Wie Xiaoyu nachts nicht schlafen kann, weil der Groll sie quält

Warum vier junge Mädchen ganz traurig werden, als sie die Sitten ihrer Gesellschaft beklagen

In Japan hat sich eine Woge des Protestes erhoben.[1] Ich habe mich endlich entschlossen, in mein Heimatland zurückzukehren, aber ich werde deshalb den Kampf nicht aufgeben und hoffe, daß alle Patrioten, die von den gleichen Gefühlen beseelt sind wie ich, alles dazu tun werden, daß ihre Begeisterung nicht nachläßt. Ich unterrichte jetzt in Hu [2] und nach dem Unterricht benutzte ich die Freistunden dazu, diese Geschichte weiterzuschreiben. Wir sprachen zuletzt von Xiaoyu-, sie war von ihrem Bruder geschlagen und beschimpft worden und befand sich in einem erbärmlichen Zustand. Als es Abend wurde, verließ Aiqun Xiaoyu. Diese war nun allein, lag noch immer auf ihrem Bett und war nun noch viel trauriger als vorher. Tante Xue tröstete ihre Tochter, war aber selbst ebenso betroffen wie diese und ging auch in ihr Zimmer, als sie die Wächter die Stunde schlagen hörte. Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, drehte Xiaoyu sich in ihrem Bett und und wandte nun das Gesicht der silbernen Lampe zu. Sie war zutiefst getroffen und eine undendliche Traurigkeit erfüllte sie. Sie wälzte sich auf dem Kissen hin und her und sagte sich im Stillen: Ich habe schon so viel gelitten, daß ich die Lust am Leben verloren habe, aber ich will mich nicht umbringen, weil meine Mutter noch da ist. Sie war wütend darüber, nicht als Mann geboren zu sein, dann hätte sie schon längst den Aufstieg geschafft und hätte ihre Mutter an einen anderen Ort mitnehmen können, um ihr diese ganze haßgeladene Atmosphäre zu ersparen. Wäre sie ein Mann gewesen, so wäre es ihr gelungen, ihre Mutter und sich selbst, zumindest notdürftig, auf andere Weise zu ernähren. Aber sie war nun einmal eine Frau. Sobald sie das Haus verließ, hatte sie keinen Zufluchtsort und ohne das kleinste bißchen verfügbares Geld konnte sie nicht weit kommen. Wie traurig war es, ein derart finsteres Leben ertragen zu müssen! Tausend Gedanken bewegten sie, sie warf sich in ihrem Bett hin und her und weinte unaufhörlich. Arme Xiaoyu, sollst du wirklich dein ganzes Leben so verbringen? Mutter und Sohn waren beide so grausam zu ihr! Sie fühlte es wohl, daß sie etwas Außergewöhnliches war. Manchmal wollte sie nach dem Vorbild Hua Mulans leben. Sie fühlte sich furchtlos und tapfer und sie wußte, daß sie eine sehr gute Menschenkenntnis besaß. Aber was hatte sie bloß getan, daß der Himmel ihr ein solches Schicksal auferlegte? Die Zukunft würde sehr viele Probleme bringen, wenn sie unwissend und ungebildet bliebe. Welch ein Glück, daß ihre Kusine Bao gekommen war! Tag für Tag leitete diese sie bei ihrem Studium an. Und Xiaoyu war stolz auf ihr gutes Gedächtnis. Aber der Gedanke, daß ihre Kusine ja nicht für immer bleiben würde, stimmte sie traurig. Wenn sie einmal fort wäre, würde alles anders und sie könnte nichts mehr lernen. Ihr Vater kümmerte sich nicht weiter um sie, da sie ein Mädchen war, ihre beiden älteren Brüder waren gemein zu ihr und der Vater hatte ihnen deswegen nie den kleinsten Vorwurf gemacht. Sie war ihrem Vater nicht böse, weil er Angst vor seiner Frau hatte, aber warum hatte er die folgenschwere Dummheit begangen, sich eine zweite Frau zu nehmen? Wenn meine Mutter nicht da wäre, wäre ich nicht geboren, und brauchte nicht ein derart niedriges Dasein zu ertragen!
Es ist allgemein so, daß die Konkubinen die Macht auf allen Gebieten an sich reißen. Sie gewinnen die Oberhand über die erste Frau und tun dann so, als wäre diese gar nicht vorhanden. Die Konkubinen sind von ihrem Wesen her meistens arglistig und betrügerisch. Aber die Männer bevorzugen sie und ergreifen immer für sie Partei. Deshalb ist die ganze Familie ständig zerstritten. Wenn die Kinder der ersten Frau den Konkubinen gehorchen, geschieht das deshalb, weil diese ganz unverhohlen alle Rechte für sich beanspruchen. So ist es ganz natürlich, daß bald jeder die Konkubinen verabscheut. Meist sind sie auch sehr unfreundlich. Das alles sind die Gründe, warum die Familien in ständiger Zwietracht leben, und Mann und Frau sich gegenseitig quälen. Meine Mutter ist jedoch schüchtern, ordnet sich unter und ist überhaupt nicht wie alle andern Konkubinen. Warum mußte die erste Frau meines Vaters nur unbedingt den Anschein erwecken, sie sei großzügig in ihren Anschauungen? Ihretwegen erdulden meine Mutter und ich nun solche Leiden. So sagte sich Xiaoyu im Stillen. Gedankenverloren weinte sie leise vor sich hin. Plötzlich ging ihr noch etwas anderes durch den Kopf, das sie noch mehr betrübte: »Arme Jurui, du hast ein so schönes Gesicht und so große Fähigkeiten, und dennoch befindest du dich jetzt in einer derart gefährlichen Situation. Was nützt einem alle Tapferkeit, aller Edelmut und die eigene Großzügigkeit, wenn man plötzlich von anderen unter seinem Wert verschleudert wird. Ich empfinde sehr viel für dich und ich würde dich gerne aus dieser Lage befreien, aber ich stecke ja selbst in einer ausweglosen Situation und habe niemanden, auf den ich mich verlassen kann. Wenn ich an all das Unglück denke, was ich auf mich ziehe, so frage ich mich, ob ich nicht durch unseren Schwur dieses Unheil über dich gebracht habe. Oder trifft ein unglückliches Los immer die wertvollsten Menschen? Du hast sehr viel Mut, aber er ist vergeblich, da deine Pläne kaum zu verwirklichen sein werden. Oder aber die Sünden, die du in deinem vorigen Leben begangen hast, sind so schwerwiegend, daß das, was dir heute widerfährt, die gerechte Strafe ist? Vielleicht erwecken auch die hochbegabten Menschen die Eifersucht der Götter und Dämonen, und diese gönnen ihnen keine glückliche Jugend?

  • Arme Xiaoyu, was hält die Zukunft für dich bereit?

Dann kommt ihr noch ein anderer Gedanke, der sie bekümmert seufzen läßt: »Wenn ich einmal verheiratet werde, ist es auch sehr unwahrscheinlich, daß ich an einen Mann gerate, der mir gefällt. Meine Stiefmutter und mein älterer Bruder sind sich einig, wenn es darum geht, mir etwas Böses zuzufügen, und sie werden mich ohne das geringste Mitleid rücksichtslos unter die Haube bringen. Weil aber eine falsche Wahl des Ehemannes ein Leben voll nicht endenwollender Gewissensqualen mit sich bringt, ist es wohl in diesem Fall besser, seinem Leben ein Ende zu setzen. Ich weiß sehr wohl, daß mein Leben keinen glücklichen Verlauf nehmen wird, da ich unter einem ungünstigen Stern geboren worden bin. Ich werde noch auf den Tod meiner Mutter warten, dann bindet mich nichts mehr an dieses Leben, und ich kann mich umbringen.« Dann dachte Xiaoyu wieder an Jurui, an ihre Offenheit und ihre Großmut, die ebenso beeindruckend waren wie ihr fester Wille und ihre Begabung. Aber vor allem dachte sie an ihre Freundlichkeit: »Du hast mich dazu angehalten, oft daran zu denken, wie ich unabhängig werden kann. Aber jetzt beunruhigt mich die Frage, ob es dir jemals gelingen wird, aus dieser Falle, in der du sitzt, herauszukommen. Nun, da die Heirat beschlossen ist, kann man nichts mehr dagegen tun, und wenn du dich weiter darüber beklagst, so wird deine Wut dadurch nur noch größer. Es ist sehr schmerzlich, an einen Mann zu geraten, der seine Frau nicht liebt, und niemand kann sich unter diesen Umständen noch frei entfalten. Wenn man ein begabtes Mädchen mit einem Taugenichts verheiratet, so bedeutet das, daß man sie ohne jeden Gefährten leben läßt, ohne jemanden, mit dem sie sprechen kann. Eis und Glut vertragen sich nicht in einem gemeinsamen Hausstand. Arme Jurui, ihr Leben wird ganz zwangsläufig ein wahrer Leidensweg sein. Und bei ihr sind es ja noch ihr wirklicher Vater und ihre wirkliche Mutter, die sie so behandeln, da muß es bei mir ja noch schlimmer werden. Wie kann man nur so leichtfertig einer Ehevermittlerin trauen, wenn es um etwas so Wichtiges geht, wie um eine Heirat? Frau Huang ist eigentlich sehr nett, wie kommt es nur, daß sie sich in dieser Sache so hartherzig verhalten hat? Warum hat sie nicht Jurui nach ihrer Meinung gefragt? Warum hat sie sie gezwungen, diese Verbindung einzugehen? Wenn man doch weiß, daß für eine Frau Glück und Unglück, Ehre oder Demütigung von ihrer Ehe abhängen, wie kann man dann nur seine Tochter so leichtfertig verheiraten, ohne sie auch nur um ihre Meinung zu fragen? Was nützt es, sich darauf zu berufen, daß die Familie des Ehemannes viel Geld besitzt, wenn doch die Frau dieses Geld nicht einmal zu Gesicht bekommen wird? Und das in ihrem Falle umsomehr, als es sich bei den Xuns um Neureiche handelt, die keinerlei Sinn für Anstand besitzen. Sie sind sicher aufgeblasen vor Hochmut und von einer unendlichen Geringschätzung anderen gegenüber. Sie überschätzen sich selbst bestimmt grenzenlos,[3] verachten aber dabei ihre Mitmenschen. Sie sind blind für die Fähigkeiten anderer Menschen, wie könnten sie also Begabung und Kenntnisse zu schätzen wissen, wie könnten sie erkennen, daß jemand große Gaben besitzt? Für sie zählt nur das Geld, sie sind unkultiviert und ungebildet, sie sind nur höchst mittelmäßige Menschen. Sie messen den Dingen den größten Wert bei, die gar keiHen besitzen. Zhao Feiluan [4] erzählt vergeblich von ihren Qualen in ihrem Klagelied: der schöne Vogel Phönix folgt der Krähe, aber die Krähe hackt nach ihm. Es gibt genügend Beispiele, die uns betroffen machen können, so macht es uns unendlich wütend, daß trotz ihrer großen Begabung Shun Zhen [5] mit einem unwürdigen Man verheiratet wurde. Kein Mann hat jemals so schöne Gedichte geschrieben wie Dao Yun, ist es nicht eine große Ungerechtigkeit, daß sie an einen Mann wie Wan Lang geraten mußte, der ihr nicht das Wasser reichen kann? Nichts hat es der dritten Tochter der Familie Yuan [6] genützt, daß sie lesen und schreiben konnte, da sie doch mit Gao, einem Menschen ohne die geringsten guten Eigenschaften, verheiratet wurde. Sollte es wirklich wahr sein, daß den begabten Menschen ein trauriges Los beschieden ist? Nein, es kommt daher, daß die Mütter dieser Frauen sie mit den falschen Männern verheiratet haben, ohne danach zu fragen, ob der zukünftige Ehemann irgendwelche guten Eigenschaften besitzt. Xiaoyu schauderte bei dem Gedanken, daß auch Jurui auf diese Weise enden würde. Mein Gott, wie war es nur möglich, einen Menschen mit solchen Gaben einfach kaputtzumachen? Xiaoyu ärgerte sich über sich selbst, weil sie Jurui nicht helfen konnte, trotz ihres Schwures und trotz ihrer Zuneigung, die sie für Jurui empfand. Wie war das alles traurig und beklagenswert! Der Himmel ist wahrhaftig ungerecht, wozu werden Menschen mit solchen Gaben geboren, wenn sie dann doch nur gezwungen werden, solches Unglück zu erleiden? Das ist das gleiche, wie wenn man eine schöne Blume in den Schmutz wirft. Die Lage, in der sich solche Frauen befinden, ist wie die eines Vogels, der im Käfig gefangen sitzt und seinem Unglück in seinem Gesang Ausdruck verleiht. Das ist ebenso hoffnungslos und vergeblich, wie wenn der Vogel Jingwei mit einem Schnabel voll Schlamm [7] versucht, das Meer trockenzulegen. Wenn ich es mir auch noch so sehr wünsche, steht es doch nicht in meiner Macht, den Lauf der Dinge [8] zu ändern. Aber wenn für unsereins alles auf diese Weise enden muß, wäre es besser, nie geboren zusein.« Xiaoyu bewegte solche schwarzen Gedanken in ihrem Kopf, bis es anfing zu dämmern. Sie beklagte sowohl das Schicksal der anderen wie auch ihr eigenes. Bald schon schien das erste Tageslicht durch das Fenster, sie stand auf, machte ihr Bett und ging hinaus. Sie erkundigte sich sofort nach ihrer Mutter und erfuhr, daß diese eine ruhige Nacht verbracht habe. Tante Xue betrachtete ihre Tochter, alle Frische war von deren Wangen gewichen, ihr Gesicht war blaß und ihre Augen zugeschwollen. Sie war von diesem Anblick sehr betroffen und weinte. Diese beiden Frauen, die sich eine wie die andere in einer gleichermaßen unsicheren und schwierigen Lage befanden, trösteten sich gegenseitig. Ihre Worte gingen in ihren Tränen unter. Xiaoyu ging schnell in ihr Zimmer zurück und machte sich in aller Eile zurecht. Aiqun war da, um nach ihr zu sehen, und es tat ihr weh, wie traurig Xiaoyu aussah. Sie merkte ihr an, daß sie wohl nicht gut geschlafen hatte. Sie tröstete sie, nahm voller Zärtlichkeit ihre Hand und sie gingen beide zu Frau Liang, um sie zu begrüßen. Aquin sagte ihr, daß sie gerne den Tag mit ihrer Kusine verbringen wolle. Frau Liang stimmte dem wortlos zu. Die beiden Mädchen blieben einige Augenblicke bei ihr, dann gingen sie Hand in Hand in die Gemächer Frau Baos zurück. Diese begann ebenfalls, Xiaoyu zu trösten. Sie hatte ihr Frühstück beendet, und man trug ihr Tee auf. Sie hatten sich gerade eine Weile unterhalten, als Xiulian, die kleine Dienerin, die Ankunft Fräulein Zuos ankündigte. Aquin befahl, sie zu empfangen, sie freute sich sehr. Wenig später trat ein hübsches junges Mädchen ein. Sie begrüßte die anderen sehr herzlich und sagte dann, sie habe eine neue Freundin kennengelernt und diese mitgebracht. Frau Bao fragte sogleich, warum sie nichts von dieser Freundin sehe. Xinghua antwortete, daß ihre Sänfte sich verspätet habe. Frau Bao und ihre Tochter schickten daraufhin sofort nach einer Dienerin, die unverzüglich hinausgehen sollte, um sie zu erwarten und sogleich hereinzuführen, wenn sie angekommen wäre. Die junge Dienerin gehorchte und brach sofort auf. Wenig später kam ein sehr schönes Mädchen herein. Sie hatte helle Augen und weiße Zähne. Man merkte ihr an, daß sie einen sehr guten Geschmack besaß und sehr kultiviert war. Ihre anmutige Erscheinung ist sehr schwer zu beschreiben. Alle begrüßten sich und stellten einander vor. Dabei erfuhren die anderen, daß Fräulein Jiang aus Jiang Nan stammte, Zhenhua genannt wurde und fünfzehn Jahre alt war. Ihr Vater hielt sich in der Stadt auf und wartete, daß ein Posten frei würde. All diese jungen Mädchen hatten das Gefühl, schon alte Freundinnen zu sein. Sie setzten sich und plauderten miteinander. Xinghua fragte Xiaoyu, warum sie so dünn sei, und ob sie etwa krank wäre. Aiqun verneinte und sagte seufzend, daß es nicht an ihrer Gesundheit läge. Und sie erzählte, wie Xiaoyu mißhandelt worden war. Die beiden anderen Mädchen waren entrüstet, als sie Aiquns Bericht hörten.

»Gibt es denn auf dieser Welt, in der wir geboren sind,
auch nur eine einzige Frau, der man etwas anderes entgegenbringt,
als Mißachtung? Selbst in den kleinsten Dingen haben wir
kein Mitspracherecht.«

Xinghua seufzte und sagte: »Welch ein Jammer. Die Frauen gelten gar nicht als menschliche Wesen. Wenn ein Mädchen geboren wird, so spricht man von einem Unglück, weil sie später einer anderen Familie angehören wird. Verständige Eltern lieben ihre Tochter trotzdem, aber unvernünftige Eltern hassen sie von Anfang an. Sie wiederholen es immer wieder, daß ein Mädchen völlig unnütz ist, weil es nur hohe Mehrausgaben für eine Mitgift mit sich bringt. Wenn dagegen ein Junge geboren wird, so wird er von jedermann geliebt, man läßt ihm eine Ausbildung [9] zuteil werden, während ein Mädchen die gleichen Bücher,[10] in denen er studiert hat, noch nicht einmal berühren darf. Man geht sogar so weit, zu sagen, daß es für ein Mädchen ein schlechtes Omen ist, wenn es Geistesgaben besitzt. Aber sind wir denn, wenn man einmal genau darüber nachdenkt, wirklich so viel weniger wert? Wir verfügen über die gleichen Fähigkeiten wie die Männer, und wenn wir lernen dürften und hinausgehen könnten, um Geld zu verdienen, könnten wir auch unsere Eltern ernähren. Darin und in nichts anderem liegt nämlich die Ursache unseres Unglücks: Da wir unser Leben in unseren Häusern eingesperrt verbringen müssen, haben wir nicht die Möglichkeit, Geld zu verdienen. Ich selbst habe Glück, ich komme aus einer guten Familie und darf mir die Erziehung zunutze machen,[11] die man meinem Bruder angedeihen läßt. Wenn ich auch nicht sagen kann, daß ich ein besonders begabtes Mädchen bin, so bin ich doch jenen dummen Männern, die weder lesen noch schreiben können, geistig überlegen. Sehr oft macht es mich wütend, daß man die Frauen so gering schätzt. Ich selbst stecke mir jeden Tag höhere Ziele. Aber da die Frauen kein Geld verdienen können, sind sie verloren, sobald sie ihr Haus verlassen. Ich fühle mich oft dazu bereit, eine Laufbahn einzuschlagen, aber das ist unmöglich. Ich verfluche das Schicksal, das mich als Frau hat auf die Welt kommen lassen. Jeder weiß, daß Aiqun große Fähigkeiten besitzt. Zhenhua ist ebenfalls überdurchschnittlich begabt, Xiaoyu ist sehr intelligent, sie besitzt außergewöhnliche Fähigkeiten und ein großes Wissen, und sie ist allen Männern, die keine Ausbildung genossen haben, weit überlegen. Warum lassen wir uns darauf ein, als unterwürfige Weibchen zu leben? Ich bin entrüstet über so viel Ungerechtigkeit.«
Zhenhua sagte: »Es gibt vieles, worüber sich Frauen zurecht beklagen können, aber das Allerschlimmste ist es, wenn man mit einem gemeinen Kerl verheiratet wird. Es ist ein jämmerliches Verhalten, wenn man sagt, es sei nun einmal das Schicksal der Frauen, unglücklich zu sein. Aber viel unsinniger noch ist es, die Lüge zu verbreiten, daß der Mann für die Frau unentbehrlich [12] sei, weil die Männer daran glauben, sich überlegen fühlen und überheblich werden. Sie hängen in Spielhöllen herum, umgeben sich mit Freudenmädchen, sind ekelhaft zu ihren Frauen und tun deren Fähigkeiten zutiefst Unrecht, indem sie sie zuhause einsperren. Oft passiert es, daß sie ihre Frauen schlagen, beschimpfen und demütigen. Immer wieder erlebt man, wie Konkubinen die Hauptfrauen schlecht behandeln. Es gibt Kaufleute, die, wenn sie erst einmal der Provinz den Rücken gekehrt haben, Frau und Familie verlassen, sich wieder verheiraten und sich neue Konkubinen zulegen. Es kümmert sie nicht, ob die Frau, die sie verlassen haben, hungert oder friert, sie ist ihnen völlig gleichgültig geworden. Sie überlassen sie sich selbst, ohne jede Unterstützung. Es gibt Männer, die während ihrer schwierigen Studienzeit beständig von ihren Frauen unterstützt worden sind. Ihre Frauen haben mit ihnen Armut und Schwierigkeiten ertragen, und an dem Tag, an dem die Männer endlich am Ziel ihrer Wünsche angekommen sind, legen sie sich eine hübsche Konkubine oder Geliebte zu und jagen ihre erste Frau zum Teufel, ohne sich jemals wieder an die Unterstützung zu erinnern, die sie von ihr erhalten haben. Undankbarkeit und Unbeständigkeit, das sind die wirklichen Eigenschaften dieser Männer. Aber es gibt noch schlimmeres. Es gibt Schwiegereltern, die in ihrer Bosheit dem Teufel in nichts nachstehen. Sie hassen ihre Schwiegertochter, verhätscheln aber ihren Sohn und ermutigen ihn dazu, ein ausschweifendes Leben zu führen. Wenn sich aber zufällig der Ehemann und die Ehefrau gut verstehen, dann sagen sie, daß, seitdem die Schwiegertochter im Hause ist, ihr Sohn nicht mehr so sei, wie früher und sie werfen ihm vor, es an Liebe zu seinen Eltern fehlen zu lassen. Dafür machen sie dann ihre Schwiegertochter verantwortlich, beschuldigen sie, Zwietracht zu säen und eine Hexe zu sein. Sie tun alles, um dem Ehemann Grund zu verschaffen, sich über seine Frau zu beklagen, und sie ruhen nicht, bis ihre egoistischen Wünsche befriedigt sind. Dann gibt es auch jene Männer mit losen Sitten, die ihre Tage im Spielsaal oder im Freudenhaus zubringen, und die ihrer Frau vorwerfen, daß sie in ihren Augen nicht im mindesten reizvoll sei. Und endlich gibt es noch die bösen Schwägerinnen, die Zwietracht säen und die Frau ihres Bruders mißhandeln. Aber das Allerschlimmste ist das Los der hochbegabten Mädchen, die man mit dickbäuchigen Krämern verheiratet. Es ist schmerzlich, daran zu denken, daß sie sich niemals werden entfalten können, daß all ihre Fähigkeiten zunichte gemacht werden und daß sie für nichts und niemanden ihre Verzweiflung in Gedichten niederschreiben werden. Und da sie keinen Menschen haben, der sie versteht, werden sie einsam in ihren leeren Gemächern sitzen und bittere Tränen vergießen. Wie könnten ihre Männer, abgestumpft und roh, wie sie nun einmal sind, erkennen, daß sie es mit einer Frau zu tun haben, die hervorragende Eigenschaften besitzt? Da diese Frauen gewöhnlichen Männern überlassen wurden und nie einen Menschen kennenlernen werden, zu dem sie Vertrauen haben und der in der Lage ist, sie zu verstehen, werden sie ihr ganzes Leben im Innersten der Frauengemächer und in tiefster Trauer verbringen. Ach, wieviele Frauen haben es schon erlebt, wie ihre Gaben auf diese Weise verschleudert wurden, und ihnen nur noch Jammern und Wehklagen übrigblieb. Wenn ich daran denke, bin ich zutiefst bestürzt und zürne den blinden und stumpfsinnigen Göttern, die es zulassen, daß wir Frauen so viel leiden müssen. Ich bin wütend darüber, daß sie uns offensichtlich beneiden und uns deshalb schaden wollen.« Hier hielt sie inne, Falten traten auf ihre Stirn, und als sie sich umblickte, sah sie, daß Xiaoyu weinte.

Da fragte sie: »Sicher gibt es einen besonderen Grund daß du so traurig bist. Warum kannst du nicht zu uns darüber reden?« Xiaoyu antwortete: »Ich habe eine Eidesschwester, die Tochter des Präfekten Huang, sie heißt Jurui. Seitdem sie sieben Jahre alt ist — jetzt ist sie vierzehn — hat sie immer besondere Eigenschaften besessen. Sie ist sehr gebildet und denkt und handelt wie einer jener Ritter, die die Gerechtigkeit verteidigen und das Unrecht rächen. Und nun haben ihre Eltern in den letzten Tagen für sie den Sohn eines dickbäuchigen Kaufmanns als Verlobten ausgesucht, einen gewissen Herrn Xun. Er ist ein junger Dandy, ein Faulpelz und Müßiggänger. Wie sollte man darüber nicht bestürzt sein?«

Xiaoyu sprach weiter, wobei ein tiefer Seufzer von ihren Lippen kam: »Der Himmel ist wahrhaftig ungerecht! Warum hat er Jurui mit solchen Geistesgaben ausgestattet, wenn er sie jetzt mit der Grausamkeit eines Unwetters niederschmettert? Ich weiß nicht, wie es ihr jetzt geht, aber ich fürchte, daß sie sehr blaß und abgemagert ist. Wie schlimm ist es, zuzusehen, wie solch ein zartes Pßänzchen, das kaum bis ans Tageslicht gedrungen ist, aufs Grausamste von Wind und Regen zerstört wird, weil diese auf die Blumen eifersüchtig sind. Han Dan [13] war hochbegabt, sie wurde mit einem Knecht verheiratet, man hat nicht darauf geachtet, daß eine hervorragende Frau wie sie mit einem Mann verheiratet werden sollte, der gute Eigenschaften besitzt.[14] Wie kann man nur diesen Zuständen ein Ende machen? Wir können im Augenblick dem Himmel nur unsere Ohnmacht demonstrieren und ihn anflehen. Wie könnten Fremde eine solch unheilvolle Verbindung lösen, wenn doch die eigenen Eltern sie in die Wege geleitet haben?« Xiaoyus Trauer ist grenzenlos und wird nur noch von ihrem Zorn übertroffen. Die anderen Mädchen sind tief bewegt durch ihre Worte. Aiqun sagte:

»Wer von uns wäre nicht unglücklich?«

Die Frauen verbringen ihr Leben in ihre Frauengemächer eingesperrt. Sie können nie auch nur die geringste Entscheidung selbständig fällen, sie haben nicht das kleinste bißchen Autorität und dürfen nur Befehle empfangen. Sie sind die reinsten Waisenkinder. Sie müssen sich unterordnen, zuhause geben die Eltern ihnen keine Erziehung, sie dürfen nie die Schwelle der Frauengemächer überschreiten. Man zwingt sie den ganzen Tag zu Näharbeiten, und weil sie immer über ihre Arbeit gebeugt dasitzen, werden sie krumm und die Knochen tun ihnen weh. Kaum sind sie fertig mit den Kissen, den Bordüren für die Hosen, den Spiegel- und den Teekannenhüllen, müssen sie auch schon mit dem Bettzeug, den Schärpen, der Bettwäsche und den Wandschirmen beginnen, dann kommen die Kleiderbeutel, Fächerhüllen, Ärmel und Kragen. Und noch unzählige andere kleine Dinge des täglichen Lebens. Und immer wieder muß man seine ganze Aufmerksamkeit auf die Wahl und die Zusammenstellung der Farben verwenden. Den ganzen Tag über haben sie keinen Augenblick Zeit, um einmal in Ruhe ein wenig spazieren zugehen. Und wenn sie dann einmal mit all ihren Aufgaben fertig sind, dann ist ihnen schon ganz schwindlig, zuletzt ziehen sie sich eine Tuberkulose zu, die so schwer zu heilen ist, und selbst wenn sie von der Krankheit verschont werden, so bleiben ihnen doch schiefe Schultern, ein krummer Rücken und ein im Ganzen unförmiges Äußeres davon zurück. Die ganze Stickerei hat noch nie irgend-jemandem genützt, man gibt im Grunde genommen nur unnötig Geld aus, um damit etwas zu kaufen, an dem so viel Elend und Leiden hängt. Aber man möchte ja nun einmal eine schöne Aussteuer. Da frage ich euch jedoch, was nützen einem die hübschen modischen Spitzen, wenn man einen schlechten Ehemann hat? Und wenn ein Mädchen an einen Taugenichts gerät, so werden es auch all diese Stickereien nicht vor der Armut bewahren. Und wenn jemand einen Mann heiratet, der ein flatterhafter Mensch ist und sie im Stich läßt, ohne für sie zu sorgen, dann wird sie von ihren Näharbeiten ganz bestimmt nicht leben können, und weil die Frauen ihren Lebensunterhalt nicht selbst verdienen können, werden sie in so einem Fall bittere Not erleiden. Wenn der Ehemann ein Spieler ist, so wird er alles verkaufen, um genügend Geld für seine Spieleinsätze zu haben. Dann hat man umsonst über seinen Stickereien gelitten, denn sie sind jetzt keinen Heller mehr wert.« Xiaoyu fuhr fort: »Meine Schwestern! In dieser Welt herrscht eine grenzenlose Ungerechtigkeit! Wie konnten unsere Vorfahren nur eine derart verdrehte Ordnung errichten? Warum soll man die Männer ehren, die Frauen aber sollen gar nicht zählen? So haben die Frauen zum Beispiel überhaupt kein Anrecht auf einen Anteil am Besitz von Reichtümern, das gesamte Erbe fällt an die Söhne.[15] Ein Mädchen stammt doch ebenso von seinen Eltern ab, wie ein Sohn, warum sollte man dann im Augenblick der Verteilung der Erbschaft mit zweierlei Maß messen? Wenn wir erst einmal verheiratet sind, sind wir uns selbst überlassen, man kann uns nach Lust und Laune mißhandeln, niemand regt sich darüber auf, und wenn Streitereien im Hause herrschen, so wird niemand sagen, daß das daher kommt, daß wir füreinander ausgewählt wurden, obwohl wir nicht zusammenpassen, sondern man wird sagen, das sei nun einmal unser Schicksal, und wir müßten es hinnehmen. Das Gebot des dreifachen Gehorsams ist absurd, da es den Ehemann in den Rang eines himmlischen Herrschers emporhebt. Es ist völlig bedeutungslos, daß man im allgemeinen von Herrn und Frau Sowieso spricht, die Frau besitzt in Wirklichkeit nicht die geringste Handlungsfreiheit, selbst wenn es um Entscheidungen geht, die die Familie selbst betreffen, sie muß in allen Dingen den Weisungen ihres Mannes Folge leisten, und wenn sie es sich erlaubt, in irgendeiner Sache auch nur die geringste Initiative zu ergreifen, so kommt es zu einem riesigen Krach. Sie muß unterwürfig alle Vorwürfe ihres Ehemannes einstecken, und muß, damit man von ihr sagt, sie sei eine gute Ehefrau, alles tun, was ihr Mann will, und sie muß es so tun, wie er es will. Sie muß ohne Widerrede seinen ausschweifenden Lebenswandel ertragen, tut sie es nicht, so wird sie zum Gespött der Leute, und man sagt von ihr, sie sei eifersüchtig. Tut es einem etwa nicht weh, wenn man zusehen muß, wie die Konkubinen und Geliebten den Ehemann umringen, sobald er in Erscheinung tritt? Wenn nun der Ehemann ein Lebemann ist, der seine Familie vernachlässigt, sich ein hübsches Häuschen leistet und dort haufenweise neue Frauen um sich versammelt, so mag seine Frau sich noch so sehr darum bemühen, auch reizvoll zu sein, oder sie mag eifersüchtig werden, was ihr Mann außerhalb des Hauses tut, geht sie nichts an. Oder aber es wird unser Los als Frauen sein, jene täglichen Streitereien zu ertragen, in denen die erste Frau schlimmer als der letzte Dreck behandelt wird. Im tiefsten Innern der Frauengemächer wird unser Zorn verrauchen und unsere Tränen werden versiegen, während sich unsere Ehemänner in Gesellschaft der anderen Frauen herumtreiben. Wenn wir einer unteren sozialen Schicht angehören, so können wir noch unseren Lebensunterhalt verdienen, indem wir irgendwo als Dienerinnen arbeiten, das erspart uns wenigstens jene unflätigen Auftritte. Wenn wir dagegen einer gehobeneren sozialen Schicht entstammen, so müssen wir jedesmal, wenn wir das Haus verlassen, eine Sänfte benutzen, und eine Dienerin muß uns überall hin begleiten. Wir kennen uns außerhalb des Hauses nicht aus, besitzen keinerlei Ausbildung, die es uns gestatten würde, unseren Lebensunterhalt zu verdienen, und es kommt für uns überhaupt nicht in Frage, uns als Dienerinnen zu verdingen. Angesichts einer solchen Situation bin ich sehr ärgerlich.« Im südlichen Hof hört man Singen, im nördlichen Weinen, die neue Frau freut sich, die alte langweilt sich. Trauer und Krankheit stehlen uns unsere ganze Zeit und unsere Jugend ist uns verdorben. Wenn wir auch nur ganz zaghaft versuchen, einem gewissenlosen Ehemann etwas Widerstand entgegenzusetzen, so erwerben wir uns den Ruf, eine schlechte Ehefrau zu sein. Wir haben kein Recht auf Einblick in Familienangelegenehiten, alle Güter gehören einzig und allein dem Ehemann. Lasttiere, das sind wir unser ganzes Leben lang! Wir müssen unserem Herrn gehorchen, als wären wir auf Lebenszeit verkaufte Sklaven. Wenn unser Ehemann stirbt, so haben wir kein Anrecht auf irgendetwas, alles fällt demjenigen zu, der den Platz des Familienoberhauptes einnimmt. Schon in den kleinsten Dingen darf die Frau keinerlei Verantwortung übernehmen, und wenn sich nun einmal etwas Wichtiges ereignet und kein Mann da ist, der sich darum kümmern könnte, so darf sich eine Frau dafür gar nicht erst anbieten, weil niemand Vertrauen in das hat, was eine Frau sagt. Man läßt sie aufwachsen, ohne ihr Gelegenheit zu geben, zu lernen, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienen kann. Und wenn eine Frau, die aus einer armen Familie stammt, nachdem sie in eine reiche Familie eingeheiratet hat, möchte, daß die Familie ihres Mannes ihre eigenen Eltern finanziell unterstützt, so wird ihre angeheiratete Familie diesen Wunsch wie ein Verbrechen hinstellen. Finanzielle Unterstützung zu erhalten, ist eben so unmöglich, wenn der Ehemann bedürftig und die eigene Familie wohlhabend ist. Die Frauen haben absolut kein Recht. Warum zwingt man sie, so zu leben? Auf der ganzen Welt gibt es eine derartige Ungerechtigkeit nur zwischen Mann und Frau. Und das alles, weil die Frauen unnütze Wesen sind. Da sie nicht ihr eigener Herr sein und ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können, sind sie immer abhängig von anderen. Das betrifft uns alle, uns,
deren Schicksal es nun einmal ist, Frauen zu sein, uns, die wir die Gemeinheit unserer Familien ertragen und viel gelitten haben.
Die Zukunft wird uns nichts Gutes bringen, wenn es uns nicht gelingt, unabhängig zu werden, und unser Brot selbst zu verdienen. Indem wir über die Welt schimpfen, werden wir unsere Schwestern nicht aus diesen Höllenqualen befreien. Seht zum Beispiel meine Mutter an: Sie ist eine Konkubine und wird in diesem Leben niemals die Möglichkeit haben, sich in irgendeiner Weise hervorzutun. Ich werfe der ersten Frau meines Vaters ihr grausames Verhalten meiner Mutter gegenüber gar nicht vor, aber warum hat sie es zugelassen, daß ihr Mann sich eine Konkubine nahm, wenn sie derart eifersüchtig ist? Ich habe alle Hoffnung aufgegeben. Ich    werde sicher mein ganzes Leben lang eingesperrt und von allem ferngehalten werden wie eine Sklavin. Der Himmel ist wirklich ungerecht. Warum läßt er es zu, daß Leute, die unter solchen Bedingungen leben wie ich, überhaupt geboren werden?« Der Schmerz schüttelte sie und ihre Tränen strömten auf ihre Kleider hinab. Die drei jungen Mädchen waren sehr betroffen, umsomehr, als sie alle fürchteten, später ein Leben zu führen wie das, was Xiaoyu eben beschrieben hatte. Beim Gedanken, daß das Leben der Frauen so düster sei, und daß es kein Mittel gäbe, dem zu entgehen, konnten sie ihre Tränen nicht zurückhalten und blieben schweigend sitzen. Da trat Xiurong ein. Sie brachte Kuchen und alle möglichen guten Dinge zu essen herein. Sie war überrascht bei dem Anblick, der sich ihr bot. Sie konnte es sich nicht erlauben, Fragen zu stellen. Sie dachte:

»Es muß etwas vorgefallen sein, daß sie alle so traurig sind. Ich kann es mir nicht leisten, Fragen zu stellen, ich kann aber auch nicht einfach schweigen, beunruhigt wie ich bin.« Xiurong war sehr verwirrt. Sie begnügte sich damit, den Tisch zu decken und forderte die jungen Mädchen auf, sich zu Tisch zu setzen. Sie sagte zu ihnen: »Meine Herrin hat heute Gäste, sie hat etwas mit ihnen zu besprechen. Deshalb kann sie nicht zu euch kommen. Sie läßt euch bitten, euch wie zuhause zu fühlen und es euch schmecken zu lassen.«

Die vier jungen Mädchen standen auf und versuchten, ihre Tränen zu trocknen. Sie nötigten sich gegenseitig, die Kuchen zu essen, aber sie brachten auch nicht das kleinste Stückchen »xiang-gao« hinunter. Sie tranken langsam und schweigend in kleinen Schlückchen ihren Tee und blieben einen Augenblick mit gesenkten Köpfen sitzen, ihre Finger waren damit beschäftigt, einen Zipfel ihres Gewandes zu zerknittern. Da dachte Aiqun, daß man über etwas anderes reden müsse und fragte Zhenhua: »Ich habe schon vor langer Zeit von deinem dichterischen Talent vernommen, man kann dich gut und gern mit der Dichterin Xie [16] vergleichen, deine Gedichte sind sehr schön. Vor einigen Tagen habe ich einige von ihnen gelesen, und ich habe dich sehr bewundert. Würdest du mich deine Schülerin sein lassen?« Zhenhua antwortete ihr sogleich unterwürfig: »Meine Schwester, warum soviel Höflichkeit? Ich besitze einige Kenntnisse, aber ich kann mich bei weitem nicht mit dir messen. Ich verbeuge mich in großer Bewunderung vor dir. Deine Gaben als Dichterin sind bei weitem größer.« Da sagte Xinghua: »Genug der Bescheidenheit! Euer beider Gedichte stehen in gutem Ruf. Ihr solltet euch lieber über mich lustig machen. Ich bin Anfängerin und schreibe noch sehr schlecht, ich gebe vor, eine Dichterin zu sein, aber meine Gedichte sind eher vom Stile einer Chansonette. Ich schäme mich ein bißchen, denn wenn man über meine Gedichte redet, läuft man Gefahr, sich darüber kaputtzulachen, so lächerlich sind sie. Das was ich mache, hat mit den richtigen Versen und Strophen, wie ihr sie macht, nichts zu tun. Eure Verse sind so schön, daß man sie tausendmal wiederlesen kann, ohne ihrer überdrüssig zu werden.« Zhenhua sagte sogleich zu ihr: »Laßt uns nicht leere Worte schwatzen. Deine Gedichte sind sehr schön, du bist als Dichterin bekannter als Zuo Fen.[17] Du besitzt ein so großes Talent und ein derartiges Wissen, wie man es selten findet. Warum machst du dich über uns lustig?« Xinghua wollte ihr gerade antworten, als sie die Stimme einer Dienerin vernahm, die sagte: ,Jurui ist angekommen. Sie ist jetzt gerade bei Frau Liang, die jemanden geschickt hat, um das Fräulein zu holen. Xiaoyu erhob sich, um zu ihr zu gehen, aber die drei anderen hielten sie zurück und sagten ihr, sie solle noch einen Augenblick warten. Ich weiß nicht, was sie ihr sagen wollten. Ihr werdet im nächsten Kapitel erfahren, wie sie dem Himmel das Fürchten beibringen und die Erde erbeben lassen. Laßt uns einen Augenblick innehalten und einen Schluck Tee trinken, ehe wir fortfahren.

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