Da dadurch gegen die Gleichberechtigung verstoßen wird,
gibt es einen Streit zwischen Bruder und Schwester.
Im Ausland wird die Lage von Tag zu Tag kritischer. In unserem eigenen Land ist es sogar noch schlimmer, es steht am Rande der Katastrophe und die Regierenden liegen in tiefem Schlaf. Kein Mensch antwortet auf jeglichen Warnruf. Zuletzt haben wir von der Familie Liang gesprochen. Als Stiefmutter und Tochter gemeinsam den Hof ihres Hauses betraten, kamen ihnen ihre Dienerinnen und sonstige weibliche Bedienstete sowie Herr Liang entgegen, um ihnen die Ankunft der Schwester Frau Liangs mit ihrem Sohn und ihrer Tochter anzukündigen. Frau Liang eilte auf das Haus zu, aber da trat ihr schon ihre Schwester mit ihren Kindern entgegen. Sie gingen in den Salon, begrüßten sich und stellten dann einander ihre Kinder vor.
Frau Liang stammte nämlich aus der Familie Guan. Ihr Bruder hieß Guangu. Er befand sich im Süden und wartete, daß eine Stelle für ihn frei würde. Er hatte zwei Kinder, einen Sohn namens Guanrui und eine Tochter Buqun. Frau Liangs Schwester batte einen Mann aus der Familie Bao geheiratet; sie hatte ebenfalls einen Sohn, Ruchen, der zwanzig Jahre alt war, und eine siebzehnjährige Tochter, Aiqun. Leider hatte sie ihren Mann verloren, das war etwa fünf Jahre her, aber sie stammte aus einer wohlhabenden Familie. Die Schwester ihres verstorbenen Mannes hatte einen Angehörigen einer gewissen Familie Zuo geheiratet, der sich jetzt in Shandong befand und ebenfalls auf eine freie Stelle wartete. Die Zuos waren arm und auf die Unterstützung Frau Baos angewiesen. Seit der Abreise ihres Mannes nach Shandong lebte Frau Zuo bei ihren Eltern; sie hatte einen Sohn namens Zuowen und eine Tochter, Xinghua. Sobald er in Shandong angekommen war, schrieb Zuo seiner Frau und seinen Kindern, daß sie nachkommen sollten. Die beiden Schwägerinnen verstanden sich sehr gut, und Frau Bao war es nicht wohl bei dem Gedanken, daß ihre Schwägerin und deren Kinder die Reise in Begleitung eines Bediensteten antreten sollten. Sie beschloß, sie persönlich zu begleiten, und bei der Gelegenheit ihre Schwester zu besuchen. So kam es, daß sie tags zuvor in Shandong eingetroffen und heute hierher gekommen war, um ihren Sohn und ihre Tochter deren Tante vorzustellen. Bei ihrer Ankunft befand sich Frau Liang nun gerade außer Hauses auf Besuch, und Herr Liang hatte eilends jemanden hinterhergeschickt und ließ seiner Frau sagen, daß sie zurückkehren sollte. Endlich wieder vereint, hatten sich die beiden Schwestern viel zu erzählen und waren sehr glücklich.
Frau Bao war ein liebenswürdiger Mensch und sehr großmütig. Sie war anders als ihre Schwester, die sehr leicht reizbar war. Sie waren schon immer in ihrer Art sehr unterschiedlich gewesen. Sobald alle einander vorgestellt worden waren, ging man hinein, setzte sich, und die beiden Schwestern erzählten sich alles, was sie erlebt hatten, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Frau Liang bat ihre Schwester, einige Zeit bei ihr zu bleiben, damit sie sich in aller Ruhe erzählen könnten, was ihnen in dieser ganzen Zeit, die sie getrennt gewesen waren, widerfahren war. Frau Bao gab Anweisung, den Zuos mitzuteilen, daß sie bei ihrer Schwester bleiben würde. Wenig später trafen ihr persönliches Gepäck ein und mit diesem auch Xiurong, eine in vielen Dingen bewanderte Dienerin. Als erst einmal alle Dienerinnen anwesend waren, feierte man das Wiedersehen. Erst um sieben Uhr abends ging das Fest zuende. Die für Frau Bao vorbereiteten Gemächer befanden sich auf der Westseite an einem kleinen Gang.
Die Unterkunft bestand aus drei nebeneinanderliegenden Räumen, an die an den beiden Außenseiten je ein rechteckiges Zimmer mit einem runden Eingangstor grenzten. Nach links war es die Verbindungstür zu den Räumen der Gastgeber, nach rechts ging die Tür ins Freie. Das war eine sehr praktische Anordnung. Frau Bao nahm sich das Zimmer auf der linken Seite, da sie die Ruhe, die dort herrschte, sehr schätzte, ihre Tochter bewohnte das Zimmer am rechten Flügel. Der eine Vorraum wurde von den Dienerinnen Frau Baos bewohnt, den anderen konnte man als Küche für die Zubereitung kleiner Speisen und Getränke benutzen. Der Sohn Liang, der schon älter war, wohnte weiter entfernt im Arbeitszimmer.
Aiqun und Xiaoyu hatten einander viel zu sagen. Sie verstanden sich sehr gut miteinander. Tagsüber gingen sie Hand in Hand im Garten spazieren, abends bewunderten sie, an den Zaun draußen vor dem Fenster gelehnt, den Mond. oder sie übten sich im Lesen und Schreiben. Xiaoyu war sehr intelligent und begabt, sie brauchte nur sehr wenige Erklärungen und begriff sehr schnell. Da Aiqun viel Wissen besaß, unterwies sie Xiaoyu jeden Tag in einem Abschnitt aus einem Buch. Sie waren unzertrennlich geworden, sie konnten sich alles sagen. Als sie eines Tages bei der Frau saßen, die sie frisierte und darüber klagten, wie schnell die Zeit verflog - denn zwei Wochen waren schon vergangen - sagte Aiqun: "Ich habe in der Familie Zuo eine Kusine. Sie heißt Xinghua und ist gerecht, aufrichtig und herzlich. Wir sind gleich alt. Sie ist sehr kräftig gebaut und wenn sie auch nicht sehr lyrisch ist, so schreibt sie doch außergewöhnlich gute Gedichte. Wir haben zusammen gewohnt und studiert, und wir waren immer den ganzen Tag beisammen. Seit zwei Wochen haben wir uns nun nicht mehr gesehen und sie fehlt mir. Sie hat gesagt, sie würde morgen kommen und für einige Zeit hier bei dir bleiben. Ich bin sicher, daß du sie mögen wirst, wenn du sie siehst, denn alles an ihr ist liebenswert. Und wie ist das bei dir, die du nun schon so lange hier lebst, hast du enge Freundinnen?" "Sprich nicht davon," antwortete Xiaoyu, "ich lebe wie ein Affe im Käfig, alles, was ich zu tun und zu lassen habe, wird mir vorgeschrieben. So kommt es gar nicht in Frage, daß ich Freundinnen habe und aus dem Haus gehe. Nur an dem Tag, an dem du angekommen bist, da habe ich sozusagen zum ersten Mal die Schwelle dieses Hauses überschritten. Ich war bei den Huangs, um Frau Huang zu besuchen, und habe deren Tochter kennengelernt. Sobald wir uns gesehen haben, hatten wir das Gefühl, uns schon lange zu kennen und wir haben uns einen Eid geschworen. Sie heißt Jurui, ist sehr freimütig und geradeheraus und man sieht ihrem schönen Gesicht schon ihr edles Gemüt und ihren großen Stolz an. Wenn sie auch nicht gerade die Schönste ist, so hat sie doch schöne Augen, wohlgeformte Augenbrauen, frische Lippen und eine zarte Hautfarbe. Sie ist sehr reizend, aber auch sehr würdevoll. Sie handelt gerecht und ist voller Mitgefühl für alle, die leiden. Bei ihrer Kleidung achtet sie ausschließlich auf Einfachheit. Sie studiert schon seit langem, was für ein junges Mädchen außergewöhnlich ist. Sobald wir uns sahen, schworen wir uns gegenseitigen Beistand. Deshalb mache ich mir Sorgen um sie: schon seit über zehn Tagen habe ich nichts von ihr gehört. Ich habe sie sehr gern, es vergeht kein Tag, an dem ich nicht in Zärtlichkeit an sie denke. Sie kommt nicht und sie schickt niemanden. Und ich habe hier niemandem, dem ich genügend vertraue, um ihn zu ihr zu schicken, damit er mir sagen kann, wie es ihr geht. Ich bin völlig ohnmächtig und richtiggehend am Ersticken." Sie seufzte tief und runzelte sorgenvoll die Stirn. Aiqun nahm sie bei der Hand und tröstete sie: "Was machst du dir Sorgen? Ich werde jemanden zu ihr schicken. Aber ist Frau Liang denn nett? Ist sie nicht wie meine Tante, die dich hier gefangen hält?" Xiaoyu antwortete ihr, daß die beiden Frauen, im Gegenteil, völlig verschieden seien. "Frau Huang ist bescheiden und sehr liebenswürdig. Sie ist nicht so nett wie deine Mutter und auch nicht so nett wie ihre Tochter, aber ich bin sicher, daß sie sich nicht weigern wird, die Person zu empfangen, die du zu ihr schickst." Aiqun sagte kopfschüttelnd, daß sie ihre Mutter bitten wolle, am nächsten Tag jemanden zu Xiaoyus Freundin zu schicken, der Nachricht von ihr überbringen sollte.
Noch am gleichen Abend benachrichtigte Aiqun ihre Mutter, diese war einverstanden und schickte Xiurong, weil diese intelligent, eifrig und zuverlässig war, zu den Huangs.
Sehr früh am nächsten Morgen ließ Xiurong eine Sänfte kommen und brach unverzüglich auf. Als sie nicht mehr weit von der Wohnung der Huangs entfernt war, bemerkte sie, daß vor deren Haus eine gewisse Geschäftigkeit herrschte. Sie sprach an der Tür vor und man forderte sie auf, hereinzukommen. Sie folgte der Frau, die sie hineinführte und kam in den Salon, wo sie Frau Huang vorfand. Diese war sehr beschüftigt, an ihrer Seite waren zwei Frauen, die ihr halfen und die höchst neidisch dreinblickten. Auf dem Tisch lagen Früchte und Süßigkeiten von der Sorte, wie man sie bei einer Hochzeit anbietet, und wenn man genau hinsah, merkte man, daß hier wirklich eine Hochzeit vorbereitet wurde. Fräulein Huang war aber doch noch sehr jung, konnte es sein, daß man sie wirklich schon verheiratete? Gedankenverloren trat Xiurong schnell vor und grüßte sehr respektvoll nach der althergebrachten Sitte.
"Fräulein Liang schickt mich, euch und eurer Tochter ihre Grüße zu überbringen.
Als sie das härte, verharrte Frau Huang einen Moment in Gedanken, dann befahl sie einer ihrer Dienerinnen, Xiurong zu ihrer Tochter zu bringen. Sogleich sagte eine junge Dienerin, sie würde gehen, und Xiurong folgte ihr durch das Haus. Sie hörte, wie die junge Dienerin zu sich selbst sprach: "Ist sie wohl in ihrem Zimmer oder im Lesezimmer, sie ist in den letzten Tagen so bekümmert, daß ich beim kleinsten Irrtum Gefahr laufe, ihre schlechte Laune heraufzubeschwören." Als sie hörte, was die junge Dienerin sagte, fragte Xiurong sie nach ihrem Alter. Die Dienerin der Familie Huang sagte, daß sie elf Jahre alt sei und daß sie Chunxiang hieße. Xiurong fragte sie dann, warum ihre junge Herrin denn bekümmert sei. Immer bereitwillig zu plaudern, sagte Chunxiang zu ihr: "Hört mir nur zu, ich werde es euch ganz genau erzählen. Es gibt da einen sehr reichen Mann namens Xun Baiwan, der sich erst jüngst ein großes Vermögen erworben bat. Dieser hat einen sechzehnjährigen Sohn, der sehr häßlich sein soll. Diese Leute haben von der Schönheit und den Fähigkeiten der jungen Herrin gehört und haben Herrn Wei eigens gebeten, als Vermittler zu wirken. Mein Herr und meine Herrin sind ganz und gar einverstanden, nur Herr Yu benimmt sich sehr seltsam. Er sagt, daß diese Heirat ganz und gar unpassend ist. Die junge Herrin ist sehr betroffen und hat ihrer Mutter Vorwürfe gemacht, aber gerade weil meine Herrin ihre Tochter sehr liebt, hat sie eine reiche Familie ausgewählt. Ihre Mutter hat ihr geantwortet: "Hör auf, dich da hineinzumischen. Die Eltern müssen das entscheiden. Was für eine Unverschämtheit. Hast du noch nie etwas von den drei Geborsamsgeboten gehört?" Seit diesem Augenblick ist die junge Herrin wütend, sie ist von morgens bis abends mürrisch. Zwar studiert sie den ganzen Tag, aber immer wenn ich sie sehe, steht ihr die Unzufriedenheit im Gesicht geschrieben. Ach, dieser verflixte Herr Yu, der sich beschwert und alles durcheinanderbringt, wenn er immer sagt, daß man hier im Begriff ist, eine begabte Frau mit einem Mann zu verheiraten, der ihrer nicht würdig ist! Die Familie Xun ist reich und es ist keine unpassende Verbindung, aber Herr Yu ergeht sich in Schmähungen, ohne zu wissen, wovon er eigentlich redet. Das Schlimmste ist, daß die junge Herrin glaubt, was er sagt. Irgendwo, wo sie keiner sieht, weint sie jeden Tag und ist ganz verzweifelt. Sie ist außer sich vor Zorn, bleibt aber immer unbeweglich wie eine Statue sitzen. Wie kann sie nur so dumm sein, eine Familie wie die Xun nicht zu schätzen zu wissen! Darüber hinaus hat die Familie Xun es auch sehr eilig. Vor zehn Tagen schon hat die Verlobungsfeier stattgefunden. Seit diesem Tag ißt die junge Herrin nichts mehr, hält sich den ganzen Tag versteckt. Man weiß nie, wo sie ist. Ihre Mutter sagt, daß sie sich so benimmt, weil sie schüchtern ist und sie hat uns angeraten, nicht zuviel über diese Sache zu reden. Ich stehe im Dienst Frau Huangs und weiß deshalb nicht, wo ihre Tochter sich aufbält." Als sie das hörte, verstand Xiurong alles und es wunderte sie nicht mehr, daß niemand zu den Liangs gekommen war. Sie dachte, daß es unzumutbar sei, eine solche Hochzeit zu arrangieren, wenn der Sohn Xun nicht der Richtige sei. Wie traurig mußte es sein, Eltern zu haben, die ihre eigenen Kinder so unterdrücken und leiden lassen! Zum Glück ist meine Herrin gut und der junge Herr und die junge Herrin haben fortschrittliche Gedanken im Kopf. So etwas würde bei ihnen nicht geschehen! Das arme Fräulein Huang, sie tut mir leid, ob sie nun eine Herrin ist oder nicht. Als sie so ganz in Gedanken versunken war, hörte sie plötzlich, wie die junge Dienerin laut fragte:
"Jianlian, ist die junge Herrin in ihrem Zimmer?" und die andere junge Dienerin bejahte. Chunxiang und Xiurong traten also in Juruis Zimmer ein, dort fanden sie eine junge Dienerin auf einem Stuhl sitzend und schlafend vor, die Vorhänge am Bett waren zugezogen. Jurui schlief. Xiurong sagte sofort ganz leise: "Nicht sprechen, die junge Herrin schläft." Aber Jurui hatte schon etwas gehört und fragte, wer da sei. Chunxiang antwortete: junge Herrin, die Familie Liang hat ein Mädchen zu euch geschickt."
Bei diesen Worten erhob sich Jurui, während Xiurong vortrat, sich verneigte und sie begrüßte. Jurui half ihr auf der Stelle, sich wieder zu erheben, weckte die junge Dienerin und bat sie, einen Hocker in die Nähe des Nachttisches zu stellen. Als sie Xiurong aufforderte, sich zu setzen, sagte diese, daß sie das nicht wage, weil Dienerinnen stehen bleiben müßten. Da sagte Jurui zu ihr, "Tut das nicht, es gibt keine Menschen erster und zweiter Klasse, setzt euch doch hin." Xiurong setzte sich also, aber so wie es sich für Geringergestellte geziemt. Chunxiang ging zu Frau Huang zurück. Jurui setzte sich bequem zurecht, wandte den Blick Xiurong zu und betrachtete dieses ungewöhnliche Mädchen: sie hatte ein schönes Gesicht, einen schlanken Körper, sanft abfallende Schultern, kleine, kirschrote Lippen, wohlgeformte Augenbrauen und schöne, mutig dreinblickende Augen. Sie hatte in ihrem Äußeren gar nichts von einer Dienerin. Es war schmerzlich, einen Menschen mit so großartigen Zügen in einer so erniedrigenden Situation zu sehen. Waren etwa die schönen Menschen zu einem unglücklichen Los verurteilt? Den Kopf voll derartiger Gedanken, schwieg Jurui.
Xiurong betrachtete ihrerseits Jurui; sie fand sie sehr vornehm, ihr Blick war schön und würdevoll, ihre schmalen Augenbrauen wohlgeformt. In ihrer Freimütigkeit und Direktheit erschien sie sehr würdevoll. Warum mußte sie soviel Leid ertragen? Dann überbrachte Xiurong Xiaoyus Botschaft. Jurui erkundigte sich ihrerseits nach Xiaoyu, und Xiurong berichtete ihr in allen Einzelnbeiten.
Als sie erfuhr, was geschehen war, seufzte Jurui und sagte: "Ich bin eurer jungen Herrin sehr dankbar. Ich kann mir vorstellen, daß man ihr nun, da sie eine Freundin zur Seite hat, weniger Leid zufügen wird. Überbringt ihr, wenn ihr zurück seid, folgende Botschaft: Es ginge mir gut und sie solle sich nicht beunruhigen. Es gibt da nur ein paar Kleinigkeiten, die mir in letzter Zeit in die Quere gekommen sind und mir etwas Sorgen bereiten. In ein paar Tagen werde ich sie besuchen und ihr alles erzählen. Bei der Gelegenheit werde ich Eure Herrin und ihre Tochter begrüßen. Aber wie alt seid Ihr denn, wann seid Ihr in die Dienste der Familie Bao getreten und wie werdet ihr von Euren Herren behandelt? Hat man Euch je lesen und schreiben gelehrt? Wenn nicht, so ist das eine Beleidigung all Eurer Fähigkeiten. Das ist wirklich zu ungerecht! Wie wenn eine schöne Blume in den Schmutz fällt. Aber wenn es Euch möglich wäre, Wissen zu erwerben, würde es Euch nicht schwerfallen, Euch in dieser Welt einen Namen zu machen. Ich schwöre, daß ich Euch, wenn ich später einmal frei bin, aus dieser Falle befreien werde, in der Ihr durch euer Dienerinnendasein sitzt. Gemeinsam, als verschworene Schwestern, werden wir unser Wissen vervollkommnen, denn wir müssen anders werden als die anderen Frauen." Als sie zum Ende dieser Worte kam, seufzte sie tief. Einem derart großen Verständnis gegenüber fühlte Xiurong sich zutiefst dankbar. Sie sagte sich im Stillen: "Hier ist ein Mensch, der selbst in einer sehr schlimmen Lage ist und sich dennoch mit ungeheurer Freundlichkeit um mein Los kümmert. Ihr Wohlwollen rührt mich, und ich bin auch meinerseits ganz traurig und aufgewühlt wegen all der Sorgen, die sie hat." Sie antwortete gleich darauf: "Meine Herrin und noch viel mehr ihr Sohn und ihre Tochter erweisen sich als sehr großzügig. Sie behandeln die Dienstboten anders als die meisten anderen Leute es tun. Ich genieße dort wirklich einiges Ansehen, die junge Herrin hat mir das Lesen und Schreiben beigebracht. Natürlich bin ich noch sehr ungebildet! In diesem Jahr bin ich schon fünfzehn. Ich war sieben, als ich der Familie Bao verkauft wurde. Seither haben sie mich immer gütig behandelt. Wenn es mir unmöglich ist, aus dieser Situation herauszukommen, so deshalb, weil man als verkaufter Mensch nichts zu sagen hat. Ich danke Euch, daß Ihr mich so gerecht behandelt habt, mein ganzes Leben lang werde ich dafür dankbar sein, daß ich in Euch einen verständnisvollen Menschen gefunden habe."
Jurui lächelte und sagte: "Es ist schön, eine solche Lehrerin wie Fräulein Bao zu haben. Die Schülerin, die sie ausbildet, wird bestimmt eine sehr starke Persönlichkeit werden und wenn man erst einmal Bildung besitzt, kann man sich darauf verlassen, daß man auch seine Selbständigkeit erlangt. Wegen der Worte, die ich eben zu Euch darüber sagte, daß ich Euch aus dieser Hölle retten wollte, so fürchte ich, daß Ihr im Stillen über mich lacht, Ihr müßt glauben, daß ich verrückt bin und dummes Zeug rede, da alles in allem meine Lage noch schlimmer ist als Eure." Xiurong widersprach, sie versuchte, Jurui zu trösten, indem sie sagte, daß sie ihr Schicksal akzeptieren müsse und überredete sie, doch zu den Liangs zu kommen und sich ein wenig zu zerstreuen. Jurui sagte spöttisch lächelnd: "Das Schicksal gibt es nicht, ich fürchte nur, daß alles nicht ganz einfach sein wird. Ich möchte schon gern Fräulein Liang und ihre Freundin besuchen und wenn ich morgen nicht komme, dann sicher übermorgen. Xiurong verabschiedete sich und verließ sie. Sie verabschiedete sich ebenfalls von Frau Huang, die ihr ein wenig Geld und etwas Obst für ihre Mühe gab und ihr auftrug, Frau Liang und ihre Tochter zu grüßen.
Xiurong stieg in die Sänfte, die vor dem Haus wartete und bemerkte, daß es schon begann, dunkel zu werden. Wieder bei den Liangs angelangt, ging sie hinein, fand aber ihre Herrin nicht in ihren Gemächern vor, alles war ruhig. Sie ging also hinüber in das Haus, in dem die Liangs wohnten, und hörte ein lautes Stimmengewirr aus Xiaoyus Zimmer. Sie trat eilends ein und fand Frau Bao und ihre Tochter vor, die beide auf dem Bettrand saßen. Xiaoyu lag ausgestreckt auf dem Bett und weinte vor Schmerz. Als sie das sah, war Xiurong aufs äußerste bestürzt und fragte, was vorgegangen sei und ob Xiaoyu krank sei. Aiqun antwortete ihr: "Nachdem du weggegangen warst, hat es hier eine große Auseinandersetzung gegeben. Alles hat damit angefangen, daß Tante Xue ganz unerwartet eine heftige Kolik erlitten hat. Meine Kusine war sehr beunruhigt und hat die alte Dienerin angefleht, schnell Medikamente kaufen zu geben. Sie hat Frau Liang nicht benachrichtigt, da sie wußte, daß meine Tante nicht sehr zuvorkommend ist und möglicherweise niemanden nach Medikamenten geschickt hätte. Man durfte keine Zeit verlieren, sonst hätte Tante Xue sterben können. Deshalb hat sie die alte Dienerin heimlich darum gebeten, und dieser Medikamentenkauf hat dann alles weitere ausgelöst. Da die alte Dienerin mit ihrer Arbeit im Rückstand war, fragte Frau Liang sie nach dem Grund und erfuhr, daß sie Medikamente kaufen gegangen war. Meine Tante wurde zornig und fragte: "Warum hat man mich nicht benachrichtigt?" Da erschien ihr zweiter Sohn neben ihr und begann ebenfalls, Xiaoyu zu beschuldigen: "Wahrhaftig, was für eine Unverschämtheit? Xiaoyu denkt nie an meine Mutter. Sicher fühlt sie sich hier ausgehalten und versucht deshalb, meine Mutter zu betrügen und selbst im Hause zu bestimmen." Xiaoyu kam gerade vorbei und sagte zu ihm: "Bruder, ich versichere dir, ich bin in dem Augenblick so bestürzt gewesen, daß ich nicht darauf geachtet habe. Ich gebe ja zu, ich habe den Fehler gemacht, unsre Mutter nicht zu benachrichtigen." Sie war kaum zu Ende gekommen, da ging er auch schon auf sie los und gab ihr eine schallende Obrfeige. Xiaoyu war darauf nicht gefaßt und fiel zu Boden. Da stieß er sie mit Füßen und schlug sie mit Fäusten, wobei er nicht aufhörte, sie zu beschimpfen. "Ich werde sie töten, das kleine unverschämte Stück, und wenn ich es mit meinem Leben bezahlen muß! Aber ich will nicht, daß meine Mutter ihretwegen wütend wird und daß sie meinem Vater Lügen erzählt. "Sieh dir diese Verletzungen an, ist das nicht ungerecht! Sie tut mir so leid wegen all dieser Schmerzen. Gottseidank ist Xinjin gleich gekommen und hat uns Bescheid gesagt und Mutter und ich sind ihr zur Hilfe geeilt. Wenn wir ein wenig später gekommen wären, hätte er sie wirklich getötet.
Xiurong sagte: "Wie kommt es, daß Tante Xue ihr nicht zu Hilfe gekommen ist?" Aiqun antwortete ihr mit einem Seufzen: "Arme Tante Xue. Einerseits ging es ihr zwar gerade etwas besser, aber andererseits hätte das nichts weiter eingebracht, als daß sie auch noch einige Schläge abbekommen hätte. Und was sollte sie schon sagen?" Xiurong fragte daraufhin Frau Bao, wieso sie ihre Schwester nicht aufgefordert habe, dieser Szene ein Ende zu machen. Frau Bao antwortete: "Wieso? Ich habe selbstverständlich eingegriffen! Nur hat mir meine Schwester gesagt, ihr Sohn sei von seinem ganzen Wesen her gewalttätig und wenn er erst einmal wütend sei, könne man ihn nicht zurückhalten. Selbst sie als seine Mutter konnte nichts dagegen tun. Sie hat auch zu mir gesagt, daß man Xiaoyu nichts vorwerfen könne wegen ihres Verhaltens Tante Xue gegenüber und daß sie sie, obwohl sie nur die Tochter einer Nebenfrau sei, als ihre Tochter betrachte. Sie sagte noch, daß bei Streit unter Geschwistern immer beide Unrecht haben und man keinen Schuldigen feststellen kann. Sag selbst, wie hätte ich mich nach so schönen Worten mit meiner Schwester überwerfen können?" Aiqun sagte Plötzlich: "Schweigt, man könnte uns durch das Fenster belauschen." Sie rief mehrmals nach Xiuyun, aber vergebens und sagte ärgerlich: "Wo kann sie denn bloß wieder sein?"
Sie fuhr fort: "Seit jenem Vorfall weint meine Kusine unaufhörlich. Tante Xue ist zu Frau Liang gegangen, um nachzusehen, ob sie etwas braucht, und sie ist noch nicht wieder zurück. Aber nun zu dir. Es ist nun schon eine ganze Weile her, seit du aufgebrochen bist, um zu den Huangs zu geben. Was hat Jurui denn gesagt? Wir werden sie morgen bitten, herzukommen und mit Xiaoyu zu reden, das wird sie ablenken. Xiurong antwortete sogleich: "Schlagt Euch das aus dem Kopf, Fräulein Huang hat im Augenblick selbst Kummer." Xiaoyu hörte auf zu schluchzen und fragte überrascht: "Was ist denn geschehen?" Xiurong erzählte also, was sie an diesem Tag in Erfahrung gebracht hatte: Überall im ganzen Haus gab es nur bunte Seide und Laternen, die Hausherrin war sehr beschäftigt und alle möglichen Süßigkeiten und Obst wurden bereitgestellt. Durch Befragen der Dienerin habe sie alles erfahren: heute sei der Braut das Verlobungsgeschenk übergeben worden, und die Wahl des Verlobten sei ohne jeden annehmbaren Grund, wie das Mädchen sagte, auf den Sohn der Familie Xun gefallen. Sogleich sagte Frau Bao: "Dann ist also Xun Gai der Auserwählte. Sein Vater heißt Xun Wuyi. Er besitzt viel Geld, ist aber sehr kleinlich. Früher war er arm und verdiente sein Brot als Besitzer eines kleinen Restaurants. Irgendjemand muß ihm eine gute Beziehung zu Wei Daqing vermittelt baben, jenem katzbuckelnden Beamten, der aus dem gleichen Kanton stammt wie er. Daraufhin ist Xun Bankier geworden, da Wei ihm dabei geholfen hat, gesellschaftlich aufzusteigen. Die Familie hat sehr viel Geld und es sind sehr überhebliche Leute. Xun hat Angst vor den Stärkeren, aber er unterdrückt die Schwachen. Er würde nie jemandem einen Pfennig geben, er ist sehr geizig. Xun Gai, der ist weiter nichts als ein Taugenichts. Seit frühester Jugend ist er zu faul zu allem, was mit Studium zu tun hat, lebt aber in Saus und Braus. Den ganzen lieben langen Tag sind seine Kameraden nur dazu da, ihm zu schmeicheln. Ganz nach dem Vorbild seiner Eltern ist er geizig mit seinem Geld, wenn es darum geht, seinen Freunden oder Verwandten zu helfen, gibt es aber bedenkenlos für Vergnügungen und Dirnen aus. Er ist kein vertrauenerweckender Mann und hält auch nicht besonders viel von Gerechtigkeit, er redet nur dummes Zeug und widerspricht sich dauernd selbst, Er ist erst sechzehn, aber durch sein ausschweifendes Leben gealtert und sein Gesicht ist schon nicht mehr menschlich. Er hält sich für etwas Besseres, aber natürlich völlig zu Unrecht und unterdrückt alle wehrlosen Menschen. Mit seinem Reichtum im Rücken erlaubt er sich, alle anderen zu verachten. Er betrachtet seine Eltern und Freunde gleichermaßen nur als seine Diener und sobald man etwas sagt, was ihm nicht paßt, ist er unzufrieden. Er ist nur dann glücklich, wenn man ihm schmeichelt, und er hat nie Achtung gegenüber seinen älteren Geschwistern bewiesen. Wie kann jemand etwas taugen, der sich so benimmt? Dazu kommt noch, daß er zwar Geld hat, es aber zweifelhaft ist, ob er es behalten kann. Sicher, es ist schon immer so Sitte gewesen, daß die Eltern einen Verlobten für ihre Tochter aussuchen, aber muß man deshalb ein hochbegabtes Mädchen mit einem höchst mittelmäßigen Mann verheiraten?" Aiqun fragte ihre Mutter, wie es komme, daß sie über all das so genau Bescheid wisse. Diese antwortete ihr: "Mein Vetter Zuo ist beute zu Besuch gekommen, wir haben miteinander geplaudert und auch darüber geredet. Wir haben es bedauert, daß ein so bervorragender Mensch mit einem so wenig empfehlenswerten Mann verheiratet werden soll. Da er den Namen des Mädchens nicht erwähnte, wußte ich nicht, um wen es sich handelte. Aber sobald Xiurong von der Familie Xun gesprochen bat, ist mir sofort klar gewesen, daß es um die Tochter der Huangs gebt. Ich kann nicht verstehen, warum Herr und Frau Huang ihre geliebte Tochter einem solchen Mann geben wollen. "Xiurong antwortete: "Einfach deshalb, weil der Ehevermittler aus derselben Sippe stammt, wie die Familie Wei. Seine Familie genießt sehr viel Achtung in ihrem Dorf und er soll mit Herrn Xun zusammengearbeitet haben. Er heißt Junzhi, ist der fünfte Sohn der Familie und genießt den Ruf, nie jemanden zu betrügen. Die Huangs wußten schon, daß die Familie Xun sehr reich ist, sie sagten sich desbalb, daß ihre Tochter dann nie unter Armut zu leiden brauchte, und da nun auch noch die Familie Wei die Vermittlung übernommen hatte, dachten sie, daß sie der Sache völlig vertrauen könnten. Sie haben auch Dienstboten ausgeschickt, die sich über die Familie Xun informieren sollten, und sie sind alle mit positiven Auskünften zurückgekehrt. Aber das kam daher, daß es für sie schwer war, Auskünfte zu bekommen, da sie nicht aus der Gegend stammten. Außerdem waren es engstirnige Menschen, für die nur das Geld etwas bedeutet. Die Familie Xun hat es sehr eilig, und sie haben schon einen offiziellen Heiratsantrag geschickt. Fräulein Huang hat sich ein bißchen dagegen gewehrt, konnte aber ihre Mutter nicht von ihren Plänen abbringen. Deshalb ist sie jetzt sehr aufgebracht. Als ich bei ihr ankam, lag sie gerade auf dem Bett." "Wei Junzhi ist nur dem Anschein nach ehrlich", sagte Frau Bao. "In Wirklichkeit ist er hinterlistig und betrügerisch. Wie jammerschade, daß die Tochter der Huangs so ein guter Mensch ist. Aber die Sache ist beschlossen und es nützt nichts, noch länger darüber zu reden." Xiaoyu und Aiqun waren beide sehr betroffen, Was sollte aus Jurui werden, würde es ihr gelingen, dieser Gefangenschaft zu entkommen? Wir halten jetzt für einen Augenblick in unserer Geschichte inne und fahren dann im nächsten Kapitel damit fort.