Die unsichtbare Frau: Sexismus in der Soziologie

Die Literatur, die gegenwärtig die Aufmerksamkeit auf die benachteiligte Situation der Frau in unserer Gesellschaft lenkt, nimmt zu. Trotz gesetzlicher Veränderungen, kleinerer Familien und verbesserter Ausbildungs- und Berufschancen seit ungefähr einem Jahrhundert bleiben ausgeprägte und deutliche Ungleichheiten in den sozialen und ökonomischen Rollen von Männern und Frauen bestehen. Das Wiederaufleben feministischer Organisationsformen, wie sie sich in der neuen Frauenbewegung darstellen, hat an diesen Unterschieden eine schlagkräftige Polemik festgemacht. Es scheint als ob die Situation, wie wir sie heute erleben, weder die Auswirkung von biologischen Grundlagen der Geschlechterrollen [2] ist, noch kann sie einfach als ein Weiterleben alter institutioneller Ungleichheiten angesehen werden. Dk Diskriminierung der Frau ist natürlich noch immer in der Rechtsprechung vorhanden und in anderen institutionellen Praktiken erhalten, so daß sich geschlechtsspezifische Rechte und Chancen weiter fortsetzen.[3]
Eine weit grundlegendere Ursache der Diskriminierungen liegt jedoch in dem Bereich sozialer Einstellungen und Meinungen. Aus diesen Haltungen leitet sich tagtäglich die gesellschaftliche Wirklichkeit der Frauen her: Frauen sind häufig deshalb so, wie sie sind, weil es so von ihnen erwartet wird.
Wie finden daher Diskriminierung gegen Frauen nicht nur in der Gesellschaft allgemein, sondern auch im akademischen Bereich. Dies gilt insbesondere für die Soziologie, die Wissenschaft, weiche die gesellschaftliche Wirklichkeit untersucht. Der Benachteiligung der Frauen in der Gesellschaft entspricht der Sexismus in der Soziologie. Frauen als gesellschaftliche Gruppe sind in der Soziologie zum größten Teil unsichtbar oder unzulänglich dargestellt: sie nehmen unwirkliche Formen an wie Geister, Schatten oder starre Objekte. Der Sexismus in der Soziologie steht in direktem Zusammenhang mit dem Hauptanliegen dieses Buches, das eine Erhebung über Hausfrauen und deren Einstellung zur Hausarbeit darstellt, die ich 1971 in London durchführte. Der herkömmliche soziologische Zugang zur Hausarbeit könnte >sexistisch< genannt werden: er behandelt Hausarbeit lediglich als eine Seite der Rolle der Frau in der Familie - als einen Teil der Frauenrolle in der Ehe, oder als einen Gesichtspunkt der Kinderaufzucht - aber nicht als Arbeitsrolle. Die Betrachtung der Hausarbeit als Arbeit fehlt in der Soziologie vollends. Meine Untersuchung setzt sich von der soziologischen Tradition ab. Sie stellt eine neue Herangehensweise an die häusliche Situation der Frau dar: Hausarbeit wird als Arbeit betrachtet, vergleichbar mit jeder anderen Arbeit in der modernen Gesellschaft. Der Unterschied zwischen dieser Herangehensweise und den Grundannahmen, die in vielen soziologischen Abhandlungen über die Situation der Frau enthalten sind, rührt von der grundlegenden sexistischen Ausrichtung der Soziologie her, die bis heute anzutreffen ist. Ich will deshalb in dem einführenden Kapitel zwei Themen verbinden: die Vernachlässigung der Hausarbeit in der Soziologie und das umfassendere Thema der Vorurteile gegen Frauen in der Soziologie allgemein.
Die Soziologie ist sexistisch, weil sie männlich orientiert ist. Mit männlich-orientiert meine ich, daß sie in einer Gesellschaft, die stark nach Geschlechtern differenziert, von einem Standpunkt ausgeht, der durch die Interessen und Aktivitäten von Männern bestimmt ist und sich einseitig nach diesen ausrichtet. Die gesellschaftliche Lage von Männern und Frauen ist heute strukturell und ideologisch unterschiedlich.
Die herrschenden Wertvorstellungen in den modernen Industriegesellschaften sprechen den männlichen Rollen eine größere Bedeutung und ein größeres Prestige zu, als den weiblichen.[4] Dieses Vorurteil spiegelt sich auch in der Soziologie wider, die die Tendenz hat, die in der Gesellschaft herrschenden Werte zu übernehmen.[5] Das Bestreben nach Objektivität  - ein zentraler Anspruch der Soziologie- kann zwar manch offensichtliches Vorurteil abschwächen, es scheint aber das tief verwurzelte Vorurteil des Sexismus nicht berührt zu haben.
Aus der Problematisierung des Sexismus ergibt sich die Frage nach dem Feminismus. Ist der Feminismus nicht ebenso ein Vorurteil wie Sexismus? Um diese Frage zu beantworten, muß betont werden, daß die feministische Perspektive in der Soziologie (und an anderen Stellen) nur deswegen den Eindruck der Voreingenommenheit erweckt, weil sie gegen die geltende männlich orientierte Sichtweise angeht. Diese Sichtweise wird selten ausdrücklich als solche artikuliert. Das Wort feministisch ist genau wie das Wort sexistisch, männlich voreingenommen oder männlich chauvinistisch stark polemisch geladen. Dieses sind zwar hochpolitische Bezeichnungen. Wir benutzen sie dennoch, weil nur sie uns zur Verfügung stehen: die geschlechtsspezifische Differenzierung ist in der Soziologie begrifflich noch nicht ausreichend erfaßt. Deshalb wirken feministische Werte, wenn sie öffentlich vertreten werden, so exotisch, mit neuen Begriffsschöpfungen verbunden. Die konventionellen männlich orientierten Werte sind dagegen schon in den Grundlagen der Soziologie eingegraben. Das wird selbst dann nicht eingestanden, wenn versucht wird, ihren Charakter offenzulegen. In dieser Hinsicht gilt, was Wright Mills von "Vorurteilen" im Sinne von Ausrichtung oder Perspektiven schreibt:

»Die Vorurteile, die ich habe sind natürlich nicht mehr und nicht weniger Vorurteile als diejenigen, die ich untersuchen will. Diejenigen, die mir nicht zustimmen, sollten ihre Ablehnung dahingehend nutzen, daß sie ihre Vorurteile genauso durchsichtig und erkennbar machen, wie ich es mit meinen versuche.«[6]

Der Feminismus ist eher eine Perspektive als ein Komplex vorgeschriebener Werte. Eine feministische Perspektive besteht darin, sich der Lebensbedingungen, Tätigkeiten und Interessen von mehr als der Hälfte der Menschheit - der Frauen - vorrangig bewußt zu sein. Auf dieser Basis lassen sich und wurden bereits sehr verschiedenartige Argumente und Vorschläge entwickelt, wie eine Gesellschaft, in der die Geschlechter wirklich gleichberechtigt wären, aussehen müßte. Die institutionelle Gleichberechtigung der Geschlechter [7] der Umsturz der kapitalistischen Gesellschaft," die Abschaffung der Familie und der völlige Umbau unserer gesamten Ideologie hinsichtlich der Geschlechtsrollen,9 all dies ist schon als Vorbedingung zur Befreiung der Frau genannt worden. Obgleich dies alles verschiedene Gedankengänge sind, haben sie einen gemeinsamen Schnittpunkt - das Unsichtbare sichtbar zu machen, die Frauen aus ihrer "gesellschaftlichen Nichtexistenz" in beiden Bereichen herauszuholen: In der gesellschaftlichen Wirklichkeit und in den kulturellen Überlieferungen.
Dieser Abschnitt ist keine systematische Analyse der Unsichtbarkeit der Frau in der Soziologie. Vielmehr ist es der Versuch, Gebiete aufzuzeigen, in denen Frauen unterschlagen werden; die Art und Weise in der dies geschieht; und einige Gründe hierfür. Schließlich soll verdeutlicht werden, welchen Stellenwert diese Problematik für die Soziologie und für die Frauen selbst hat.

1. Erscheinungsweisen

Die Unterschlagung der Frauen erstreckt sich auf die gesamte Soziologie. Sie beginnt bei der Einteilung in bestimmte Themenbereiche und bei Begriffsbestimmungen und reicht über die Wahl der Arbeitsschwerpunkte und der Methoden empirischer Forschung bis hin zu der Errichtung von Denkmodellen und Theorie überhaupt.
Die Einteilung in größere Themenbereiche, die in der modernen Soziologie geläufig sind, scheint auf den ersten Blick logisch aus dem Sachverhalt entwickelt und nicht sexistisch zu sein. Gesellschaftliche Schichtung, politische Institutionen, Religionen, Erziehung, abweichendes Verhalten, Industrie- und , Familiensoziologie und so weiter: dies sind sicherlich nichts anderes als Beschreibungen verschiedener Lebensbereiche. Um zu prüfen, ob diese Beschreibungen wirklich so neutral sind, müssen drei Fragen gestellt werden. Erstens: in welchem Ausmaß werden die Erfahrungen von Frauen in den Untersuchungen dieser Lebensbereiche tatsächlich wiedergegeben? Zweitens: Wie weit stimmt diese Darstellung mit empirisch vorfindbaren Rollen der Frauen in der Gesellschaft überein? Und schließlich: Sind die thematischen Untergliederungen als solche aus der Perspektive der besonderen gesellschaftlichen Lage von Frauen sinnvoll? In diesen Fragen kommen unterschiedliche Merkmale der "Sichtbarkeit" von Frauen zum Ausdruck. Auch wenn die Frauen Gegenstand der Soziologie sind, kommt es vor, daß ihre Erscheinungsweise in der Wissenschaft von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abweicht. Durch das Bedürfnis, die Frau in vorgefertigte männliche soziologische Kategorien zu pressen, werden ihre Erfahrungen und ihre gesellschaftliche Bedeutung möglicherweise verfälscht dargestellt. Dieses letzte Kriterium ist problematischer als die anderen beiden. Die männliche Ausrichtung könnte derart die Struktur der Soziologie als wissenschaftliche Disziplin prägen, daß sich die Unsichtbarkeit der Frauen nicht mehr bloß als ein oberflächlicher Fehler, sondern als eine strukturelle Schwäche erweist. Der männliche Blickwinkel, der schon in die Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes eingeht, reduziert die Frauen von vornherein auf eine Randfigur. Zum Beispiel haben sich die Soziologen ausgiebig mit der zusammenhaltenden Wirkung weisungsgebender Institutionen beschäftigt, durch die Macht ausgeübt wird: Gesetzgebung, politische Systeme usw. Dies sind von Männern beherrschte Gebiete, Frauen waren in der Geschichte immer Ausnahmeerscheinungen. Je mehr sich die Soziologie mit diesen Gebieten beschäftigt, desto weniger wird sie schon von ihrer Definition her Frauen in ihren Bezugsrahmen mit einbeziehen. So wie in der Soziologie der Ausschluß der Frauen strukturell schon verankert ist, verhält es sich auch mit der zu untersuchenden gesellschaftlichen Wirklichkeit: der Sexismus ist nicht nur eine Frage der institutionellen Benachteiligung von Frauen, sondern beinhaltet immer schon ein zugrundeliegendes Wertsystem.
Betrachtet man die vorrangigen Sachgebiete der Soziologie, wie sie oben aufgezählt wurden, müßte es theoretisch möglich sein, diejenigen Gebiete aufzuzeigen, in denen Frauen am wenigsten sichtbar sind. Es müßte so verfahren werden, daß die Widersprüche zwischen dem Umfang, in dem Frauen in jedem Themenbereich untersucht werden und ihrer tatsächlichen Rolle, die sie in dem untersuchten Bereich einnehmen, festgestellt werden. Zum Beispiel führt das Auslassen des Themas Hausarbeit sowohl in der Familiensoziologie als auch in der Arbeitssoziologie* (*Der engl. Begriff »sociology of work« hat im deutschen keine Entsprechung, da ≥Industrie- oder Betriebssoziologie« unserer Meinung nach diesen Bereich nicht abdeckt. Deshalb übernehmen wir im folgenden den englischen Begriff (Anm. der Übersetzerinnen) deutlich zu einem verzerrten Bild der Lage der Frauen. Die große Bedeutung der Hausarbeit für Frauen wird nicht berücksichtigt, weder in Bezug auf den schlichten Zeitaufwand, den die Versorgung des Haushalts mit sich bringt, noch dahingehend, was Hausarbeit für Frauen persönlich bedeutet (dies kann natürlich je nach der sozialen Lage unterschiedlich sein). Für solch eine kritische Herangehensweise könnten zwei statistische Größen gebildet werden:
zum einen die soziologische Sichtbarkeit von Frauen und zum anderen ihre gesellschaftliche Anwesenheit. Stimmen diese zwei Größen nicht überein, so könnte angenommen werden, daß die Soziologie bei der Einbeziehung der weiblichen Erfahrungen versagt hat. Dadurch könnten auch Anhaltspunkte dazu gewonnen werden, wie die wissenschaftlichen Themenbereiche angemessen aufgestellt werden können, damit die wirklichkeitsnahe Darstellung beider Geschlechter eher gewährleistet wäre. Der Wert einer solchen kritischen Betrachtungsweise der thematischen Schwerpunkte der Soziologie soll durch eine Beschreibung von fünf Gebieten kurz veranschaulicht werden: abweichendes Verhalten, gesellschaftliche Schichtung, Macht, Familie und Ehe, Industrie und Arbeit.

a) Abweichendes VerhaltenAbweichende Verhaltensmuster von Frauen sind ein einsames unerforschtes Meer [10] menschlichen Verhaltens. Sehr wenige der empirischen Daten, die Soziologen gesammelt haben, beziehen sich auf Frauen, und wenn dies der Fall ist, dann stehen sexuelle Vergehen im Mittelpunkt. In Theorien über abweichendes Verhalten werden manchmal beiläufige Bemerkungen über Frauen gemacht. Aber Interpretationen des weiblichen Verhalten werden ungeschickt den vorhandenen Erklärungsansätzen, die sich alle auf das männliche Verhaltensmodell beziehen, untergeordnet.[11] Selbst wenn ein schwacher Versuch gemacht wird, den weiblich/männlichen Unterschieden gerecht zu werden, kann sich die Erklärung auf die einfache Bemerkung berufen, daß Geschlechtsrollen ohnehin unterschiedlich sind.[12] Ein Grund dafür, warum Frauen auf diesem Gebiet unterrepräsentiert sind, ist zweifellos, daß sich die Soziologie abweichenden Verhaltens bis vor nicht allzu langer Zeit speziell auf strafbare Handlungen konzentriert hat. Da weitaus weniger Frauen als Männer kriminell werden, war diese Schwerpunktsetzung ein Ausdruck von Sexismus.
Zweifellos weichen Frauen nach offiziellen Kriminalstatistiken, Selbstmordziffern, statistischen Angaben über Landstreicherei usw. tatsächlich weniger von der Norm ab als Männer. Auf acht oder neun verurteilte Männer kommt eine Frau.[13] Normalerweise ist die männliche Selbstmordrate höher als die weibliche (obwohl sich dieses Verhältnis für den versuchten Selbstmord umkehrt).[14] Diese geringere Abweichung bei Frauen kann zum Teil durch die Auslegung und Handhabung der Gesetze künstlich hervorgerufen sein. Es gibt einige Delikte, für die Frauen nicht verurteilt werden können (z. B. Homosexualität und Vergewaltigung). Frauen könnten auch von den Gerichten milder bestraft werden. Ein Teil der weiblichen Verbrechen mag auch deshalb unentdeckt bleiben, weil die Polizei weniger darauf achtet. Selbst wenn man diese Faktoren einbezieht, verhalten sich Frauen sicherlich angepasster als Männer.
Wahrscheinlich wirken sich auch die kulturellen Vorstellungen von weiblichem Verhalten dahingehend aus, daß sie abweichendes Verhalten von Frauen verdecken. Das Wolfenden Comittee hat in seinem Bericht über Prostitution in England Maßnahmen zur Einschränkung der öffentlichen Sichtbarkeit von Prostitution empfohlen (das Problem selbst jedoch wurde nicht behandelt). In dieser Vorgehensweise, unliebsame Dinge unter den Teppich zu kehren, zeigt sich an den Theorien über abweichendes Verhalten von Frauen, daß die Wertmaßstäbe der Soziologen mit den gesellschaftlich herrschenden Normen deckungsgleich sein können.
Aber die Unsichtbarkeit der Frauen in der Soziologie des abweichenden Verhaltens spiegelt nicht unbedingt die Realität wider. Auch in diesem Bereich sind Frauen sehr viel häufiger vertreten, als es ihre soziologische Sichtbarkeit vermuten läßt, was durch die Kriminalstatistiken bewiesen wird. Z. B. gab es 1970 15 623 Fälle, in denen englische Frauen zwischen 17 und 20 Jahren verurteilt wurden. Von 1960 bis 1970 verdoppelte sich die Anzahl aller von Frauen begangenen Straftaten dieser Altersgruppe, während die vergleichbare Zahl bei Männern weniger als die Hälfte zunahm.[15] Diese Tatsachen beleuchten die erhebliche und zunehmende Bedeutung der Frauenkriminalität. Zudem gibt es ein sehr gut eingefahrenes System geschlechtsspezifischen kriminellen Verhaltens. Die Frauen begehen mehr Ladendiebstähle als Männer, aber sie verüben nur einen geringen Prozentsatz der sexuellen Verbrechen und der Gewalttaten.[16] Die weibliche Straffällige ist typischerweise durchschnittlich älter als ihr männliches Gegenstück. Frauen werden in ihrer Jugend weniger häufig straffällig.
Der sexuellen Promiskuität der weiblichen Jugendlichen wird von den Behörden am ehesten Aufmerksamkeit geschenkt. Das kriminelle Verhalten von Frauen weist eine derart beständige Ähnlichkeit der Straftaten und gleichbleibender Häufigkeit auf, daß sie normalerweise die Aufmerksamkeit von Soziologen auf sich ziehen würde. Doch trotz dieser Tatsache, daß der Geschlechtsunterschied alle anderen mit kriminellem Verhalten verbundenen Merkmale bei weitem überwiegt,

"scheint keiner zu wissen warum; aber kaum einer scheint auch Interesse daran zu haben, den Grund herauszufinden ... Es gibt zwar einige wenige Untersuchungen über weibliche Straffällige, aber die meisten Forscher haben die Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Kriminalität nur als einen Grund angesehen, um mit der Begründung, es gäbe über Frauen nicht genügend Material, diese aus ihren Untersuchungen auszuschließen. Ob dieser Mangel einen echten Unterschied in der Bereitschaft zum Verbrechen widerspiegelt oder nur die größere Geschicklichkeit, mit der weibliche Gesetzesbrecherinnen die Entdeckung verhindern und wie dieser Unterschied sich zu Faktoren in der Erziehung und Ausbildung von Mädchen verhält, die anders als bei ihren Brüdern verläuft - diese Fragen bleiben unbeantwortet und eigentlich ungefragt."[17]

Die Situation heute ist ein klein wenig besser als sie vor 15 Jahren war, als Barbara Wootton diese Zeilen in Social Science and Social Pathology (Soziologie und Sozialpathologie) veröffentlichte. Ladendiebstahl,[18] unentdeckte weibliche Verbrechen [19] und die soziale Situation in Frauengefängnissen [20] sind nicht mehr völlig unerforschte Gebiete. Wir wissen mehr über die Laufbahn von Prostituierten [21] und über die Besonderheiten der Straffälligkeit von Mädchen.[22] Es wurde jedoch noch immer kein systematischer Versuch unternommen, weibliche Kriminalität mit der allgemeinen Situation von Frauen in Beziehung zu setzen.[23] Überall taucht die Weiblichkeit verschwommen als Begründung auf, aber sie reicht wohl kaum aus, das Ausmaß der Eigentumsdelikte von Frauen zu erklären. Seit sich die Kriminalsoziologen damit beschäftigten, warum jemand auffällig wird und/oder kriminelle Akte begeht, ist es offenbar wichtig, den Delinquenten direkt in dem sozialen Zusammenhang, in dem er straffällig geworden ist, zu erfassen, gleichgültig ob Mann oder Frau. Dies wiederum erfordert eine gründliche Kenntnis der üblichen Sozialisation und Lebensbedingungen von nicht auffälligen Männern und Frauen. Aber die alte und seltsame Theorie, daß abweichendes Verhalten von Frauen weniger Vielfalt aufweist als bei Männern, wird immer noch dazu benutzt, dieses Problem nicht zur Kenntnis zu nehmen.[24] (Wenn man davon ausgeht, daß weibliche Vergehen weniger vielseitig sind als männliche, so heißt das aber auch, daß sie spezialisierter sind. Aber diese Gewohnheit, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern als Defizite der Frauen gemessen an männlichen Merkmalen zu beschreiben anstatt umgekehrt, ist weit verbreitet.)
Abgesehen von der Frage nach der eigenen Delinquenz/Kriminalität der Frauen ist auch die Frage nach dem weiblichen Einfluß auf das kriminelle Verhalten von Männern in der Bandenkultut der männlichen Jugendlichen als Bremse oder als Anreiz für kriminelles Verhalten interessant.
Dieser Frage ist noch nie ernsthaft nachgegangen worden. Es kann sein, daß die Mädchen nur einen kleinen Teil des komplexen Bandenverhaltens ausmachen, aber die Anhaltspunkte, die für solch eine Interpretation sprechen, sind oft sehr mager. David Downes bezog sich in The Delinquent Solution (Die abweichende Lösung) auf eine Studie, die 30 Jahre zuvor über Banden in Chicago gemacht wurde, um diesen Punkt zu unterstützen.[25] Er behauptet auch, obgleich er es nicht beweisen kann,

"daß die Freundin des Delinquenten im Sinne konformen Verhaltens wirkt und keineswegs zu kriminellen Aktivitäten anspornt."[26]

Dies ist ziemlich typisch für die Behandlung von Geschlechtsunterschieden in der Literatur über abweichendes Verhalten. Keine Untersuchung betrachtet die Rolle von Mädchen systematisch; sei es in bezug zur männlichen Delinquenz oder bei der möglichen Bedeutung der Mädchenbanden für abweichendes weibliches Verhalten. Eine kürzlich durchgeführte Untersuchung über heranwachsende Mädchen in Südwales [27] deutet an, daß die sozialen Beziehungen bei Mädchen anders strukturiert sind als bei jungen; besonders scheint das meine-beste-Freundin-Phänomen bei Mädchen wichtiger zu sein. Wie dieser Forscher betont, liegt der Hintergrund der Unsichtbarkeit von Frauen in den Theorien über abweichendes Verhalten in dem Mangel an Aufmerksamkeit, die soziologische Untersuchungen über jugendliche den Mädchen überhaupt schenken. Kurz gesagt, es gibt eine Soziologie über männliche jugendliche, aber keine über heranwachsende Mädchen.
Wenn Frauen in den Untersuchungen über Kriminalität auftauchen, dann entsprechend der Theorie von der weiblichen Identifikation, die als übliche Erklärung für abweichendes Verhalten und Kriminalität herhalten muß.[28] Die häufige Abwesenheit des Familienvaters vom modernen Familienleben soll bei jungen zu einer Überidentifizierung mit der Mutter führen, so daß die Heranwachsenden aus Protest gegen die Weiblichkeit eine zwanghafte Männlichkeit entwickeln. Außerdem erscheinen Frauen als unsichtbare Normverletzter; ihnen wird unterstellt, daß sie durch eine Erwerbstätigkeit bei ihren Kindern Kriminalität verursachen.[29] Solche Theorien versuchen zumindestens mit der Tatsache fertig zu werden, daß es Frauen gibt, auch wenn es ihnen nicht ganz gelingt.
Schließlich ist die Frage zu stellen, ob die traditionelle Definition von abweichendem Verhalten aus der Sicht der Frauen sinnvoll ist. Vielleicht ist die Ablehnung der Ehe und die Verfolgung einer Berufslaufbahn für Frauen schon eine abweichende Laufbahn, oder vielleicht könnte das Phänomen der zwanghaften, von Putzwut besessenen Hausfrau sinnvollerweise als eine Form geschlechtsspezifischen abweichenden Verhaltens gesehen werden.[30] Die männliche Ausrichtung der Literatur über abweichendes Verhalten hat ganz sicherlich die Untersuchung von gewissen Verhaltensmustern ausgeschlossen, die für die weibliche Hälfte der Bevölkerung abweichendes Verhalten ausmachen. Wenn die These von Pollak [31] u. a. zutrifft, daß die weibliche Rolle das Erscheinen von abweichendem Verhalten in der Öffentlichkeit verringert, dann wäre es gerade die Privatsphäre, in der die weiblichen Formen abweichenden Verhaltens zu erwarten wären.

b) Gesellschaftliche Schichtung
In der Schichttheorie* (* In einem Gespräch mit Ann Oakley kamen wir überein, daß es in ihrem Sinne wäre, den englischen Begriff "class" im deutschen durch Schicht zu ersetzen. (Anm. d. Übersetzerinnen) und ihrer Anwendung in der Forschung sorgen eine Reihe von Annahmen über die weibliche Rolle dafür, daß Frauen unsichtbar bleiben.[32] Diese Vorannahmen bilden einen Komplex von ineinandergreifenden Hypothesen über Entstehung und Merkmale von Schichtzugehörigkeit. Theoretisch sind diese Annahmen nachprüfbar, aber in der Praxis bleiben sie ungeprüft. Drei der wichtigsten Hypothesen sind -

  1. Die Familie ist die Grundeinheit jeder sozialen Schicht.
  2. Die soziale Stellung der Familie wird durch den Status des Mannes bestimmt.
  3. Nur in seltenen Fällen ist die soziale Stellung der Frau nicht von der des Mannes bestimmt, mit dem sie durch Heirat oder durch Herkunftsfamilie verbunden ist.

Die erste dieser Annahmen ist der springende Punkt. Drei grundsätzliche Einwände können dagegen vorgebracht werden die die Schichttheorie grundsätzlich in Frage stellen, aber sich auch besonders darauf beziehen, ob die Situation der Frauen in der Theorie (oder angewandt in der Forschung) angemessen dargestellt wird. Erstens leben nicht alle in Familien. Nach der Volkszählung in den USA 1970 ist von 10 Erwachsenen mehr als eine Alleinstehende,[33] laut der britischen Volkszählung von 1966 lebt ungefähr eine von 12 Personen nicht in einer Familie.[34]
Als zweiter Einwand könnte erhoben werden, daß die Schichttheorie auf der Annahme einer normalen Kernfamilie von Mann/Frau und Kindern beruht, in der der Vater der Ernährer ist. Wie normal ist dies?
Nach amerikanischen Schätzungen haben von 5 Haushalten zwei einen weiblichen Haushaltsvorstand oder einen männlichen, der arbeitslos ist, oder nur Teilzeitarbeit hat.[35] 58% aller britischen Haushalte entsprechen nach den Zahlen von 1966 nicht dem Typ der Kernfamilie und einer von 20 Haushalten wird von einem alleinstehenden Elternteil geführt.[36] Daraus wird offensichtlich, daß die Lebensbedingungen einer großen Anzahl von Personen nicht mit dem Satz übereinstimmen: "Die Familie ist die Grundeinheit jeder sozialen Schicht."
Drittens wird angenommen, daß die Mitglieder derselben Familie alle denselben Status haben, Privilegien, Macht und Reichtum teilen, und dies nur aufgrund ihrer gemeinsamen Zugehörigkeit zu dieser Einheit. Jedoch werden Unterschiede in der Rolle, der Stellung und dem Status innerhalb der Familie nicht als Merkmale der sozialen Einstufung angesehen. Dies setzt stillschweigend voraus, a) daß Frauen keine eigenen Mittel zur Selbsterhaltung haben, b) daß die Familie eine vollkommen symmetrische Statusstruktur hat. Beide Voraussetzungen sind falsch. Abgesehen von der Frage des Reichtums haben verheiratete Frauen durch ihre Schul- bzw. Berufsausbildung eigene Reproduktionsmöglichkeiten: viele sind auch während ihrer Ehe erwerbstätig und erhalten Einkommen und Status aus dieser Quelle. Die Annahme, daß die eigenen Mittel der Frauen bei der Eheschließung bedeutungslos werden, hätte zur Folge, daß plötzliche Veränderungen der Sozialstruktur bei jeder Eheschließung eintreten können. Würde die Schichtzugehörigkeit verheirateter Frauen auf deren eigenen Beruf zurückgeführt, so würden viele einer anderen Schicht zugehören als ihre Ehemänner. Z. B. gibt eine Stichprobe der britischen Volkszählung von 1971 folgendes Bild:

Tabellel.1. Die Schichtzugehörigkeit von Mann und Frau in Ehen, in denen beide erwerbstätig sind

Die Tragweite dieser Unterschiede darf nicht einfach übergangen werden. Was den Status betrifft, kann die Gleichheit zwischen Eheleuten nicht einfach vorausgesetzt werden. Haavio Mannila hat die Annahme überprüft, nach der Ehefrauen den gleichen Status haben wie ihre Männer.[37] Einige ihrer Ergebnisse sind weiter unten in der Tabelle 1.2. aufgeführt. Es handelt sich um einen Vergleich zwischen dem Rang von Männern und Frauen in bestimmten beruflichen Stellungen mit dem Rang der Ehefrauen dieser Männer, wie sie ihnen von einer befragten Gruppe zugesprochen wurde. Aus den Ergebnissen kann man schließen, daß das Geschlecht einen Einfluß ausübt: Frauen werden generell niedriger eingestuft als Männer, Ehefrauen jedoch am niedrigsten von allen. Die Schlußfolgerung, daß der Status von Ehefrauen nicht mit dem Status ihrer Männer übereinstimmt, paßt zu den empirischen Daten über die soziale, ökonomische und juristische Behandlung verheirateter Frauen. Zum Beispiel ist ein geborgter Status keine ausreichende Berechtigung für verheiratete Frauen, eigene Ratenkaufverträge abzuschließen, wie sie überhaupt im Kreditwesen diskriminiert werden. Verheiratete Frauen werden vom Steuersystem als Abhängige behandelt, was auch immer ihre momentanen ökonomischen Geldmittel und ihre soziale Situation sein mögen.[38]

Tabelle 1.2 Mittlere Rangordnung von männlichen und weiblichen Vertretern moderner Berufsgruppen und den Ehefrauen dieser Männer. Der Rang wird nach einer 18-Punkte-Skala gemessen

Dies zeigt, daß der Status Ehefrau bzw. Hausfrau, gemessen am Status anderer Berufe, niedriger eingestuft wird. Dies deutet an, daß es ein gewisses Maß an Übereinstimmung über den Status von Ehefrauen in der Gesellschaft generell geben kann (eine derartige Übereinstimmung ist bestimmend für die soziale Rangordnung).39 Die Schichttheorie würde ein genaueres Bild der Klassenlage von Frauen ergeben, wenn die oben aufgeschlüsselten Rangunterschiede mit einbezogen würden. Erst dann würden die Untersuchungen zur Schichtzugehörigkeit größere Gültigkeit erhalten.
Eine zweite Möglichkeit ist, daß die verschiedenen sozioökonomischen Bedingungen, denen die Ehe- und Hausfrauenrolle unterliegt, ihre soziale Einordnung beeinflußt.

Nach Acker

"könnte es sein, daß die Stellung der Oberschichthausfrau in der Gesellschaft allgemein viel höher gewertet wird als die Stellung der Unterschichthausfrau. Es kann sein, daß sich diese Wertschätzung erhöht, sobald ihre Funktionen mehr symbolischen und weniger nützlichen Charakter hat. Oder, um es anders auszudrücken, es kann sein, daß die Wertschätzung steigt, sobald sich die Funktionen mehr auf die Konsumption verlagern und weniger auf produktive Tätigkeiten.[40]

Diese Kritik an der Schichttheorie ergibt sich, wenn man die Bedeutung des Geschlechts als Merkmal sozialer Unterschiede zur Kenntnis nimmt. In diesem Zusammenhang haben sich die Soziologen sehr wenig mit der Bedeutung des Geschlechts beschäftigt - viel weniger als zum Beispiel mit dem Alter oder der ethnischen Zugehörigkeit. Geschlecht teilt nicht nur ein in männlich/weiblich, sondern kann auch eine soziale Rangordnung beinhalten - d. h., die zugeschriebenen Merkmale von Weiblichkeit und Männlichkeit werden systematisch verschieden hoch eingeschätzt.[41] Obgleich es in der Schichttheorie vereinzelt Vorschläge gibt, daß das Geschlecht ein Merkmal für Schichtung darstellt,[42] wird dieses Thema entweder nicht ernsthaft behandelt oder es wird durch eine glatte Kette von Scheinargumenten widerlegt. So behauptet z. B. (um die erste Art, die Sache abzutun, zuerst zu behandeln), Randall Collins in seiner Darstellung A Conflict Theory of Sexual Stratification, (Eine Konflikttheorie der Rangzuordnung nach Geschlecht), daß Schichtung durch Geschlecht auf "sexuellem Eigentum" beruht - eine Vorstellung von der Ausschließlichkeit sexueller Rechte.[43] Männer seien größer und triebstärker als Frauen; jede Begegnung zwischen ihnen sei von sexueller Art. Der einzig wichtige Markt sei der sexuelle Markt. Deshalb seien der Unterhalt der Frauen, ihre Lebensbedingungen und ihre soziale Stellung letztendlich von den biologischen Tatsachen der weiblichen sexuellen Anziehungskraft und der männlichen sexuellen
Aggressivität bestimmt. Dieses Argument ist lächerlich, erstens weil es schon begrifflich voller grundlegender Gedankenfehler ist, von denen der Hauptfehler die Gleichsetzung von biologischem und sozialem Geschlecht ist. Das wird sehr häufig durcheinandergebracht und ist der Grund für viele unzulängliche Beweisführungen in der Soziologie und anderswo. Die soziale Einordnung in die männlichen oder weiblichen Geschlechtsrollen muß nicht notwendig mit den biologischen Unterschieden der Geschlechter oder der Ausprägung von Sexualität verknüpft sein.[4] Mit anderen Worten: Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind nicht notwendigerweise sexuelle Beziehungen. Sexualität kann ein Bestandteil bei der Einordnung nach Geschlechtern sein. Ihre Bedeutung kann aber nicht von vornherein unterstellt werden, indem die männlichen Soziologen die eigenen Vorstellungen übertragen.
Selbst daran gewöhnt, Frauen immer im Hinblick auf deren sexuellen Wert zu sehen, legen sie ihre Neigungen und Voreingenommenheiten in die zu analysierenden Daten hinein. Zweitens ist Collins Beweisführung auch auf der Ebene des empirischen Materials mangelhaft. Z. B. steckt in der Beschreibung verschiedener geschlechtsspezifischer Einordnungssysteme, auf der seine Theorie beruht, eine erschreckende Anzahl von Verallgemeinerungen, die ohne Schwierigkeit durch einen Blick in die ethnographische Literatur widerlegt werden können.[45] In Class Inequality and Political Order (Schichtungleichheit und politische Ordnung) gibt Frank Parkin unfreiwillig ein Beispiel dafür, wie man bei der Auseinandersetzung um die Schichtung nach Geschlecht haarscharf am Kern des Problems vorbeiargumentieren kann.[46] Sein Gedankengang ist folgender:

  1. Die Familie ist eine Einheit innerhalb des Schichtensystems: Deshalb haben diejenigen unrecht, die behaupten, es gäbe eine Schichtung nach Geschlecht.
  2. Frauen werden zweifellos unterdrückt, aber diese geschlechtsspezifische Ungleichheit ist kein besonderes Schichtmerkmal: für die meisten Frauen sind die entscheidenden sozialen und ökonomischen Befriedigungen durch die Stellung des männlichen Oberhauptes der Familie bestimmt.
  3. Nur wenn die mit dem weiblichen Status verbundene Benachteiligung stärker empfunden würde als die Klassenunterschiede, wäre das Geschlecht ein bedeutendes Merkmal sozialer Schichtung.
  4. Frauen sehen sich selbst eher ihrer Verwandtschaftsgruppe zugehörig denn ihrem Geschlecht.
  5. Weil die Befriedigungen von Bedürfnissen vorwiegend in der Familie geleistet werden, empfinden die meisten Frauen keinen Gegensatz zwischen ihren eigenen Interessen und denen der Männer.
  6. Deshalb ist das Geschlecht nicht die Grundlage einer sozialen Schichtung.

Dies ist ein klassischer Fall, in dem ein Argument den Anschein erweckt, den Standpunkt der Frauen miteinzubeziehen; aber der Schein trügt: der Bezug wird nur pro forma hergestellt. Parkin behauptet, daß nur wenn Frauen sich selbst nicht mehr nur familienbezogen begreifen, das Geschlecht ein sinnvolles Schichtmerkmal ist. Doch bietet er keinen Beleg dafür, was Frauen tatsächlich in bezug auf ihre Familie oder ihre Klassenlage empfinden. Er behauptet einfach, daß ihre Wahrnehmung mit seinen eigenen Ansichten über die Familie als wichtigste Einheit übereinstimmen.
Die Rolle und Stellung der Frau in der Gesellschaft ist möglicherweise bedeutender und anders geartet als die zweitrangige, nur über den Mann vermittelte Rolle, die ihr von der Schichttheorie zugewiesen wird. Selbst in der Anwendung des Schichtmodells auf Familie bleibt die Rolle der Frauen verborgen. Die folgenden wichtigen Fragen werden von den Soziologen unterschlagen - In welchem Ausmaß beeinflussen Konsumverhalten und Haushaltsführung der Hausfrauen den gesellschaftlichen Status der Familie? Hat die Befolgung von allgemein anerkannten Idealen weiblichen Verhaltens durch die Ehefrau bei Kleidung, äußerlicher Erscheinung und so weiter irgendeinen Einfluß auf die Art, wie ihre Umwelt die soziale Stellung ihrer Familie wahrnimmt?[47] Inwieweit bestimmen Frauen die berufliche Stellung und das berufliche Verhalten ihres Mannes? Wie wirkt sich die Berufstätigkeit von Mann und Frau auf die soziale Stellung der Familie aus?
Auch diese Ergänzungen zur traditionellen Schichtanalyse lassen natürlich immer noch die hauptsächlichen Einwände gegen sie bestehen. Zukünftig muß ein analytisches Verfahren entwickelt werden, das beides in Rechnung stellt: die Unterschiede der Geschlechter im Hinblick auf Rolle, Status und Einkommen innerhalb und auch außerhalb der Familie. Das ist eine große Aufgabe, aber ihre Bedeutung wird um so klarer, je mehr die Feministinnen im allgemeinen - und marxistische Feministinnen im besonderen dem Problem der Stellung der Frau im gesellschaftlichen Klassensystem Aufmerksamkeit schenken.[48]

c) Macht
Das Phänomen der Macht ist eng mit dem der Schichtung verbunden. Anstatt die Sichtbarkeit von Frauen in all den unterschiedlichen soziologischen Analysen von Machtstrukturen zu untersuchen, werde ich lediglich auf ein Gebiet aufmerksam machen, in dem die zweifellos vorhandene gesellschaftliche Macht von Frauen überhaupt noch nicht betrachtet worden ist.
Obwohl das traditionelle Rollenbündel: Ehefrau/Mutter/Hausfrau - und die meisten Soziologen stellen Frauen überhaupt nur in diesem Rahmen dar - mit bestimmten Formen von Machtlosigkeit verbunden ist, verschafft es andererseits den Frauen auch besondere Wege der Einflußnahme. Zum Beispiel sind Frauen die wichtigsten Erzieher der Kinder, sie haben enorme Möglichkeiten, auf die Persönlichkeit und das Verhalten einzuwirken. Häufigkeit und Verlauf von Krankheiten der Familienmitglieder sind eng mit den emotionalen Beziehungen innerhalb dieser Gruppe verbunden: so hat die Stellung der Frau als Mittelpunkt der Familie zur Folge, daß sie in der Lage ist, nicht nur die Gesundheit, sondern auch die Krankheit zu beeinflussen.[49]
Frauen haben Macht als Hausfrauen, Ehefrauen und Mütter und als Mitglieder des Gemeinwesens. Wenn Macht als das "Ausmaß der Kontrolle" verstanden wird, "die eine Person oder eine Gruppe auf die Handlungen anderer ausübt",[50] dann ist die soziologische Untersuchung von Machtstrukturen üblicherweise mit der männlich orientierten Schichtanalyse und der Betrachtung formaler Institutionen, wie z. B. der Regierung, verbunden. Diese Denkrichtung unterstellt, daß es nur eine Form der Macht gibt. Dabei wird die Aufmerksamkeit von einer anderen Art der Macht abgelenkt: der informellen oder unausgesprochenen Macht. Diese Art der Machtausübung wird häufiger in privaten als in öffentlichen Zusammenhängen ausgeübt, Begriffe wie Zuständigkeit und Befugnisse sind für diese Form der Macht kaum anwendbar. Sie ist weniger sichtbar und der soziologischen Analyse schwerer zugänglich. In diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung zweier Politikbegriffe sinnvoll, wie sie Peter Worsley vorgeschlagen hat. "Politikbegriff I befaßt sich mit der "Ausübung von Zwang in irgendeiner Beziehung ... Von dieser Warte aus betrachtet, gibt es keinen abgetrennten Verhaltensbereich, der speziell politisch genannt werden könnte; es gibt nur unterschiedliche Ausprägungen politischen Verhaltens . . ."[51] Politikbegriff II ist viel enger gefaßt. Er umfaßt das Gefüge von Regierung, Staat und parteipolitischer Verwaltung.
Katz und Lazarsfeld geben in einer Fußnote ihrer Untersuchung Personal Influence (Persönlicher Einfluß) ein Beispiel für die Schwierigkeiten, die mit der Analyse der informellen Macht - verstanden als Ausprägung politischen Verhaltens - bezogen auf Frauen verbunden sind:

"In der Untersuchung über Wahlverhalten während einer Präsidentschaftskampagne wurde herausgefunden, daß Frauen sich sehr häufig auf Diskussionen mit ihren Ehemännern bezogen, während diese das Kompliment selten zurückgaben. Offensichtlich hatten die Ehemänner nicht den Eindruck, mit ihren Frauen über Politik diskutiert zu haben. Sie hatten ihren Frauen dagegen eher auseinandergesetzt, was es mit der Politik auf sich hat."[52]

Gab es nun einen Einfluß der Frauen auf die Wahlentscheidung ihrer Ehemänner oder nicht? Katz und Lazarsfeld beschreiben die entscheidende Rolle, die Frauen eines Ortes im Mittleren Westen Amerikas bei den täglichen Entscheidungen einnehmen, die mit Kaufverhalten, Mode, öffentlichen Angelegenheiten und Kinobesuchen zusammenhängen. Der weibliche Einfluß war in den Kaufentscheidungen am größten und in den öffentlichen Angelegenheiten am geringsten. (Obgleich die Forscher einräumen, wie das obige Beispiel über Wählerentscheidungen andeutet, daß die letzteren Ergebnisse auf den Unwillen der Männer zurückzuführen sein könnte, zuzugeben, daß sie ernsthafte politische Diskussionen mit ihren Frauen führen.)
Katz und Lazarsfeld fanden heraus, daß Geselligkeit ein wichtiger Faktor ist, der mit der weiblichen Rolle bei der Bildung einer öffentlichen Meinung zusammenhängt. Tratsch, der als "müßiges, lockeres Reden besonders über Personen und gesellschaftliche Ereignisse"[53] eingeordnet wird, ist oft Bestandteil geselligen Beisammenseins. Als ein Mittel, das Verhalten anderer Leute zu kontrollieren, entspricht es den wesentlichen Kriterien für Machtausübung, aber es wurde bislang kaum untersucht. (Nach Worsley steht die damit verbundene Vorstellung einer pressure group. lm Übergangsfeld zwischen formellem und informellem politischem Verhalten.) Studien über britische und amerikanische Gemeinwesen erwähnen zwar das Phänomen von Klatsch und Tratsch, aber soweit ich weiß, gibt es keine systematische Untersuchung über Klatsch als eine Form uriausgesprochener Frauenmacht.[54] Beide Geschlechter tratschen. Doch legt die Literatur die Annahme nahe, daß sie es auf verschiedene Weise tun.[55]
Dort, wo nur beschränkte Möglichkeiten bestehen, Situationen und Ereignisse in einem mehr organisierten Sinne zu kontrollieren, - wie das bei Frauen im Haus zutrifft - gewinnt die Macht, Klatsch als Kontrolle auszuüben, größere Bedeutung. Die Anthropologie hat dem Klatsch einige Aufmerksamkeit geschenkt. Nach Max Gluckman gehören Klatsch und Skandale "mit zu den wichtigsten gesellschaftlichen und kulturellen Phänomenen, die wir analysieren müssen."[56] Obwohl auch Gluckman die Geschlechtsmerkmale nicht berücksichtigt, beschreibt er einige der Funktionen von Klatsch: Die Vereinheitlichung und Bestätigung gemeinschaftlicher Wertvorstellungen, die Kontrolle aufstrebender Personen und Gruppen innerhalb der Gesellschaft, die Auswahl von Führern und die Aufrechterhaltung der Gruppenintimität. Klatsch mag kein weibliches Vorrecht sein, aber es ist sicherlich ein Teil des sozialen Rollenklischees von Frauen. Zum Beispiel

Wenige würden bestreiten, daß Frauen sich im Klatschen hervortun ... In dem scheinbar endlosen und für männliche Ohren sich stets wiederholenden Geschnatter, das zwischen Frauen hin und her geht ... wird ein massives und umfassendes gegenseitiges Vertrauen in den Klatschenden aufgebaut ... Das Klatschen befriedigt genau das gleiche Bedürfnis nach sozialer Geborgenheit bei den Frauen wie das Pokerspielen (s. Stammtisch) bei den Männern ... Die Frauen tratschen und die Männer spielen, Flirten ist beiden gemeinsam.[57]

Es gibt enge Zusammenhänge zwischen dem Tratsch der Frauen auf der einen Seite und Zauberei und Hexerei auf der anderen Seite. Gluckman zitiert hierfür ein Beispiel aus der ethnographischen Literatur, eine Analyse des afrikanischen Dorflebens, in dem der Glaube herrscht, daß das Klatschen zwischen der einen Abstammungslinie und der anderen das Risiko der Zauberei mit sich bringt. Wenn die Frauen (die als die wichtigsten Hexen angesehen werden) bei Auseinandersetzungen ihren Groll an Außenstehende herantragen, dann geben sie diesen die Möglichkeit, den ganzen Stamm zu behexen. Ein anderes Beispiel, das uns viel näher liegt, bezieht sich auf die Verfolgung von Hexen im vorindustriellen England. Ein oberflächlicher Blick auf die Literatur über dieses Gebiet enthüllt die Bedeutung der Verdächtigungen, denen klatschende Frauen ausgeliefert wurden.[58] Hexen waren oft auch Hebammen und Heilende und es ist interessant, daß ihre Verfolgung zeitlich mit einer Entwicklung zusammenfällt, bei der vorwiegend der männliche Ärztestand die Kontrolle über die Versorgung der Frauen bei der Geburt übernahm - ein Gebiet, in dem Frauen ursprünglich autonom waren. Anders gesagt, die eine Form der Machtausübung war eine Herausforderung für die andere.[59]

d) Die Familie.
Auch wenn die Frauen in der Soziologie keinen eigenen Platz haben, gibt es einen Bereich, der fest in ihrer Hand ist: die Familie.
Die Familie ist das Reich der Frauen: Sie sind die Familie. Der bei weitem größte Abschnitt der soziologischen Literatur über Frauen konzentriert sich auf ihre Rolle als Ehefrauen, Mütter und Hausfrauen - aber nicht auf die Betrachtung der Hausfrauenrolle als Hausarbeiterin. Die wichtigsten Themen in dieser Literatur sind: das Eheglück, die Arbeitsteilung und das allgemeine Rollenmuster von Ehemann/Ehefrau; die Verbindung von weiblicher Erwerbstätigkeit und Ehe und ihre Konsequenzen für die Beziehungen zu Ehemann und Kindern; die Beziehungen zwischen der Kernfamilie und der entfernteren Verwandtschaft; und das Hausfrauensyndrom- die sozial isolierte Situation von Frauen mit kleinen Kindern. Diese Themen werden häufig historisch betrachtet: Veränderungen in der Gestaltung des Familienlebens im Zuge der Industrialisierung und der Verstädterung werden untersucht.
Es besteht eine allgemeine Übereinstimmung unter Soziologen, daß, verglichen mit den Verhältnissen im 19. Jahrhundert, das moderne Eheverhältnis glücklicher, eher gleichberechtigt, für den Einzelnen wichtiger und deshalb auch sicherlich anstrengender ist.[60] Umstritten ist, ob die heutige Kernfamilie von ihrer entfernteren Verwandtschaft isoliert ist oder nicht.[61] Es scheint Übereinstimmung darüber zu herrschen, daß die jungen Mütter sehr viel eher der Gefahr ausgesetzt sind, isoliert und einsam zu sein als ihre viktorianischen Vorgängerinnen.[36]
Wo bleiben hierbei die Frauen? Sie scheinen die Mitte der Bühne einzunehmen, aber in welcher Verkleidung? Ein beliebter Begriff ist Rolle; dieses Sinnbild aus dem Theaterleben ist höchst angemessen. In der Familien- und Eheliteratur sind Frauen völlig in der weiblichen Rolle gefangen. Die psychoanalytische Sichtweise war insofern sehr einflußreich, als sie dazu führte, unter der Hand Frauen von vornherein als Ehefrauen und Mütter anzusehen und wirksam aus allen anderen Lebensbereichen auszuschließen. Dazu kommt noch, daß die Literatur hauptsächlich auf soziale Probleme ausgerichtet ist, was sich am deutlichsten an der großen Anzahl von Studien über die erwerbstätige Mutter zeigt.[63] Diese Konzentration auf die Konsequenzen der weiblichen Erwerbstätigkeit für die Kindererziehung führte zu eingehenden Betrachtungen über das Verhältnis zwischen Müttererwerbstätigkeit und der Gesundheit der Kinder [64] und einer möglichen Beziehung zwischen Erwerbstätigkeit und der mehr oder weniger angemessenen Ernährung der Kleinkinder.[65] Mit in Betracht gezogen wird die Infragestellung des traditionellen Musters der häuslichen Ehefrau, die ihren berufstätigen Gatten bedient. In einer der ersten Untersuchungen auf diesem Gebiet heißt es:

"Viele Leute betrachten es (die Erwerbstätigkeit von Frauen) als eine Herausforderung an die Gesellschaft, weil dadurch mit einer lange bestehenden Form des Familienlebens gebrochen wird, und die sie unterstützenden Wertvorstellungen gebrochen werden. Dies schließt zwei der intimsten persönlichen Beziehungsformen ein, die Ehebeziehung und die Eltern-Kind-Beziehung.[66]

Fast nichts von dieser Literatur ist vom Blickwinkel der Frauen aus geschrieben. Zwar werden die Vor- und Nachteile der veränderten Familienbeziehungen für Mann und Kinder betrachtet, aber was sie für die Frauen bedeuten, wird meist ausgelassen. Es wird zwar vom Rollenkonflikt gesprochen, was aber nicht unbedingt zur Erfassung der weiblichen Situation beiträgt.
Selbstverständlich bedeutet keiner dieser Kritikpunkte, daß die Ehe und das Familienleben heute für die Frauen unwichtig wären: tatsächlich spricht der Augenschein eher dafür, daß diese Erfahrungsbereiche immer noch wichtig sind. Aber wissen wir, wie wichtig? Wo ist der soziologische Bericht, der die Bedeutung, die diesen Bereichen zugeschrieben wird, in Beziehung setzt zu der Gesamtheit der Erfahrungen, die Frauen machen?[67] Möglicherweise sind Familie und Ehe Bereiche, in denen die soziologische Sichtbarkeit die tatsächliche soziale Bedeutung der Frauen übertrifft; das tatsächliche Vorhandensein von Männern als Väter führt dagegen nicht dazu, daß sie in der gleichen Weise in dem Themenbereich sichtbar werden.[68] Ein Zeichen der Überbetonung von Frauen auf diesem Gebiet ist der niedrige Status der Familien- und Ehesoziologie: so fragte eine radikale junge Soziologin die Feministin Alice Rossi einmal in einem Augenblick unüberlegter Anpassung an den herrschenden Sexismus: "Wie kommst du dazu, in so einem unbedeutenden Gebiet wie der Familiensoziologie stecken zu bleiben?"[69] Dieses Gebiet hat einen niedrigen Status, weil der Status des Untersuchungsgegenstandes - der von Frauen - niedrig ist, und weil die unter Soziologen vorherrschende Haltung zur Frauenfrage als wissenschaftliches Forschungsthema ständig dazu dient, die Bedeutung der Frauenproblematik zu verharmlosen.
Eine weitere Überlegung ist, ob die begrifflichen Unterscheidungen und Einteilungen in der Familien- und Ehesoziologie für eine feministische Denkweise brauchbar sind. Im vierten Kapitel lege ich dar, daß der Begriff der weiblichen Häuslichkeit, der in soziologischen Schriften nachlässig gehandhabt wird, erst in eine Anzahl von genaueren Begriffen aufgeschlüsselt werden muß, bevor die Ähnlichkeiten/Verschiedenheiten von Frauen innerhalb dieses Merkmals überhaupt irgend einen Sinn ergeben können.
Unter dem Deckmantel von Ehe und Familie werden weitere Verwirrungen gestiftet. Da sind die Gebiete Sexualität, Fortpflanzung, Kindererziehung und Hausarbeit, aber selten wird zwischen diesen vier Erfahrungsebenen ausreichend unterschieden. Daß diese vier Bereiche in der Familie nur sehr unvollkommen verknüpft sind, ist in volkstümlichen Redewendungen enthalten: ,Kinder machen jede Ehe kaputt, Sex und Familie passen einfach nicht zusammen, usw. Es ist notwendig, diese Art der Unterscheidungen auch in der Soziologie zu berücksichtigen.

e) Industrie und Arbeit
Als soziologische Daten glänzen die Frauen in der Industriesoziologie - im Vergleich zur Familiensoziologie - durch ihre Abwesenheit. Dies steht im krassen Gegensatz zu der wichtigen Rolle, die sie in der Berufswelt spielen. Obwohl die Frauen gegenwärtig etwa 367o aller Erwerbstätigen ausmachen,[70] sind Untersuchungen über Erwerbstätigkeit fast immer männlich orientiert. Es besteht ein beachtlicher Mangel an Studien, die (unter dem Gesichtspunkt des Arbeitsverhaltens) diejenigen Berufsgruppen untersuchen, in denen Frauen herkömmlicherweise hauptsächlich tätig gewesen sind - der Lebensmittel- und Bekleidungsindustrie, Verkaufsbranche, Büroarbeit, Schuldienst, Krankenpflege und Haushaltshilfe.[71]
Die Lohnarbeit von Frauen wird gerne so untersucht, als sei sie eine Abweichung von der Norm - z. B. wenn die Frau gleichzeitig verheiratet ist. (Die Tatsache, daß dies von Jahr zu Jahr immer weniger als Ausnahme erscheint, wird einfach weggewischt: 1971 waren 43 % aller verheirateten Frauen in England erwerbstätig.)[72] Verheiratete Frauen werden gefragt: Warum sind Sie erwerbstätig?, die vergleichbare Frage in Einstellungsuntersuchungen über Männer zu ihrer Arbeit ist: Warum arbeiten Sie nicht? Durch die Vorauswahl vorwiegend männlicher Berufe bei der Untersuchungsplanung wird die Unsichtbarkeit der Frauen in der Industriesoziologie sichergestellt. Zum Beispiel umfaßt die Automobilindustrie, die als der am genauesten erforschte industrielle Bereich [73] beschrieben wird, vorwiegend männliche Arbeitskräfte. Welche Merkmale auch immer für die Auswahl der zu untersuchenden Berufe maßgeblich sein mögen, die ausgesuchten Stichproben sind in der Regel durchgängig männlich: dies wird durch die Verwendung von Titeln verschleiert, die angeblich Arbeit ganz allgemein oder den Arbeiter unabhängig von seinem Geschlecht beschreiben. Arthur Kornhausers Mental Health of the Industrial Worker(Geistige Gesundheit von Industriearbeitern), Herzberg, Mausner und Snydermans The Motivation to Work (Arbeitsmotivation), Walker und Guests Man on the Assembly Line (Der Mensch am Fließband) und Hughes Men and their Work (Mensch und Arbeit) sind Beispiele. (In den letzten beiden Fällen wird man/men als Gattungsbegriff gebraucht.) Berichte theoretischer oder beschreibender Art, die sich auf empirische Nachforschungen stützen, erwähnen die Frauen gewöhnlich überhaupt nicht oder weisen ihnen bestimmte Abschnitte mit der Überschrift Arbeitswelt und Familie o.ä. zu.[74]
Die Frauen nahmen in der Arbeitssoziologie nur einen zweitrangigen Platz ein; daraus folgt, daß wir keine ausreichenden Angaben zur Bestimmung der Bedeutung von Erfahrungen der Frauen innerhalb der Berufswelt haben. Es gibt einige Hinweise, daß die Fragen über die Gründe der Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen nur die Spitze des Eisbergs berühren die Frauen geben an, daß sie des Geldes wegen außerhäuslich arbeiten gehen, weil dies ein gesellschaftlich anerkannter Grund ist.[75] Bis jetzt ist es üblich, die erwerbstätige Frau als eine besondere und andersartige Untergruppe in die allgemeine Kategorie Erwerbstätige einzuordnen (parallel zu ihrer Rolle, die sie in der Soziologie des abweichenden Verhaltens einnimmt). Diese kurzsichtige Betrachtungsweise schließt sie natürlich vom Hauptinteresse der Untersuchung aus. Für diese traditionelle Herangehensweise liefert Robert Blauner in Alimentation and Freedom (Entfremdung und Freiheit) - einer Analyse der Arbeitsbedingungen in vier Branchen mit unterschiedlichen Technologien - ein ausgezeichnetes Beispiel.
Die Frauen, die in der von ihm untersuchten Textilindustrie fast die Hälfte der Belegschaft ausmachen, handelt er ab als "ein wichtiges Sicherheitsventil gegen die Folgen der entfremdeten Arbeitsbedingungen". Die hohe Konzentration von Frauen auf denjenigen Arbeitsplätzen, die nach Blauners Worten "am wenigsten qualifiziert sind, den größten Grad an Wiederholung und den geringsten an Freiheit haben", ermöglicht es den Männern, Arbeitsplätze mit den entgegengesetzten Merkmalen einzunehmen. "Frauen in der Industrie sind mit solcher Arbeit nicht unzufrieden", versichert Blauner, ohne irgendeinen Beweis für diese Behauptung zu liefern: "Die Erwerbstätigkeit hat nicht die zentrale Bedeutung in ihrem Leben, die sie für Männer hat, weil ihre wichtigste Rolle die der Ehefrau und Mutter ist.[76]
Es mag geschlechtsspezifische Unterschiede in der Einstellung zur Lohnarbeit geben; aber diese werden nicht durch die ewige Wiederholung des alten Spruches - die Frau gehört ins Haus - zureichend nachgewiesen. Eine Untersuchung, die dieser üblichen Einstellung kritisch gegenübertritt, ist die Analyse von Wild und Hill über Arbeitszufriedenheit und Arbeitsplatzwechsel von Frauen in der Elektroindustrie.[77] Sie weisen überzeugend nach, daß der Glaube in die besondere Eignung der Frau für eintönige und sich ständig wiederholende Arbeitsvorgänge zu den Märchen der Industrie gehört: wenn sie wahr wären, dürften die Arbeitsplatzwechsel in solchen Industriezweigen nicht häufiger sein als dort, wo die Arbeit etwas interessanter ist. Das trifft jedoch nicht zu. In der Elektroindustrie, die Wild und Hill insbesondere untersuchten, zeigte sich, daß die Häufigkeit der Arbeitsplatzwechsel von Frauen mit deren Arbeitszufriedenheit/Unzufriedenheit in Beziehung stand: viele Frauen - wie auch viele Männer - äußerten ihr Bedürfnis nach persönlich befriedigender Arbeit. Die Tatsache, daß die Arbeit nicht befriedigend war, war häufig der Grund für den Arbeitsplatzwechsel.
Dieser kurze und unvollständige Einblick in fünf verschiedene Themengebiete der Soziologie soll einige Beispiele dafür liefern, wie sich die männliche Orientierung in der Soziologie darstellt. Anhand dieser Darstellung können wir langsam erkennen, wie und wo eine weibliche Perspektive sinnvollerweise ansetzen kann. Andere Bereiche, die auf diesem Wege neu und kritisch bewertet werden müssen, sind Methode und Theorie.
Jessie Bernard hat auf einen grundlegenden Unterschied zwischen verschiedenen methodischen Verfahrensweisen aufmerksam gemacht. Schon in der Methode lassen sich Merkmale der traditionellen Geschlechtsdifferenzierung wiedererkennen.[78] Weibliche Methoden wie teilnehmende Beobachtung, Tiefeninterviews bei kleinen Stichproben und die Betonung qualitativer anstelle quantitativer Größen haben geringeres akademisches Ansehen und werden weniger anerkannt als das männliche Gegenstück. Dies verdient größere Beachtung. Was die soziologische Theoriebildung und Entwicklung von Modellen anbelangt, muß auch diese nach den Kriterien der soziologischen Sichtbarkeit und dem gesellschaftlichen Vorhandensein von Frauen neu eingeschätzt werden. Einige Probleme der Schichttheorie und der Theorie abweichenden Verhaltens wurden oben erwähnt. In dem folgenden Abschnitt stelle ich einige Betrachtungen an zu der männlichen Ausrichtung des Funktionalismus.

2. Ursachen

Ich schlage drei Begründungszusammenhänge für die heutige Diskriminierung der Frauen in der Soziologie vor: die Entstehungsgeschichte dieses Wissenschaftsgebietes, das Geschlecht derer, die sie ausüben und die gesellschaftlich vorherrschende Ideologie der Geschlechtsrollen, die von der Soziologie unkritisch übernommen wird.

a) Entstehungsgeschichte
Das 19. Jahrhundert war in der euro-amerikanischen Kultur eine der geschichtlichen Epochen, in der Frauen am stärksten unterdrückt wurden. Durch die öffentlichen Institutionen wurden sie fast ganz ihrer persönlichen Freiheit, ihrer Rechte und ihrer Verantwortlichkeit beraubt. Ideologisch gesehen waren sie kaum mehr als Besitz, Sklaven oder Schmuckstücke (je nach ihrer gesellschaftlichen Stellung). In dieser Zeit wurde der Grundstein der Soziologie gelegt. Die sogenannten Gründungsväter (ein angemessener Ausdruck) lebten und schrieben in einer ausgesprochen sexistischen Zeit.
Von den fünf Gründungsvätern - Marx, Comte, Spencer, Durkheim und Weber - hatten nur Marx (1818-83) und Weber (1864-1920) das, was man emanzipierte Ansichten über Frauen nennen könnte. Marx sorgte für das Gerüst einer Analyse der Ehe als Instrument weiblicher Versklavung, obwohl er persönlich etwas von einem verspäteten Romantiker hatte.[79] Weber trat für Gleichberechtigung in der Ehe ein.[80] Herbert Spencer (1820-1903) protestierte gegen die Ehe als ungleiche Institution und beteuerte, daß Frauen die gleichen Rechte auf Konkurrenz mit Männern haben sollten; in seinen späteren Schriften. Jedoch änderte er seine Meinung und erklärte, daß "wenn Frauen begreifen würden, was alles im häuslichen Bereich enthalten ist, würden sie nicht nach mehr verlangen."[81] August Comte (1798-1857) war verbissener Sexist und seine Philosophie über Frauen zeigt sich am deutlichsten an seinem utopischen "positivistischen Schema für die Erneuerung der Gesellschaft.[82] Jede soziale Schicht - Frauen ausgenommen - hatte sich auf einer hierarchischen Stufenleiter einzureihen, die nach Wichtigkeit der gesellschaftlichen Gruppen und der Besonderheit ihrer Funktionen gegliedert war. Frauen sollten für die häusliche Moral verantwortlich sein, und dieser moralische Einfluß sollte durch die unlösbare monogame Ehe gesichert werden. Letztendlich lag seinen Ansichten der Glaube an die naturgegebene Minderwertigkeit der Frau zugrund, deren Reifung seiner Meinung nach in der Kindheit stehengeblieben sei.
Durkheims (185 8-1917) Ansichten über Frauen waren ebenfalls von einer biologistischen Denkweise geprägt: Frauen gehörten von Natur aus in die Familie. Seine Analyse der Struktur der modernen Kleinfamilie wurde ausschließlich vom Standpunkt des Mannes her gesehen. Er betrachtete es als wesentlich, daß Männer über den kollegialen Zusammenschluß immer enger mit ihrer Arbeit verbunden werden, weil für sie das familiäre Engagement keine tragfähige moralische Grundlage für ihre weitere Existenz bedeutet. "Männer müssen allmählich immer stärkere Beziehungen zu ihrem beruflichen Leben entwickeln ... In Männerherzen muß die berufliche Pflichterfüllung den Platz einnehmen, der früher der häuslichen Pflicht zukam.[83] Währenddessen bleibe die Familie (als das Reich der Frau) der Mittelpunkt moralischer Erziehung und Geborgenheit.
Diesen Leitsatz verfolgte Durkheim auch in seinem Privatleben. In der Tat beruhten die intellektuellen Leistungen dieser Männer auf der Grundlage der häuslichen Unterdrückung ihrer Frau. (Bis zu einem gewissen Grade ist Webers Ehe eine Ausnahme: Marianne Weber war Feministin und eigenständige Schriftstellerin. Von den fünf oben genannten Forschern war Herbert Spencer nie verheiratet.) Von Comte wird gesagt, daß "die Frau, die er zur Ehefrau nahm, nichts anderes war als das Mittel zur unmittelbaren Befriedigung seiner rohen Sexualität.[84]
Marx Ehefrau Jenny, die dem Idealbild vieler Frauen vor und nach ihrer Zeit entsprach,

"weihte ihr ganzes Sein seinem Leben und Werk. Es war eine vollkommen glückliche Ehe. Sie liebte, bewunderte und vertraute ihm und war emotional und intellektuell gänzlich von ihm beherrscht. Er stützte sich ohne zu zögern in allen Krisen und Notzeiten auf sie, blieb sein ganzes Leben lang stolz auf ihre Schönheit, ihre Herkunft und ihre Intelligenz ... In späteren Jahren, als sie in Armut lebten, zeigte sie großen moralischen Heldenmut, als sie den familiären Rahmen und die Organisation des Haushalts in einer Weise aufrechterhielt, die allein ihren Ehemann befähigte, seine Arbeit fortzusetzen."[85]

Ähnlich Durkheims Ehe:

"Sie hätte nicht glücklicher sein können, sowohl in persönlicher Hinsicht als auch in der Schaffung einer für seine Arbeit förderlichen Atmosphäre ... das häusliche Ideal, das in seinen Schriften deutlich wird (die Familie war sein Lieblingsthema beim Studium und in Vorlesungen), wurde beispielhaft durch sein eigenes häusliches Leben vorgeführt ... seine Frau schuf für ihn das wohlanständige und ruhige Familienleben, das er als beste Garantie für Moral und Leben ansah. Jede materielle Sorge und Nichtigkeit hielt sie von ihm fern ...[86]

Diese Auszüge schildern ziemlich genau die Rollentrennung in Marx und Durkheims ehelichen Beziehungen. Aber es scheint angebracht, diese Vorstellungen von weiblichem Glück zu hinterfragen. Jenny Marx Leben war zeitweise entsetzlich elend und schwierig. Durkheim war ein sehr strenger Mann, der nach einem rigiden Zeitplan lebte und jede Unterhaltung mit seiner Familie außerhalb der Mahlzeiten ablehnte.
Solche Beispiele könnten beliebig weitergeführt werden. Häuslicher Sexismus muß nicht unbedingt Sexismus im öffentlichen Bereich bedeuten, obwohl das eine oft ein Zeichen für das andere ist. Beide Arten des Sexismus haben vermutlich dort am meisten Gewicht, wo und wann sie den größten Einfluß haben, - wie z. B. bei der Bestimmung der Interessen, Belange und Methoden einer Analyse, die eine neue Wissenschaft ausmachen. Die frühen Soziologen haben eine Reihe von Traditionen begründet, die den Platz der Frauen in der Soziologie auch weiterhin bestimmt haben. Diese führen die Frage der Geschlechtsrollen kurzschlüssig auf biologische Ursachen zurück. Weiterhin umfassen sie die Annahme, daß Frauen nirgend woanders als ins Haus gehören sowie eine funktionalistische Analyse der Familie und ihrer Beziehungen zur übrigen Gesellschaft. Die amerikanische Schule der Soziologie hatte nicht weniger sexistische Anfänge. Besonders Lester Ward und W. I. Thomas übernahmen Gedanken von Comte und Spencer und entwickelten ihre eigene Mischung von biologischen Glaubenssätzen und sozialen Vorschriften über den Platz der Frau.[87] Ihre Ansicht, daß die Frauen die Lösung für das von Hobbes diskutierte Problem sozialer Ordnung seien, wiederholte Werte, die Anfang dieses Jahrhunderts in Amerika bestimmend waren. Nach ihnen konnte die Unterdrückung durch Geschlecht und Farbe oder Klasse mit einer an Nützlichkeit ausgerichteten Laisser-faire Philosophie menschlicher Beziehungen gerechtfertigt werden.

b) Ein Männerberuf
Wright Mills bemerkte in seiner Kritik The Professional Ideology of Social Pathologists (Die Berufsideologie, der Sozialpathologen): "Wenn Angehörige eines akademischen Berufes ähnlichen sozialen Zusammenhängen entstammen und sich ihr Hintergrund und beruflicher Aufstieg ziemlich gleichen, neigen sie dazu, in etwa dieselbe Blickrichtung anzunehmen."[88]
Das betrifft sowohl die Entstehungsgeschichte der Soziologie wie auch - schon seit den Anfängen - die Charakterzüge ihrer Vertreter. Wright Mills hat in seiner Untersuchung der gesellschaftlichen Hintergründe sozialer Krankheitsfälle das Geschlecht nicht als bestimmendes Merkmal berücksichtigt (dies beleuchtet seinen eigenen niedrigen Bewußtseinsstand in dieser Hinsicht).[89] Heute verfügen wir über systematische Angaben über das Geschlecht der soziologischen "Mannschaft".
Der amerikanische Bericht The Status of Women in Sociology (Der Status der Frauen in der Soziologie)[90] zeigt auf, daß die "Alibifrau" die Regel ist. In 85% aller soziologischen Fachrichtungen ist mindestens eine Frau vertreten. Hier wird das Schema der Geschlechterhierarchie dargestellt - 1972 waren 50% aller ordentlichen Professoren, 16% der Assistenzprofessoren, aber 30% der Lehrbeauftragten Frauen. Der Bericht offenbart die Unterrepräsentierung von Frauen als Autorinnen und Herausgeberinnen soziologischer Veröffentlichungen. Ähnliche Strukturen zeigen sich auch in der britischen Soziologie.[91] Diese Tatsachen sind überaus wichtig für den Nachweis des sich durch alle Bereiche der Soziologie vermittelnden Sexismus.

c) Die Ideologie der Geschlechterrollen
"Der vielleicht aufschlußreichste Teil der Untersuchung dieses Ausschusses war die Entdeckung, daß viele fähige Soziologen ... den empirischen Standpunkt verlassen, um ihre Hypothesen auf Volksmythen und eingefahrenen Vorstellungsklischees zu begründen.[92] Dieses Ergebnis des amerikanischen Berichts Status of Women in Sociology (Der Status der Frauen in der Soziologie) lenken die Aufmerksamkeit auf die zugrundeliegende Ideologie der Geschlechterrollen, die für alle die verschiedenen Erscheinungsformen von Sexismus verantwortlich ist. Ideologie könnte in diesem Zusammenhang verstanden werden als "eine Reihe eng verbundener Glaubenssätze oder Gedanken, oder auch nur die für eine Gruppe oder Gemeinschaft charakteristischen Einstellungen. Diese Ideologie bezüglich der Geschlechterrollen durchsetzt die Soziologie in ähnlicher Weise, wie sie für die Struktur des sozialen Lebens tragende Bedeutung hat. Während aber die Vorherrschaft des Volksmythos über Frauen in der öffentlichen Meinung gut belegt ist,[94] hat es noch keine vergleichbare kritische Haltung gegenüber der Hartnäckigkeit dieser Stereotypen innerhalb der Soziologie gegeben. Unausgesprochene Annahmen darüber, wie Frauen tatsächlich sind und wie sie eigentlich sein sollten, durchziehen alle Gegenstandsbereiche. In den oben besprochenen Bereichen hat z. B. das Bild von Frauen als sexuell und angepaßt dagegen gewirkt, daß diese bei der Untersuchung abweichenden Verhaltens einbezogen werden. Der Glaube, daß die Familie der einzig wichtige Bereich der Selbstverwirklichung von Frauen ist, hat zu einer Verzerrung ihrer Rolle innerhalb der sozialen Schichtung geführt. Eine unausgesprochene Abwertung weiblicher Formen der Macht als gewöhnlich und unbedeutend hat die politische Soziologie zu einer einseitigen Überbetonung von formalen Zwangs- und Autoritätssystemen verleitet.
In allen Bereichen der Soziologie können eine Vielzahl einzelner miteinander verbundener Vorstellungen über Frauen nachgewiesen werden, die Forschung und Theorie beeinflussen. Für die Stellung der Frauen innerhalb der zwei Bereiche Familie und Ehe - und Industrie und Erwerbsarbeit ist jedoch eine Anzahl allgemeiner Annahmen verantwortlich. Auch die Vernachlässigung der Hausarbeit ist in diesen Annahmen verankert. Sie können folgendermaßen dargestellt werden:

  1. Frauen gehören in die Familie und Männer gehen zur Arbeit";
  2. 2. deshalb arbeiten die Männer, während die Frauen nicht arbeiten;
  3. folglich ist Hausarbeit keine Arbeit.

Die ersten beiden dieser Annahmen wurden oben durch Beispiele veranschaulicht. Die dritte scheint eine Ableitung der ersten beiden zu sein, aber dieser Schluß ist falsch. Sein Fehler hängt an dem angenommenen Gegensatz von,Famille und Arbeit und an der Bedeutung des Begriffs Arbeit. Die Unterscheidung von Familie und Arbeit drückt zwar die Trennung von zwei Lebensbereichen aus, die im Zuge der Industrialisierung entstanden ist. Daraus folgt jedoch nicht, daß das eine die Welt der Frauen und das andere die Welt der Männer ist. Viele Frauen sind erwerbstätig; viele Frauen (und einige Männer) arbeiten im Haushalt; diese Tatsachen könnten aber aus den folgenden Aussagen nie erraten werden:

"Die Anpassung der Arbeiterinnen an ihren Arbeitsplatz wird oft durch die besonderen Probleme der erwerbstätigen Frau erschwert, die ihre Interessen und ihre Aufmerksamkeit zwischen der Arbeitswelt und ihrer traditionellen Rolle als Frau teilen muß".[95]

Zusätzliche Verwirrung wird durch die Annahme biologischer Bestimmtheit gestiftet:

"Die Situation, der die Frauen in unserer Gesellschaft gegenüberstehen, ist eine andere (als die der Männer). Weil allein sie die Fähigkeit hat, zu gebären und Kinder zu stillen, wird es als ihre primäre Aufgabe gesehen, Mutter und Haushälterin zu sein ... es ist klar, daß arbeiten eine größere Bedeutung im Leben der Männer einnimmt, als in dem der Frauen"[96]

Diese beiden Zitate stehen stellvertretend für viele Untersuchungen auf diesem Gebiet.
Was ist,Arbeit? Nach einer bestimmten Definition [97] hat Arbeit fünf Merkmale: Arbeit beinhaltet die Verausgabung von Energie; sie stellt einen Beitrag der Herstellung von Gütern oder Ausführung von Dienstleistungen; sie bestimmt die sozialen Verkehrsformen; sie bewirkt sozialen Status der Arbeitskraft, und letztlich bringt sie Geld ein. Nach dieser Begriffsbestimmung besteht der einzige Unterschied zwischen Lohnarbeit und Hausarbeit in der Unbezahltheit der letzteren. Weil aber Arbeit kein Merkmal des Frauenbildes ist, gibt es in der Soziologie auch keinerlei Begriffsbildung für Hausarbeit als Arbeit.
Der zur Zeit übliche Begriff der Doppelrolle unterstreicht den Status der Hausarbeit als Nicht-Arbeit. Wieder sind Arbeit und Haushalt zwei Welten. Alva Myrdal und Viola Kleins Untersuchung, Womens Two Roles(Die Doppelrolle der Frau in Familie und Beruf) war eine der ersten, die diesen Begriff übernahm: Ihre zentrale Fragestellung ist die Situation der Frauen auf dem Arbeitsmarkt und die Problematik, Hausarbeit und Erwerbsarbeit zu verbinden. In dieser Analyse ist Hausarbeit eine nebensächliche Frage.[98] Die amerikanische Gewohnheit, Hausarbeit als homemaking (ein gemütliches Heim schaffen) zu bezeichnen, untermauert geschickt die ideologische Unterscheidung von Haus und Arbeit. Weiterhin ebnet dies den Weg für ein anderes Verfahren, das sich gegen die Begriffsbildung von Hausarbeit als Arbeit richtet. Das ist die Verwirrung zwischen den vier Begriffen/Rollen: Hausfrau, Ehefrau, Mutter und Frau. Z. B. spricht Helena Lopata in ihrer Untersuchung, Occupation Housewife (Beruf: Hausfrau) von einem Lebenszyklus von Rollenverstrickungen, und sagt:

"Obwohl Frauen angeben, daß sie durch die Verantwortung für die kleinen Kinder eingeengt sind, erfahren sie auch Befriedigung durch einige Teilbereiche ihrer Rolle [welcher Rolle?] Hauptsächlich beeindruckt sie am Hausfrauendasein die große Offenheit der Rolle [?] und die Freiheit von der Zwangsaufsicht...[99]

Hausfrauen- und Mutterrolle sind in diesem Zitat gleichbedeutend, obwohl Lopata selbst genügend Beweise zu diesen Unterschieden und der Trennung zwischen ihnen liefert. Hannah Gavron ist sich in The Captive Wife (Die gefangene Ehefrau) des politischen Inhalts des Begriffs Doppelrolle bewußt:

Heutzutage glaubt man, daß Frauen zwei Möglichkeiten haben - erwerbstätig zu sein oder zu Haus zu bleiben. Das bedeutet, daß zuhause keine Arbeit geleistet wird. Während sich jedoch der Rest der industrialisierten Welt auf eine 40-Stunden-Woche zubewegt, werden Frauen, von denen viele mindestens 80 Stunden pro Woche arbeiten, ermuntert, dieses nicht als Arbeit anzusehen."[100]

In ihrem eigenen Kapitel Mütter und Arbeit gebraucht Gavron jedoch den Begriff Arbeit und meint Lohnarbeit, nicht Hausarbeit. In ihrem fünfseitigen Kapitel über die Haushaltsführung betrachtet sie nur zwei Punkte: finanzielle Regelungen zwischen Ehemann und -frau, und den Umfang, in dem Männer an der Hausarbeit und der Kinderversorgung teilhaben. Die Einstellung der Frauen zu Hausarbeit und ihre eigene Wahrnehmung bleiben unberücksichtigt.
Dies sind Beispiele dafür, in welcher Art und Weise der Mythos weiblicher Passivität stillschweigend sogar in die Untersuchung der häuslichen Rolle von Frauen eingeht. Obwohl, betonen sie, Hausarbeit Arbeit ist, müßten wir die Ideologie unserer Kultur auf den Kopf stellen, um sie als solche zu untersuchen. Die schwerwiegendste Auswirkung dieser Verschleierung ist, daß die Bedeutung, die die Hausarbeit für die Ausübenden selbst hat, nicht dargestellt wird. Dieser Punkt wird im nächsten Kapitel ausführlich behandelt. Das hat weitere Auswirkungen zur Folge. Die Einstellungen von Frauen zur Arbeit im Haushalt wird sehr wahrscheinlich mit anderen Einstellungen, die sie haben, verbunden sein - wie solche zu Erwerbstätigkeit, Ehe, Kindererziehung, Freizeit, usw. Aber das Fehlen dieser Betrachtungsweise von Hausarbeit ist in der Soziologie verwurzelt, und so wurden diese möglichen Beziehungen nicht erforscht.
An anderer Stelle habe ich den Funktionalismus als einen Mythos der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung kritisiert, zu dem auch Ethologie und Anthropologie beitragen.[102] Jedoch bewirkt der Funktionalismus im engeren Sinne, daß der Status von Hausarbeit als Arbeit geleugnet wird. Eine seiner Hauptannahmen ist in der Tat, daß die weibliche Rolle in der Familie in dieser Hinsicht der männlichen Rolle genau entgegengesetzt ist. Die Rolle des Aufgabenverteilers in der Familie umfaßt nach den funktionalistischen Theoretikern instrumentelle Tätigkeiten, wie z. B. Entscheidungen fällen, Geld verdienen und Einflußnahme auf die Außenwelt; die Rolle des sociometric star umfaßt expressive (gefühlsbezogene) Pflichten, wie z. B. Verbreitung emotionaler Wärme und den Zusammenhalt der inneren Familienbeziehungen. Männer erfüllen eine instrumentelle, Frauen eine expressive Rolle.
Das heißt einfach, Frauen bleiben zu Haus und sorgen für den emotionalen Rückhalt, Männer gehen hinaus zur Arbeit und sorgen für den finanziellen Unterhalt. Die Trennung der Geschlechter kann auf biologische Ursachen zurückgeführt werden. Laut Zelditsch "liegt ein entscheidender Bezugspunkt für die Herausbildung der Unterschiede in der Familie ... in der Einteilung der Lebewesen in säugende und nichtsäugende Lebewesen."[103]
Die Unterscheidung zwischen den beiden Ausprägungen der Rolle ist in der funktionalistischen Theorie einfach die sture Teilung zwischen Frauen/Haushalt und Männer/Arbeit. Die Eigenschaften der weiblichen, gefühlsbetonten Rolle, wie sie von Zelditsch, Parsons und anderen bestimmt werden, stehen den Eigenschaften der Rolle der Hausfrau/Hausarbeiterin unmittelbar entgegen. Denn um Wärme auszuströmen, sich ständig personenbezogen und vermittelnd einzusetzen, ist es natürlich notwendig, daß die Hausfrau/Ehefrau/Mutter nicht von solch höchst instrumentellen Aufgaben in Anspruch genommen wird, wie Putzen, das Haushaltsgeld einteilen, Waschen und den Müll wegbringen.
In der funktionalistischen Theorie als auch im größten Teil der Literatur über Familie und Ehe sind die Frauen "übertrieben sichtbar". Das liegt daran, daß die Bereiche, in denen Frauen in der Soziologie am deutlichsten sichtbar sind, meist zugleich die übelsten Beispiele von offenem Sexismus beinhalten. Die Ideologie der weiblichen Passivität zieht sich nicht nur gradlinig durch die Soziologie, sondern bildet auch den Eckpfeiler jenes Gebietes, das Frauen am ausgeprägtesten darstellt. Eine Korrektur dieses verzerrten männer-orientierten Standpunktes erfordert, zu den Frauen selbst zu gehen und den Beruf Hausfrau mit ihren Augen zu sehen.