Teil V: Weiblichkeitssymbolik und Frauenallegorien in der Revolution - 1

»Aecht deutsche Weiblichkeit« Mode und Konsum als bürgerliche Frauenpolitik 1848

»Sollen bei solch allgemeiner Erwachung Deutschlands die Frauen nicht auch berufen sein, zur Erstarkung Deutschlands das Ihrige beizutragen? Nein, sie werden nicht zurückbleiben; auch sie werden sich als deutsche Frauen bewähren, und sogleich ungesäumt keine Zeit vorübergehen lassen, zu helfen, wo es sein kann. Darum bildet Vereine, macht Euch mit Eurem Wort verbindlich, fernerhin keine fremde Stoffe zu tragen, nur was Deutschland bieten kann, soll Euer Schmuck, soll Eure Kleidung sein.« (ESP 11.3.48)

Gleich zu Beginn der Revolution in Württemberg, im März 1848, wurden bürgerliche Frauen gezielt in die politische Diskussion miteinbezogen. In der Euphorie revolutionärer Begeisterung standen zwar nationale und liberale politische Forderungen im Vordergrund des Interesses, doch männliche Politik bedurfte der weiblichen >Ergänzung<: Die württembergischen Demokraten suchten die Unterstützung ihrer Frauen und äußerten die Erwartung, daß »insbesondere die vielfach bewährte patriotische Gesinnung der hiesigen (Stuttgarter; d.V.) Frauen... auf die dankenswertheste, nach deutscher Sitte im Stillen nur desto erfolgreicher wirkende Weise« der revolutionären Bewegung tatkräftig zum Sieg verhelfen würde (NT 16.3.48). Da Frauen von politischen Entscheidungsprozessen wie z.B. Wahlen immer noch ausgeschlossen waren, mußte bürgerliche >Frauenpolitik< 1848 ihre Handlungsräume in >typisch weiblichen< Bereichen suchen. Die Kampagne, die kurz nach der Einsetzung des liberalen Märzministeriums für die revolutionäre Bewegung mobilisieren sollte, hielt für die nationalgesinnte Bürgerin spezielle weibliche Identifikationsangebote bereit: Das Konsumverhalten und die Mode der bürgerlichen Frau wurden 1848 zum Politikum und boten ihr ein weites Feld zur Demonstration nationaler Gesinnung.
In den württembergischen Zeitungen erschienen im März 1848 fast täglich Aufrufe an Frauen, »fortan nur Erzeugnisse des vaterländischen Gewerbefleißes« zu kaufen (NT 16.3.48). Die Bürgerinnen reagierten prompt: Bis in den Mai des Jahres 1848 hinein meldeten die Zeitungen aus allen Teilen des Königreichs, daß Frauen sich zu Vereinen zusammengeschlossen und ab sofort öffentlich »zum Ankauf blos deutscher Produkte« (SK 22.3.48) verpflichtet hätten. Vor allem Bürgerinnen aus den demokratischen Zentren Württembergs erklärten sich mit dem Ziel dieser nationalen Kampagne solidarisch. Sie unterzeichneten Unterschriften-Listen, die in Stuttgart beim bürgerlichen Museums-Verein und bei nationalgesinnten Professoren auslagen, vor allem aber bei Geschäftsleuten, die schon seit den 30er Jahren als Mitglieder im »Verein zur Beförderung der Gewerbe« für eine an nationalen Interessen orientierte Wirtschaftspolitik eintraten.
Vom kleinen Tuchhändler in Göppingen bis zur Stuttgarter Großhandelsniederlassung »Scholl & Comp, Commissions-Waaren-Niederlage württembergischer Fabrikanten« schlossen sich viele Geschäftsleute aus allen Teilen des Königreiches der Kampagne zum »Schutz der vaterländischen Gewerbe« an. Mit diesen Aufrufen reagierten die Gewerbetreibenden auf die nationale wirtschaftliche Krise, die im Vormärz und vor Beginn der Revolution 1848 ihren Höhepunkt erreicht hatte.[1] Die Zahl der gewerblichen Konkurse war 1846/47 bedrohlich gestiegen und hatte die durch Mißernten und Lebensmittelteuerung ohnehin gespannte soziale Lage noch verschärft: Vor allem das textilverarbeitende Handwerk in Württemberg war immer tiefer in die Krise geraten. Viele Handwerker waren arbeitslos. In bestimmten Berufssparten wie z.B. im metall- und holzverarbeitenden Bereich sowie in der Textilbranche sorgten zwar Fabrikgründungen und damit ein erster Industrialisierungsschub im Königreich für Arbeitsplätze und Aufschwung. Für das heimische Kleingewerbe, speziell die Woll- und Baumwollverarbeitung in Württemberg, bedeutete das jedoch den endgültigen Niedergang. Zur industriellen Konkurrenz aus dem Ausland, allen voran Frankreich und England, kam nun auch noch die Fabrikproduktion aus dem eigenen Land. Die technisch rationellere Produktion ruinierte den heimischen Markt, da sie im Verhältnis zum Handwerk billiger herstellen konnte, ein ausgefalleneres Warenangebot hatte und damit flexibler auf die Nachfrage am Markt reagierte. Der Absatz handwerklich produzierter Waren stagnierte. Betroffen waren in Württemberg vor allem Tuchmacher, Schneider, Bortenwirker, Färber, Strumpf- und Leineweber.[2]
Wirtschaftsanalysen des Krisenjahres 1847 führten den Niedergang des Gewerbes allerdings nicht auf die eigene rückständige Produktionsweise zurück, sondern verlagerten das Problem in den Bereich der Konsumtion. Zum ersten Mal wurde der Gedanke geäußert, daß die Absatzschwierigkeiten der Kleingewerbetreibenden mit dem Einkauf der Frauen zusammenhängen könnten. In mehreren Zeitungsartikeln wurde das Stagnieren des deutschen Textilhandwerks und die unausgeglichenen Zahlungsbilanzen des Deutschen Bundes auf das falsche Kaufverhalten der Frauen zurückgeführt.

  • »Nur ganz wenige Frauen dürften wissen«, klärte z.B. 1847 ein Artikel im »Neuen Tagblatt für Stuttgart und Umgegend« auf,»daß das Inland dem Ausland alljährlich 21 1/2 Mill. Thaler an Arbeitslohn und Veredlungskosten blos auf die vier Industrieartikel Baumwollen-, Leinen-, Seiden- und Wollenwaaren zahlt. Um diesen ungeheuren Betrag würde sich das Nationalvermögen vergrößern, wenn die betreffenden Gegenstände aus inländischen Fabriken bezogen würden, wodurch jährlich 689 100 Inländer mehr ernährt werden könnten, als dieß bei einem gewöhnlichen Geschäftsgang der Fall ist. Wie wohl würde diese Geldsumme unseren bedürftigen Webern kommen, denn diese sind es, die am meisten darunter leiden, daß sich unsere Frauen an Putzwaaren ausländischer Fabrikation gewöhnten.« (NT 1.6.47)

Durch ihr unvernünftiges, auf ausländische Mode- und Luxusartikel fixiertes Konsumverhalten, wurde den Bürgerinnen vorgehalten, sei der »Händler gezwungen, seine Artikel aus dem Auslande zu beziehen« (RMC 13.7.47). Zeitungsveröffentlichungen endeten meist mit dem Appell, daß es »sehr günstig... überhaupt auf unsere eigene Fabrikation rückwirken (würde), wenn wir uns gewöhnen wollten, uns, so weit es nur der Geschmack zuläßt, auf die Erzeugnisse unseres eigenen Gewerbfleißes zu beschränken«. Schon 1847 wurde also an die Möglichkeit eines Boykotts ausländischer Waren zum Schutz des nationalen Marktes gedacht, und bereits damals wurden besonders »deutsche Frauen und Jungfrauen« als Mitstreiterinnen im Kampf um die »Hebung des Nationalwohlstandes« angesprochen: »Möchten doch... die Frauen sich vereinigen und gegenseitig verpflichten, den deutschen Stoffen vor den fremden stets den Vorzug zu geben, sobald Mode und Geschmack dies irgend gestatten!« (NT 1.6.47) Die Aufrufe erzielten jedoch offensichtlich keine große Wirkung, denn noch im November 1847 beschwerte sich »ein Gewerbsmann«, daß »das weibliche Geschlecht Deutschlands... es hauptsächlich (sei), das seiner unbegrenzten Modesucht einen bedeutenden Theil der vaterländischen Industrie dem Auslande opfert und... seine Einkäufe da am liebsten macht, wo das Ausland seine Krambude aufgeschlagen hat...« (RMC 5.11.47).

Einkaufen als politischer Akt

Mit Beginn der Märzrevolution machte das Kleinbürgertum die Gewerbefrage zu einem nationalen Thema, das alle mobilisieren und besonders die Frauen in die gemeinsame nationale Politik einbinden sollte. Direkt an die Frau als potentielle Käuferin richteten die Gewerbetreibenden jetzt den »Ruf zu Unterstützung des Gewerbestandes, insbesondere der kleinen Gewerbe« (NT 16.3.48). Diese öffentlichen Aufrufe trugen den Gedanken des Zusammenhangs zwischen Nationalidee und wirtschaftlichem Aufschwung direkt in die Familien und an die Frauen als Konsumentinnen heran. Die Bürgerin in der Stadt stand an der Nahtstelle zwischen Produktion und Konsumtion. Denn »... gerade die Frauen... sind (es), welche meistens in Kleinhandel die Einkäufe für den Hausbedarf machen« (RMC 13.7.47), - die Frau war diejenige, die den Geldbeutel öffnete, die über die Verwendung des ihr zugeteilten Haushaltsgeldes zu entscheiden hatte. Die bürgerliche Hausfrau in der Residenzstadt Stuttgart produzierte Mitte des 19. Jahrhunderts nur noch einen Teil der benötigten Lebensmittel selbst. Sie hatte zwar ihr kleines Obst- und Gewürzgärtchen am Haus, zog »allerlei Gemüse«, setzte im Herbst den Apfelmost selbst an und holte z.T. noch die Kartoffeln aus dem eigenen Acker.[13] Vieles jedoch bezog die Hausfrau inzwischen über den Handel. Die Herstellung von Tuch und Kleiderstoffen z.B. war schon seit langem aus der Haushaltsproduktion ausgegliedert, so daß die Bürgerin hier weitgehend auf Geschäfte und Industriewaren angewiesen war. 1848 wurde die Frau in ihrer wichtigen Rolle als Konsumentin begriffen, - und als aktive >Partnerin< in die deutschnationale Wirtschaftspolitik der Revolution einbezogen. Indem sie sich entschied, nur noch »deutsche Fabrikate« zu kaufen, ihre Entscheidung sogar öffentlich bekannt gab, machte die Bürgerin aus der Alltagshandlung »Einkaufen« einen bewußten politischen Akt, mit dem sie ihre patriotische Gesinnung demonstrierte.
Die nationale Gewerbepolitik öffnete damit den Frauen ein neues Feld individuellen wie auch kollektiven politischen Handelns. In Stuttgart z.B. schlössen sich Frauen der von Männern gegründeten »Vereinigung zum Schutz der Gewerbe« an, deren einziges Statut lautete:

»Die Unterzeichneten verbinden sich durch ihre Namens-Unterschrift, fortan nur Erzeugnisse des vaterländischen Gewerbefleißes zu kaufen.« (NT 16.3.48)

Demokratisch und nationalgesinnte Frauen arbeiteten mit Männern Hand in Hand, sie ergriffen aber auch selbst die Initiative. Um ihrem Anliegen Nachdruck zu verleihen, organisierten sie sich und gründeten in vielen württembergischen Städten eigene Frauenvereine (Kap. IV.3). Zwölf Frauen des Tübinger Bildungsbürgertums, darunter auch die bekannte Schriftstellerin Ottilie Wildermuth und mehrere Gattinnen liberal gesinnter Professoren, gehörten zu den ersten Württembergerinnen, die mit einem Inserat im Tübinger »Amts- und Intelligenzblatt« mit ihrem Namen für die nationale Sache warben:

»Tübingen. Die Unterzeichneten haben, um auch ihrerseits zur Hebung des Volkswohlstandes und des Nationalgefühls etwas beizutragen, sich in dem Vorsatze vereinigt, die Kleidungsstoffe für sich und die Ihrigen fortan, wenn irgend möglich, nur aus deutschem Fabricate, und zwar mit Rücksicht auf die ortsangehörigen Gewerbe zu wählen. Sie machen dieß öffentlich bekannt in der Hoffnung, es werden sich nicht nur hier recht viel Gleichgesinnte an sie anschließen, sondern auch in andern Städten des deutschen Vaterlandes werde ihr Beispiel Nachahmung finden.« (TAI 13.3.48)

Die Frau als bewußt einkaufende Bürgerin sollte zum weiblichen Leitbild der nationalen Bewegung werden. Indem sie mit ihrer Unterschrift an die Öffentlichkeit trat, stellte sie sich an die Seite ihres Mannes, der aufgerufen war, »dem Vaterland in dieser ereignisvollen Zeit mit Gut und Blut (seine) Dienste anzubieten« (ESP 11.3.48).
Schimpfende Weiber und patriotische Jungfauen
Der organisierte Warenboykott und der sich darin ausdrückende Politisierungsprozeß der Frauen fanden zu Beginn der Revolution bei den Kaufleuten aus allen politischen Lagern Unterstützung. Die Händler, die vor und während der Revolutionszeit weiterhin Waren aus dem Ausland importierten und daher nach allgemeiner Ansicht als »Todtengräber des Handwerkerstandes, als die Schmarotzerpflanze des Bürgerthums« (Beob 4.1.49) galten, warben mit dem Signet »Deutsche Waaren« oder »Deutsches Fabricat« die politisierte Kundin. Kaufleute nahmen die Chance wahr, ihre nationale Einstellung gleichzeitig im vaterländischen Verein und hinter der Verkaufstheke ihres Geschäftes zu demonstrieren. Sie reagierten sofort auf die Nachfrage nach deutschen Erzeugnissen und stellten ihre Werbung in den Zeitungen speziell auf die neuen politischen Bedürfnisse ein. Ein Göppinger Kaufmann nahm dabei sogar auf den Aufruf des örtlichen Frauenvereins Bezug:

»Den patriotischen Frauen und Jungfrauen, welche sich vereinigt haben, zur Unterstützung der inländischen Gewerbe künftig nur deutsche Fabrikate zu kaufen, widme ich die vorläufige Anzeige, daß ich in wenigen Tagen in den Besitz einer schönen Auswahl selbst fabrizierter leinener Kleiderstoffe gelange, die ich zu sehr billigen Preisen erlassen werde.« (GWB 25.3.48)

In vielen württembergischen Städten kam es zu einer direkten Zusammenarbeit zwischen Bürgerinnen und Kaufleuten. Ohne die einkaufenden Frauen wäre die patriotische Bewegung wohl nie so weit in den Alltag der Revolution vorgedrungen. Die neue Kaufmoral der Frauen bestätigte außerdem die Männer in ihren politischen Ansichten, und ein Eßlinger Bürger lobte so im April 1848 die Mitarbeit der Frauen:

»Angeregt durch die verehrten hiesigen Frauen, ist der Patriotismus seit einiger Zeit auch in unsere Mauern eingezogen, wie aus den Sommerwaaren-Empfehlungen in der letzt erschienenen Schnellpost ersichtlich ist. - Nachdem z.B. in den früheren ellenlangen Empfehlungen stets nur die ausländischen Tücher besonders hervorgehoben wurden, läßt man jetzt, um sich in die Zeitumstände zu fügen, auch inländischen Fabrikaten die längst verdiente Gerechtigkeit wiederfahren.« (ESP 8.4.48)

Die Kaufentscheidungen der Frauen wurden in den Zeitungen diskutiert, als wären sie für die ganze Nation von existentieller Bedeutung, und es ist anzunehmen, daß die offizielle Würdigung ihres Engagements den Bürgerinnen zum ersten Mal ein Gefühl für ihren möglichen Einfluß vermittelte.
In der Diskussion um eine Veränderung des Konsumverhaltens wurde immer wieder die soziale Verantwortung des Bürgertums für das Allgemeinwohl betont. Schließlich waren die Auswirkungen der Krise 1846/47 und das Ausmaß der Verelendung weiter Kreise der Bevölkerung nicht mehr zu übersehen:

  • »Hunderttausende und abermals Hunderttausende fallen der öffentlichen Mildthätigkeit anheim, während gar viele aus einem... traurigen Schamgefühle, da sie früher mit ihrer Hände Arbeit ihren Erwerb fanden, lieber im tiefsten Elend hungern und darben... Das Einzige, worum sie bitten, ist Arbeit, nur Arbeit.« (RMC 13.7. 47)

Unter dem Motto »Vereinigt die Interessen der Armuth mit denen der Gewerbe« unterstützten deshalb 1848 die bürgerlichen Wohltätigkeitsvereine (Kap. IV.l) die Kampagne zum Kauf deutscher Waren. Bereits im Februar 1848 hatte der Bezirks-Armenverein Heidenheim die Gründung eines »Vereins für inländische Fabrikate« vorgeschlagen (BfA 19.2.48). Aus der Perspektive der Armenkassenverwalter wirkte jeder Boykott ausländischer Produkte wohltätig, denn er verhalf dem verarmten Mittelstand zu Arbeit. Auch hier waren Frauen wieder angesprochen, wie immer, wenn es um Wohltätigkeit ging. Christliche Nächstenliebe und Sorge für die Armen, die sich durch das Sammeln und Spenden von Geld, Nahrungsmitteln und Kleidern für Verarmte ausdrückte (Kap. IV.l), galten im 19. Jahrhundert als die »vornehmste« Pflicht bürgerlicher Frauen. Nun wurde ihnen zusätzlich die Möglichkeit geboten, schon allein durch ihren Einkauf bei Handwerkern und Kaufleuten am Ort ein gutes Werk der Fürsorge zu tun:

  • »Namentlich ergeht auch der Ruf an die zartere Hälfte unserer Bevölkerung, an die Trägerinnen edler teilnehmender Gefühle, mitzuwirken zum edlen Zwecke der Linderung so mancher unverschuldeter Noth unserer bedrängten absatzlosen Gewerbsleute!« (SK 12.3.48)

Einkaufen wurde damit zu einem caritativen Akt. Zum »Opfer« für die Nation erklärt, wurde der einzelnen, aber nunmehr organisierten Kaufentscheidung der Frauen mehr Einfluß zugeschrieben als der traditionellen Wohltätigkeit. Denn »so gering auch im Einzelnen seine Wirkung seyn mag, von der Gesammtheit gebracht, ist (das Opfer; d.V.) doch im Stande, mehr Noth und Elend nachhaltig zu stillen, als alle Almosen der Welt« (NT 1.6.47). Mit der gesteuerten Nachfrage wurde indirekt das Konzept einer sich über den Markt regulierenden Wirtschaft propagiert und damit eine Alternative zum korporativ organisierten Wirtschaftsund Versorgungssystem der spätabsolutistischen Gesellschaft.

»Schimmernder Tand« und »Kostspieliger Flitter«

Zugleich flossen in die Debatte um die Verarmung des Handwerks und den Boykott ausländischer Waren Vorstellungen über bürgerliche Lebensführung ein, die einerseits von protestantischer Ethik geprägt waren und andererseits ein politisches Gegenmodell darstellten zu aristokratischem Luxus und der »Verschwendungssucht« großbürgerlicher Kreise. Leitsatz dieser bürgerlichen Moral war Bescheidenheit. Mäßigung und Sparsamkeit wurden als bürgerliche Tugenden einem Lebensstil gegenübergestellt, der sich vor allem am Pariser Großbürgertum und der französischen Aristokratie orientierte. Als Synonym für diesen Luxus galten besonders Modeartikel und »Putzwaaren« der Frauen, die zum großen Teil aus Frankreich importiert wurden. Paris und Lyon waren Zentren der modischen Luxusproduktion in Europa; Frankreich exportierte schon seit dem 17. und 18. Jahrhundert sowohl Rohstoffe für Gewebe und teure Farbstoffe als auch industriell gefertigte Kleidungsstoffe, fertige Modeartikel aus Seide, Brokat, Samt, Leinen, Wolle sowie Baumwolle.[4] Diese französischen Importe galten solange nicht als wirtschaftspolitisches Problem, als sich nur Adel und gehobenes Bürgertum in Deutschland diesen Luxus leisten konnten.[5] In den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte sich das geändert. Das Bürgertum hatte einen völlig neuen Lebensstil entwickelt, in dem Geselligkeit und äußere Repräsentation eine große Rolle spielten (Kap. IV.4). Für die Besitzenden galt »weiser Genuß (als) die Aufgabe des Erdenlebens« und Luxus gehörte - wie es im »Damen Conversations Lexikon« von 1835 hieß[6] - als das »Salz« zum geselligen Leben des Bürgertums. Die Stuttgarter Bürgerin, die etwas auf sich und ihre gesellschaftliche Stellung hielt, abonnierte nun gemeinsam mit ein paar Freundinnen das »Pariser Modenjournal« oder die »Illustrierte Musterzeitung«[7] oder kaufte direkt bei der Putzmacherin Caroline Baumann ein, die sich von Zeit zu Zeit in Paris >weiterbilden< ließ, - in seiner französischen Extravaganz trug nun z.B. das Kleid der Frau Stadtdirektor Gutbrod mit dazu bei, daß Tuchmacher und Weber am Ort dem Konkurs nahe waren. Auch kleinbürgerliche Schichten versuchten - soweit es ihre finanziellen Mittel erlaubten - den aufwendigen Lebensstil des Bürgertums zu kopieren. Kritiker stellten fest, daß der »verderbliche« Luxuskonsum seinen Weg durch alle Schichten genommen hätte, und das »weibliche Geschlecht Deutschlands, von der Dame in der Stadt bis auf das Landmädchen in der Hütte herab...« (RMC 5.11.47) Stoffe und Kleidungsstücke aus französischer Produktion bevorzugte. Selbst den Stuttgarter Dienstmädchen wurde nachgesagt, sie trügen »große Halstücher, Halskrägen und Kleider, oft von reicherem Stoff als ihre Herrschaft« (NT 12.8.48). Die sozialen Gegensätze zwischen den Schichten schienen sich vor dem Hintergrund ungebremsten Konsums zu verwischen, und häufig wurde in den Zeitungen vor den sozialen Folgen gewarnt:

»Es ist eine betrübende, aber nicht zu läugnende Thatsache, daß sich heutzutage die Sucht nach Vergnügungen und der verderbliche Luxus, d.h. der unnöthige, übertriebene Aufwand, in allen Klassen der Gesellschaft immer mehr Bahn brechen und zunehmende Verarmung und Entsittlichung im Gefolge haben«. (NT 4.1.46)

Als Reaktion auf diese überhandnehmende »Genuß-, Putz- und Vergnügungssucht« der Frauen bildeten sich in den 40er Jahren in Deutschland Mäßigungsvereine, u.a. in Berlin und Nürnberg, in denen Frauen aller Schichten »zur vernünftigen Einfachheit in Lebensweise und Tracht« bekehrt werden sollten.[8] Ziel war, »... dem eben so verderblichen als lächerlichen Kleiderluxus und Kleiderwechsel, welcher so vieles häusliche Glück untergräbt, so viele Dienstboten entsittlicht und zu Grunde richtet, nach Kräften entgegenzuwirken...«. Diese Erziehungsversuche scheiterten, da die Initiatorinnen der Vereine - Frauen aus dem gehobenen Bürgertum - selbst offensichtlich kein überzeugendes Vorbild abgaben. Kritiker warfen ihnen vor, daß ihre Bemühungen »bloß dahin (gingen), den Geist der Eitelkeit in den unteren Volksklassen zu ersticken«, sie selbst aber weiterhin dem Luxus frönten.

»Die schöne weibliche Tracht des neuen deutschen Vaterlandes«

In der Revolution 1848 setzte sich die Debatte der 40er Jahre fort. Weiterhin wurden Mäßigung und Verzicht auf Luxus propagiert. Vor dem Hintergrund der revolutionären Ereignisse und in Verbindung mit dem Nationalgedanken bekam das Schlagwort,Einfachheit< nun politische Brisanz. Es wurde zum Kampfbegriff der demokratischen Bewegung, die Luxus, Konsum und Mode mit aristokratischem Lebensstandard gleichsetzte und diesen ebenso ablehnte wie ständische Privilegien. >Deutsche Einfachheit< wurde zum Sinnbild demokratischer Gleichheit und Ausdruck von Volkstümlichkeit. Kennzeichen einer »Demokratie«, so betonte 1835 das »Damen Conversations Lexikon«, war neben Tugend, Recht und Gesetz vor allem die »Einfalt der Sitten«.[9]Mit dem Begriff >Einfachheit< verbanden die Demokraten ein ganzes politisches Programm, in dem Mode zum Politikum und einfache Kleidung zur Voraussetzung für ein funktionierendes Staatswesen wurde. »Die Einfachheit eurer Kleider bedingt eine Einfachheit eurer häuslichen Einrichtung, eures Benehmens, eurer Vergnügungen, eurer Sitte und dergleichen mehr«, schrieb die Zeitung der württembergischen Radikaldemokraten, die »Sonne«, im Juli 1848, »und daraus folget immer wieder die Förderung eures Wohlstandes, eures Glückes und eurer Zufriedenheit.« (Sonne 19.7.48) In der >Einfachheit< schien die Lösung aller wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu liegen. Haus- und Staatsökonomie wurden parallelisiert, und was die einzelne Familie vor moralischer und ökonomischer Zerrüttung rettete, sollte auch auf die Nation übertragbar sein. Ein »praktischer Bierbrauer und Landwirth«, der auf »Vereinfachung und weise Sparsamkeit im Familienhaushalte« drängte, kam so zu dem Schluß, daß »natürlich vor Allem auch die Vereinfachung des Staatshaushaltes nöthig« sei (Beob 4.1.49).
Für Frauen bedeutete >Einfachheit< zuallererst >Natürlichkeit< und damit eine Rückbesinnung auf das >Wesen der Frau<. Weiblichkeitsvorstellungen der Romantik wirkten 1848 fort, wenn der Unnatur der Kampf angesagt wurde: »Alles Zwecklose verbannet! Eben das Zwecklose ist das Unvernünftige, das Unvernünftige das Geschmacklose und Unnatürliche.« (Sonne 19.7.48) Gerade in ihrem gesellschaftlichen Auftreten sollte die Bürgerin nicht künstlich und geziert wirken, sie wurde gewarnt: >Das Natürliche ist das einzig Wahre!< Dieß Prinzip dürfen die Frauen nie außer Augen verlieren, es gilt in der Mode, in der Haltung, im Tanz und Spiele, in der Conversation, in der Art ihrer Erscheinung und deren vielfacher Repräsentation.«[10] Mit Blick auf die einschnürende und ungesunde französische Rokokomode des 18. Jahrhunderts wurde nun an die Kleidung der Anspruch der Zweckmäßigkeit und Bequemlichkeit gestellt. Einfache Kleidung bot für Frau und Mann gleich zwei Vorteile, denn durch sie fiel »der Aufwand für die ewig wechselnde fremde Mode hinweg und Fieber, Husten, Zahnweh, Rheumatismen und alle dergleichen Begleiter einer unzweckmäßigen Bekleidung werden zum großen Theile verschwinden.« (Sonne 19.7.48) Der Aspekt des Praktischen verband sich mit einer neuen Ästhetik, denn auch schmucklose Kleidung konnte angeblich schön aussehen: »Kleidet euch einfach, bescheiden, warm, bequem, aber geschmackvoll, daß es auch dem Auge wohl thut und die erhabene Menschengestalt nicht verzerre.« (Sonne 19.7.48) Im »Damen Conversations Lexikon« hieß es: »Einfachheit ist für die wahre Schönheit der edelste Schmuck«.[11] Diese Ideen griffen die Frauen in ihren Aufrufen 1848 auf. In ihrer Annonce in der »Schwäbischen Kronik« schrieben Reutlingerinnen, daß sie es

»in ihrer Versammlung... für zeitgemäß erkannt (hätten), zur Einfachheit in der Kleidung aufzumuntern und durch Vermeidung übertriebenen Puzes mit gutem Beispiel voranzugehen, auch widernatürlichen Schnitt der Kleider, wie z.B. die straßenkehrenden langen Röcke, nicht ferner anzunehmen.« (SK 17.3.48)

Gerade die durch die Nähe zum königlichen Hof in Modedingen so verwöhnten »Frauen und Jungfrauen Stuttgarts« wurden aufgefordert, »...in jetziger Zeit das Nützliche, Einfache dem Luxus vor(zu)ziehen« (NT 28.4.48). Die grobe Webart deutscher bzw. württembergischer Stoffe sowie die Phantasielosigkeit der Muster bekamen plötzlich einen politischen Wert. Bürgerliches Selbstbewußtsein und der Wunsch nach nationaler Identifikation machten aus simplem Leinen deutsche Wertarbeit, die sich gegenüber den französischen »Lumpen« durch »Dauer und Wohlfeilheit« auszeichnete. Was früher noch Zeichen gesellschaftlicher Macht war, wurde zu wertlosem »schimmerndem Tand« (SK 12.3.48) und »kostspieligem Flitter« (NT 12.3.48) erklärt. Gewarnt wurden die Bürgerinnen vor allem, für schlechte Qualität und geschmackloses Design einen überteuerten Preis zu zahlen:

»Hört, meine Schönen, einen guten Rath! Laßt Euch von Euren Modekrämern kein so geschmackloses, buntes, theures Zeug mehr auf den Hals schwatzen, das schon in den ersten vier Wochen die Hälfte des Werths verliert...«. (GWB 14.2.49)

Miteinkalkuliert wurde, daß die Qualität deutscher Stoffe manchen bürgerlichen Ansprüchen nicht genügte. Entschädigt durch die Möglichkeit, sich so >hautnah< mit der deutschen Nation identifizieren zu können, sollten Bürgerin und Bürger über diese Mängel hinwegsehen:

»Wenn das vaterländische Fabrikat dem gleichartigen ausländischen auch an Güte oder äusserem Ansehen nachsteht, oder im Preiße höher ist, so wird dieser Nachtheil gegen die hier vorwaltende höhere Rücksicht in den Hintergrund treten.« (NT 16.3.48)

Möglicherweise fiel also die Stuttgarter Frühjahrs- und Sommermode 1848 mit »einer schönen Auswahl selbstfabrizierter leinener Kleiderstoffe« nicht ganz so elegant aus wie noch im Jahr davor. Entscheidend war jedoch, daß sie nicht mehr »mit dem Nationalgefühl und dem Geschmack... im Widerspruch« stand (NT 9.5.48).
Für Männer des Bürgertums waren diese Äußerlichkeiten kein Problem. Weder Schnitt noch Herkunft ihrer Kleidung standen 1848 zur Diskussion. Obwohl auch die Männerkleidung in den 30er Jahren wieder stärker modischen Einflüssen aus dem Ausland ausgesetzt gewesen war und auch in Deutschland >Modegecken< in bunten Farben und stutzerhaften Schnitten Aufsehen erregt hatten, diente dem aufstrebenden deutschen Bürgertum doch eher die schlichte und praktische Kleidung des Engländers als Vorbild. In Deutschland wählte »der Mann (durchgängig) das Nüzliche, Passende, Dauerhafte zu seiner Bekleidung«.[12] Männer wie z.B. Kaufmann Reiniger oder Rechtsconsulent Schübler aus Stuttgart, die sich mit ihrer Unterschrift öffentlich zum Waren-Boykott bekannt hatten (NT 16.3.48), wollten in der Stadt eher durch gute Geschäfte und Leistung von sich reden machen als durch auffallendes Äußeres, und so war für das Geschäftskontor der dunkle Leibrock mit heller Hose, bunter Weste und heller, einfacher Krawatte praktisch und ausreichend. Während also Frauen erst an ihr Verantwortungsbewußtsein für die deutsche Sache erinnert werden mußten, bot, wie ein Journalist 1848 mit einem gewissen Stolz feststellte, »in Stoffen zur Männerkleidung... mit äusserst seltenen Ausnahmen, das Zollvereinsgebiet Alles« (NT 23.3.48). Für den Bürger mußten keine modischen Anleihen im Ausland gemacht werden, er kleidete sich bereits deutsch-national und bezeugte damit seinen Patriotismus. In der Revolution bekam der Bürger außerdem sein eigenes >patriotisches Kleidungsstück<, den Rock der Bürgerwehruniform, in dem er sich beim Exerzieren und bei revolutionären Festlichkeiten vor aller Augen als Patriot und >deutscher Mann< zu erkennen geben konnte.
Das Thema >Mode< richtete sich also fast ausschließlich an die Adresse der Frauen. Nationale Gesinnung verlangte nach angemessener Kleidung. Welche politische Bedeutung dem Kleid der bürgerlichen Frau in der Revolution zugewiesen wurde, macht der Aufruf deutlich: »Emancipiren wir uns endlich vom Auslande nicht nur mit den Stoffen, sondern schaffen wir uns auch eigene deutsche Moden« (SK 12.3.48). Nicht mehr allein die Herkunft der Stoffe war entscheidend. Schon in Form und Schnitt der Frauenkleider,materialisierte< sich die deutsche Nationalidee, sie sollten deshalb von deutschen und nicht mehr von Pariser Modemachern stammen. So wie es vorher schon im Kampf gegen französische Hegemonieansprüche Ziel des Mannes gewesen war, »längst getragene drückende Fesseln abzuschütteln und in allen Dingen so frei zu werden, wie es einem deutschen Manne ziemt« (NT 12.3.48), - so war es auch Sache der Frau, sich vom französischen Modediktat unabhängig zu machen: »Zerbrechet die Götzen, die ihr bisher angebetet. Weiset vor Allem aus euren Familien den Götzen der Mode... Verbannet den fremden Prunk, der euch zu den Affen der Nachbarstaaten und den Tributpflichtigen ihrer Modehandlungen machet« (Sonne 19.7.48). Mode war stoffliche Ideologie geworden. Das Kleid der Frau wurde zum Erkennungszeichen nationaler und demokratischer Gesinnung. Die Frau, die »inländische Kleiderstoffe« (GWB 25.3.48) oder Strohhüte »sämmtlich würtembergisches Fabrikat« (AIS 28.3.48) trug, erschien als alltäglich sichtbare Personifikation der revolutionären Ideen, sie war >Trägerin< des Nationalgedankens. Auf ihr ruhten die Hoffnungen auf einen neuen bürgerlich-demokratischen Staat:

»Tretet Ihr zusammen zu einem Rathe der Grazien, um alle undeutschen Moden mit acht deutscher Weiblichkeit und in dem Selbstgefühle Eures Werthes entschieden von Euch abzuweisen... aus der Asche wird als Phönix emporsteigen die schöne weibliche Tracht des neuen deutschen Vaterlandes, in ihrer Einfachheit die Bürgschaft einer gesinnungstüchtigeren Zukunft!« (NT 12.3.48)

Die Hoffnung auf die Zukunft einer geeinten deutschen Nation führte 1848 zurück in die Vergangenheit. Geschichte wurde als Steinbruch für nationale Ideen benutzt, zu denen auch die Vorstellung von einem überzeitlichen und unveränderlichen deutschen >Nationalcharakter< gehörte. Im historisierenden Rückgriff auf das Mittelalter wurde >Einfachheit< zu einem Teil der deutschen Wesensart, eine These, die das »Damen Conversations Lexikon« schon 1835 bestätigte, indem es gerade die deutsche Frau im Mittelalter als »einfach in Schmuck und Tracht« und deshalb vorbildlich hervorhob.[13] Das Mittelalter wurde als eine Zeit idealisiert, in der sich Deutschland in seiner politischen Bedeutung nur aufgrund des deutschen >Charakters< gegen alle Machtansprüche von außen hatte durchsetzen können. »Ich möchte sie wiederkehren sehen jene Tage deutscher Einfalt und Sitte«, wünschte sich die radikal-demokratische »Sonne« im Juli 1848 vergangene Zeiten zurück. Durch diese nationale »Wiedergeburt« sollte sich die Bürgerin in puncto Kleidung durch alte Vorbilder zu einer neuen nationalen Mode anregen lassen. Der Journalist Friedrich Mühlecker schrieb:

»Wenn ich die Modethorheiten des jetzigen und verflossenen Jahrhunderts in der Wirklichkeit, im Bilde und in den Beschreibungen betrachte, so kehret mein Blick gerne in eine weitere Vergangenheit zurück, wo deutsche Bürger-Tracht nicht verunstaltet war durch wälsche Glätte und wälschen Flitter«. (Sonne 19.7.48)

Die Debatte in der Revolution 1848 um neue bürgerliche Kleidungskonzepte und nationale Symbolik gipfelte in der Forderung nach einer eigenen deutschen »Nationaltracht«, und die Parole lautete: »verschaffet euch eine einfache deutsche Tracht, daß ihr euch auch im Äußern des Namens einer Nation würdig zeiget.« (Sonne 19.7.48) Diese Idee einer deutschen Nationaltracht geisterte bereits Ende der 40er Jahre durch das Programm der demokratischen Bewegung. Auch in Württemberg lassen sich dafür Beispiele finden. So in einer Ode August Hochbergers »An Deutschland«, die im Zuge des Konflikts um die Zugehörigkeit Schleswig-Holsteins zum Deutschen Bund bzw. zu Dänemark 1846 entstand. Um die deutsche Abwehrkraft zu stärken, erinnerte er an die Vergangenheit:

»Laßt aber fremde Sitten auch uns meiden,
Uns deutsch wie unsere Väter, Mütter kleiden,
Und so entsagen allem fremden Wahn...«. (NT 5.9.46)

Dieser Aufruf Hochbergers, der Fabrikarbeiter und Vorsitzender des Eßlinger Arbeitervereins war, belegt, wie weit diese Ideologie verbreitet war, und daß vor allem auch Demokraten zu historisierenden Rückgriffen neigten.
Mit dem ideologischen Konstrukt einer »Nationaltracht« nahmen die Demokraten eine Idee wieder auf, die aus der Zeit der Befreiungskriege stammte, und knüpften an nationale Konzepte an, die bereits 40 Jahre alt waren. >Turnvater< Jahn und Ernst Moritz Arndt z.B. hatten bereits 1810 bzw. 1814/15 versucht, das »deutsche Volksthum« gegen Frankreich und damit einen deutschen bürgerlichen gegen einen französischen aristokratischen >Nationalcharakter< abzugrenzen.[14] »Bescheidenheit, Demuth, Ernst und Tiefsinn«[15] sowie Wahrheit und Einfachheit galten in ihren programmatischen Schriften als Kennzeichen »deutscher Art und Sitte«, Mode und Luxus wurden als »wälsch und leicht und liederlich«[16] und somit Statussymbole der deutschen Aristokratie an den Pranger gestellt.
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Der politische Schriftsteller Arndt arbeitete 1814 in seinem Buch »Über Sitte, Mode und Kleidertracht« Vorschläge zu einer nationalen Kleidung für Männer und Frauen aus. Unterstützung erhielt er von der nationalgesinnten Schriftstellerin Caroline Pich-ler, die die Nationaltracht als »das Bundeszeichen zum Guten, Sittlichen, zum Abscheu der Fremden, zur Wiederkehr deutscher Zucht und Würde« begrüßte.[17] Die Nationaltracht stand damals schon als Zeichen für die deutsche Abwehr französischer Hegemonieansprüche, und die Ablehnung des Korsetts lief parallel zur Abwehr alles Französischen und Fremden in der Mode. Obwohl zu Napoleons Zeit adelige und bürgerliche Französinnen das Korsett schon seit einigen Jahren abgelegt hatten, wurde die feste Einschnürung des Frauenkörpers mit der Unterdrückung durch den Franzosenkaiser gleichgesetzt:

»Hassest du den Corsen, Weib!
Hasse denn auch die Corsette,
Und befreye deinen Leib!
Jeder Zwang ist Druck und Kette,
Jeder fremde Brauch ist Schmach,
Darum schleudre die Corsette,
Deutsches Weib, dem Corsen nach!« (UAI 16.3.15)

Die deutsche Nationaltracht nach 1814 verkörperte den Anspruch, das >Deutsche< schlechthin in sich zu vereinigen. Als »altdeutsche« Elemente galten die geschlitzten und gepufften Mameluckenärmel,[18] federgeschmückte Barette, aufgestellte gezackte Kragen und spitz auslaufende Manschetten. Stoff und Farbe waren mehr oder weniger egal, nur der Schnitt des Frauenkleides erschien als ganz der mittelalterlichen deutschen »Tradition« verhaftet: schlicht, gerade herabfallend und vor allem »bequem«.[19] Bei genauerem Hinsehen jedoch entpuppt sich die Nationaltracht als Phantasiekostüm. Die nationale Frauenmode hatte ihre geschichtlichen Vorlagen unter anderem bei Albrecht Dürer und in den Darstellungen alter deutscher Ritterherrlichkeit gesucht und verkaufte nun eine Mischung aus deutscher Landsknechtstracht und der spanischen Mode des 16. Jahrhunderts als »teutschen Stil«.[20] Vor allem der als typisch deutsch gefeierte Schnitt des Kleides war unverkennbar eine Abwandlung des französischen Chemisenkleides, das als »Nuditätenmode« nach der Jahrhundertwende vom moralisch denkenden kleinstädtischen Bürgertum in Deutschland strikt abgelehnt worden war. Gerade im Gewand der deutschen Nationaltracht gingen also aktuelle französische Modeströmungen und deutsch-nationale Geschichtsklitterung für mehrere Jahre eine ideologisch tragfähige Allianz ein. Die Tracht der Männer orientierte sich an einer historisch eindeutigeren und zeitlich nicht so entfernten Tradition: nationalgesinnte Bürger und Burschenschaftler, die sich nach dem Sieg über Napoleon gern als die »Enkel der gewaltigen Germanen« darstellten,[21] fanden ihr deutsches Vorbild in den Überbleibseln des gerade gewonnenen Krieges und versuchten den Uniformrock - die Litewka- als ihren >Leibrock< ins Zivilleben hinüberzuretten.

Das Kleid der Frau - Sinnbild weiblicher Natur

Indem die Demokraten in der Revolution 1848 die Ideale der Befreiungskriege beschworen und zugleich mit dem Symbol der deutschen Nationaltracht auch die passenden Argumente aus der nationalen Mottenkiste hervorholten, reagierten sie auf tiefgreifende Veränderungen in der Frauenmode der Zeit. Das Kleid der Frau hatte sich in den letzten 30 Jahren dem Vorbild aristokratischer Prachtentfaltung des 17. und 18. Jahrhunderts wieder angenähert. 1848 orientierte sich die Frau erneut an Frankreich, und auch deutsche Modekupfer priesen kostbare Stoffe wie Seide und Brokat. Das Korsett zwängte den weiblichen Oberkörper ein und gab der Frau ein etwas steifes Aussehen, während der Rock - getragen von der Krino-line[22] - in enormer Stoffülle lang auf dem Boden schleifte und den Gang der Frau von einer realen körperlichen Bewegung in ein majestätisches Schweben verwandelte. Eleganz und Luxus bestimmten gesellschaftliches Auftreten. Was schon 1813 Ausdruck des Kampfes gegen die Aristokratie und für die ideologischen Grundlagen einer deutschen Nation gewesen war, wurde 1848 als Reaktion auf diese Refeudalisierung in der Frauenmode wieder aktuell. Dazwischen liegen 30 Jahre bürgerlicher Geschichte in Deutschland und der Aufstieg einer gesellschaftlichen Klasse, deren Entwicklung am Kleid der Frau abzulesen ist. Betrachtet frau die parallelverlaufende Entwicklung vom in der französischen Revolution entstandenen Chemisenkleid als Sinnbild der revolutionären Befreiung bis zum Reifrock als Zeichen der Restauration, dann wird Kleidungs- und Kostümgeschichte zur politischen Geschichte. Der Wandel der Mode ist aber nicht nur ein Indiz für Veränderungen der äußeren Gestalt, sondern auch des Körper- und Lebensgefühls der bürgerlichen Frau; er läßt Rückschlüsse auf einen veränderten gesellschaftlichen Umgang und eine neue Fremdwahrnehmung der Frau zu. Das Kleid der Bürgerin liefert Anhaltspunkte für eine Analyse der historischen Entwicklung der Rollen-und Verhaltensangebote an Frauen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.[23]
Im Barock und im Rokoko hatte die Aristokratin ihren Körper mit weiten Ausschnitten erotisch aufreizend zur Schau gestellt. In ihrer Künstlichkeit betonte die Kleidung adeliger Damen die höfische Verfeinerung und Lebensart.[24] Korsett und Krinoline schafften eine Distanz zum Leib und bewirkten eine Zweiteilung des Körpers in einen mächtigen Unter- und einen davon losgelösten Oberkörper, -Sinnbild der feudalen Gesellschaftsverfassung. Bereits 1816 stand deshalb die Kritik an Korsett und Krinoline im Mittelpunkt der anti-aristokratischen Parolen, die 1848 wieder an Aktualität gewannen. Die Protagonisten der deutschen Volkstumsideologie[25] zogen in den Befreiungskriegen gegen die ihrer Meinung nach ungesunde Sitte deutscher Aristokratinnen und der Frauen des gehobenen Bürgertums zu Felde, die sich um einer schlanken Taille willen Rippen und innere Organe nahezu abquetschten:

»... Selbst unsre Frau'n sind Amazonen,
Gepanzert gehen sie, und schonen
das Kind im Mutterleibe nicht«. (UAI12.12.16)

Als unnatürlich und ungesund wurde die »Schnürbrust« zugunsten der >Befreiung des Leibes<, d.h. einer neuen Beweglichkeit und Bequemlichkeit abgeschafft. Das Bürgertum der Romantik setzte seine Ideale der Einfachheit und Natürlichkeit praktisch in eine neue Form des Kleides für die Bürgerin um. Mit dem faltenlosen, gerade herabfallenden Rock und dem lose unter der Brust geschnürten Mieder streckte das Kleid der Romantikerinnen den Körper und betonte die natürliche gerade Linie. Der aus seinem fischbeinernen Panzer befreite Oberkörper machte der Frau nicht nur im Haus die Arbeit >leichter< sie konnte sich wieder bücken, drehen und frei atmen. Mehr Bewegungsfreiheit gewährten auch die Ärmel, die weit oben an der Schulter angesetzt die Arme freigaben. Der Schnitt ähnelte zwar weiterhin dem Chemisenkleid, das die nachrevolutionäre französische und kurze Zeit auch die deutsche Mode bestimmt hatte. Im Gegensatz zu den Damen des Empire machten deutsche Bürgerinnen aus ihrem Kleid jedoch kein erotisches Versprechen: Statt der weiten Ausschnitte und der durchsichtigen Stoffe der französischen Mode[26] trugen sie züchtig hochgeschlossene Kleider aus einfacher, meist einfarbiger gedeckter Baumwolle oder Kattun. Während der französischen Kontinentalsperre und nach den Wirren der Napoleonischen Kriege war es schwierig und vor allem teuer geworden, luxuriöse französische Seidenstoffe oder feinen Batist auf dem deutschen Markt zu kaufen. Im Gegensatz zur französischen Chemise waren die Ärmel am Kleid der deutschen Bürgerin meist lang bis zum Handgelenk; Nacktheit galt als unzüchtig, und zu kurzen Puffärmeln gehörten in jedem Fall lange Handschuhe, so daß die Bürgerin von ihrem Körper so wenig Haut zeigte wie möglich. Bein und Fuß blieben ebenfalls dezent bedeckt: Der Rock ließ nur die Schuhspitzen frei und war so weit geschnitten, daß sich die Beine beim Gehen nicht abzeichnen konnten. Mit dieser mehr praktischen als schönen Kleidung wurden Ideen der deutschen Aufklärung umgesetzt, die ebenfalls vor allem von Nützlichkeitsdenken geprägt gewesen waren. Justus Moser z.B. sprach bereits 1770 in seinen »Patriotischen Phantasien« die Hoffnung aus, daß die Frau durch einfachere Kleidung bald nicht mehr in der ihr zufallenden Hausarbeit behindert wäre, Küchenarbeiten ohne die Hilfe von Dienstboten erledigen könne und überhaupt mehr Sinn fürs praktische Leben entwickeln würde.[27]
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Mit Stoff und Schnitt dieser Kleider war erst die Voraussetzung für jene gefühlvolle körperliche Nähe zu Mann und Kindern gegeben, die das romantische Mutterideal propagierte und die sich auf vielen Familienbildnissen der Zeit wiederfindet. Schon 1814 wurde Mutterschaft politisch interpretiert. Durch die Betonung ihrer Rolle als Mutter und der Bedeutung ihrer erzieherischen Aufgaben wurde der Frau offiziell eine Verantwortung für die Erziehung der Nation zugesprochen:

  • »Frauen, ihr seyd die Halterinnen der Gesellschaft«, rief Arndt 1814 den deutschen Bürgerinnen zu, »die Mütter der Kinder, die Weiserinnen und Erzieherinnen derer, die für das Vaterland künftig rathen und streiten sollen.«[28]

Natürliche Weiblichkeit war immer auch mütterliche Weiblichkeit. »Warm verhüllend und ehrbar« sollte die neue bequeme Kleidung nach Meinung der Schriftstellerin Caroline Pichler sein und so garantieren, daß gesunde und »stärkere Mütter von keinen Nervenkrämpfen geplagt, frischen und lebensvollen Kindern das Daseyn geben« konnten.[29] Das Kleid sollte jetzt also auch die Rolle der bürgerlichen Frau als Gebärerin für die Nation nach außen hin sichtbar machen. Mit der Betonung mütterlicher Aufgaben war eine Begrenzung des Aktions- und Lebensraumes der bürgerlichen Frau verbunden. Die deutsche Frau sollte ihre »stille Gewalt in den Häusern und den umschlossenen Blumengärten« ausüben[30] und sich dort ganz ihrer >weiblichen Bestimmung<, dem Mann und den Kindern widmen. Erst »Gehorsam und Häuslichkeit... tiefdeutsches Empfinden... und dienende, zum Mann aufblickende Liebe«[31] machten es ihr möglich, die Welt von innen zu beherrschen. Der Alltag der Frau fand im Haus statt, nicht auf der Straße. Bereits die Kleidung, die auf den Innenraum, die häusliche Umgebung zugeschnitten war, hinderte die Bürgerin an einem aktiven Leben draußen. In den 20er Jahren z.B. schleifte der Rock zwar nicht mehr auf dem Boden, war nun aber so eng geschnitten, daß er keine ausgreifenden Schritte erlaubte. Auch die weit ausgeschnittenen Stoffschuhe mit dünnen Ledersohlen, die in den 20er Jahren mit kreuzweise bis zur Wade gebundenen Bändern mehr verziert als gehalten wurden, waren kaum für einen längeren Aufenthalt im Freien oder größere Unternehmungen in der Stadt geeignet. Im Gegenteil: Die leichten Kreuzbandschuhe wurden absichtlich nicht genäht wie Männerschuhe, sondern nur geleimt, eben »weil sie nicht so stark angegriffen wurden«, wie ein Schuhmacher-Handbuch von 1824 feststellt.[32] Der Bewegungsraum der Frauen beschränkte sich so auf kurze Gänge über den Markt oder in die Nachbarschaft, Spaziergänge mit den Kindern, Besuche bei nahewohnenden Freundinnen und Verwandten. Für längere Ausflüge durch schmutzige Straßen standen nur plumpe Überschuhe oder Gamaschen zur Verfügung, — ein grobes Schuhwerk, das gewöhnlich Dienstbotinnen trugen, das aber nicht zur Kleidung der bürgerlichen Frau paßte.[33] Für weitere Strecken blieb ihr so nur die Droschke als angemessenes Fortbewegungsmittel. Im Unterschied zu den Unterschichtsfrauen, die sich von Berufs wegen bei Wind und Wetter draußen bewegen mußten, war die Kleidung der bürgerlichen Frau auf den Sommer und schönes Wetter ausgerichtet.
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Gegen Regen schützte nur eine unelegante Pelerine. Und sowohl der aus England importierte Kaschmir-Schal als auch die billigeren Wollumschlagtücher der schlichten Bürgerin waren eher ein Provisorium als dazu geeignet, vor Kälte zu schützen. Selbst die Frauenkleidung für draußen spiegelte die >weibliche Bestimmung< für die Innenwelt wider. Sinnbild dafür war die Redingote,[34] die einzige modische Oberbekleidung für Frauen in den 20er Jahren. Bereits mit Pelz verbrämt und gefüttert wie ein Mantel, ähnelte ihr Schnitt immer noch einem Kleid, und sie wurde lange Jahre auch wie ein Winterkleid getragen. Mit der zweckmäßigen Oberbekleidung der Männer, deren gefütterte Jacken, dicke Mäntel und Umhänge zuverlässigen Schutz vor Kälte und Nässe boten, ist die Redingote allerdings nicht zu vergleichen.

Kind-Frau und Modepuppe: Das Ende der bürgerlichen Ideale von
Schlichtheit und Natürlichkeit

Mit dem Übergang von der eher gefühlsbetonten, naturnahen Romantik ins frühe Biedermeier und damit in die Jahre der ersten großen Industriegründungen zwischen 1820 und 1835 veränderte sich auch das Aussehen der Frau, die >Sprache< ihrer Kleidung. Wirtschaftliche Finanzkraft und Leistungsfähigkeit des aufstrebenden Wirtschaftsbürgertums suchten ihren Ausdruck in einer neuen Fülle und Pracht der Kleidung. Die Mode griff zurück auf alte aristokratische Statussymbole, auf die früher so scharf kritisierten ausladenden Röcke und luxuriösen Materialien. Politische Restauration und wirtschaftlicher Aufschwung führten auch zu einer Restauration in der Mode, die wieder körperferner wurde. Die bürgerliche Frau demonstrierte das Selbstbewußtsein und das soziale Gewicht ihrer Klasse mit weit ausladenden Keulen- oder Gigotärmeln, die dem Oberkörper Raum und Fülle gaben und ihn zum Blickfang der weiblichen Figur machten. Volumen und Stoffmenge standen bei dieser Mode in proportionalem Verhältnis zum gesellschaftlichen Geltungsanspruch. Die Wiederkehr feudaler Elemente läßt sich auch in der Frisurenmode beobachten. Aus dem schlichten Gretchenzopf wurde ein immer komplizierterer, filigran gearbeiteter Turmbau, den nur Hilfsmittel wie Kämme oder später sogar Drahtgeflechte an seinem Platz halten konnten. Große Strohhüte, Spitzenhäubchen für verheiratete Frauen im Haus und das Gesicht dezent verdeckende Schutenhüte für Ledige dienten zusätzlich der Betonung und Vergrößerung des Kopfes. Diese gesellschaftlichen Renommier-Kleider machten aus der bürgerlichen Mutter und Hausfrau die großbürgerliche Hausherrin, deren Tätigkeitsfeld sich auf den Stickrahmen und die Klaviertasten beschränkte, die den Haushalt organisierte und nach außen repräsentierte, aber nicht mehr darin arbeitete.
Die neue Mode zwängte den Körper der Frau wieder ein. Sie konnte die Arme nicht mehr heben, und das Korsett nahm der Bürgerin den freien Atem. Vom Ideal der natürlich gekleideten, gesunden und gebärfähigen Frau, das ehemals die ganze Nation bewegt hatte, blieb in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts also nicht mehr viel übrig. Mitte der 30er Jahre nahmen die Warnungen der Ärzte vor den Folgen der neuen Mode wieder zu:

  • »Außerdem hat die Schnürbrust einen nachtheiligen Einfluß auf die Gesundheit; sie erschwert das Athemholen, sie hemmt die Verdauung, sie vermehrt das Ungemach der Schwangerschaft, vervielfältigt die Gefahren der Entbindung, macht die Brüste zum Stillen untüchtig, veranlaßt oft das fürchterliche, ekelhafte fast unheilbare Übel, den Krebs, an diesem schönen Theile des Körpers, und verursacht eine große Anzahl von weiblichen Krankheiten.«[35]

Das Kleid mit Wespentaille und kegelartig verformtem Oberkörper erlaubte nicht mehr die »ungezwungene, mit edlem Anstand verknüpfte, gleichsam schwebende Haltung des Körpers«,[36] die den Ärzten als weibliches Idealbild vor Augen stand. Wesentlicher Charakterzug der Weiblichkeit wurde die künstliche Stilisierung und Verformung des Körpers, die 20 Jahre früher als feudale Dekadenz abgelehnt worden war. Jetzt wurde die Bürgerin zum Kunstgeschöpf, allerdings zu einem zerbrechlichen und nervenschwachen: Durch das eng geschnürte Korsett ständig einer  Ohnmacht nahe,  bedurfte  sie  des  dauernden männlichen Beistandes. Schleier schützten ihr Gesicht vor Sonne und erhielten ihr eine Blässe, die als vornehm galt.
Das Ideal möglichst eleganter, d.h. schmaler und zierlicher Füße und eines graziösen Ganges< erkaufte sich die Bürgerin mit Unbequemlichkeiten beim Gehen und Stehen, denn der Modeschuh der 30er Jahre, ein seidener oder lederner Halbstiefel mit Absatz, schnürte den Fuß sehr eng ein.[37] Die Ohnmacht der Frauen und ihre körperliche Einzwängung symbolisierten die andere Seite des bürgerlichen Aufstiegs im 19. Jahrhundert, die politische Ohnmacht gegenüber staatlicher Repression und Unterdrückung bürgerlicher Lebensäußerungen durch die Pressezensur und das Verbot von Vereinsgründungen. Dieser Widerspruch zwischen feudaler Macht und bürgerlichem Partizipationsanspruch läßt sich auch in modischen Stilbrüchen erkennen. Trotz der Anleihen beim höfischen Rokoko war die Mode der 30er Jahre nur eine bürgerliche Karikatur aristokratischer Lebensform. Die verschiedenen Elemente der Kleidung wie Kopfputz, Taillenumfang, Ärmelweite und Rocklänge verkörperten zwar einzeln für sich gesehen das Prinzip von Raum und Macht, erschienen im Zusammenspiel aber unproportioniert und ergaben kein harmonisches Bild. Die Bürgerin wirkte in ihrem Kleid nicht beeindruk-kend und,majestätisch< wie beabsichtigt, sondern gedrungen und plump. Das Biedermeier entdeckte die Kindermode und beeinflußte so auch die Kleidung der jungen Mütter.
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Während die Kinder des Rokoko zu kleinen Erwachsenen gemacht wurden, war es im Biedermeier Anfang der 30er Jahre umgekehrt: Beide Generationen trugen noch immer Kleider, die sich ähnelten, - doch die erwachsene Mutter wurde nun verkindlicht. Die Mode führte für junge Frauen zunehmend Elemente des Kindlichen ein und trug damit zur Infantilisierung der Frau bei. Unschuld und leidenschaftslose Verspieltheit bestimmten Kleidung und Haltung der erwachsenen Frau, die sich kaum von ihren eigenen kleinen Töchtern unterschied.[38] Verspielte Pastellfarben und Dessins, duftig-leichte Stoffe, Streublümchenmuster und neckische Details wie wippende, wadenkurze Röcke und vor allem ganze Garnituren von Schleifen, Rüschen, künstlichen Blumen und Spitzen machten die Bürgerin zur Kind-Frau und Modepuppe, die als zierliches Schmuckstück und Spielzeug zur Ausstattung des Biedermeier Haushaltes gehörte. Die verniedlichende Kleidung stilisierte die Frau schon rein optisch zu einem Wesen, dessen Anziehungskraft und Reiz gerade in seiner Unselbständigkeit lag. In dieser künstlichen Verkindlichung der Frau dokumentiert sich eine neue Form und Qualität sexueller Attraktivität: Frauen sollten ewige Jugend und Unschuld ausstrahlen. Zugleich drückt sich darin die sich im Biedermeier entwickelnde Hierarchie der Geschlechter aus. Mit seinen durch einen Steg optisch noch zusätzlich verlängerten, schmalen Hosen und breiten gepolsterten Schultern wirkte der Mann groß und erwachsen, die Frau an seiner Seite mit kurzem Rock wie das »gläubig aufblickende Kind«.[39] Distanzierten bereits die weiten Röcke Mann und Frau voneinander, so legten Schleier, Schutenhut und Korsett zusätzlich wieder einen Ring der Unberührbarkeit um den weiblichen Körper. Erotik wurde zur »Augenlust«,[40] und die Sexualität der Frau wurde durch die künstliche Verkindlichung verdrängt.

Kleidung und Macht — Die Bürgerin in der Öffentlichkeit

Der politische Formierungsprozeß des Bürgertums prägte auch die Frauenmode Anfang der 40er Jahre. Das wirtschaftlich und sozial etablierte Bürgertum entwik-kelte eine Selbstsicherheit, die das Kleid der Frau ausstrahlte. Sie war nun weder mütterliche Integrationsfigur noch naive Kind-Frau: Selbstbewußt trug sie den sozialen Aufstieg ihrer Klasse am Körper zur Schau. Aus dem >putzigen< Kind wurde die etwas behäbig auftretende Dame, die sich ihres Platzes in der Gesellschaft bewußt war und ihn auch ausfüllen konnte. Das Kleid hatte damit alles Unproportionierte und Verspielte verloren: Gedeckte Farben, wenig gemusterte, schwere Stoffe, der bodenlange schleppende Rock und die schlichte Eleganz der Frisur deuteten an, daß die Bürgerin nun >erwachsen< geworden war und sich mit Gelassenheit neben ihrem Mann in der Öffentlichkeit bewegte. Der wachsenden Zahl und Bedeutung gesellschaftlicher Auftritte entsprach die immer größere Vielfalt der Frauenkleidung in den 40er Jahren.
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Während sich für den Mann Fest- und Alltagsgarderobe nur in Details wie Farbe oder Material unterschieden, veränderte sich das Äußere der Frau je nach Anlaß und den damit verbundenen gesellschaftlichen Räumen. Das einfache Hauskleid blieb den ungezwungenen morgendlichen Treffen >en famille< vorbehalten, der Alltag mit Einkäufen und Besuchen in der Stadt wurde in einem hochgeschlossenen Tageskleid bewältigt. In großer Gesellschaft zeigte die Bürgerin wieder Haut: Zur großen Ballrobe aus schwerem Brokat, Atlas oder Seide gehörten ein weiter Ausschnitt, teurer Schmuck und kunstvolle Locken. Die Mode verleugnete ihre aristokratischen Vorbilder nicht, war aber bürgerlichen Verhältnissen und Bedürfnissen angepaßt. Die Kleidung setzte nun einen deutlichen Trennungsstrich im bürgerlichen Frauenleben zwischen dem >Innen< und dem >Außen< Für das Haus brachte der biedermeierliche Rückzug ins Private eine legere Kleidung, wo die >müßiggehende< Bürgerin - angetan mit einer Seidenschürze - wieder den Eindruck der fleißigen Hausfrau erwecken sollte.
Doch Mode war auch der Schlüssel zum »... Bereiche des äußern, geselligen Lebens, wo sie (die Frau; d. V.) als Meisterin walten soll... «.[41] Die Überbekleidung der Frau erlaubte jetzt längere Aufenthalte außerhalb des Hauses. Sie ließ mehr Bewegungsfreiheit und war wesentlich praktischer<. In den 40er Jahren trug die Bürgerin sommers wie winters Stiefeletten mit Absatz und hatte die Wahl zwischen verschiedenen Formen der Überbekleidung, vom immer noch beliebten Oberrock im Kleider-Schnitt über die einfache Mantille bis hin zu einer Vielfalt von Pelerinen. Richtige Mäntel mit Ärmeln waren zu diesem Zeitpunkt in Württemberg noch nicht modern. Mit solchen Kleidern konnte die Frau auch am Spätnachmittag zu den Sitzungen ihres Lokalwohltätigkeitsvereins oder bei Regen auf eine Volksversammlung gehen.
Freiheiten und Einschränkungen lagen jedoch nahe beieinander. Je umfangreicher die Auswahl der modischen Kleidungsstücke wurde, desto mehr Geld kostete es, à la mode zu sein, vor allern aber nahm es Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch:

  • »Die Tochter der Laune und des Gewerbefleißes, die ewig blühende und sich immer bewegende Mode, die heute Altäre umstürzt, an welchen sie gestern opferte, die jeden Augenblick ihre Wünsche, ihre Pläne und ihre Muster wechselt, hat sich nun auch der inneren Einrichtung eines guten Hauses, sowie der Toilette auf eine solche Art bemächtigt, daß der Luxus und die Pracht noch nie so große Ansprüche machten, als gerade jetzt...«.[42]

Mode wurde in den 40er Jahren immer mehr zu einer Wissenschaft. Die Diskussionen über Probleme der richtigen Farbharmonie, wie sie die Stuttgarter Frauenzeitung »Das Kränzchen« veröffentlichte, erweckten den Eindruck, daß Mode zwar Sache der Frauen war, aber nicht allein ihrem intuitiven Schönheitsempfinden überlassen bleiben durfte.

  • »Auch das Farbengefühl ist den Damen in größerem Maaße verliehen als den Männern, jedoch ist dieses nicht immer ausgebildet, daher wird die Anwendung der entwickelten Gesetze auch für die Damen von praktischem Nutzen sein.«[43]

Es gehörte ein geschulter Geschmack dazu, sich in der Welt der Farben, Stoffe und Schnitte zurechtzufinden. Kleidung wurde zur eigentlichen Sphäre der Frau erklärt, in der sie so kompetent sein sollte, daß »sie sich nicht von der nächsten besten Mode erschrecken oder blenden« ließ.[44] Auf diesem Gebiet waren kritisches Urteilsvermögen, »geübter Scharfblick« und »Geistesfreiheit« erwünscht. Nicht jedoch in anderen gesellschaftlichen Bereichen, denn »die Aufgabe unserer Frauen beschränkt sich wesentlich darauf, daß sie ihre Ketten mit Anstand tragen und harmonisch damit rasseln«.
Ende der 40er Jahre hatte die Refeudalisierung der Frauenmode fast ihren Höhepunkt erreicht. Auch die Propagierung einer deutschen Nationaltracht als demokratische >Antimode< in der Revolution 1848 konnte diese Entwicklung nicht mehr aufhalten. 1850 konstatierte das »Kränzchen«:

»Die neuesten Modeberichte aus Paris lauten gar erbaulich. Eleganz und Luxus... sind jetzt wieder an der Tagesordnung... Dazu ist die Mode selbst nie koketter und glänzender gewesen, als eben jetzt... Man könnte aus dieser allgemeinen Vergnügungslust, aus der Eleganz und namentlich auch aus den Formen der weiblichen Toilette schließen, man wäre in die Zeiten Ludwigs XIV. und XV. zurückgekehrt... derselbe Geschmack, derselbe Luxus...«. (KR 17, 1850)

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