Teil II: Frauenaktion und Klassenkonflikte 1848/1849

Katzenmusiken, Krawalle und »Weiberrevolution« .
Frauen im politischen Protest der Revolutionsjahre

»...selbst Weibs-Personen« waren dabei, berichtete indigniert der Heilbronner Oberamtmann im März 1848, noch ganz unter dem Schock der ersten Straßentumulte.[1] Die Revolution, die wenige Tage zuvor mit ordentlichen Bürgerversammlungen, wohlgesetzten Reden und dem »Wunsch« nach mehr bürgerlicher Freiheit[2] begonnen hatte, mündete nun in Eruptionen >der Straße<. Zum Entsetzen der »angeseheneren Bürger« und »rechtlichen Männer«[3] wurde mit »Tumulten« und »Katzenmusiken« die Verwirklichung der Revolution auf Gemeindeebene gefordert; »Menschenmassen«[4] durchzogen die Straßen und drängten auf den Rücktritt der alten lokalen Obrigkeiten. Dieser Protestbewegung im März folgte eine zweite Welle von Krawallen im September 1848, und im Frühjahr 1849, als die demokratischen Bemühungen um Revolution und Reform zunehmend aussichtsloser schienen, eskalierten die politischen Konflikte in immer heftigeren Tumulten und Kundgebungen, mit denen eine kleinbürgerlich-proletarische Gegenöffentlichkeit ihren Unmut über den Gang der politischen Entwicklung zeigte.[5] Bei etlichen der 1848 stattfindenden Aktionen waren Frauen beteiligt. In den Berichten werden sie gewöhnlich summarisch erwähnt, meist mit den Formeln »auch Weibspersonen« waren anwesend (SK 23.3.48), »unter den tobenden Haufen befanden sich viele Weiber« u.a.[6]
Umso mehr fällt auf, daß in den Berichten über die Aktionen 1849 von Frauen nicht mehr die Rede ist. Interessant ist deshalb, warum und unter welchen Bedingungen Frauen auf die Straße gingen, um zu protestieren. Und ob sich - im Hinblick auf das Verhalten der Frauen bei den Brotkrawallen 1847 wie auch in den Jahren der Revolution - eine Kontinuität weiblicher Protestformen und Protestziele beobachten läßt. Insgesamt sind die Informationen über das Protestverhalten von Unterschichtsfrauen in den Jahren der Revolution spärlich. Da in keiner württembergischen Stadt Frauen wegen politischer Protestaktionen gerichtlich belangt wurden, existieren weder Verhörprotokolle noch gibt es Hinweise auf die Identität der protestierenden Frauen. Die folgende Analyse weiblichen Protestverhaltens basiert auf eher fragmentarischen Informationen. Über die Beschreibung einzelner Konfliktfelder und die Interpretation kultureller Sinnzusammenhänge ist es jedoch möglich, an einzelnen Punkten spezifisch weibliche Strukturen politischen Handelns sichtbar zu machen.
Ein Vergleich der amtlichen Berichte über die politische Bewegung 1848/1849 zeigt, daß Frauen am häufigsten bei den Krawallen und Katzenmusiken im März 1848 beteiligt waren,[7] wobei die Protestbereitschaft der Frauen fraglos die allgemeine »Aufregung«[8] und die hochgespannten »Erwartungen«[9] der ersten Revolutionswochen widerspiegelt. Die Teilnahme der Frauen an diesen ersten Straßentumulten hing aber auch, wie eine genauere Analyse aufdeckt, mit den Organisationsformen dieser Proteste und dem jeweiligen Protestziel zusammen.
Bei der Eßlinger Katzenmusik in der Nacht vom 19. auf den 20. März 1848 versammelte sich »eine Masse von mehreren hundert Personen« , hauptsächlich Arbeiter und Arbeiterinnen der Eßlinger Fabriken, Handwerksgesellen, Lehrlinge sowie männliche und weibliche Dienstboten, vor dem Haus eines unbeliebten städtischen Beamten, wo sie im Chor schrien, pfiffen und lärmten. Schließlich wurde das Haus von der »tobenden Menge« mit Steinen beworfen, und einzelne Tumultanten schlugen mit Stangen gegen Fenster und Türen.[10] Politische Kritik bediente sich bei diesen recht lautstarken nächtlichen Aktionen der Sprache des Zorns; Wut wurde szenisch agiert mit drohender Gestik, schrillem Geheul, verbalen Ausbrüchen und Beschimpfungen. Rhythmisiertes »Geschrei, Pfeifen, Zischen« und das Absingen von »Spottliedern« waren wesentliche dramaturgische Elemente im geordneten Chaos der Katzenmusiken,[11] die nach ihrer französischen Herkunft auch Charivari genannt wurden. Diese lautmalerischen »Spectakel«[12] stellten eine Aktionsform dar, in deren Szenario dem Schimpfen der Frauen geradezu rituelle Funktion zukam. Wie Sabine Kienitz zeigt (Kap. 1.4), waren beim Stuttgarter Brotkrawall 1847 »freche Weiber« (AZ 5.5.47) die lautesten beim Schreien.
Der Eßlinger Schultheiß ging in seinem Bericht nicht näher auf die Frauen und ihr Verhalten ein. Sie waren Teil der »Menge« , und der Beamte nannte sie nicht zufällig in einem Atemzug mit »meist junge(n) Leuten und Lehrlingen«.[13] Ihre Teilnahme war für den Beamten ein Grund, die politische Bedeutung des Protestes herabzuspielen, die Akteure als »politisch Unmündige« abzuqualifizieren.[14]
Aus der Perspektive der Tumultanten stellte sich diese Frage der politischen Kompetenz von Frauen nicht. Die Protestbewegung entwickelte sich aus einem in sich einheitlichen Milieu städtischer Unterschichtsexistenz, in dem weibliche und männliche Lebensbereiche nicht in diesem Maße getrennt waren wie in der Welt des Bürgertums (Kap. 1.2). Als Versorgerinnen ihrer Familien und Erwerbstätige fühlten sich die Frauen nicht weniger als ihre Männer von einzelnen Entschlüssen der lokalen Behörden betroffen. Schließlich griff kommunale Politik, z.B. mit Fleisch- oder Brottaxerhöhungen, unmittelbar in das Leben der Unterschichtsfamilien ein.[15] Frauen und Männer der Unterschichten teilten gleichermaßen wirtschaftliche und soziale Unsicherheit. Männer der Unterschichten erfuhren aufgrund ihres sozialen Status oder abhängiger Arbeit oft eine ähnliche Rechtlosigkeit wie Frauen aufgrund ihres Geschlechts. In der Gemeinde besaßen Unterschichtsmänner nur Mitspracherechte, wenn sie Ortsbürger waren und bestimmte Bedingungen erfüllten. Wer nicht am Ort seines Aufenthalts geboren war und kein Geld hatte, sich ins Bürgerrecht einzukaufen, hatte in der Gemeinde, in der er lebte und arbeitete, kein kommunales Wahlrecht, noch ein Recht auf Versorgung. Ebenfalls ohne Bürgerrecht war, wer in abhängiger Stellung arbeitete oder nicht in der Lage war, einen eigenen Haushalt zu führen. Auch wer die Rechte in seiner Heimatgemeinde besaß, konnte diese jederzeit verlieren, wenn er wegen Bettels vorbestraft oder in Not geraten war und von Armenunterstützung leben mußte.[16] Die sporadische Auflehnung in rituellen und kollektiven Protestaktionen war neben der unterwürfigen Geste der Petition oft die einzige Möglichkeit dieser Gruppe, sich politisch zu artikulieren.
Frauen schließlich, und dies betraf bürgerliche Frauen wie Angehörige der Unterschichten, waren ohnehin aufgrund ihres Geschlechts von jeder Form der politischen Partizipation ausgeschlossen. Sie galten im 19. Jahrhundert nicht als eigenständige Personen mit bürgerlichen Rechten; bis 1828 standen sie in Württemberg sogar noch bei allen Rechtsgeschäften unter der Geschlechtsvormundschaft ihrer Väter und Ehemänner.[17] Ihr sozialer und politischer Verhaltensspielraum war damit von vornherein auf die Form periodischer Unmutsäußerungen beschränkt.

Traditionale Freiräume

Dieser gemeinsame Erfahrungshorizont und Lebenszusammenhang von Männern und Frauen der Unterschichten war entscheidend für die Teilnahme an der Protestaktion.[18] In den meisten Fällen entwickelte sich die Bereitschaft zum Protest aus dem Gerede im Viertel, aus Gerüchten und Wirtshausgesprächen.[19] Spätestens der Lärm der beginnenden Katzenmusik lockte die Nachbarn im Viertel aus den Häusern. Kerngruppen dieser spontanen »Aufläufe« und »Zusammenrottungen« waren bestimmte Kleingruppen, z.B. Stammtischrunden von Handwerkern oder Arbeitern, oder die Belegschaft eines Betriebs, auch Nachbarn, die sich absprachen. Die Teilnahme war kein individueller Entschluß, sondern die einzelnen zogen in Gruppen los, bildeten sozusagen, um eine Formulierung des Eßlinger Schultheißen zu benützen, eigene »Clubbs«.[20] Auch Frauen, die sich an solchen Protestaktionen beteiligten, gingen selten allein. Zumindest zeigt der Stuttgarter Tumult 1847, über den nähere Informationen vorliegen, daß Frauen mit Bekannten oder Verwandten unterwegs waren.
Wie Protestaktionen aus alltäglichen Kommunikationsstrukturen herauswuchsen, illustriert ein Bericht des Oberamtes Schorndorf, der den Entstehungsprozeß einer Katzenmusik beschreibt. Ausgangspunkt war ein »Straßenfest« an einem Sommerabend 1848, bei dem offensichtlich Demokraten, Frauen und Männer,
»auf freier Straße Tische mit Beleuchtung aufgestellt, Getränke in Kübeln herbeigeschafft« hatten und gemeinsam feierten.[21] »Von dieser Zechgesellschaft, welche in etlich und 20 bestanden... seyen forthwährend Lebehoch-Rufe für Republik und Hecker[22] ausgebracht worden... Gegen 11 Uhr habe jene Gesellschaft noch eine Musikbande herbeigeholt, welche FreiheitsGesänge abwechselnd habe spielen müssen... Später durchzog die Gesellschaft mit ihrer Musikbande noch alle Gassen der Stadt« und spielte all jenen auf, von denen sie wußte, daß sie politisch anderer Gesinnung waren.
Schimpfende Weiber und patriotische Jungfauen                Schimpfende Weiber und patriotische Jungfauen
Doch zurück zu den Katzenmusiken im März. Daß Frauen sich hier so heftig engagierten, zeigt, daß sie sich mit den Zielen der Revolution identifizierten, wobei ihre Motive fraglos eng zusammenhingen mit dem Protestziel der Aktionen. Was reizte, waren die Adressaten dieser Mißfallenskundgebungen.[23] Die Katzenmusiken des März richteten sich nämlich gegen einzelne, den meisten Bewohnern der Stadt bekannte Persönlichkeiten, gegen mißliebige und »hochfahrende« Beamte, gegen langjährige Stadträte, die als unfähig und korrupt bekannt waren, und vor allem gegen die damals nicht gewählten, sondern vom Staat eingesetzten Stadtschultheißen als Repräsentanten der lokalen Obrigkeit. Durch diese Konzentration der kollektiven Aggression auf Einzelpersonen reduzierte sich die Komplexität der politischen Auseinandersetzung: dies ermöglichte einen breiten Konsens und damit eine Integration der verschiedensten Interessen und eine Mobilisierung unterschiedlicher Gruppen.[24] Gerügt wurde in diesem Fall das konkrete Verhalten und die Amtsführung einzelner Personen, mit denen die Frauen ihre eigenen Erfahrungen gesammelt hatten. Die Heilbronner Katzenmusik am 10.3.1848 galt z.B. dem Oberfeuerschauer Omeis, dem Mann, der die offenen Feuer- und Kochstellen in den Häusern kontrollierte und der als besonders schikanöser Beamter verrufen war.[25] In Eßlingen traf es den städtischen Bauverwalter, der den Akkord der Handwerker und städtischen Taglöhner und Taglöhnerinnen drückte, und auch der Criminalcommissair entging dem Volkszorn nicht, denn er hatte mehrfach bei der Ausübung seines polizeilichen Amtes »zuviel Diensteifer gezeigt«.[26]
Die Beteiligung von Frauen an Protestaktionen besaß aber noch eine andere Dimension. Gerade die Eßlinger Katzenmusik weist auf die symbolische Bedeutung des Weiblichen in der sozialen Grammatik des Protestes hin. Das lärmende Auftreten der Frauen in der Öffentlichkeit unterstrich den schmähenden Charakter der Protestaktion. Ihre Anwesenheit wurde deshalb von behördlicher Seite ja auch mißbilligend registriert. Aus männlicher Sicht verließen protestierende Frauen, die sich auf die Straße begaben, den ihnen gesellschaftlich zugewiesenen Platz. Es sind aber genau diese gesellschaftlichen und kulturellen Zuschreibungen von Handlungsräumen und Geschlechterrollen, mit denen im politischen Protest schließlich ein paradoxes Spiel getrieben wurde. Auf der Eßlinger Katzenmusik im März 1848 trug z.B. der Mann, der den Verruf und die Schmährede vorlas, Frauenkleider. Indem der Anführer der Katzenmusikanten in das Gewand des anderen Geschlechts schlüpfte, signalisierte er mit dieser Travestie, daß die Geschlechterordnung auf dem Kopf stand und damit auch die soziale Ordnung gestört war: Frauen, die in der politischen Welt der Männer von rechts wegen nicht zu sagen hatten, nahmen es sich heraus, die Männer politisch zu kritisieren. Das »Mannsbild in Frauenkleidern«[27] brachte diese Situation auf einen sinnfälligen Nenner, wobei der theatralische Effekt der Verkleidung diese Kritik an den politischen Verhältnissen szenisch verdichtete.
Natürlich war die Verkleidung als Frau auch ein Mittel, sich unkenntlich zu machen und sich hinter der Maske der strafrechtlich weniger streng verfolgten Frauen zu verstecken, doch dieser Aspekt scheint eher peripher. Auf der Ebene der symbolischen Interaktion diente das Spiel der »verkehrten Geschlechterrollen«[28] dazu, klarzumachen, daß die kritisierten Personen die ihnen zugewiesene gesellschaftliche Aufgabe nicht oder in einer falschen Weise erfüllten. In Katzenmusiken wurden bestimmte Formen, die u.a. bei Fasnachtsbräuchen entwickelt worden waren, bewußt politisch eingesetzt.[29] Nicht zufällig war neben dem Frauenkostüm auch das Kleid des Narren ein beliebter Katzenmusikantenhabit. Dieser gezielte Anflug von Narretei gab diesen tumultuarischen Aktionen zum Teil einen volksfesthaften Charakter, der allerdings den politischen Ernst nicht verdecken konnte.
Im Unterschied zu den klassischen Rügebräuchen oder karnevalistischen Spielen der »verkehrten Welt« blieben die Protestaktionen des März 1848 nicht beim bloßen »Rebellionsritual«[30] stehen. Das Protestziel war nicht mehr darauf beschränkt, die Einhaltung bestimmter Spielregeln und allgemeinverbindlicher sittlicher Normen zu fordern. Die Aktionen des März zielten nicht mehr nur auf »Integration«,[31] sondern das Zerschlagen von Türen und Fenstern war symbolischer Akt der Exterritorialisierung und Ausbürgerung. Mit den Tritten gegen Türen wurde eine Öffnung des lokalen politischen Systems verlangt, die Einlösung der Versprechen auf politisch-revolutionäre Veränderung auch im kommunalen Bereich. Beim Feuerschauer Omeis in Heilbronn zog die lärmende Menge erst ab, als er seinen Rücktritt versprach,[32] und auch die Eßlinger Beamten sahen sich zu dieser Konsequenz gezwungen. Die Notwendigkeit einer lokalen Obrigkeit, eines Oben und Unten, und die »wechselseitige Loyalität zwischen Beherrschten und Herrschenden«[33] wurde mit diesen Protesten im März 1848 indessen nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Wie Natalie Zemon Davis bemerkt, konnte eine »verkehrte Welt« wieder zurechtgerückt, nicht aber in sich umstrukturiert werden.[34]
Im Vergleich zu den Protestaktionen der ersten Revolutionswochen trugen die Katzenmusiken im Sommer 1848 und vor allem dann im Frühjahr 1849 sehr viel stärker den Charakter politischer Gesinnungsdemonstrationen, vor allem der demokratischen Linken gegen die Konservativen. Bei diesen parteipolitisch motivierten Krawallen waren Frauen auffällig seltener dabei als noch im März, oder sie wurden aufgrund der andersgestalteten politischen Zusammenhänge in den Berichten nicht mehr erwähnt. Es scheint so, als ob die zunehmende parteipolitische Differenzierung den Spielraum der politischen Partizipation von Unterschichtsfrauen im Verlauf der Revolution verengt hätte. In Eßlingen war z.B. mit dem Bruderbund, einer radikaldemokratischen Untergliederung des demokratischen Vereins, eine Organisation entstanden, von deren Mitgliedern die meisten der 1848 und 1849 stattfindenden Straßenkrawalle ausgingen.[35] Die Absprachen für solche Aktionen fanden nun im Rahmen des (Männer-)Vereins statt, dem vor allem Fabrikarbeiter, Taglöhner und Handwerksgesellen angehörten. Frauen waren damit aus dieser Kommunikation ausgeschlossen.
Im September 1848, als die Meinungsgegensätze zwischen Demokraten und gemäßigten Konstitutionellen zu heftigen politischen Fehden und republikanischen Unruhen' führten, waren vereinzelt noch protestierende Frauen dabei, interessanterweise bei Aktionen, die einen ausgeprägten brauchtümlichen Charakter bewahrt hatten. Die im folgenden geschilderte Heilbronner Katzenmusik kannte noch alle Elemente des traditionellen Charivaris, angefangen bei der Maskierung bis hin zum volksfesthaften Äußeren des Umzugs.

  • »Ein Harlequin und einige andere Personen voraus, bewegte sich um 8 Uhr eine Masse junger Leute (meist Kinder, Lehrjungen, zum Theil selbst Weibs-Personen) unter Anschluß fremder und hiesiger Handwerksgehilfen durch die Stadt vor die Wohnungen einzelner, wo denn unter Toben und Schreien und vielerlei Gestikulieren das Wort >Krebs< tausendfältig wiederholt wurde.«[36]

Im Unterschied zu den Eßlinger Aktionen war bei dieser Katzenmusik noch immer das Gerücht mobilisierend, ging der Protest von einzelnen Wirtshäusern und Straßen aus, entlud sich allgemein aufgestauter Unmut. Dennoch sind bei dieser Heilbronner Katzenmusik bereits Elemente des Organisierten festzustellen. Der Anstoß soll vom Demokratischen Verein gekommen sein, und die Fahne des Arbeitervereins hatte laut Polizeibericht von der Rathaustreppe geweht.[37] Im Vergleich zur Modernisierung des Protestverhaltens in Eßlingen, die sich mit ihren vereinsmäßigen Strukturen als Anpassung an bürgerliche Formen politischer Kultur vollzog,[38] bot die in Heilbronn beibehaltene volkskulturelle Form des Protests noch Raum für die Beteiligung von Frauen.

»Weibliche Katzenmusik«

Frauen finden sich aber nicht nur bei Männeraktionen. Im November 1848 inszenierten Stuttgarter Dienstbotinnen eine eigenständige Katzenmusik und setzten diese Protestform für ihre gruppenspezifischen Interessen ein. Ziel ihrer Aktion war kein Politiker, sondern die Frauen spielten einer Engelmacherin auf. Das Stuttgarter »Neue Tagblatt« berichtete fast amüsiert über diese rein »weibliche Katzenmusik«, die für Stuttgarter Verhältnisse eine revolutionäre Neuerung bedeutete:

»Das Jahr 1848 hat ein Genre von Musik in Schwung gebracht, das man zwar auch früher schon kannte, und das in Frankreich unter dem Namen Charivari, namentlich durch den Esel des Herrn Biennet, Pair von Frankreich, eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte, dem es aber doch an der gehörigen Ausbildung und Anwendung gebrach. Die größeren deutschen Städte, besonders im Norden Deutschlands haben seither d.h. seit den Märztagen Treffliches in diesem Genre geleistet, und es gibt dort eigene Katzenmusik Direktoren, ohne deren Leitung nichts Gutes zustande kommt. Hier in Stuttgart kannte man bis jetzt diese Musik nur vom Hörensagen, denn einige projektierte Konzerte dieser Art gelangten nur bis zum entfernten Versuche oder es blieb gar beim guten Willen. Dem weiblichen Geschlecht blieb es in Stuttgart vorbehalten, eine solche Musik, die selbst Katzen zur Verzweiflung bringt, zur förmlichen wohlgelungenen Ausführung zu bringen. Doch war es keine Galanterie zartfühlender Seelen einem flatterhaften Liebhaber gegenüber, sondern die Anerkennung der Verdienste einer Dame. Am Freitagabend schaarten sich im obern Theil der Langestraße etwa dreißig Dienstmädchen zusammen und brachten einer Frau, welche dafür gilt, andern gerne aus Leibes- und Liebesnöthen zu helfen, in Folge einer Diskussion am Brunnen eine so vortrefflich durchgeführte Katzenmusik mit Hülfe von Deckeln und Pfannen, Kübeln, Häfen und dergleichen Instrumenten, daß vor lauter Entzük-ken die ganze obere Stadt zusammenlief, die erste gelungene Aufführung dieser Art in Stuttgart zu bewundern.« (NT 7.11.48)

Im Gegensatz zu den bisher in Stuttgart üblichen Flegeleien jugendlicher Radikaler, »meist Handwerksburschen« , vor den Kasernen[39] und den stereotypen »Hek-ker hoch« Rufen nächtlich umherziehender Gruppen, war die Demonstration der Dienstbotinnen reich instrumentiert. Die Frauen benutzten das ganze Arsenal der ihnen zur Verfügung stehenden Hausgeräte. Als gemeinsames Musizieren war diese Katzenmusik einerseits organisiert, andererseits bot das Theatralische der Aktion genügend Spielraum für eigene lautmalerische Erfindungen. Insgesamt erlaubte diese Form der Katzenmusik eine Kreativität, die vielleicht gerade Frauen anzog. Daß die Dienstbotinnen bei ihrem Protest, der in seinen sozialen Auswirkungen eine Verrufsaktion war, zum Mittel der Katzenmusik griffen, wirft nochmals die Frage auf, woher dieses kulturelle Muster der rituellen Schimpfmusiken eigentlich kommt. Haben sich z.B. die Dienstbotinnen wirklich vom politischen Klima und den Protestmodellen der Revolution inspirieren lassen, - wie das »Neue Tagblatt« in seinem Bericht vermutet -, oder haben sie möglicherweise einfach Rügebräuche praktiziert, die ihnen aus ihrer dörflichen Heimat vertraut waren?
In der Protestliteratur[40] wird gewöhnlich davon ausgegangen, daß die Katzenmusiken der Revolutions jähre eine politisierte Fortsetzung vorindustrieller Jugendkultur darstellten, also ländliche Bräuche waren, die in die Stadt transportiert wurden. Und in der Tat beziehen die Katzenmusiken ihr Repertoire und ihre Dramaturgie aus den traditionellen Rügebräuchen, wie sie z.B. bei der Fasnacht üblich waren. Was sie aber von diesen brauchtümlichen Formen unterschied, war die Zusammensetzung der Akteure und das Ziel der Aktion. In den Regionen, wo es im 19. Jahrhundert noch Rügebräuche gab, waren diese überwiegend Sache der Knaben und jungen Männer. Frauen dagegen waren eher Opfer dieser Strafrituale. Bei den städtischen Katzenmusiken der Revolutionszeit aber waren Frauen dabei oder waren sogar selbst initiativ. Von einer direkten Übertragung dörflicher Gewohnheiten in die Stadt kann also bei den Dienstbotinnen nicht gesprochen werden, wenn, dann handelte es sich eher um eine schöpferische Aneignung. Daß sich in den Katzenmusiken der Jahre 1848/1849 ungebrochen ländliches Brauchtum fortsetzte, ist auch deshalb unwahrscheinlich, weil es zu diesem Zeitpunkt -zumindest in Württemberg - keine lebendige Praxis der Charivaris mehr gab. Im Unterschied zu Bayern und Franken sind für Württemberg Fälle von Katzenmusiken als sozialmoralische, kollektive Strafe für Normverletzungen im innerfamiliären oder sittlichen Bereich, also z.B. bei Ehebruch, Unehelichkeit etc., bisher nicht dokumentiert.[41] Dies mag unter anderem daran liegen, daß sich rituelle Rügen von sexuellen Verfehlungen in dieser Zeit längst als obsolet erwiesen hatten. Die in Württemberg seit 1833 bestehenden Verehelichungsbeschränkungen führten zu einer dermaßen großen Zahl von unehelichen Geburten, daß z.B. ledige Kinder oder unverheiratet zusammen lebende Paare in den Unterschichten gang und gäbe waren.[42] Mit den Verehelichungsbeschränkungen und der wachsenden Zahl unehelicher Geburten verloren solche Strafaktionen letztlich ihren Sinn, da ihr Ziel, die Wiederherstellung verletzter Normen, nicht mehr erreichbar war.
Der politische Protest der Revolutionsjähre wie auch die »weibliche« Katzenmusik hatten so ihre Wurzeln eher in den periodischen politischen Tumulten und Aufläufen, wie sie zuletzt bei der Revolution 1830 zu beobachten waren.[43] Diese Form des Protestes war ein vorwiegend städtisches Phänomen, da sich hier die Bevölkerung wie auch die politische und ökonomische Macht konzentrierten. Die Konfliktrituale und -Strategien gingen deshalb eher auf traditionelle zünftische Gesellenkämpfe,[44] denn auf ländliche Sittengerichte zurück. Die Katzenmusiken 1848 zeugen schließlich auch von einem intensiven interkulturellen Austausch. Bräuche und Ideen wurden durch das Medium der Zeitung, aber auch durch mobile Gruppen wie Handwerksgesellen, Fabrikarbeiter/innen und Dienstbotinnen von einer Region in die andere getragen. Für diesen Import spricht auch der Tagblattartikel. Wie die häufige Benutzung der Bezeichnung »Charivari« andeutet, war hier vor allem die französische (Polit-)Folklore maßgeblich, die im Verlaufe von zwei Revolutionen einen festen Stil ausgebildet hatte. Unter dem Stichwort »Charivari« schreibt z.B. das »Damen Conversations Lexikon« 1834:

»Charivari, Spott- oder Schimpfmusiken, auch Katzenmusiken genannt, die leider Personen jeglichen Standes gebracht worden sind, Sängerinnen wie französischen Deputierten - der Todfeind der Serenaden. Die Franzosen und Italiener übertreffen darin die harmonischen Deutschen bei weitem.«[45]

»Es war die Nacht der Serenaden:
Das souveräne Volk von Gottes Gnaden
Zog mit wenig Licht und viel Geschrei
Vor seine hohe Polizei...
Vor dem Palais der hohen Kammer,
Als auf der Stiftskirch' sich der Hammer
Zur eilften Stunde grad erhoben,
Begunn ein wildes Thun und Toben.
Aus allen Dächern, Löchern, Fenstern
Erschien ein Zug von Nachtgespenstern,
Ein langes Heer geschwänzter Gäste,
Die, nicht zu dem Walpurgisfeste,
Nein, zu Gesang und Serenaden
Einander brüderlich geladen...«
(Laterne Nr. 12, 5.11.1848. Landesbibliothek Stuttgart)

1848 hatten die Deutschen offensichtlich dazugelernt. Vor allem die linksbürgerliche Presse goutierte anfänglich diese Form der volkstümlichen Meinungsäußerung und trug so wesentlich zur Verbreitung dieser politischen Mode bei. Gleichzeitig bemühte sie sich um historische Fundierung und Anknüpfung an deutsches Brauchtum. Das Schorndorfer »Amts- und Intelligenz-Blatt« druckte z.B. einen belehrenden Artikel über das bayerische »Haberfeldtreiben« ab (AIS 14.3.48), und jeder lokale Krawall, jedes nächtliche Lärmen wurden 1848/1849 von der Zeitungsberichterstattung in dieses Gewand gesteckt, egal, ob es sich um nachts randalierende männliche Betrunkene oder sich streitende Frauen einer ländlichen Spinnstube (Beob 23.3.49) handelte.
Wie die Katzenmusik der Stuttgarter Dienstbotinnen zeigte, nahmen Unterschichtsfrauen 1848 solche politischen Innovationen auf und paßten sie den eigenen Bedürfnissen an. Insofern kann durchaus von einem politischen Lernprozeß gesprochen werden. Da eine große Zahl der unehelichen Kinder im 19. Jahrhundert auf Dienstbotinnen entfiel, wie u.a. die Ausweisungen aus Stuttgart zeigen,[46] spiegelte diese Aktion ein akutes soziales Problem dieser Frauen wider (Kap. 1.2). Engelmacherin und Kupplerin war hier Symbolfigur für das ganze Liebeselend der Dienstbotinnen, und die ihr geltende Schimpfmusik war so gesehen ein höchst politischer Akt. Wichtig ist schließlich auch, daß das Protestverhalten der Dienstbotinnen im wesentlichen »erfahrungskonstitutiert«[47] war, ein Merkmal, das für das Protestverhalten von Unterschichten allgemein charakteristisch war, und was auch bei den Brotkrawallen 1847 zu beobachten ist (Kap. 1.4 und 1.5). Ausschlaggebend für ihr Handeln war wahrscheinlich eigene Betroffenheit oder die Identifikation mit den Erfahrungen anderer, möglicherweise einer Berufskollegin, die vielleicht das Opfer der Engelmacherin geworden war. Typischerweise entwik-kelte sich diese Aktion aus Arbeitsgesprächen am Brunnen,wo Dienstbotinnen sich gewöhnlich beim Wasserholen über die Neuigkeiten im Viertel austauschten. Das Beispiel dieser »weiblichen Katzenmusik« unterstreicht noch einmal die All-tagsbezogenheit dieser Form des Protests.

Eskalation der Gewalt

Genau dieser Aspekt aber tritt im Verlauf der Revolution in den Hintergrund, und dies wirkt sich schließlich auch auf die Teilnahme von Frauen aus. Politischer Protest orientierte sich zwischen September 1848 und Frühjahr 1849 immer mehr an den politischen Parteigrenzen, wobei sich 1849 die Fronten zusehends verhärteten, und die Schimpfmusiken und Krawalle im April und Juni 1849 gehässiger und gewalttätiger wurden. Die überbordenden Aggressionen waren oft nur Ausdruck für die politische Hilflosigkeit der demokratischen Linken. Einzelne Konservative wie z.B. der Nürtinger Abgeordnete Rümelin wurden ständig und in den verschiedensten Städten mit solchen Schimpfmusiken bedacht. Das drohende Scheitern des Verfassungswerkes der Nationalversammlung steigerte die Wut der Katzenmusikanten,[48] und Polizei und Staat reagierten nun mit rigider Strafverfolgung. Jetzt wurde mit gezückten Säbeln vorgegangen, wurde verhört und verhaftet, und einige der Rädelsführer auch zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt.
Abgesehen davon, daß Parteipolitik Frauen weitgehend ausschloß, war es wohl auch die Gewalttätigkeit der Aktionen, die Frauen davon abhielt, sich in diese Auseinandersetzungen einzumischen. Wenn wir in den Akten noch Frauen finden, dann sind es Kellnerinnen und Wirtinnen, die bei den Prozessen als Zeuginnen vernommen wurden und manchem Tumultanten zu einem Alibi verhalfen.[49]
Eine Scheidelinie zwischen Katzenmusiken und diesen gewalthaften Aktionen des Frühjahrs 1849 zu ziehen, fällt schwer. Auch Katzenmusiken waren nicht frei von Gewalt. Steinwürfe und Stockschläge gegen Türen und Läden begleiteten ja oft die eigentliche >Musik< Der Gewalteinsatz war allerdings-und dies ist wesentlich für Katzenmusiken-rituell begrenzt; es kam selten zu Tätlichkeiten gegen die gerügten Personen. Ohne »Unannehmlichkeiten« zu erfahren, konnte sich z.B. der beschimpfte Eßlinger Schultheiß im März 1848 unter die Menge begeben.[50]
Im Frühjahr 1849 dagegen nahmen die direkten Angriffe gegen Personen zu. Wie die konservative Zeitung »Laterne« in einem auf die letzten Revolutionswochen rückblickenden Bericht schrieb, lärmten im radikalen Heilbronn die »Blou-senmänner« des Arbeitervereins nicht mehr nur nachts vor den Häusern der Reaktionäre, sondern »brutale Burschen mit Blousen und Hahnenfedern (lungerten in den Straßen), beschimpften die Vorübergehenden und bedrohten den Bürger, der anderer Gesinnung war.« (Laterne 10.7.1849) Betroffen davon waren auch bürgerliche Frauen, die stellvertretend für ihre Männer auf den Straßen als »Krebse« beschimpft wurden. Nach den Schilderungen der »Laterne« machte das demokratische »Gesindel« auch nicht halt vor der »hochachtbaren« Gattin des Nationalversammlungsabgeordneten Rümelin, die sich in Heilbronn aufhielt, um ihre Entbindung abzuwarten. »Am Arme ihres Vaters wollte nun diese Frau eine nothwendige Bewegung im Freien sich gönnen und da ward ihr... (eine) ihr Innerstes erschütternde Beleidigung in solch pöbelhafter Weise zu Theil, daß sie am ganzen Leibe zitternd kaum noch die Heimath zu erreichen vermochte!!« (Laterne 22.6.49). Empört über diese »Rohheit der Sitten« , sprach die Zeitung vom »Terrorismus der Gesinnungstüchtigen« .
Die Situation 1849 war so aufgeladen, daß jede Kleinigkeit genügte, einen Proteststurm zu erregen. Obwohl Frauen bei solchen gewalttätigen Krawallen keine Rolle mehr spielten, konnte es passieren, daß sie wie am 17.6. in Ulm einen gewalttätigen Zusammenstoß der politischen Gegner auslösten. Die schwersten Auseinandersetzungen zwischen Bevölkerung und Militär, die Ulm 1849 erlebte, gingen auf eine Frau oder besser auf einen Vorfall zurück, der »ohne alle politische Veranlassung und Färbung« war (Beob 30.6.49). Beim sonntäglichen Tanz in einem Wirtshaus wollte ein Polizeioffizier - wie es im Amtsbericht heißt - ein »liederliches Weibsbild arretiren«.[51] Der »Beobachter« sprach von einer »Dirne« und ihrem »Galan« (30.6.49), die sich der Verhaftung widersetzten und von dem Polizisten »mißhandelt« worden waren. Für die übrigen Gäste des Lokals « war dies das Signal zum Angriff. Als der Polizist floh, verlagerte sich der Konflikt vom Wirtshaus auf die Straße. »Nun sammelten sich... viele Haufen vor dem Rathaus, um die Bestrafung des Policeidieners zu verlangen.« »Immer drohender wurden die Haufen am Rathause« , berichtete der Korrespondent der »Laterne« und vermutete zuerst, »es sollte dem Schultheißen eine Katzenmusik gebracht werden« (Laterne 22.6.49). Die »drohende Menge«[52] wandte sich dann aber gegen die am Markt Hauptwache haltenden bayerischen Soldaten und fing an, diese zu beschimpfen. Da Bayern auf Seiten der Reichsverfassungsgegner stand, waren die in der Bundesfestung Ulm stationierten bayerischen Truppen bei den Ulmer Demokraten nicht gern gesehen. Als die Bayern Verstärkung holten, führte dies zu einem Zusammenprall der auf gebrachten Volksmenge mit dem Militär; es entwickelte sich eine heftige Straßenschlacht, die mit dem Tod eines Arbeiters endete. Ein Soldat oder Bürgerwehrmann hatte in die Menge geschossen.

»Eine Revolte unter dem Weibervolk«

Obwohl Unterschichtsfrauen durch den Wandel der politischen Kultur im Verlauf der Revolutionsjahre in eine größere Distanz zur Politik gerieten, bedeutete dies nicht, daß sie sich 1849 völlig aus den politischen Auseinandersetzungen heraushielten. Vor allem dort, wo die Politik in die Familie hineinreichte, sahen sich Frauen zur Parteinahme gezwungen. In den entscheidenden Tagen der Revolution, als die Bürgerwehren in Württemberg über eine Beteiligung an den Reichsverfassungskämpfen diskutierten[53] und die württembergische Regierung sich am 7.6. gegen die Nationalversammlung erklärt hatte, stand jeder Wehrmann und mit ihm seine Frau vor der Frage des Pro oder Contra. Wie in Heilbronn (Kap. II. 3) mobilisierte auch in Freudenstadt der Demokratische Verein für einen Auszug Richtung Baden, an dem sich allerdings nur ein Teil der Freudenstädter Bürgerwehr beteiligte. Die politische Feigheit der Zurückgebliebenen wie auch die Angst um die eigenen Männer erboste die Frauen der Ausgezogenen dermaßen, daß es einen Tag nach dem Abmarsch der Bürgerwehr zu einer »Revolte unter dem Weibervolk« kam (Laterne 1.7.49). Da es im späteren Hochverratsprozeß für die ausgezogenen Wehrmänner um langjährige Haftstrafen ging, wird dieser Frauenaktion im Untersuchungsprotokoll nur eine kurze Notiz gewidmet. Demnach hatten sich am 25.6.1849

  • »etliche Demokratenweiber mit Stecken zusammengerottet, behufs einer Demonstration gegen zurückgebliebene Wehrmänner, und es verlautete, daß letztere mit Fenstereinwerfen bedroht seyen; es habe denn auch nicht an solchen gefehlt, welche sich als Nachzügler gemeldet hätten.«[54]

Die zurückgebliebenen Wehrmänner fühlten sich durch die Demonstrantinnen durchaus bedroht, auch wenn der Vorfall in den späteren Aussagen der Männer bagatellisiert wurde. Ein betroffener Wehrmann schilderte seine Begegnung mit den Frauen:

  • »Wie ich auf die Straße kam, sah ich einen bedeutenden Haufen Weibsbilder mit Ruten, bei unserem Anblick rief eine aus dem Haufen heraus mit aufgehobenem Stekken: kommt nur da herunter. Zeeb (sein Begleiter; d.V.) sagte, dahin gehen wir nicht, da bekommen wir Schläge. Ich sagte das thue nichts und als wir hinkamen schimpften sie uns, daß wir nicht fortgegangen sind, darunter die Tochter des Nagelschmied Bernhards und die Frau des jungen Kirchenbäckers«.[55]

Was die »Ruten« und die symbolischen Androhung von Schlägen betrifft, ähnelte die Frauendemonstration offensichtlich den Schimpf- und Bestrafungsritualen der klassischen Katzenmusik. Diesmal allerdings verzichteten die Akteurinnen auf den Schutz der Nacht; ihre Forderung nach politischer Solidarität brauchte das Licht der Öffentlichkeit nicht zu scheuen. Tatsächlich zeitigte ihre Demonstration ja auch Wirkung. Die Männer fühlten sich durch diese massive Aufforderung bei ihrer Ehre gepackt. Keiner wollte sich von Frauen der Feigheit bezichtigen lassen. Einige Freudenstädter beklagten sich so bei den Organisatoren des Ausmarsches, »daß man so nicht existieren kann mit den Weibern.«[56]
Von den 516 Freudenstädter Bürgerwehrmännern waren schließlich rund 250 ausgezogen. 150 von ihnen hatten sich dazu erst entschlossen, als sie sich von den Frauen gedrängt fühlten und Bürgerwehren der Umgegend in Freudenstadt einmarschierten. Der demokratische Verein hatte einen Ausschuß gebildet, der den Abmarsch organisieren und die Verbindung zur Heimatstadt halten sollte. Nicht alle Freudenstädter billigten das Unternehmen, und vor allem der Stadtrat und das Oberamt versuchten, die Wehrmänner von ihrem Vorhaben abzubringen. Sie verhafteten schließlich den Vorsitzenden des demokratischen Comites, den Schulprovisor Wucherer, und gaben damit Anlaß für die zweite »Weiberrevolution« in Freudenstadt, um eine boshafte Formulierung des reaktionären Laternenkorrespondenten zu benützen (Laterne 1. 7.49).
Der Zorn der ersten Frauendemonstration wandelt sich in dieser zweiten Aktion zur Hilflosigkeit. Beteiligt waren diesmal wieder Frauen aus dem Umfeld der Demokraten, die versuchten, den Oberamtsrichter zur Freilassung des festgesetzten Unterlehrers Wucherer zu überreden. Diesen zweiten »WeiberCrawall, deßen Urheberin« nach dem gerichtlichen Untersuchungsprotokoll »ein Narr« gewesen sein soll,[57] lohnt es näher zu betrachten. Zum einen zeigt er, wie wenig gewandt Frauen auf dem Terrain der politischen Auseinandersetzung waren, und enthüllt zugleich die kulturelle Distanz zwischen einem bürgerlichen Beamten und einfachen Handwerkersfrauen. Der Bericht des Oberamtsrichters über diesen Vorfall ist relativ ausführlich und gibt so Einblick in wesentliche Details des Geschehens:

  • »Abends sieben Uhr zog 1 Weib mit 1 großen Troß Schulkindern und anderen Weibern vor den gerade in Anordnung von SicherheitsMaßregeln beschäftigten Oberamtsrichter, (die Beamten sprechen in ihren Berichten von sich oft in der dritten Person; d.V.) welcher gerade mit dem Oberamtmann und einigen anderen Beamten in Berathung unweit des Oberamtsgerichtsgebäudes stand und verlangte die Freigebung des verhafteten Unterlehrer Wucherers und führte an, daß die Kinder so nach ihm schreyen.«[58]

Ähnlich undramatisch ist die Schilderung des Oberamtmannes, der von »5 bis 6 Weibern und einer Schar Kinder«[59] spricht. Das Verhalten der Frauen war zuerst devot, sie versuchten es mit Bitten. Ihre Begründung, die auch der Oberamtmann in seinem Bericht erwähnt, daß »die Kinder so weinten« , erscheint auf den ersten Blick bizarr, in jedem Fall unpolitisch. Auf den zweiten Blick jedoch liegt darin eine Logik, die auf ein grundsätzlich anderes Denksystem von Frauen hinweist. Kinderweinen besitzt im Alltag der Frauen eine größere Bedeutung als in dem der Beamten. Daß den Kindern der Lehrer fehlte, war für sie ein ernstzunehmendes Argument. Der Oberamtsrichter, der in Rechtskategorien und nicht in sozialen Beziehungen dachte, hatte dagegen wenig Verständnis für diese Sorge um das Wohlergehen der Kinder. Ihm erschien die Forderung der Frauen weltfremd, weshalb er der Frau eine barsche Abfuhr erteilte. In seinem Bericht heißt es weiter:

  • »Ich fragte nach dem Namen der Frau und erfuhr, daß es die Frau des Schusters Johann Friedrich Bernhard dahier ist, der zugleich ein Ziegler ist. Ich lehnte ihre Bitte ab, worauf sie erklärte, er müsse heraus und heute noch. Da sie trotz aller Ablehnung fortmachte, ich aber Zweifel in ihren Verstand setzte, so bot ich ihr den Rücken und ging weiter aufs Rathaus, um zu sehen, ob meine Anordnung befolgt worden und so blieb das Weib zurück.«[60]

Obwohl der Schuster Bernhard ein bekannter Demokrat in Freudenstadt war, nahm der Oberamtsrichter die Frau nicht ernst. Ihr kindlich ungeschicktes Insistieren war ihm lästig; er behandelte sie entsprechend ihrem rechtlichen Status als unmündig und ließ sie wie ein Kind schließlich auch von ihrem Mann heimholen. Um das außergewöhnliche Verhalten der Frau, auch die Anmaßung, mit der sie ihm gegenüber aufgetreten war, einzuordnen, griff er schließlich zu einem Interpretationsmuster, das häufig angewendet wird, wenn es um abweichendes Verhalten von Frauen geht: Sie werden für verrückt erklärt.[61] Selbst wenn diese Einschätzung des Gesundheitszustandes der Frau Bernhard einen realen Hintergrund gehabt haben sollte, so schien ihre Idee, vor dem Oberamtsgebäude die Herausgabe des Lehrers zu verlangen, den mit ihr gezogenen Frauen durchaus plausibel gewesen zu sein. Die Frauen verharrten noch eine ganze Weile trotzig vor dem Oberamtsgericht, als der Oberamtsrichter schon weggegangen war:

  • »Gleich darauf kehrte ich allein zu dem Oberamtsgerichtsgebäude zurück. Schon von weitem bemerkte ich, daß dort noch ein Haufen zusammenläuft; ich war kaum bei der Menge angekommen, so kam sie mit vielen Weibern, Kindern wieder herbei und bat, ich solle diesen freilassen; inzwischen erfuhr ich, daß sie schon früher übergeschnappt gewesen und daß ich deshalb schonlich seyn müsse; ich forderte sie auf heimzugehen, sie erklärte aber, dann käme sie mit Schaufeln, heraus müsse er und rief die andern Weiber auf, jetzt sollen sie auch reden, worauf ihre Schwester das Weib des Maurer Christian Bacher, einige Worte, die ich aber nicht mehr weiß, dafür machte. Ich gab aber kein Gehör und so zogen sie ab, nachdem man inzwischen nach Bernhard geschickt hatte, daß er seine Frau heimhole. Sie kam nicht mehr; dagegen hatte sich zuletzt auch eine Reihe verschiedener Männer versammelt, die sich nicht vertreiben lassen wollte. Doch verlief sich endlich die Masse.«[62]

Die geschilderte Szene verrät die Sprachlosigkeit der Frauen gegenüber Amts- und Respektspersonen. In der Darstellung des Oberamtsrichters erscheint die Frauenaktion politisch unbedeutend und als lästige Nebensache. Wie auch der Bericht des Oberamtmannes zeigt, wurde politisches Verhalten nur von Männern erwartet. Bedroht fühlten sich die Beamten erst durch den »Auflauf« und die allgemeine Erregung, die der Aufmarsch der Frauen vor dem Amtsgericht ausgelöst hatte:

  • »Mittlerweile hatte sich auch eine große Zahl älterer Personen beiderlei Geschlechts angesammelt, und es hatte überhaupt den Anschein, als ob die Weiber nur vorschoben seyen, um Spectakel einzuleiten. Ich forderte daher den auf dem Rathause versammelten Stadtrath und Bürgerausschuß auf, die Leute zum Auseinandergehen zu bringen, was diesen auch mit einiger Mühe gelang.«[63]

Angesichts der Sprachlosigkeit der Frauen wirkt diese Freudenstädter >Weiberrevolution< eher tragikomisch als politisch. Dennoch ist sie Ausdruck der politischen Anteilnahme von Frauen am Schicksal ihrer Männer wie auch am Schicksal der demokratischen Bewegung. Die Freudenstädter Aktion ist in der württembergischen Geschichte einmalig. Wo die Revolution ihren Schatten auf die Familie warf, setzten sich Frauen mit den wenigen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zur Wehr. Sie suchten gemeinsam den Weg in die Öffentlichkeit. Die Straßenaktion erschien ihnen dabei als die einzige Chance, sich politisches Gehör zu verschaffen.

„... doch was die Männer unterließen, das sollte jetzt durch Weiber geschehen...«
Frauen im revolutionären Aufstand (September 1848)

Das beherrschende politische Thema im Herbst 1848 war der deutsch-dänische Konflikt um Schleswig-Holstein und der Malmöer Waffenstillstand vom 26.8.1848. Dieser von Preußen abgeschlossene Vertrag, der ohne Mitsprache der von der Nationalversammlung eingesetzten neuen deutschen »Zentralgewalt« zustandegekommen war, kränkte nicht nur den Nationalstolz der Deutschen, sondern empörte besonders die Demokraten, da mit ihm die seit dem März 1848 in Gang gekommene Vereinigung der beiden deutschen Länder und der relativ demokratische Verfassungsentwurf für Schleswig-Holstein außer Kraft gesetzt wurde.[1] Als die Nationalversammlung diesem Abkommen zustimmte und damit der Aufgabe nationaler deutscher Interessen, brachen im September 1848 in Frankfurt, Mainz und Baden republikanische Aufstände aus. Auch auf den württembergischen Volksversammlungen war Malmö das beherrschende Thema, und immer häufiger war von der Einführung einer Republik die Rede.
Für Mittwoch, den 27.September 1848, war in Cannstatt bei Stuttgart eine große, zentrale Volksversammlung geplant, zu der Zuzüge aus ganz Württemberg erwartet wurden. Die Teilnehmenden wollten dort die Erhaltung ihrer im März errungenen Grundrechte und eine günstigere Ablösung der Grundlasten verlangen und über die Einführung einer Republik reden. Gerüchteweise sollte den Forderungen sogar mit Waffengewalt Nachdruck verliehen werden. Der Marsch auf Cannstatt kam nicht zustande. Doch die württembergische Regierung, in Panik geraten, reagierte mit Militärgewalt und Massenverhaftungen.
Zwei Frauen aus einem kleinen Dorf nahe der badischen Grenze befanden sich unter den über 500 Verdächtigen, die mit weiteren Hunderten von Zeugen im darauf folgenden Hochverratsprozeß »gegen Gottlieb Rau und Genossen« vernommen wurden. Sie sind die einzigen Frauen, die für ihre Mitwirkung an dem wohl spektakulärsten württembergischen Revolutionsereignis, dem sogenannten »Rau-Marsch«, gerichtlich belangt wurden. Diese beiden Frauen stehen im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung, die mit den Methoden der Mikrohistorie zu rekonstruieren versucht, inwieweit Frauen innerhalb ihres sozialen Bezugsrahmens zu selbständigem politischen Handeln motiviert und fähig waren, bzw. an politischen Aktivitäten gehindert wurden. Eine solche Mikrostudie kann der Gesamtaktion des >Ausmarsches auf Cannstatt<[2] keinesfalls gerecht werden, sie kann allerdings dazu beitragen, das bisher übersehene politische Engagement von Frauen während der Revolution sichtbar zu machen und damit ein Stück Frauengeschichte zu schreiben.
Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildeten die Vernehmungsprotokolle des Hochverratsprozesses. Sie wurden ergänzt durch örtliche Kirchenregister, die Kirchenkonventsprotokolle und Pfarrberichte. Leider sind im Ortsarchiv Zimmern die Schultheißenamts- und Gemeinderatsprotokolle der Revolutionszeit verschollen, lediglich einige Auszüge daraus befinden sich in einer 1937 erschienenen Dorfchronik.[3]
Aus den Akten ergab sich, daß beide Frauen mit der demokratischen Linken sympathisierten und in die Diskussion um den >Marsch auf Cannstatt< eingegriffen hatten. Bei näherem Betrachten des politischen Hintergrundes enthüllten sich zugleich innerdörfliche Auseinandersetzungen, bei denen revolutionäre Ideen auf lokale Politik- und Machtinteressen geprallt waren und sich politische und verwandtschaftliche Konflikte mischten. Dies zeigt sich bereits beim Ausgangspunkt der gerichtlichen Untersuchung: Katharina Müller (35 Jahre) und Theresia Rosen-berger, die Ehefrau des Dorfschultheißen (38 Jahre), sowie andere politisch aktive Einwohner des Dorfes Zimmern waren von Mathäus Bihl (44 Jahre), der dem engeren Verwandtschaftskreis von Theresia Rosenberger angehörte, angezeigt worden.
Zimmern ob Rottweil, der Ort, aus dem die Frauen stammten, liegt etwa 5 km westlich von Rottweil auf einer wasserarmen Hochebene. In den Jahren 1848/49 lebten dort fast 700 Personen, vorwiegend Bauern und Tagelöhner, aber auch eine aufstrebende Gruppe von jungen, selbständigen Handwerkern.
Schimpfende Weiber und patriotische Jungfauen
Nach der Statistik von 1842[4] verteilten sich die 116 Haushalte des Ortes auf 70 Wohnhäuser, die weitläufig um die katholische Kirche, das Rathaus und drei große Spitalhöfe gruppiert lagen.
Bis zum Frühjahr 1848 hatte sich die politische Macht im Dorf in den Händen einiger alteingesessener reicher Bauernfamilien befunden. Sie stellten die Gemeinderäte, die dieses Amt häufig auf Lebenszeit bekleideten.[5] In den ersten Wochen der Revolution jedoch mußten wie damals überall in Württemberg, Schultheiß und Gemeinderat auf Drängen der Demokraten abtreten. Neu gewählt wurden unter anderem: von der konservativen Partei: Matthias Bihl (Wagner, 36 J.) und Georg Mager (Bauer, 34 J.), von der demokratischen: Johann Mager (Fruchthändler) und Ignaz Mager (Zimmermann, 37 J.). Nach weiteren harten Auseinandersetzungen wurde der erst 35jährige Zimmermeister Matthäus Rosenberger zum »Schultheißen-Amtsverweser« ernannt.
Durch den kommunalen Machtwechsel spaltete sich das Dorf in zwei verfeindete Lager. Die politischen Fronten liefen quer durch die verschiedenen sozialen Schichten und oft quer durch die weitverzweigten Familien, wobei die ideologische Übereinstimmung manche Verwandte um so enger aneinanderschweißte. »Es war... immer Mißtrauen, schroffes Entgegenstehen beider Parteien, ein innerer Grimm...«, beschrieb der zur konservativen Fraktion zählende Ortspfarrer die politische und soziale Atmosphäre des Sommers 1848.[6] Die schwelenden Konflikte brachen offen aus, als im Dorf über die Teilnahme an der Cannstatter Volksversammlung entschieden werden sollte.
Am Sonntag, dem 24.September, hatten etwa fünfzig Zimmerner Bürger an der großen Volksversammlung in Rottweil teilgenommen, unter ihnen Schultheiß und Gemeinderat. Gottlieb Rau aus Gaildorf, ehemaliger Glasfabrikant, jetzt einer der engagiertesten demokratischen Redner, hatte dort »in begeistertem Vortrage«[7] für den Auszug nach Cannstatt geworben. Noch am Abend entschieden die annähernd 4000 Anwesenden aus Rottweil und den umliegenden Dörfern, sich dem »Rau-Marsch« anzuschließen. Sie hatten drei Tage Zeit, um (zu Fuß) rechtzeitig in das gut 100 km entfernte Cannstatt zu gelangen.
Gleich am Montagmorgen rief Matthäus Rosenberger, der »Märzschultheiß«, die Zimmerner Bürger aufs Rathaus, um »alle Männer zwischen 18 und 60« zum Mitmarschieren aufzufordern. Auf der Bürgerversammlung bekannte sich die Mehrheit zum Rottweiler Beschluß, die Gegner jedoch wehrten sich um so vehementer. Rosenberger versuchte, die Unwilligen durch Androhung von Geldstrafen zum Mitgehen zu bewegen, doch vor allem eine Gruppe konservativer verarmter Handwerker und Tagelöhner blieb hart - »Ich lasse mich nicht zwingen, ich gehe nicht mit!« entschied Augustin Ulmschneider, ein Leineweber.[8] Es gelang nicht, Einigkeit zu erzielen. Das Dorf geriet in helle Aufregung. Den ganzen Montag über bildeten sich im Ort immer wieder heftig diskutierende Gruppen. Die Frauen, von der bevorstehenden Aktion genauso betroffen wie die Männer, beteiligten sich an den Auseinandersetzungen und bezogen Position. Einige Frauen, vom Pfarrer pauschal als »die Weiber« bezeichnet,[9] hatten bereits frühmorgens in aller Öffentlichkeit auf dem Dorfplatz gegen den Ausmarsch protestiert. Es waren vermutlich vor allem die Ehefrauen der armen Handwerker und Tagelöhner, die ihre Männer mit lautem Geschrei unterstützten: »Unsere Männer dürfen nicht mit!«[10] Diese Frauen befürchteten wohl einen mehrtägigen Verdienstausfall ihrer Männer, denn obwohl sie selbst arbeiteten, hätte ihr Taglohn allein nicht ausgereicht, die Familie zu ernähren.[11] Sie mußten zudem Angst haben vor den Folgen dieser radikaldemokratischen Aktion; nachdem die wichtigste Verdienstquelle im Ort, das Holzmachen im Gemeindewald, seit kurzem entfallen war, waren die Tagelöhner jetzt ganz auf die Anstellung bei den reichen konservativen Bauern angewiesen.[12] Die Tagelöhnerinnen erlebten die >große< Politik jenseits des dörflichen Horizontes als aktuelle Bedrohung ihrer materiellen Existenz, gegen die sie sich zur Wehr setzten.
Die gutsituierten Bauern und ihre Frauen indessen hätten sich wohl mit einem Teil der >Sache< durchaus identifizieren können. Die Forderung nach einer günstigeren Ablösung der Grundlasten kam im Prinzip auch ihren Interessen entgegen. Die einstige Dorfelite konnte jedoch nicht die politischen Forderungen einer Gruppe unterstützen, deren Politik im eigenen Ort das althergebrachte hierarchische Machtgefüge so gründlich durcheinandergewirbelt hatte. Der kommunale Machtwechsel, für manchen ehemaligen Gemeinderat und seine Gattin mit einem abrupten Prestigeverlust verbunden, war von ihnen nicht verschmerzt. Matthäus Rosenberger, der »Märzschultheiß«, blieb ein »Lump« und ein »Rebell«.[13] Dem geplanten Ausmarsch gegenüber verhielten sie sich deshalb mißtrauisch, was sich daran zeigte, daß sie sich zunächst aus den Diskussionen heraushielten und »lieber ihren Geschäften nachgingen«, wie der Pfarrer schrieb.[14]
Im Laufe des Montags erfuhren die Zimmerner, daß die Bürgerwehren aus Rottweil und den umliegenden Dörfern, rund 400 Mann, die Stadt in militärischer Formation »mit klingendem Spiel« verlassen hatten. In Zimmern indessen konnten sich die Bürger noch immer nicht entscheiden; einige wollten weitere Nachrichten abwarten, andere befürchteten, »es könne immer später von Nachtheil sein, wenn alles ginge und sie nicht.«[15] Am späten Nachmittag spitzte sich der Konflikt weiter zu: Matthäus Rosenberger, der Schultheiß wurde von vier abgesetzten Gemeinderäten überfallen, die ihn zwingen wollten, den Rathausschlüssel abzugeben, weil »die beiden bürgerlichen Kollegien... eine grundlose und gesetzeswidrige Versammlung gepflogen« hätten.[16] Matthäus Rosenberger verteidigte den Rathausschlüssel erfolgreich. Nach diesem Überfall kam das Gerücht auf, der Tagelöhner Mathäus Bihl sei nach Rottweil geeilt, um scharfe Munition für die Revolutionsgegner zu besorgen. Daraufhin ließ Rosenberger den Tagelöhner Bihl kurzerhand verhaften, - ein verhängnisvoller Fehler, wie sich später erweisen sollte.
Am Abend setzten sich die Auseinandersetzungen in den Dorfgaststätten fort. Die Demokraten trafen sich in ihrem Stammlokal, dem »Löwen«, der von Georg und Katharina Müller bewirtschaftet wurde. Die Löwenwirtin Katharina zählte gewiß zu den politisch bestinformierten Frauen in Zimmern. Sie konnte die politischen Diskussionen direkt in ihrem Arbeitsbereich mitverfolgen und hatte vermutlich stets einen guten Überblick über den aktuellen Stand der Debatten. Doch sie hörte nicht nur zu, sie nahm auch Partei, und eben dies brachte ihr nicht immer Sympathien ein, sondern führte zu ihrer späteren Anzeige.
Montag Nacht waren noch keinerlei Vorbereitungen für den Ausmarsch getroffen worden. Dienstag früh schließlich wurden die Frauen der Demokraten aktiv. Sie begnügten sich nicht mehr mit der Rolle als weibliches Publikum, das zwar seine Meinung kundtun konnte, aber von den politischen Entscheidungen in der Bürgerversammlung ausgeschlossen war; abstimmen durften nur die Männer- daran hatte auch die Revolution nichts geändert. Theresia Rosenberger, die Ehefrau des Schultheißen, kannte diese demokratischen Spielregeln genau. Doch sie fand einen Weg, die politische Beschränkung der Frauen zu überwinden. Sie sammelte Unterschriften für den Auszug - Unterschriften von Frauen. Insgesamt unterstützten 32 Frauen die Aktion.
Unterschriftenlisten als >modernes< Instrument politischer Meinungsbildung und Druckausübung waren im Dorf 1848/1849 durchaus bekannt und auch bereits angewendet worden. Der ehemalige Gemeinderat war mit Hilfe einer solchen Liste gestürzt worden, und auch der Pfarrer hatte mit einer Petition an die Nationalversammlung, unterschrieben von etlichen Bürgern, gegen die befürchtete Konfiszierung von Kircheneigentum protestiert. Neu und revolutionär war jedoch, daß Frauen dieses Handlungsmuster aufgriffen und dazu benutzten, ihre eigene politische Meinung zu formulieren und durchzusetzen. Frauen machten nicht nur Stimmung - sie hatten ihre eigene Stimme gefunden. Für die männlich bestimmte Dorfwelt war dies eine Herausforderung. Die demokratischen Gemeinderäte benutzten die Aktion der Frauen, um die zögernden Bürger bei ihrer Mannesehre zu packen. Theresias Mann berief sich laut Vernehmungsprotokoll »auf dem Rathaus gerade auf diese Thatsachen«, nämlich die Unterschriftenliste der Frauen, »als er die Männer zum Auszug bewegen wollte". Zeugenaussagen zufolge soll er gerufen haben: »Welch eine Schande, wenn die Männer nicht gehen, so gehen die Weiber!«[17] Tatsächlich hatten die Frauen zunächst lediglich beabsichtigt, mit ihrer Adresse an die Männer zu appellieren, sich endlich dem Ausmarsch anzuschließen. Im Laufe ihrer Gespräche hatte sich dann offensichtlich ein weitaus verwegenerer Gedanke herauskristallisiert: die »Heldinnen... des schönen!? Geschlechts« hatten sich »verschworen... Stuttgart zu zu ziehen«, wie es in der Pfarrchronik heißt.[18]
Im Verhör später bestritt Theresia Rosenberger die Ernsthaftigkeit dieser öffentlich geäußerten Absicht - »(Wir) haben lediglich im Spaß ausgemacht, daß wir mit unseren Männern ziehen wollen«, und sie fügte hinzu - lachend, wie das Protokoll vermerkt - »aber wir wußten gar nicht, worum es sich handelte.« Ihr unverkrampftes Auftreten, ihr Lachen und Scherzen während der Vernehmung verblüffte den Untersuchungsrichter genauso wie ihr für Frauen ungewöhnliches politisches Engagement. »Man muß vermuten, daß Ihr durch Eure Männer hierzu veranlaßt worden seid?«, forschte der Richter nach, doch Theresia wies dies weit von sich: »Sie (die Männer; d.V.) werden vielleicht noch gar nicht wissen, was wir gethan haben!«[19]
Was zunächst wie eine Schutzbehauptung klingt, durch die Theresia in die Rolle des naiven unschuldigen Weibes schlüpfte, entpuppt sich als geschickte Doppelstrategie, mit der Theresia sich selbst erfolgreich verteidigte und gleichzeitig ihren inzwischen gefangengesetzten Mann entlastete. Er wiederum konnte den unschuldigen, ja geradezu hintergangenen Ehemann spielen, als er in seiner Vernehmung auf das Verhalten seiner Frau angesprochen wurde. »Doch aber ist gewiß, daß Ihre Frau Unterschriften gesammelt hatte?« Worauf Rosenberger nur vage antwortete: »Ich habe noch in Zimmern davon gehört. Aber als ich mein Weib zur Rede stellte, hat sie es geläugnet. Erst letzthin, als sie ins Verhör kam, und ich ihr auf dem Spaziergang in Gegenwart meines Führers (seines Gefängniswärters; d.V.) begegnete, hat sie mir gesagt, daß sie aus Jux es gethan habe, was ich sehr mißbilligte - daß sie Unterschriften gesammelt habe, hat sie mir noch geläugnet. Sie sagte bloß, daß sie... im Spaß ausgemacht habe, mit ihren Männern zu ziehen«.[20]
Die identische Formulierung beider Aussagen läßt den Schluß zu, daß Theresia und ihr Mann sich schon vor ihrer Begegnung auf dem Gefängnishof genau abgesprochen hatten. Die selbstverantwortete Eigenständigkeit von Theresia sollte wie unverantwortliche Eigenmächtigkeit aussehen, die vom Ehemann nicht gebilligt werden konnte. Beide bemühten sich, Theresias politisches Handeln zu einem privaten Eheproblem zu verharmlosen, indem sie die Aufmerksamkeit des Untersuchungsrichters auf die angebliche Unfolgsamkeit der Ehefrau lenkten.
Von wem die Idee für die Unterschriftenliste tatsächlich stammte, konnte der Vernehmungsbeamte nicht ermitteln. Rosenberger soll angeblich am Montag früh, »gleich bei der ersten Besprechung erzählt haben, wie Rau gesagt habe: >Wenn die Männer sich weigern, so sollen die Weiber gehen<«.[21] Allerdings ist dieses Rau-Zitat nicht nachzuweisen, so daß anzunehmen ist, daß Rosenberger Rau lediglich als charismatische Autoritätsfigur anführte. Die Idee für die Frauenunterschriftenliste wurde in Wirklichkeit wohl von den Rosenbergers selbst entwickelt, wobei sich Matthäus darauf verlassen konnte, von seiner Frau unterstützt zu werden. Möglicherweise gingen die entscheidenden Impulse auch von Theresia aus. Immerhin war sie als Tochter eines ehemaligen Dorfschultheißen seit ihrer Jugend - sie war dreizehn, als die 7-jährige Amtszeit ihres Vaters begann - mit (Dorf) Politik-Machen vertraut. Bestimmt war im elterlichen Haus manche Bemerkung über Lokalpolitik und ihre Hintergründe gefallen. Sie kannte also vermutlich die Strukturen innerdörflicher Auseinandersetzungen - und den diese umgebenden Tratsch - ebenso wie die Konflikte mit »draußen«, dem Königlichen Oberamt und den ehemaligen Herren in Rottweil. Inwieweit dies ihr politisches Gespür entwickelt hatte, - ein Gespür für das, was möglich war, auch innerhalb scheinbar festgefügter Normen - läßt sich nur vermuten.
Tatsächlich zeigte Theresia als junge Frau eine gewisse Souveränität im Umgang mit obrigkeitlichen und wohl auch innerdörflichen Konventionen. Ohne daß ihre Eltern davon wußten, hatte sie, im Sommer gerade 25 Jahre alt geworden, eine voreheliche Beziehung zu dem damals 22jährigen, also noch minderjährigen Matthäus aufgenommen, was zu erheblichen Konflikten führte. Der Vater von Theresia, der dieser Beziehung zuerst ablehnend gegenüberstand, suchte damals sogar die Hilfe des örtlichen Kirchenkonvents, um die Verbindung zu verhindern. Das Kirchenkonventsprotokoll vermerkt:

  • »Caspar Hirth... gibt an, am letzten Markttag in Rottweil, habe sich, während er mit seinem Eheweib in Rottweil war, und außer seiner ältesten Tochter Theresia niemand in seinem Hause sich befand, der ledige Matthäus Rosenberger von hier bei oben gedachter eingefunden und habe sich mit derselben in ihrer Schlafkammer wie man sich vorstellen könne auf eine verdächtige Art und Weise unterhalten. Daß dem so sei, könne sein Eheweib, die, weil zu bald nach Hause zurückgekehrt, den Rosenberger aus der Schlafkammer habe gehen sehen, bezeugen. Damit aber weitere derartige Besuche - zu Ehre seines Hauses - unterbleiben, bitte er um Einschreitung.«[22]«

Der Kirchenkonvent fand an den Besuchen des »wackeren jungen Mannes«[23] nichts auszusetzen. Theresia allerdings war zu diesem Zeitpunkt bereits schwanger. Mit der Geburt des Kindes hatte Theresia ihr Ziel erreicht. Das Paar konnte heiraten. Die Eltern waren inzwischen wohl auch mit der Legalisierung der Verbindung einverstanden und halfen mit ihren alten Beziehungen, den von Matthäus benötigten Minderjährigkeitsdispens[24] zu beschaffen. 1848 waren Matthäus und Theresia bereits viele Jahre verheiratet und hatten eine Familie mit fünf Kindern.
Wenn sich auch aus diesen wenigen biographischen Details keine umfassende Charakterisierung von Theresia ableiten läßt, so legen sie doch nahe, daß Theresia ein gewisses Durchsetzungsvermögen besaß. Ihr Selbstbewußtsein und ihr entschiedenes Auftreten waren auch dem Untersuchungsrichter aufgefallen, weshalb dieser ihr die Rolle der >unmündigen< und unwissenden Ehefrau nicht ganz abnahm. So ließ sich der Vernehmungsbeamte zunächst von Theresias Unschuldsbeteuerungen nicht überzeugen, da, wie er richtig erkannt hatte, »die Sache... dann doch ganz ernsthaft betrieben zu sein (scheint)«.[25] Schließlich war Theresia den ganzen Dienstagvormittag mit ihrer Freundin Katharina Müller von Haus zu Haus gegangen, wenn auch >nur< »zu einigen Weibern, Schwestern und Bruderweibern«, und dieses, wie sie in Übereinstimmung mit den Aussagen ihres Mannes betonte, »nur aus Jux«.[26] Indem sie den grundsätzlich als apolitisch geltenden Familienrahmen vorschob, auf den sich ihre Unterschriftensammlung beschränkt hatte, versuchte sie, ihrer Initiative die politische Brisanz zu nehmen. Sie reduzierte ihre Aktion auf das, was im Dorf üblicherweise als >Weibertratsch< abgetan wird. Die politische Bedeutung dieser Aktion liegt aber gerade darin, daß sie zeigt, daß die Demokraten nicht nur durch ihre Gesinnung, sondern auch durch ein enges verwandtschaftliches Netz verbunden waren, in dem die Frauen traditionellerweise für die inner- und interfamiliäre Kommunikation sorgten.
Die verwandtschaftlichen Beziehungen machen es schließlich auch möglich, die verschollene Unterschriftenliste zu rekonstruieren und damit auch die näheren politischen Verflechtungen innerhalb der einzelnen Verwandtschaften aufzuschlüsseln. Ausgehend von Theresias Angaben - vor Gericht sprach sie von ihren Schwestern und Schwägerinnen - lassen sich mit Hilfe des Familienregisters einige der Frauen identifizieren, die sich an Theresias Aktion beteiligt hatten. Weitere Namen von Frauen lassen sich indirekt erschließen über die Ehemänner, die den bürgerlichen Kollegien angehörten, also den entscheidenden kommunalpolitischen Gremien am Ort, oder über jene, die nachher wegen ihrer positiven Haltung zum Ausmarsch gerichtlich verhört worden waren. Diese Vorgehensweise setzt allerdings voraus, daß auch in Zimmern wie an anderen württembergischen Orten (Kap.II. 3) die Frauen politisch mit ihren Männern übereinstimmten. Die Rekonstruktion machte sichtbar, daß ein großer Teil des demokratischen Lagers sich aus der direkten Verwandtschaft von Theresia und Matthäus Rosenberger rekrutierte. Die demokratische Bewegung in Zimmern hatte, um ihre revolutionäre Politik im Dorfe fest zu verankern, offensichtlich auf ein altbewährtes politik-stabilisierendes System zurückgegriffen: auf die nicht nur in Württemberg verbreitete »Vetterles-Wirtschaft« - in diesem Falle auf das weibliche Pendant, die »Bäsles-Wirtschaft«.
Rekonstruktion der Unterschriftenliste und Rekonstruktion des verwandtschaftlichen Netzes gehen im folgenden ineinander über. Die nebenstehende Grafik soll den Überblick erleichtern:

Die Verwandtschaft der Familien Rosenberger, Hirt, Mager und Bihl.
Schimpfende Weiber und patriotische Jungfauen
Theresia Rosenberger und Katharina Müller führten die Liste an. Als eine der ersten unterschrieb wohl Theresias jüngere Schwester Katharina, die mit Caspar Rieble verheiratet war. Dessen Schwester Anna Maria hatte wiederum einen jüngeren Bruder von Theresia geheiratet. Ein weiterer Rieble, Pelagius, ein aktiver Demokrat, war über seine Frau Theresia mit den Alfs verwandt. Josef und Wendelin Alf standen bei den Auseinandersetzungen auf Seiten der Demokraten, und es ist anzunehmen, daß auch ihre beiden Frauen Theresia Rosenbergers Initiative unterstützten.
Das >Bruderweib< von Theresias ältestem Bruder- Maria Agathe Mager - stellte die Verbindung zu zwei weiteren Schlüsselfiguren her: zu ihrem ältesten Bruder Ignaz, dem Zimmermann, einem vehementen Vertreter der Ausmarschpläne, und zu ihrem Vater, dem früheren Schultheißen und jetzigen Ratschreiber Matthias Mager, der trotz seiner 70 Jahre politisch noch voll aktiv geblieben war. Georg, der jüngere Bruder von Maria Agathe Mager, gehörte zur konservativen Gruppierung, unterstützte jedoch auch den Ausmarsch. Es ist anzunehmen, daß auch Katharina Schweizer, die Schwester von Matthäus Rosenberger, für den Ausmarsch stimmte. Sie war mit Ignaz Schweizer, der >rechten Hand< des >Märzschultheißen<, verheiratet. Der >Märzschultheiß< selbst war über seine Cousine Anna Maria Maier, geb. Rosenberger, mit Sebastian Maier, Bürgerausschußmitglied und Befürworter des Ausmarsches, verwandt. Eine andere Cousine, Agathe Rosenberger, knüpfte die Familienbande zu den Gebrüdern Bihl, die in diesem Konflikt eine Schlüsselposition innehatten, denn schließlich war es Mathäus Bihl, der die gerichtliche Untersuchung ins Rollen gebracht hatte. Doch zurück zu den Befürworterinnen des Ausmarsches.
Agathe war die Ehefrau des Spitalbauern Michael Bihl (46 J.), dem ältesten der drei Bihl-Brüder. Michael Bihl war seit langem ein enger Freund von Theresia und Matthäus Rosenberger. Schon für den vorehelichen Sohn der beiden hatte er die Patenschaft übernommen, und er blieb auch für die anderen Kinder der >Döde<. Als demokratisch gesinnter Vorsitzender des Bürgerausschusses[27] hatte er sich energisch für den Ausmarsch eingesetzt. Auch Michaels jüngster (Stief-)Bruder, der Wagner Matthias (nicht zu verwechseln mit seinem Bruder Mathäus), hatte für den Ausmarsch plädiert, obwohl er zum konservativen Flügel des Gemeinderats zählte. Seine Frau Anna Maria, geb. Mager, unterschrieb vermutlich auch auf der Liste. In einem so dicht verflochtenen Netz von Verwandtschaft und Politik verwischten sich die Grenzen von privat und öffentlich. Theresias Aktion war also tatsächlich mehr als Weibertratsch - es war die Formierung der weiblichen Verwandtschaft zu einer politischen Kraft.
Trotz des dringenden Appells der Frauen und trotz der vereinten Anstrengungen der Demokraten, beteiligten sich die Zimmerner Bürger nicht am Marsch auf Cannstatt. Auch die aus Rottweil und den umliegenden Dörfern ausgezogenen Mannschaften kehrten bereits im 20 Kilometer entfernten Balingen wieder um, da die Bürger anderer Oberamtsstädte sich nicht wie erwartet dem »Rau-Marsch« angeschlossen hatten. Genau eine Woche später, am Mittwoch, den 4. Oktober, wurde Rottweil militärisch besetzt und über 400 Personen verhaftet, die teilweise gleich ins zentrale politische Gefängnis auf den Hohenasperg gebracht wurden. Die demokratische Bewegung erhielt einen empfindlichen Schlag - die >Wende 1848< war damit eingeleitet.
Die zähen politischen Auseinandersetzungen in Zimmern wären indessen nie ans Licht der Öffentlichkeit gedrungen, hätte nicht Mathäus Bihl die Gunst der Stunde genutzt, um sich an Matthäus Rosenberger für die erlittene Schmach seiner (kurzfristigen) Verhaftung zu rächen. In seiner schönsten Handschrift zeigte er am 8. Oktober den >Märzschultheißen< Rosenberger sowie dessen Ehefrau Theresia nebst ihrer Freundin Katharina Müller wegen »Aufruf zum Ausmarsch« an. Als Motiv für diese Anzeige gab er persönliche Ehrenrettung< an. Mathäus Bihl war der mittlere der obengenannten Bihl-Brüder, 44 Jahre alt, also zwei Jahre jünger als sein (Stief-)Bruder Michael und dessen politischer Antipode. Als Sohn aus zweiter Ehe seines Vaters war er von der erblichen Pachtnachfolge für den Spitalhof ausgeschlossen. Er hatte im Unterschied zu seinem jüngsten Bruder Matthias kein Handwerk erlernt, sondern versuchte sich und seine siebenköpfige Familie mit verschiedenen niederen, d.h. schlecht bezahlten Gemeindediensten durchzubringen. Zur Revolutionszeit wird sein Beruf mit Tagelöhner angegeben. Im Dorf genoß er einen äußerst schlechten Ruf, nach Aussagen seines Schwagers war er »ein Lügner, der versäuft, was er verdient, während seine Familie darbt.«[28] In den Auseinandersetzungen um den Ausmarsch hatte Mathäus Bihl sich als einer der entschiedensten Gegner erwiesen, der auch vor Gewalttätigkeiten nicht zurückschreckte. Mit seiner Denunziation gefährdete er nicht nur den Ruf und die soziale Existenz der Rosenbergerschen Familie, sondern weckte auch das Interesse des Königlichen Oberamtes für die Vorgänge im Dorf.
Auf Mathäus Bihls Anzeige hin wurde der Pfarrer von Zimmern vom Oberamt zu einem Bericht über die Ereignisse des 25. und 26. September aufgefordert. Die gewünschten Informationen lieferte er jedoch erst eine Woche später, als Militär einmarschiert und zwei Offiziere im Pfarrhaus einquartiert worden waren. Der Pfarrer erwies sich als >guter Hirte<. In seinem Bericht vom 20. Oktober[29] versuchte er, die Ereignisse in Zimmern zu verharmlosen und deckte selbst seine politischen Feinde: Matthäus Rosenberger stellte er als bedächtig abwägenden, durchaus verantwortungsvollen Mann dar, die 32 Unterschriften der Frauen erwähnte er überhaupt nicht. Die Behörden hatten jedoch Verdacht geschöpft. Am 26. Oktober durchkämmten 40 Soldaten den Ort, stellten die Gemeinderatsprotokolle sicher und brachten alle 15 Mitglieder der beiden bürgerlichen Kollegien ins Rottweiler Stadtgefängnis. Theresia Rosenberger wurde nicht verhaftet, sondern Mitte Januar 1849 zu einer der letzten Vernehmungen nach Rottweil vorgeladen. Katharina Müller, die ebenfalls verhört werden sollte, ließ sich wegen Krankheit entschuldigen.
Daß Matthäus Bihl der Denunziant war, erfuhr niemand in Zimmern. Stattdessen wurde der Pfarrer verdächtigt. Nach einigen scharfen Schüssen in seine Schlafzimmerdecke - ein symbolisches Zeichen für seinen Ausschluß aus dem Kreis ehrbarer Bürger[30] - ersuchte er kurz nach Jahreswechsel um eine andere Pfarrstelle. Ende Januar 1849 stellte die Justiz die Verfahren gegen die Zimmerner Bürger wegen Geringfügigkeit ein. Alle Verhafteten wurden freigelassen.
Mit der nun einsetzenden Restauration wurden die politischen Verhältnisse im Dorf für einige Zimmerner Bürger so unerträglich, daß sie es vorzogen, ihre Heimat für immer zu verlassen. Die Anfang der 1850er Jahre erneut einsetzende agrarische Krise, die vielen Familien im Dorf durch Verschuldung die Nahrungsgrundlage entzog, mochte diesen Entschluß bestärkt haben. Zwischen 1849 und 1854 wanderten auffällig viele der demokratisch gesinnten Familien nach Amerika aus, unter ihnen Matthäus Rosenbergers Schwester Katharina Schweizer mit Mann und Familie, Wendelin Alf mit Familie, Johannes und Georg Mager mit Familie und schließlich 1856 auch Leopold Rosenberger, der älteste Sohn von Theresia und Matthäus.

Passiver Widerstand - »Verführung zum Treubruch«
Die Heilbronnerinnen während der Besetzung ihrer Stadt 1848/49

»Laß Deinen Heerd, laß Deine Hütte
Laß Weib und Kind in Gottes Hand,
Und stirb, nach freier Männer Sitte,
Für Freiheit, Recht und Vaterland!«[1]

Die Frau am Herd im trauten Heim Gottes Hand befohlen, der Mann tapfer kämpfend an der unruhigen Revolutionsfront - so warb das »Neckar-Dampfschiff«, die demokratische Zeitung Heilbronns, mit dichterischem Pathos für revolutionären Kampfgeist. Die Realität im aufgeregten Heilbronn der Revolutionsjahre hatte mit diesem idyllisierenden Bild jedoch nicht viel gemein.
Die Männer, 1849 mutig ausgezogen für die Reichsverfassung und ihre »Mannesehre« zu streiten, kehrten bald beschämt wieder nach Hause zurück - sie waren nicht den Heldentod für die Revolution gestorben. Und die Frauen? Sie hatten anderes zu tun als zu Hause am Herd der Rückkehr ihrer Männer zu harren. Ihr Handeln während der Heilbrunner Auseinandersetzungen 1848/49 läßt sich nicht in stereotype Raum- und Rollenzuteilung fassen.
Gewiß, es gab auch in der Demokratenhochburg Heilbronn keine radikalen Revolutionskämpferinnen, auffallende Demonstrantinnen, berühmte Rednerinnen. Und Bürgerwehr, Vereine, Volksversammlungen und Katzenmusiken boten in erster Linie den Männern neue politische Betätigungsfelder. Doch die revolutionäre Bewegung bedeutete in ihrer Konsequenz - und das nicht erst im offenen Konflikt mit der Stuttgarter Regierung - für Frauen neuen Handlungsspielraum, neue Verantwortung und neue Kompetenz.

Zuerst die Fahnen, dann Patronen

Frauen kümmerten sich 1848 um die Festkulisse. Mit Kränzen und Fahnen schmückten sie das Dampfboot für die erste Fahrt ihres Parlaments-Abgeordneten Louis Hentges nach Frankfurt und bereiteten ihm gemeinsam mit den Heil-bronner Demokraten ein feierliches Abschiedsfest (Beob 15.5.48). Wie andernorts stickten sie der Bürgerwehr die Fahne, demonstrierten auf Revolutionsfesten und in Aufrufen ihr Interesse und ihre Begeisterung für die gesellschaftlichen Neuerungen. Doch schon im Juni 1848 mischten sich Heilbronnerinnen aktiv in die politische Auseinandersetzung. »WeibsPersonen« , vermerkte der Oberamtmann geringschätzig in seinem Bericht nach Stuttgart, beteiligten sich an Volksversammlungen auf dem Marktplatz. Sie waren auch in der Wirtschaft »Zum Löwen« des Abgeordneten Hentges,[2] als die in der Stadt stationierten Soldaten des 8. Infanterie-Regiments, von den Heilbronner Demokraten unterstützt, am 14. Juni 1848 Forderungen an das liberale Märzministerium in Stuttgart stellten: »Humanere Behandlung von unseren Vorgesetzten. Gänzliche Umgestaltung des militärischen Strafrechts«, verlangten die Soldaten. Und weiter hieß es in ihrer Erklärung: »...Wenn wir in das Feld ziehen, so wollen wir auch wissen, gegen wen und worum wir fechten...« (Beob 18.6.48). Beim Heilbronner Garnisonskommando weckte diese Versammlung die Furcht, daß es den Demokraten gelingen könnte, das Militär auf ihre Seite zu ziehen; die Angst vor einer demokratisch-militärischen Revolte ließ die Stuttgarter Regierung daraufhin hart durchgreifen: am 17. Juni 1848 wurde Heilbronn zum ersten Male militärisch besetzt.
Aber »nicht wie Feinde, sondern als Freunde« wurden die einrückenden Besatzungssoldaten empfangen. »Man begrüßte sie mit Lebehochrufen; trug für die in den Straßen bivouakirenden Regimenter Wein und Bier herbei;... Flaschen, Kannen, selbst Fäßchen« wurden herbeigeschafft und »von den Soldaten mit Dank in Empfang genommen, so daß in kurzer Zeit die neu eingerückten Truppen mit den Bürgern Heilbronns nicht viel weniger zu fraternisieren schienen, als das 8. Regiment« (Beob 20.6.48). Verbrüderung also nicht nur mit den >eigenen<  Soldaten: die Heilbronner versuchten, mit >Speis< und Trank auch die Stuttgarter Besatzungstruppen für die demokratischen Militärforderungen zu gewinnen. Trotzdem mußten die mit den Demokraten fraternisierenden Soldaten unter scharfer Bewachung der Regierungstruppen die Stadt verlassen. Menschenmassen versammelten sich am 18. Juni zum Abzug des 8. Regiments; pathetische Auftritte und gar ein Ehrensalut der Bürgerwehr verabschiedeten die Soldaten.
Zwar sind Frauen in dieser Auseinandersetzung auf Heilbronns Straßen nicht ausdrücklich erwähnt, doch ist es mithin unvorstellbar, daß sie an der Begrüßung und Bewirtung, den Ovationen für das Militär nicht teil hatten. Zweifellos war diese Juniaktion - das Bündnis mit der in Heilbronn stationierten Garnison und die kluge Bewältigung der Besetzung - Frauen wie Männern ein Lehrstück für kommende Revolutionskämpfe in ihrer Stadt.
Unter dem Eindruck der badischen Septemberrevolution, möglicherweise auch als Konsequenz der Juni-Erfahrung, rüsteten sich die Bürgerwehrmänner im Herbst 1848 zur Verteidigung der revolutionären Errungenschaften. Und seit September fertigten die Frauen im neugegründeten Verein patriotisch gesinnter Jungfrauen »scharfe Patronen für die Bürgerwehr«. Ihre >unweibliche<  Beschäftigung, vor allem aber ihre produktive Mitarbeit an der Revolution erregten solch großes Aufsehen, daß selbst die »Wiener Gassenzeitung« den Munitionsherstellerinnen eine Meldung widmete

  • »In Heilbronn ist die rote Fahne ausgesteckt, auch hat sich hier ein Verein patriotisch gesinnter Jungfrauen gebildet, um scharfe Patronen für die Bürgerwehr zu verfertigen und hat bereits damit begonnen.«[3]

Schimpfende Weiber und patriotische Jungfauen             Schimpfende Weiber und patriotische Jungfauen

Patronenproduktion bedeutete bewußte Partizipation an der politischen Bewegung, denn mit der Herstellung von Munition unterstützten die Heilbronnerinnen die Kampfbereitschaft ihrer Männer, sie lieferten das Material für mögliche bewaffnete Konfrontationen. Die Lage in Heilbronn hatte sich verschärft. Demokratische Volksversammlungen und aufmüpfige Katzenmusiken beherrschten das nächtliche Straßenbild; Diskussionen um den Malmöer Waffenstillstand, die Niederschlagung der Aufstände in Frankfurt und Baden erhitzten die Gemüter. Mit der Verhaftung führender Heilbronner Demokraten - mit der wieder Ruhe und Ordnung einkehren sollte - wuchs das Mißtrauen gegenüber der württembergischen Regierung. Die badischen Kämpfe zeigten zudem, wie unsicher der Fortbestand der Freiheit war. Jetzt galt es, revolutionäre und republikanische Ideen zu verteidigen. Die Frauen leisteten ihren Beitrag - mit der Herstellung von Patronen.

Männerbekenntnis zu Frauentaten

Die Aktivität der Frauen fand in damaligen Zeitungen nicht nur positive Resonanz, harte Kritik mußten die Heilbronnerinnen hinnehmen. »Und was tun unsere republikanischen Jungfrauen?« fragte zum Beispiel höhnisch der Korrespondent der konservativen Satire-Zeitschrift »Laterne« , der im Januar 1849 das Patronenfertigen zum Anlaß nahm, Frauen und ihr Auftreten in der Öffentlichkeit in Mißkredit zu bringen:

»Seitdem es mit dem >Scharfen-Patronen-Fertigen<  nicht mehr geht, legen sie sich auf das >Kunstreiten<; so hat Heilbronn dem hier Anwesenden... bereits das zweite Exemplar aus sogenannten guten bürgerlichen Familien geliefert, und anstatt daß Freundschaft und Verwandtschaft sich verwahrend dreinlegt, reitet diese künftig deutsche Hausfrau unverschämt in der Stadt herum... Wir bekommen nun nächstens noch eine Theater-Truppe hieher und dürfte es für dieselbe an Dutzenden von >Liebhaberinnen<  gar nicht fehlen... Unmoralität, Genußsucht, Hochmuth, Faulheit, zerrüttete Vermögensverhältnisse u.s.w., das sind die Eier, aus denen unsere Republikaner schlupfen...«. (Laterne 4.1.49)

Kunstreiten und Patronenherstellen mißfielen den konservativen Bürgern, galten als unmoralisch, unweiblich. Wer sich solchermaßen »unverschämt« in öffentliche Angelegenheiten mischte, war für bürgerliches, ehrbares und anständiges Familienleben längst verloren. Schauspieler, ebenfalls im Ruf, ehrlose Menschen zu sein, wurden als eigentliche Nutznießer des neuen selbstbewußteren Auftretens von Frauen geschildert. Die Kritik an den Frauenaktivitäten - ob Reiten oder Revolutionsunterstützung - sollte nicht nur die Frauen in ihre gesellschaftlichen Schranken zurückweisen. Die Frauenschelte galt auch der demokratischen Bewegung und ihrem verderblichen Einfluß. Der Laternenkorrespondent zeichnete den drohenden Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Werte an die Wand, warnte vor sexueller Unbändigkeit der Frauen, beschwor »Unmoralität, Genußsucht, Hochmuth, Faulheit und zerrüttete Vermögensverhältnisse« als Ursachen revolutionären Unheils.
Der Artikel löste in Heilbronn indessen keinen Sturm der Entrüstung über das >unmoralische Treiben<  der Frauen aus. Im Gegenteil: Er entfachte eine ungewöhnliche Reaktion. Gleich »530 gleichgesinnte Bürger« solidarisierten sich im »Beobachter« mit ihren Frauen:

»Daß Jungfrauen zur Zeit der Erhebung des deutschen Volkes scharfe Patronen fertigten, dient zum schönen Beweis, daß der allgemeine Ruf nach Freiheit auch in ihrem Gemüthe sein Echo fand und daß ihr für alles Schöne und Hohe sich leicht begeisternder Sinn auch praktisch sich bewährt. Wenn nun zwei unmündigen Kindern es gelingt, ihren Willen durchzusetzen und der Liebhaberei des Kunstreitens nachzugehen, so muß dieser vereinzelt dastehende Fall als Charakteristik des hiesigen bürgerlichen Lebens im Allgemeinen gelten... Wäre aber auch von einzelnen Frauen der Schmelz der Sitte abgestreift, so sind daran solche Männer Schuld, welche wie die Ritter der jungen Reaktion sich nicht scheuen, ihre eigene moralische Verderbtheit offen zu Markte zu tragen...« (Beob 16.2.49)

Die Männer demonstrierten Einigkeit mit den Frauen, zollten - offiziell und öffentlich - dem weiblichen Engagement für die Revolution Beifall. Diese öffentliche Solidarität signalisierte einen bisher nicht gekannten Zusammenhalt zwischen Männern und Frauen in der demokratischen Bewegung. Selbst das Kunstreiten, für den Laternenschreiber lasterhaftes Symbol weiblichen Freiheitsdranges, tolerierten die Heilbronner Männer als »Charakteristik des hiesigen bürgerlichen Lebens im Allgemeinen«. Im neuen Konflikt mit der Stuttgarter Regierung - Heilbronn wurde 1849 nochmals militärisch besetzt- sollte sich diese öffentlich bekundete Solidarität und Zusammenarbeit bewähren.

Treueeid und Kriegserklärung - Heilbronn im Juni 1849

Unruhe und Empörung herrschten unter den Demokraten im Frühjahr 1849. Zwar hatte der württembergische König, Wilhelm L, die in Frankfurt mühsam zustandegekommene Reichsverfassung anerkannt, es blieb jedoch bei bloßen Lippenbekenntnissen. In Baden, Sachsen und Rheinpreußen kämpften die Linken für die Durchsetzung dieser Verfassung; sie war das letzte »Stück Freiheit und Einheit, das man gegen die Reaktion behaupten wollte«.[4] Preußische Truppen marschierten in diesen Ländern gegen die Freischaren. Nur wenige Württemberger bildeten Freiwilligenkorps, um die Reihen der Reichsverfassungskämpfer zu stärken. So zogen 150 Heilbronner Turner Anfang Juni nach Baden aus.
Doch das offizielle Württemberg hatte keinerlei Ambitionen, auf Seiten der Verteidiger der Verfassung in die Kämpfe einzugreifen. Zu sehr fürchtete die Stuttgarter Regierung, die Militärmacht Preußen könnte auch gegen Württemberg zu Felde ziehen. Aus Angst vor den Preußen betrieb sie die Auflösung des inzwischen nach Stuttgart geflüchteten Rumpfparlaments und der provisorischen Reichsregentschaft.[5] Jede Unterstützung dieser >Verfassungsorgane<  wurde von der württembergischen Regierung illegalisiert. Als 1011 Heilbronner Bürgerwehrmänner bei einer nächtlichen Versammlung am 9. Juni 1849 auf dem Schießplatz der »hohen Nationalversammlung« ihre Treue schworen, kam dies einer Kriegserklärung an die württembergische Regierung gleich.

  • »... Wir geloben mit feierlichem Eidschwur gegenüber rebellischen Fürsten und verrätherischen Regierungen, die hohe Nationalversammlung zu schützen, den Beschlüssen derselben, wie den Befehlen der Reichsregentschaft Geltung zu verschaffen und warten nur des Rufes, um den Ernst dieser Gelöbnisse zu bestätigen. Heilbronn, den 9.Juni.« (ND 10.6.49)

Wieder schickte die liberale Regierung Truppen ins rebellische Heilbronn.

  • »Heilbronn, den 12.Juni, mittags 11 Uhr. Heute rückte hier eine beträchtliche Truppenabtheilung ein; die Entwaffnung der Bürgerwehr ist angeordnet. Die Ablieferung der Waffen hat begonnen. Zusammenrottungen auf den Straßen sind verboten. Die Stadt ist ruhig.« (SK 13.6.49)

Aber Ruhe war in Heilbronn keineswegs eingekehrt. Menschenmassen drängten sich auf den Straßen, empört wurden die Soldaten verhöhnt, »mit Vorwürfen und Schimpfworten, sie seien Büttel, sie sollen sich zu so etwas nicht brauchen lassen, es sei eine Schande u.s.w....« [6] Dann besannen sich die Heilbronner jedoch wieder auf ihre alte Strategie, erinnerten sich an die erfolgreiche Verbrüderung vom Vorjahr, man »ließ das Militär hochleben und erklärte rundweg, daß sie sich ihre Waffen nicht abnehmen lassen, daß sie lieber sterben... und daß sie nur der Gewalt weichen...«
»Das Militär hoch« war die Devise des Tages. »Auch sonst wurden den aufgestellten Soldaten heimlich Getränke zugesteckt« , berichtete RegierungsCommis-sär Geßler fast resignativ abends nach Stuttgart. Vor allem die Annäherungen zwischen Frauen und Soldaten beobachtete er argwöhnisch und konstatierte in seinem Bericht »unzweifelhaft beabsichtigte Verführungsversuche«. Mit dieser Strategie der Freundlichkeit verzögerten die Frauen erfolgreich die Waffenabgabe.
Militärpatrouillen - 30 Mann, ein Fuhrmann und ein Polizeisoldat - die nachmittags zur Entwaffnung von Haus zu Haus zogen, kamen mit leeren Händen zurück. Oft fanden sie die Haustür verriegelt, wurden gar »erst nach Androhung von Gewaltmaßregeln eingelassen«. Frauen, allein zu Hause, behaupteten fest, »daß sie nicht wissen, wo das Gewehr sich befinde«. Oder sie sagten, ihr Mann hätte sein Gewehr schon abgegeben, sei aber nicht zu Hause, und die Pfandmarke der Waffe habe er mitgenommen. Andere Frauen aber öffneten bereitwillig ihre Häuser zur Durchsuchung, luden die Soldaten zum Trinken ein, »ohne daß die sie begleitenden Officiere und Unterofficiere es verhindern konnten«. Gewehre gaben die Frauen nicht heraus. »Um sie vor Verführungen zu sichern« , aus Sorge um die Moral und Treue der Truppe, wurden die Soldaten über Nacht in den umliegenden Dörfern einquartiert. Heilbronn war zu unsicher, zu groß die Gefahr, daß sich Militär und Bürger wieder verbrüderten.
Geschlossen leisteten die Heilbronner passiven Widerstand: Ziel war es, mit vereinten Kräften der Entwaffnung zu entgehen. Die Männer entzogen sich der Militärkontrolle und überließen es den Frauen, die Besatzer abzuweisen. Die Frauen hatten zwei Taktiken, dem Militär gegenüberzutreten: passiver Widerstand: >ich weiß nichts, mein Mann ist nicht da, und ich habe keine Ahnung<; oder aber: aktive »Verführung« - Soldaten mit alkoholischen Getränken für die Demokraten zu gewinnen. Sicherlich hatten die Heilbronner Frauen und Männer für den Konfliktfall keine ausgeklügelte Strategie vorbereitet. Doch ohne das mutige Auftreten der Frauen - allein gegen 32 bewaffnete Männer - hätten die Heilbronner Männer schnell klein beigeben müssen.

Unwissenheit als Schutzfunktion

Ein Hauptelement im Widerstand der Heilbronnerinnen war ihre vorgeschobene Unwissenheit: vor Gericht beschworen sie später >naiv<  ihre politische Abstinenz und benützten vorgetäuschtes Desinteresse an Revolutionsereignissen als Ausflucht, demokratische Aktionen im nachhinein nicht zu verraten. Obwohl sie als Botinnen und Informantinnen während der Besetzung wichtige Funktionen übernommen hatten, verschanzten sie sich beim Verhör hinter dieser >Unwissenheit<  und versuchten so, sich und ihre Männer vor Strafen zu schützen. Immerhin mußten im Hochverratsprozeß »Becher und Genossen« 1319 Menschen aus Heilbronn und Umgebung aussagen, über 20 wurden als Rädelsführer eingeschätzt und verurteilt, 37 flüchteten ins Ausland, um der strengen Festungsstrafe auf dem Hohenasperg - dem »Demokratenbuckel« - zu entgehen.
Die Rolle der,unwissenden<  Vermittlerin nahmen Heilbronnerinnen schon vor den Juni-Auseinandersetzungen ein, zum Beispiel Frau Strakan. Ohne behördliche Genehmigung hatte ihr Mann, der städtische Ausrufer Strakan, zu einer Bürgerversammlung getrommelt. Er selbst konnte - in seiner Aussage vor Gericht -nicht präzise angeben, von wem der Auftrag gekommen war. Denn seine Frau hatte den Ausrufzettel in Empfang genommen und ihm übergeben, »mit der Bemerkung, daß sie nicht wisse, von wem er seye, aber vermuthe, Apotheker Mayer habe ihn geschickt«.[7] Vielleicht kannte Frau Strakan ihren Informanten tatsächlich nicht, wahrscheinlicher jedoch deckte sie mit ihrer >Unwissenheit<  das illegale Handeln der Männer, eine Versammlung ohne obrigkeitliche Erlaubnis.
Unbedarftheit vorschützend hielten auch zwei Frauen von Bürgerwehroffizieren den bohrenden Fragen des Gerichtsvorsitzenden stand. Sie hatten ihnen angeblich unbekannten Männern kurz nach Besetzung der Stadt Patronen und Munition ausgehändigt. »Ich stand an diesem Abend in der Küche, um zu Nacht zu kochen«,[8]  schilderte Louise Raisig, 21 Jahre alte Bäckersfrau, ihren >revolutionären Alltag<; vor Gericht wollte sie damit klarstellen, daß sie in ihrem Haus mit den Aufregungen in der Stadt nichts zu tun hatte. Plötzlich sei der Bäckersknecht Friedrich mit der Nachricht zu ihr gekommen, draußen stünden zwei Pompiers, die sagten, »mein Mann schick sie um Patronen«. Freilich wußte Louise Raisig von den Munitionskisten, die ihr Mann in der Knechtskammer aufbewahrt hatte. »Vor meinen Augen wurden die Patronen fortgetragen« , gestand sie freimütig. Und behauptete fest, gewiß keinen der Pompiers gekannt zu haben. Genauso verteidigte die Bäckersfrau Louise Mössinger sich und ihren Mann. Auch er hatte als Offizier der Bürgerwehr »eine Anzahl städtischer Munition im Hause«.[9] Wieviele Patronen es insgesamt waren, wußte Louise Mössinger nicht mehr genau. In einem Zimmer hätten sie die Munition in Säckchen aufbewahrt. Am Abend des ersten Besatzungstages wurden diese »von einer Anzahl mir unbekannten Wehrmännern... in Abwesenheit meines Mannes« abgeholt.
Während ihre Männer auf dem Schultheißenamt verhandelten, gaben die Frauen die Munition frei. Die Bürgerwehroffiziere selbst hatten freilich von nichts gewußt, wie sie später aussagten. Doch vielleicht hatten gerade sie als Verantwortliche die Patronenvergabe angeordnet? Wieder sollte die >Unwissenheit<  der Frauen die Männer vor Strafverfolgung bewahren, die Offiziere wie die Patronenbeschaffer. Nach Aussage der Frauen wußte keiner vom Gang der Dinge, niemand konnte vor Gericht für die Munitionsherausgabe bestraft werden.Vorgetäuschte Unwissenheit diente der Verwirrung der Strafverfolger.

Auszug der Männer — Frauen zwischen den Fronten

Der erste Tag der Besetzung war vorüber, ohne daß die Heilbronner Bürgerwehrmänner kapituliert hatten. Als die Soldaten in der Nacht zum 13. Juni 1849 die Stadt verlassen hatten, versammelten sich 900 bewaffnete Heilbronner auf dem Marktplatz. Einige bisher unbewaffnete Fabrikarbeiter und Handwerker stürmten das Rathaus, stahlen »mittelst gewaltsamen Einbruchs in den innern Rathaushof 87 in Kisten verpackte ganz neue Musketen mit Bajonetten« (HT 16.6.49). Die Heilbronner waren entschlossen,der »verrätherischen Regierung« die Ernsthaftigkeit ihres Treuschwurs an die »hohe Nationalversammlung« unter Beweis zu stellen. Trotz ihrer Bewaffnung beschlossen sie eine Strategie der Kampfvermeidung: um ihre »Mannesehre« zu verteidigen und sich der Waffenabgabe zu entziehen, verließen sie die Stadt. Noch in der Nacht bildete sich ein Westkorps, das nach Wimpfen, Richtung Baden, und ein Ostkorps, das nach Löwenstein, in den Schwäbischen Wald zog, wo 1848 die Bauern rebelliert hatten. Die Heilbronner hofften, unterwegs in den Oberamtsorten viele gleichgesinnte Bürgerwehrmänner für ihren Ausmarsch zu gewinnen.
Am Morgen des zweiten Besatzungstages präsentierte sich Heilbronn den wieder einmarschierenden Truppen als >Stadt ohne Männer<. 400 Plakate wurden angeschlagen, sie verkündeten den »Aufruhr-Stand« und versetzten die allein zurückgebliebenen Frauen in heillosen Schrecken.

  • »... die bewaffnete Macht ist befugt,... gegen aufrührerische oder von Aufrührern besetzte Ortschaften und gegen Haufen oder bewaffnete Personen von bedrohlicher Haltung, ohne vorgängige Warnung, gegen andere bewaffnete Personen aber, sobald sie der ersten Aufforderung, die Waffen niederzulegen, nicht Folge leisten, alle nach Kriegs-Gebrauch zulässigen Acte des Waffen-Gebrauchs in Anwendung zu bringen...«[10]

Angst und Sorge prägte jetzt das Verhalten der Frauen. Eilig reisten einige den Ausmarschierten nach. Die einen forderten sofortige Rückkehr, andere überbrachten Nachrichten von der neuesten Entwicklung in Heilbronn, informierten über das verhängte Kriegsrecht und boten Fluchthilfe.
Der äußere, öffentliche Konflikt mit den Besatzungstruppen war zu einem inneren, privaten geworden: Nicht allein ihr bisheriges politisches Engagement war ausschlaggebend, ob Frauen weiterhin den Revolutionskampf, jetzt also den Ausmarsch ihrer Männer unterstützten, oder sich für seinen spontanen Abbruch einsetzten. Der Besatzung war es gelungen, so starken Druck auf die Frauen auszuüben, daß viele ihre Männer zurückholten.
So waren es Frauen, die den Bürgerwehrhaufen bei Löwenstein zur Auflösung brachten.
Schimpfende Weiber und patriotische Jungfauen
»Weiber, so viel ich mich erinnere, die ihre Männer suchten« , sagte Friedrich Mayer, Anführer der nach Löwenstein gezogenen Heilbronner, im Verhör vor Gericht. »Weiber« hatten die Nachricht übermittelt, in Heilbronn gelte ab nachmittags 3 Uhr das Standrecht gegen die ausgerückten Männer.[11] Die Furcht vor den Konsequenzen des Ausmarsches und die Angst, daß längerer Widerstand die Strafe nur verschlimmere, trieb viele Männer nach Heilbronn zurück.
Die ökonomische Lage der Familie war nun zum entscheidenden Faktor geworden. Frauen verarmter Handwerker sahen sich nicht im Stande, womöglich über längere Zeit hinweg allein für das Auskommen ihrer Familien zu sorgen. Und gerade Kleinhandwerker und Fabrikarbeiter waren die meisten der mutig Ausmarschierten.[12] Drohende Not ließ viele Frauen die revolutionären Ziele vorerst hintan stellen. Die besorgten Frauen erreichten ihr Ziel: die Männer kamen wieder nach Hause, gaben ihre Waffen ab, Wirtschaft und Auskommen der Familien waren gesichert. Andere Frauen wiederum rieten ihren Männern, Heilbronn zu meiden. Optikus Hetschel wußte von seiner Frau, die ihm nach Löwenstein gefolgt war, »sie habe einen Zettel unterschreiben müssen, daß ich mit Steckbriefen verfolgt werde, wenn ich mich nicht binnen 24 Stunden stelle...«[13] Sie warnte ihren Mann vor der polizeilichen Verfolgung. In ähnlicher Mission war Louise Schanzenbach für die Mehlhändlersfamilie Adelmann unterwegs.

»Louise bringt mir schlimme Nachrichten«

Drohend standen Soldaten am Morgen nach dem Ausmarsch vor Lisetta Adelmanns Haustür, forderten die Herausgabe ihres Mannes. Doch Johann Peter Adelmann hatte sich nicht zuhause versteckt, er war mit der Bürgerwehr nach Wimpfen ausmarschiert. Selbst konnte Lisetta ihren Mann nicht warnen: vier Kinder und das Geschäft, die Mehlhandlung, mußten versorgt werden. So schickte sie Louise, ihre 26 Jahre alte Verwandte, die im Haus ein Zimmer bewohnte und »auch sonst viel in die Familie Adelmanns« kam, als Botin nach Wimpfen. »Er solle fortbleiben« , war die eilige Information. Und in der Tat hatte der Bürgerwehrhauptmann und Mehlhändler Johann Peter Adelmann nicht im geringsten mit einer steckbrieflichen Verfolgung gerechnet. Schnell verfaßte er in einem Wirtshause einen Brief an seine

  • »Liebe Frau! Louise bringt mir schlimme Nachrichten, es ist mir unbegreiflich, daß man mich abholen wollte, ich bin mir doch nichts bewußt, seie deshalb nur ohne Sorgen um mich...«[14]

Aktive Hilfe forderte ihr Mann. Kleider sollte sie ihm bringen, denn Bürgerwehruniform und Säbel hätten den steckbrieflich Gesuchten gleich verraten:

  • »... so seie so gut und bringe mir meine Civilkleider nach Sinsheim, unter solchen Umständen da ein jeder wer nach Hause kommt verhaftet wird mag ich nicht heim,... Meine Säbel werde ich dir dann zur Abgabe ebenfalls mitgeben...«.[15]

Die Heilbronnerinnen leisteten praktische Fluchthilfe. So wurde Wilhelm Schweikert, der ebenfalls steckbrieflich verfolgt wurde, von seiner Frau besucht, über Heilbrunner Neuigkeiten informiert und zu einem neuen Unterschlupf gebracht. Sie kam »abends um 5 Uhr... mit einem Gefährt, um mich abzuholen, und ich fuhr dann mit ihr nach Offenau. Dort blieb ich über Nacht und meine Frau fuhr dann vollends allein nach Haus«.[16]
Die einen flohen, die anderen kehrten verängstigt und in Sorge um ihre Familie in die Stadt zurück. Der Heilbrunner Widerstand bot kein einheitliches Bild mehr, er zerbröckelte in der Konfliktsituation. Dies erkannte auch der Befehlshaber der Regierungstruppen, und schon am dritten Tage nach dem Ausmarsch sicherte er ausgerückten Bürgerwehrmännern Straffreiheit zu, »falls sie ungesäumt in hiesige Stadt zurückkehren und ihre Waffen abliefern«.[17] »Familien-Angehörige« , also Frauen, sollten als Vermittlerinnen dienen, »daß diese Verordnung denselben bekannt werde und sie in Folge dessen zur Rückkehr bewogen werden«. Für die straffreie Heimkehr ihrer Männer konnten sie auf dem Rathaus Passierscheine abholen.
Der innere Zwiespalt, in dem sich die Frauen befanden - hier familiäre Existenzsicherung, dort Revolutionsunterstützung - war den Besatzern nicht verborgen geblieben. Sie nutzten die Angst der Frauen aus und benützten sie als Botinnen wider die Revolution.

»Besorge also meine Sachen, wie ich bemerkt«

Nicht alle Männer streckten gleich in den ersten Ausmarschtagen die Waffen und kehrten resigniert nach Heilbronn zurück. Meist steckbrieflich verfolgt, versuchten sie dem Zugriff der Polizei zu entkommen und flüchteten ins freie Baden. Die Frauen mußten währenddessen ihre Männer ersetzen und in Haus, Handwerk und Handel deren Aufgaben übernehmen. Deshalb sollte Lisetta Adelmann persönlich zu einem Treffen nach Sinsheim fahren: »um mit dir wegen dem Geschäft sprechen zu können«.[18] Schon in seinem Brief vom 13. Juni 1849 aus Wimpfen gab Adelmann seiner Frau direkte Anweisung, was sie in der Mehlhandlung alles erledigen sollte:

  • »Gut wäre es wenn ich unser Weckmehl verkaufen könnte, ich fürchte es möchte ver-(w)ärmen, so auch unser Griesmehl, sollte ein Bäcker anfragen, so gebe es lieber ohne Nutzen ab. Besorge also meine Sachen wie ich bemerkt und seie mir inzwischen herzlich gegrüßt...«.[19]

Die Weiterführung der politischen Geschäfte ihres Mannes sollte Frau Guldig in die Wege leiten. Ihr schrieb Buchdrucker August Ferdinand Ruoff, der Herausgeber des radikalen »Neckar-Dampfschiffes« , aus der Haft, sie möge doch in Stuttgart nach einem tüchtigen Setzer suchen, der das Blatt auch redigiere. Selbst wenn ein Leitartikel fehlte, bei einer Unterbrechung verlöre die Zeitung zu viel. Heinrich Guldig, Redakteur des »Neckar-Dampfschiffes« , saß ebenfalls im Gefängnis; Buchdrucker Ruoff versuchte mit dem Brief an »Madame Guldig«[20] seine Zeitung zu retten. Die Abwesenheit ihrer Männer zwang die Frauen, Männerarbeit zu übernehmen, um den Unterhalt der Familie zu sichern. Wer indes wie die Schustersfrau Catharina Härter das Handwerk ihres Mannes nicht beherrschte, war innerhalb kürzester Zeit auf Armenunterstützung angewiesen.

»Der Schaden trifft hauptsächlich mich und meine unschuldigen Kinder«

Der Ausmarsch hatte für viele Heilbronner Familien verheerende Folgen. Erst einmal verhaftet, saßen die Männer oft wochen-, ja monatelang in den Gefängnissen und harrten ihrer Entlassung. Die Frauen warteten zu Hause. Doch blieben sie nicht tatenlos: in ausführlichen Gnadengesuchen kämpften sie für ihre Männer,
schilderten ihre »drückenden Nahrungssorgen«,[21] um die Gerichtsvorsitzenden milde zu stimmen. Finanzkräftige Freunde boten Kautionsgarantien für die Männer, immer wieder schickten die Frauen Bittbriefe an Behörden. Indes nur selten hatte solch ein Gesuch Erfolg, beschleunigte die Verhandlung oder verhalf dem
Mann zur sofortigen Entlassung wie im Fall des Holzhändlers Carl Moriz Müller: »...mit Rücksicht auf die dürftige Lage der Müllerschen Familie und die geordnete Aufführung des letzteren in der Strafanstalt...« wurde der Bitte seiner Ehefrau entsprochen.[22] Ohne positive Resonanz blieben dagegen z.B. die Gnadengesuche, die Lisetta Adelmann und Catharina Härter für ihre Männer stellten.


  • »Es bleibt mir so nun noch übrig, zu erwähnen, daß die Frau Adelmanns hochschwanger durch die Entfernung ihres Mannes und die Last, welche durch gleichzeitige Besorgung des Geschäfts, ihrer Haushaltung und ihrer Kinder auf ihr liegt, körperlich und gemüthlich sehr angegriffen ist und ohne Schaden und Nachtheil für sich und das zu erwartende Kind sich außer Stande befindet, längere Entfernung ihres Mannes zu tragen...«[23]

Ein Anwalt formulierte diese Gnadenbitte von Lisetta Adelmann. Ihr Mann hatte    sich freiwillig der Polizei gestellt, war jedoch zur Verzweiflung seiner Frau nach sechs Wochen noch immer in Haft. Von der Armenunterstützung, in Heilbronn 24 Kreuzer pro Tag, mußte Catharina Härter mit ihren Kindern leben. »Der Schaden betrifft hauptsächlich mich und meine unschuldigen Kinder«[24], klagte sie dem Criminal-Senat. »Ich bin im letzten Stadium guter Hoffnung, habe zwei kleine Kinder und war seither mit meinem Unterhalte rein auf das Handwerk meines Mannes angewiesen.«
Der Hinweis auf »die dürftige Lage der Familie« fehlte in keinem Gnadengesuch. Die vermögende Mehlhändlersgattin Lisetta Adelmann ließ ihren Anwalt die Bedrängnis der vaterlosen Familie schildern, Catharina Härter formulierte selbst den sorgenvollen Inhalt ihres Gnadengesuchs. Obwohl in völlig unterschiedlichen Finanz- und Familienverhältnissen, bedienten sich beide Frauen derselben Argumente. Mit der bevorstehenden Geburt versuchten sie die Gerichtsbeamten für die Freilassung ihrer Männer zu erweichen. In Inhalt, Aufbau und Stil lassen die vielen Gnadenbitten Heilbrunner Frauen Absprachen vermuten. Vielleicht wollten die Richter gerade deshalb den »drückenden Nahrungsorgen« keinen Glauben schenken?
Auch die zuerst nach Baden, dann in die Schweiz geflohenen Reichsverfassungskämpfer konnten noch immer auf die Unterstützung der Frauen zählen. Mit ihren Soldaritätsaktionen zeigten die Demokratinnen nochmals ein Stück Heilbronner Zusammenhalt: im August 1849 organisierten sie eine »Lotterie zu Gunsten der Flüchtlinge«. Doch die Kreisregierung untersagte eine öffentliche Unterstützung der Flüchtlinge. Trotz des Verbots sammelten und bastelten die Frauen für einen Verkaufsstand auf dem Volksfest. Unverhohlen mit der Demokratinnen-Aktion sympathisierend, warb der »Beobachter« in einer kleinen Notiz um solidarische Kunden:

»... Die Unternehmerinnen zu Heilbronn haben sich nun entschlossen, die von ihnen gefertigten und gesammelten Gegenstände bei dem Volksfest... zu verkaufen. Die Bestimmung des Erlöses bleibt jedem Käufer zu erraten überlassen, und es bedarf wohl nur dieser kurzen Mitteilung, den edlen Verkäuferinnen zahlreiche Kunden zu gewinnen.« (Beob 28.9.49)

Revolution und Familie

Frauen unterstützten, ja sie beeinflußten zu einem nicht unerheblichen Teil den Ablauf des Heilbronner Geschehens, denn sie trugen zum Zusammenhalt der Bewegung bei. Angepaßt an die jeweils aktuelle Entwicklung bewiesen sie realitätsgerechten Umgang mit den Ereignissen, handelten konsequent und pragmatisch. Während die Männer sich zu ihren Exerzierübungen trafen, fertigten die Frauen Patronen; angesichts der Krise im September 1848 eine folgerichtige Aktion. Während die Männer im Juni 1849 stürmische Resolutionen verfaßten, ohne genaue Ziel- und Strategieabsprachen die Stadt verließen, schätzten die Frauen die aufziehende Gefahr und die drohende Existenzunsicherheit für ihre Familien richtig ein. Sie betrieben eine Informationspolitik, die nur noch einen Hintergedanken hatte: Sicherung der Familie. Während die Männer in Gefängnissen saßen oder sich ohne finanziellen Rückhalt im Ausland aufhielten, um der drohenden Verhaftung zu entgehen, kämpften Frauen - wieder das praktisch Notwendige, die Sicherung der familialen Existenz im Blick - für deren Freilassung oder sammelten Geld für ihre Männer in der Fremde.
In ihrem Widerstand gegen die Besatzung waren sich die Frauen — ob reiche Mehlhändlersgattin oder arme Handwerkersfrau - einig. Dies demonstrierten die Frauen nochmals in ihrer fast sturen >Aussage-Unwissenheit<  vor Gericht. Sie schützten und unterstützten ihre Männer, sie verrieten weder die revolutionäre Bewegung noch schilderten sie kleine Details, die einzelne Männer oder Widerstandsstrukturen hätten entlarven können. Solidarisch arbeiteten die Heilbronnerinnen für die Revolution, verloren jedoch nie den Bezug zur Realität.Ihre Männer und Familien waren stets Primat ihres Tuns. Ohne diese 'Basis<  hätten die Männer kaum eine Chance gehabt, sich ihrer Entwaffnung zu entziehen. Frauen bildeten den solidarischen Rückhalt der Heilbronner Bewegung.

»Die Farbe der Milch hat sich... ins Himmelblaue verstiegen«  
Der Milchboykott 1849 in Stuttgart

  • »Jeden Morgen ziehen zu allen Thoren der Stadt (Stuttgart; d. V.) eine Menge Mädchen und Frauen von den nächstgelegenen Ortschaften herein, die größten Körbe tragend, in denen wohlverwahrt ihr Reichtum an Milch sich findet. Sei's noch so kalt, sei's noch so stürmisch, sie kommen zu gewohnter Stunde bei ihren Kunden an...«.[1] 

Dieses fast romantische Bild des Milchhandels zeichnete Johann Philipp Glökler 1861; es illustriert eindrücklich, wie abhängig die damalige >Großstadt<  Stuttgart mit ihren rund 60 000 Einwohnern und Ortsfremden von der Versorgung durch das Umland war. Über 800 Milcherinnen kamen Anfang der 1860er Jahre täglich in die Stadt, um dort Milch und Butter zu verkaufen,[2] und bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 50 000 Personen dürften es 1849 kaum weniger gewesen sein.[3] In den Krisenjahren vor und während der Revolution allerdings gingen Belieferung und Handel nicht so reibungslos und friedlich vonstatten wie in dieser Beschreibung. Beim Milchhandel wie auf dem Markt überhaupt trafen Käufer und Verkäuferinteressen oft hart aufeinander, stand der Wunsch nach »wohlfeilen«  Preisen der Notwendigkeit eines  ausreichenden Verdienstes gegenüber. Gerade in den größeren Städten, in denen nur noch in geringem Maß agrarische Produkte selbst hergestellt wurden, und die auf die Belieferung durch umliegende Ortschaften angewiesen waren, kam es zwischen 1847 und 1849 häufig zu Streitigkeiten zwischen den vom Land kommenden Kleinhändler(inne)n und den einkaufenden Städterinnen und Städtern.[4]
Eine ganze Reihe von Zeitungsbeiträgen, besonders im »Neuen Tagblatt für Stuttgart und Umgegend«, beschäftigte sich mit diesen Konflikten, die vor allem Frauen betrafen, da sich der Milch- und Butterhandel überwiegend in weiblicher Hand befand. Wie aus den Zeitungsartikeln und Zuschriften hervorgeht, hatte die Krise 1847 zu einer Preissteigerung bei der Milch geführt. »Mehrere Hausfrauen Stuttgarts« beschwerten sich deshalb im April öffentlich über den hohen Preis der Milch. Zugleich bemängelten sie die Qualität und verdächtigten die Händlerinnen des Betrugs:

  • »Seit geraumer Zeit machen viele Hausfrauen die Wahrnehmung, daß die Milch oft zur Hälfte mit Wasser vermischt ist, eine um so sträflichere Verfälschung, als die Milch unter Allem, was zur Nahrung dient, gegen früher fast am theuersten bezahlt wird«. (NT 7.4.47)

Die unterschreibenden »Hausfrauen« forderten daher die Polizei auf, den Milchhandel besser zu beaufsichtigen und »jede Fälschung« streng zu bestrafen. Schon 1846 konnte man in einem Zeitungsartikel lesen, daß die Farbe der Milch sich »ungeachtet des hohen Preises durch Wasserzusatz ins Himmelblaue verstiegen« habe (NT 23.6.46). Die Schuld an dieser Entwicklung wurde den Zwischenhändlerinnen zugeschoben, denen unterstellt wurde, daß sie »auf jede mögliche Weise zu betrügen wußten« (NT 27.5.47).
Schimpfende Weiber und patriotische Jungfauen

Milchboykott

Der Konflikt zwischen Städterinnen und Kleinhändlerinnen wurde durch die verschärfte Kontrolle der Milch nicht aus dem Weg geräumt. Im Gegenteil, die Diskrepanz zwischen Preis und Qualität verschärfte sich so, daß sich die Stuttgarter Bürgerinnen im August 1849 wieder veranlaßt sahen, mit ihren Klagen erneut an die Öffentlichkeit zu gehen. Diesmal beschränkten sie sich allerdings nicht auf Leserinnenbriefe und Ermahnungen an die Polizei, sondern wandten sich in einem »Aufruf an Stuttgarts Frauen und Jungfrauen« direkt an alle Gleichdenkenden: Sie forderten dazu auf, »einen Verein zu bilden, der zum Gegenstand hat, den Preis der Milch wieder auf den althergebrachten Preis... herabzudrücken, besonders aber dafür eine gute, nicht mit Wasser versetzte Milch zu erhalten« (NT 4.8.49). Eine Versammlung aller interessierten Frauen sollte darüber beraten und entscheiden, ob diese Vereinsziele nicht mit Hilfe eines Milchboykotts durchgesetzt werden könnten. Ähnlich den Männern, die in der Vormärzzeit durch einen Bierboykott die Wirte gezwungen hatten, Preiserhöhungen zurückzunehmen,[5] wollten die Frauen durch einen Kaufboykott eine Preissenkung und Qualitätsverbesserung bei der Milch erreichen.
Die erfolgreiche Aktion des Stuttgarter Frauenvereins veranlaßte die Eßlinge-rinnen, die Idee eines organisierten Milchboykotts aufzugreifen. Am 29.8.1849 erschien ein entsprechender Aufruf in der »Eßlinger Schnellpost«:

»An die Eßlinger Frauen!
In Nr. 196 des Stuttgarter Tagblatt haben sich die Stuttgarter Frauen vereinigt, die Milch nicht mehr höher als 4kr per Maas zu bezahlen, und wirklich haben sie es bezweckt; warum soll es in Eßlingen nicht auch geschehen können, wo die Milch nicht Stunden weit hergetragen werden muß, wie in Stuttgart, es wäre wünschenswerth, wenn die Eßlinger Frauen auch einmal ihre Energie zeigen würden.« (ESP 29.8.49)

Außer um ihr Interesse als Konsumentinnen ging es den Stuttgarter Frauen bei der Gründung ihres Vereins aber um ein weiterreichendes politisches Ziel, das sie selbst allerdings nicht so definierten. Der überhöhte Milchpreis bot den Frauen die Gelegenheit, die »vernachläßigte Häuslichkeit« wieder ins öffentliche Licht zu rücken. »Also ist es jetzt an uns« , schrieben die Frauen in ihrem Aufruf, »gleichfalls uns zu versammeln, aber nicht zu politischen Zwecken, sondern zu Zwecken der von den Männern so vernachläßigten Häuslichkeit.« (NT 4.8.49) Männliche Politik war allzusehr fixiert auf übergreifende nationale und staatliche Fragen. Da sie die konkreten Probleme des Alltags ignorierte, erschien die,große Politik<  den Frauen einseitig und borniert.

»Die Männer, unsere Tyrannen, durch verkehrtes Gesetz und üble Gewohnheit, haben seit der von ihnen sogenannten glorreichen Märzrevolution, Versammlungen über Versammlungen gehalten, bald zu Besprechung irgend einer wichtigen politischen Angelegenheit, womit sie das Vaterland zu retten vorgaben, bald zu irgend einer Wahl, die das so oft gerettete Vaterland abermals retten sollte. Was aber bei dieser Gelegenheit am meisten vergessen und am wenigsten gerettet wurde, das ist das Hauswesen und die Familie, und wer dabei am meisten vernachlässigt wird, das sind wir armen Frauen, die wir den unpolitischen Männern nichts gelten bei ihrem politischen Treiben«. (NT 4.8.49)

Dieser Aufruf verrät ein grundsätzlich anderes Politikverständnis der Frauen, das sich wesentlich von dem der Männer unterschied: wer die Bedeutung des Hauswesens nicht wahrnehmen wollte, blieb ihrer Ansicht nach trotz breitesten politischen Engagements für die Revolution »unpolitisch«. Die Frauen stellten damit die gängige politische Relevanzhierarchie in Frage und betonten mit ihrem Auftreten die öffentliche Bedeutung des Haushalts und der Haushaltsführung. Sie kritisierten zugleich, daß Frauen von den politischen Verhandlungen der Männer ausgeschlossen waren und ihnen z.B. 1848/1849 die Besuchergalerie der Stuttgarter Ständeversammlung versperrt blieb (Kap IV. 4).
Trotz ihrer Kritik an den Inhalten und Formen der männlichen Politik wußten sie deren politische Mittel und Konfliktstrategien dennoch sehr wohl zu nützen. Gerade die Gründung eines Vereins und ihre Öffentlichkeitsarbeit zeigen, daß ihnen männliche Politik nicht fremd war. Auch die Einschätzung der eigenen Absicht als »unpolitisch<  verrät männliches Politikverständnis. Ihre Haltung ist so gesehen in sich widersprüchlich, und dies wird noch dadurch verstärkt, daß sie Aktions- und Organisationsformen, die in der politischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Machtträgern entwickelt worden waren, gegen die ihnen sozial unterlegenen Kleinhändlerinnen und Landfrauen einsetzten.
Wie der Aufruf der Stuttgarter Hausfrauen deutlich macht, gab es aber noch eine zweite Konfliktlinie. Die Frauen befanden sich mit ihrem Wunsch nach billiger Milch zwischen zwei Fronten. Sie mußten sich nämlich gleichzeitig gegen die Angriffe der Männer wehren, die ihnen unterstellten, sie würden nur um die Erhaltung ihrer Kaffeekränzchen kämpfen. Doch:

»nicht blos um unsern Kaffee ist es uns bei dieser Sache zu thun, das wollen wir gleich im voraus erklären, damit nicht die bösen und spottlustigen Männer mit ihren Witzen u.s.w. über uns herfallen können, sondern um die wichtigen sonstigen Haushaltungszwecke, wobei die Milch eine Rolle spielt, um unsere Kinder, die weit mehr Milch brauchen als wir, ist es uns vorzugsweise zu thun«. (NT 4.8.49)

Daß die Frauen so defensiv argumentierten und meinten, sich gegen den Vorwurf, sie seien >verwöhnte Luxusgeschöpfe<, wehren zu müssen, beruhte auf ihrer Erfahrung mit ähnlichen Angriffen, die sich damals immer wieder in der Presse finden. Schon 1847 hatte z.B. das »Neue Tagblatt« süffisant geschrieben:

»Im Interesse unserer lieben Jungfrauen und Frauen, die bekanntlich gerne eine Tasse Caffee trinken, müssen wir an die K. Stadt-Direktion die Bitte stellen: doch die Milch mehr beaufsichtigen zu wollen«. (NT 13.10.47)

Indem die zum Milchboykott aufrufenden Frauen von Anfang an die Unterstellung egoistischer Interessen zurückwiesen, nahmen sie Bezug auf die damals häufigen öffentlichen Diskussionen über weibliche Verschwendungssucht und schlechte Haushaltsführung. Immer wieder wurde in den Zeitungen darauf angespielt, daß bürgerliche Frauen das Haushalten verlernt hätten.

»Früher giengen unsre Bürgerfrauen alle selbst auf den Markt und ließen sich Zeit zum Einkaufen; sie trugen auch wohl ihren Korb selbst, weil keine solche übertriebene Morgentoilette gemacht wurde, wie man es jetzt selbst zum Marktbesuch für nothwendig hält«. (NT 15.10.47)

Die Veränderungen des bürgerlichen Haushalts, für den die Hausfrauen immer weniger Produkte des alltäglichen Bedarfs selbst herstellten, hatten ein verändertes Konsumverhalten der Frauen zur Folge. Immer mehr Produkte wurden über den Handel bezogen. Diese vermehrten Ausgaben wurden aber als schlechtes Wirtschaften<  betrachtet und den Frauen zur Last gelegt. Verschwendungssucht<  und >weibliches Luxusbedürfnis<  würden sich immer mehr verbreiten, lautete die Standardklage. Die bürgerliche Hausfrau früher, die sich ganz dem Haushalt gewidmet hatte, hätte noch Zeit gehabt, auf dem Markt Preise zu vergleichen, zu handeln und die Ware sorgfältig auszusuchen. Jetzt aber nähme schon die Toilette

»zu viel Zeit in Anspruch, auch will man schon am Vormittag Besuche machen und eilt daher im Fluge über den Markt, wenn man je es über sich gewinnen kann, selbst hinzugehen und nicht blos die Köchin... zu schicken«. (NT 15.10.47)

Da einkaufende Dienstbotinnen natürlich kein Interesse hätten, die Ware sorgfältig auszusuchen und Geld für ihre Herrschaft zu sparen - resümierte der Schreiber - könnten die Marktleute inzwischen verlangen, soviel sie wollten. Im Unterschied zu den vor allem im Krisenjahr 1847 stattfindenden Diskussionen über Kornhandelspraktiken, die sich besonders gegen wucherische Händler und Spekulanten richteten und schließlich ja auch in Brotkrawalle mündeten, wurde beim Milchhandel die Konsumentin und Bürgerin zur Zielscheibe der Kritik.
Auch die Milcherinnen benützten in einem Leserbrief das Argument der schlechten Haushaltsführung und bürgerlicher Verschwendungssucht, um sich zu verteidigen. Denn - so vermuteten sie 1847 im »Neuen Tagblatt« - diejenigen Frauen, die die Milchhändlerinnen wegen zu hoher Preise angriffen, wären sicherlich solche,

»welche auf der Eisenbahn und im Wirthshaus ihr Geld verbrauchen, und die Woche hindurch zur Milch freilich kein Geld mehr haben, welche dann nur dahin gehen, wo sie auf Borg Milch bekommen, und wenn es an ein Zahlen geht, so fangen sie Händel an, und schimpfen über die Milch«. (NT 21.10.47)

In ihrer sozialen Kritik an städtischen Lebensformen trafen sich die Milcherinnen mit männlichen Vorurteilen über die bürgerliche Frau. Sie wiesen zugleich auf ihre eigene Lage hin und warfen den bürgerlichen Frauen vor, daß sie bei ihren Klagen über die Milchpreise vergäßen, wie hart die Arbeit der Milcherinnen sei. »Denn da muß man alle Tage kommen, es mag Wetter seyn, wie es will, bei Hitz und Kälte, Regen und Schnee« (NT 21.10.47). Der Streit um den Milchpreis spiegelt so auch die wachsenden Gegensätze zwischen städtischem und ländlichem Frauenleben wider.
Gerade diese Widersprüche machen eine politische Bewertung der Boykottaktionen schwer. In den Milchboykottaktionen entfaltete sich das gesamte Dilemma von Frauenpolitik in einer bürgerlichen Gesellschaft. Daß bürgerliche Frauen politisch aktiv wurden und ihre Interessen selbst in die Hand nahmen und damit an die Öffentlichkeit traten, war sicher ein wesentlicher Schritt zu einer eigenständigen Frauenpolitik. Angefangen von Leserbriefen in der Zeitung bis hin zu Verein und Boykott setzten die Frauen gekonnt bürgerliche Politikformen ein. Dennoch blieb ihr politisches Handeln beschränkt auf den ihnen gesellschaftlich zugewiesenen Rahmen: Haushalt und Familie. Die von Männern bestimmte Sphäre der >großen Politik<  ließen sie unberührt. Sie selbst begriffen sich auch nicht als Teil der politischen Bewegung, sondern sahen ihre Aufgabe auf das Gebiet beschränkt, von dem sie am meisten verstanden und das die Männer vernachlässigten. Hier traten sie selbstbewußt an die Öffentlichkeit und organisierten sich ohne die Hilfe der Männer. In einem auf nationale Probleme fixierten Umfeld versuchten sie zu zeigen, daß den Fragen von Familie und Lebensführung existentielle Wichtigkeit zukam.