unsere Schwächen nur zu gut kennen. Kein Kritiker ist jemals so brutal in seinem Angriff wie eine Frau der anderen gegenüber, die als Rivalin in Frage kommt, weil sie fürchtet, daß nur eine einzige Frau Platz auf dem Feld finden kann.[13]

Ein  handgeschriebener  Lebenslauf aus jener  Zeit beschreibt, wie und womit Mathilde Franziska versuchte, für sich und ihr Kind den Lebensunterhalt zu verdienen. Die Krankheit ihres Kindes vereitelte den Plan, sich dem Studium zu widmen, wodurch sie Zugang zum Lehrberuf gefunden hätte. Über ihre verzweifelte Lage schreibt sie:
Ich verlor... durch Überhandnehmen des harten Mißgeschicks, als da ist: gänzliche Erlahmung und eine Verkrüppelung meines Kindes durch scrofolöse Krankheitsstoffe, Beinbruch usw. usw. gänzlich Mut und Zeit (die die Pflege meines kranken Kindes Tag und Nacht bedarf) auch nur für das Notdürftigste zu arbeiten ...[14]

Dieser Brief wurde vermutlich in Vorbereitung zu einem Gesuch an den König geschrieben, um eine königliche Gnadenpension zu erhalten. Mathilde Franziska hatte sich in ihrer Verzweiflung an den Regierungsassessor Kühnast in Münster gewandt, der ihr anscheinend diese Möglichkeit eröffnet hatte: ... denn nicht etwa allein, daß die naher gebrachte Aussicht auf Hilfe Sr. Majestät in meiner Trübsal mich, in einer Beziehung, getröstet und beruhigt, ist rnir wohltuender viel mehr noch die Teilnahme eines mir fremden Mannes... Niemand sonst erfuhr jemals, was in der Ehe zwischen Mathilde Franziska und dem Herrn vonTabouiüot vorgefallen war. »Die unglückseligen Belege«, die Mathilde Franziska dem Brief beilegte, sind in der Droste-Sammlung nicht vorhanden. Versucht man den Vorgang zu rekonstruieren, so dürfte der Assessor aufgrund der in diesem Brie gelieferten Angaben über Mathildens schriftstellerische Tätigkeit ein Gesuch verfaßt haben und dieses mit den »unglückseligen Belegen« über die Vorfälle in der geschiedenen Ehe an den König eingereicht haben. Damals war es nichts Ungewöhnliches, daß frei schaffende Dichter vom König eine Gnadenpension erhielten. Freiligrath zum Beispiel hatte so eine Unterstützung erhalten. Ob es sich aber für eine Frau ziemte, so frei und selbständig zu existieren, mag dem Konig fragwürdig erschienen sein. Mathilde Franziska wurde jedenfalls einer solchen königlichen Gnade nicht würdig befunden. Mathilde Franziska, geschiedene Tabouilbt, zog sich nun mehr und mehr aus der Gesellschaft zurück und begann neue Freundschaften zu knüpfen, die außerhalb jenes Patnzier-tums zu finden waren, das sie geächtet hatte. Sie schlolS sie nun einem Kreis an, den die erlesene Gesellschaft von Munster als »Libertiner« oder schlichtweg als »Kommunisten« verfemte. Es war dies der »Demokratische Verein«, der sich aus kunst-, musik- und literaturliebenden jungen Intellektuellen zusammensetzte.  Das  Hauptinteresse dieser junge Leute galt aber politischen und sozialen Problemen. Um diese Zeit scheint sie auch in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht an einen Wendepunkt gelangt zu sein, denn in ein früher von ihr verfaßtes Gebetbuch schrieb sie quer über die Seite »von den Göttern, die der Mensch in seiner Not erschuf« und zog damit den Trennungsstrich unter ihre katholische Vergangenheit. Ob es nur die eigenen trüben Erfahrungen waren, die Mathilde hellhörig machten für die sozialen und politischen Mißstände der Zeit und sie jenen Kreisen zuführten, die eine Verbesserung der Zustande anstrebten. Aus späteren Briefen an ihre Mutter ist zu schließen, daß auch diese solchen Ideen zugänglich war und sozialistische Führerpersönlichkeiten wie Ferdinand Lassalle verehrte. Schließlich darf auch nicht vergessen werden, daß Freiherr vom Stein mit Großvater Giesler eng befreundet war, und daß die Sozialreformen des Freiherrn sicherlich zu Diskussionen zwischen beiden Männern geführt hatten. Soziales Denken und Reformbestrebungen gehörten also vermutlich schon zum Gesprächsstoff des Elternhauses.
In ihrem neuen Freundeskreis lernte Mathilde den zukünftigen Gatten ihrer Kusine und besten Freundin, Zischen Rollmann, kennen, den Juristen und späteren Ruhrindustriellen Friedrich (Friede) Hammacher. In seiner Biographie wird von Mathilde gesagt:
Überschwenglich bis ins späteste Alter, scheint sie auf Hammacher besonders durch ihre moderne Auffassung von den Beziehungen der Geschlechter wie durch ihre literarische Tätigkeit und Belesenheit gewirkt zu haben. Es war wohl die erste Frau, die richtunggebend in sein Leben trat, und seiner Braut hat er später bekannt, daß sie ihm erst einen Begriff davon gegeben habe, was Liebe bedeute; Freiligrath, den sie kannte und verehrte, hat er gelesen, Heine, den er in den folgenden Jahren nicht oft genug in seinen Briefen zitieren konnte, hat sie ihm nahegebracht, ihn ... wohl überhaupt erst zu wirklichem literarischen Verständnis und Genuß geführt. Und wenn er sie auch bald kritischer sah und sich seine nüchterne Ruhe gegen ihren Überschwang wehrte im Alter sprach er stets mit größter Verehrung von ihr; in kritischen Jahren hat er ihr später durch freundschaftliche Hilfe seinen Dankgezollt.[15]
Der Mittelpunkt des »Demokratischen Vereins« aber war Fritz Anneke, groß, schlank, blauäugig, mit dunklem und straffer soldatischer Haltung. Sein polizeilicher Brief aus dem Jahr 1848 lautet:
Friedrich Anneke, 30 Jahre alt Lieutnant a. D. und Korrespondent der Kolonia, geb. Dortmund, zuletzt wohnhaft in Köln, 5 Fuß 6 1/2 Zoll groß mit länglichem Gesichte, braunen Haaren, freier Stirn, braunen Augenbrauen, blauen Augen, dicker Nase, gewöhnlichem Munde, spitzem Kinn, braunem Bart, gesunder Gesichtsfarbe und von schlanker Statur.[16]
Er war Offizier des Preußischen Heeres, wurde aber wegen politischer Ansichten, dem  Offiziersstand als  unvereinbar« bezeichnet wurden, 1845 aus dem Militär entlassen.
Der Grund war seine Gesinnung. Er hatte das Duell ein Standesvorurteil genannt und in einem Fall darnach gehandelt; er hatte damit nach dem Urteil des Ehrengerichtes die »Basis des Offiziersstandes verlassen«. Er stand ferner im Ruf kommunistischer Gesinnung. Er habe sie durch zweierlei an den Tag gelegt: durch Verkehr mit bekannten Kommunisten (Zivilisten) und durch Gründung eines Lesevereines, durch den er versucht habe, kommunistische Ideen unter den jungen Offizieren zu verbreiten. Was das Ehrengericht, das über ihn urteilte, unter Kommunisten verstand, müßte erst festgestellt werden ... Man wird annehmen dürfen, daß tatsächlich die Gedanken der demokratischen Bewegung Einfluß auf den Leutnant Anneke gewonnen hatten.[17]
Mathilde und Fritz hatten sich schon früher in Wesel kennengelernt und fanden nun in Münster endgültig zusammen.
Am 3. Juni 1847 feierten sie eine stille, romantische Hochzeit in Neuwied am Rhein. Gleich am nächsten Tage berichtete Mathilde darüber ihrer Freundin Zischen:
Wir vier waren allein in der Kirche mit dem Pastor und dem Küster. Ersterer sprach wenig - etwas Blödsinniges vom Herrgott, etwas Schönes von der Liebe. Ein Wort, das zur Formel gehört, das Wort vom Scheiden donnerte einmal schmerzlich durch meine Seele. Aber als unsere Hände ineinander lagen und er sie mit priesterlichem Wort segnete und Fritz mich mit so heiterem Blick ansah, da war all mein Wehe gelöst.
Das junge Paar zog dann nach Köln, wo Fritz Anneke bei einer Versicherungsgesellschaft eine Anstellung gefunden hatte.