11.1 George Keller

Tönten die traurigen Litaneien
Das Geheimnis meiner Pein?
Nachricht, daß ich im Hause allein,
Mußte ins Weite gedrungen sein,
Nachricht, daß ich im Leben allein,
Nachricht, daß niemand, nur Gott, noch mein.
Robert Frost, Jahrgang 1901

Budapest, im Oktober 1956

George Kellers Jugend wurde von zwei Monstern dominiert: von Joseph Stalin — und von seinem eigenen Vater. Der einzige Unterschied zwischen den beiden war, daß Stalin Millionen von Menschen terrorisierte und sein Vater nur George.
Es stimmte schon, »Istvàn, der Schreckliche«, wie George ihn oft in Gedanken nannte, hatte nie jemand wirklich getötet oder ins Gefängnis gebracht. Er war nur ein kleiner Funktionär der ungarischen Arbeiterpartei, der seinen Sohn mit marxistisch-leninistischem Jargon geißelte.
»Warum malträtiert er mich so?« beklagte sich George bei seiner Schwester Marika, »ich bin ein besserer Sozialist als er. Jedenfalls glaube ich an die Theorie. Und, ich bin ihm zuliebe Parteimitglied geworden, obwohl ich finde, daß die Partei zum Himmel stinkt. Warum ist er nur so angewidert?« Marika versuchte, den Bruder zu beruhigen und ihn zu trösten. Denn obwohl George es heftig abstritt, war er wirklich betroffen vom Mißfallen des alten Mannes.
»Na ja«, sagte sie leise, »es wäre ihm lieber, wenn deine Haare etwas kürzer wären...« »Was? Soll ich mir vielleicht den Kopf glattrasieren? Viele von meinen Freunden haben Haartollen wie Elvis Presley.«
»Deine Freunde mag er auch nicht, Gyuri.«
»Wenn ich nur wüßte, warum«, sagte George und schüttelte konsterniert den Kopf. »Alles Söhne von Parteimitgliedern, und sogar von Bonzen. Die behandeln jedenfalls ihre Kinder wesentlich freundlicher, als Vater das tut.«
»Er möchte nur, daß du zu Hause bleibst und studierst Gyuri. Sei doch ehrlich, du bist fast jeden Abend weg.« »Sei du mal ehrlich, Marika. Ich war der beste Abiturient meines Gymnasiums. Ich studiere sowjetisches Recht...«
In diesem Augenblick betrat Istvàn Kolozsdi das Zimmer und übernahm sofort das Kommando, indem er den Satz seines Sohnes zu Ende führte. »Du bist nur zur Universität zugelassen worden wegen meiner Stellung in der Partei, merk dir das, yompetz. Wenn du nur ein kluger Katholik oder Jude wärst, wäre es völlig egal, wie gut deine Noten sind. Man ließe dich irgendwo in der Provinz die Straße fegen. Sei dankbar, daß du der Sohn eines Parteivorsitzenden bist.« »Stellvertretender Vorsitzender«, verbesserte ihn George »im Büro der Landwirtschaftskollektive.« »Du sagst das so, als sei es eine Schande, Gyuri.« »Na ja, bestimmt hat es nichts mit Demokratie zu tun
wenn eine Regierung Leute gegen ihren Willen dazu zwingt, Bauern zu sein ...«
»Wir zwingen niemanden ...« »Bitte, Vater«, Gyuri antwortete mit müdem Seufzen, »du redest nicht mit einem Vollidioten.« »Nein, aber ich rede mit einem yompetz, einem nutzlosen Herumtreiber. Und was deine Freundin angeht...« »Was fällt dir ein, Aniko zu kritisieren, Vater?
Immerhin hält die Partei sie für so gut, daß man sie Pharmazie studieren läßt.«
»Es schadet meinem Ruf, wenn man dich mit ihr sieht. Aniko ist eine üble Type. Sie tut nur so, als ob. Sie sitzt in den Cafes von Väci utca und hört westliche Musik.« Eigentlich stört dich nur, daß ich da neben ihr sitze, dachte George. Letzten Sonntag haben wir im >Kedves< fast drei Stunden lang Cole Porter gehört. »Vater«, sagte George und hoffte auf eine vernünftige Auseinandersetzung statt einer Streiterei, »wenn die sozialistische Musik so viel besser ist, warum gibt es in ihr dann keine guten Melodien?«
Bleich wandte sich der Regierungsbeamte an seine Tochter: »Mit diesem Nichtsnutz spreche ich nicht mehr. Er ist eine Schande für unsere ganze Familie.« »Ich werde einen anderen Namen annehmen«, sagte George scherzhaft. »Bitte sehr«, sagte der alte Mann, »je eher desto besser.« Er lief aus dem Zimmer und warf die Tür hinter sich zu. George fragte seine Schwester: »Was zum Teufel habe ich jetzt wieder getan?«
Marika zuckte die Schultern. Solange sie denken konnte, war sie Schiedsrichter bei den Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn gewesen, und diese Streitereien schien es seit dem Tod ihrer Mutter, als George fünf und sie erst zweieinhalb Jahre alt war, zu geben.
Der alte Mann war seitdem völlig verändert. Und in seinen Anfällen von Bitterkeit ließ er seine Wut an seinem Ältesten aus, während sie versuchte, so schnell wie möglich erwachsen zu werden, um vermitteln zu können — dem Bruder die Mutter, dem Vater die Frau zu ersetzen. »Versuche doch zu verstehen, George, er hat ein schweres Leben gehabt.« »Das ist kein Grund, auch mir das Leben schwerzumachen. Aber irgendwie verstehe ich es ja. Er fühlt sich auch auf seinem Funktionärsposten irgendwie in einer Sackgasse.
Auch sozialistische Funktionäre haben Ambitionen, Marika. Das Landwirtschaftsprogramm ist eine komplette Katastrophe. Natürlich gibt ihm sein Vorgesetzter die Schuld, und bei wem kann er seine Frustrationen loswerden? Manchmal wollte ich, wir hätten einen Hund, den er an meiner Stelle treten könnte.« Marika war klar, daß George trotz aller verärgerten Ausbrüche wirklich Mitleid mit seinem enttäuschten Vater hatte. Andererseits hatte es der alte Mann recht weit gebracht für jemanden, der Schusterlehrling in Kaposvar gewesen war. Istvàn Kolozsdis größtes Pech war es, einen Sohn gezeugt zu haben, dessen überragende Intelligenz unvermeidlich zum Vorschein bringen mußte, wie mittelmäßig der Vater wirklich war. Irgendwo in ihrem Inneren wußten das beide Männer. Und deshalb hatten sie auch davor Angst, sich zu nahe zu kommen.

»Ich habe fabelhafte Nachrichten!« rief Aniko, als sie über den Museumsboulevard lief, um George zwischen zwei Vorlesungen der juristischen Fakultät zu treffen. »Sag nur nicht, der Schwangerschaftstest war negativ«, lächelte er. »Das werd' ich erst am Freitag wissen«, antwortete sie, »aber hör zu. Die polnischen Studenten streiken zur Unterstützung von Gomulka, und wir organisieren einen Solidaritätsmarsch.« »Aniko, die Geheimpolizei wird euch nicht ungeschoren davonkommen lassen. Diese Verbrecher werden euch die Köpfe einschlagen. Oder aber unsere >freundlichen< Gäste aus Rußland werden es tun.«
»Gyuri Kolozsdi, du wirst nicht nur mitgehen, sondern auch eines von den Plakaten tragen, die ich den ganzen Vormittag über gemalt habe. Welches hättest du denn gerne? >Es lebe die polnische Jugend< oder >Russen raus<?«
George lächelte. Seinem Vater würde es bestimmt warm ums Herz, ihn ein solches Plakat durch die Straßen tragen zu sehen. »Ich nehme das da«, und er zeigte auf >Ungarn braucht eine neue Führung<.
Sie küßten sich.
Der Platz des 15. März war vor Spannung wie elektrisiert. Tausende von Demonstranten hatten sich mit Plakaten und Fahnen auf der Grasfläche versammelt. Es gab Abordnungen von Fabriken, Schulen und Universitäten. Ein junger Schauspieler vom Nationaltheater kletterte auf das Standbild von Sändor Petöfi und deklamierte die >Nationalhymne< des Dichters, die die ungarische Revolution von 1848 entzündet hatte.
Immer lauter wurden die Rufe der Masse, wenn sie in den Refrain einstimmte: »Most vagy soha — jetzt oder nie.« Zum ersten Mal spürte George, daß sich etwas Bedeutendes ereignete. Und er war ein Teil davon.

Endlich setzte sich der Zug in Bewegung, angeführt von singenden Demonstranten, die einen Kranz roter Nelken trugen. Sie strömten in die Hauptstraßen der Stadt, wo sie den Verkehr lahmlegten. Aber nirgendwo gab es Feindseligkeit.
Viele Autofahrer schlossen einfach ihre Wagen ab und reihten sich in den Zug ein, der auf seinem Weg immer mehr anschwoll. In jedem Fenster, auf jedem Balkon waren Menschen, die begeistert winkten.
Wie durch Zauberei hatte sich Budapest in ein endloses Meer von Rot, Weiß und Grün verwandelt. Überall hatten die Menschen Trikoloren aus Bändern. Stoff und sogar Papier gemacht. Als die Studenten schließlich auf den Jozsef-Bem-Platz einbogen, sahen sie, daß das Standbild in der Platzmitte schon mit einer großen ungarischen Fahne drapiert war. Die russische Tafel in der Mitte war herausgerissen.
Gegen Sonnenuntergang redeten viele Studenten davon, sie wollten vor dem Parlament demonstrieren.  Andere schlugen vor, die große Statue von Stalin anzugehen, die schon so viele Jahre inmitten des Stadtparks stand und mit Spott auf Budapest herabsah. George und Aniko hielten sich an der Hand und ließen sich mit dem Hauptstrom der Demonstranten über den Fluß dem Parlamentsplatz zutreiben.
»Was glaubst du, wird die Regierung machen?« fragte George.
»Zurücktreten. Sie müssen es tun.«
Die riesige Menschenmenge auf dem Parlamentsplatz wirkte furchterregend. Hunderttausende — sie schienen wie Millionen — belagerten das ehrwürdige Regierungsgebäude mit seinen neugotischen Türmchen. Alles schrie nach der Rückkehr des einstigen Führers, dem sie vertrauten, Imre Nagy, der ein Jahr zuvor von den Russen aus dem Amt entfernt worden war.
Die Nacht kam, und die Luft wurde schneidend kalt. Viele aber hatten aus Zeitungen und Flugblättern Fackeln gemacht und riefen weiter nach Imre Nagy.
Plötzlich trat eine unscheinbare Gestalt auf einen Balkon. Von den vorderen Demonstranten ausgehend, pflanzten sich die Stimmen wie ein Echo fort und wurden immer stärker. »Nagy, es ist Nagy.« Der abgesetzte Führer, selbst vom Gefühl des Augenblicks überwältigt, hob matt die Hand und bat um Ruhe.
»Ist er verrückt geworden?« wunderte sich George laut. »Er fuchtelt ja mit den Händen wie ein Mondsüchtiger.« Aber einen Augenblick später klärte sich alles auf. Nagy ermunterte die riesige Menschenmenge, die Nationalhymne zu singen. Das war ein genialer Einfall! Als das Lied zu Ende war, verschwand Nagy so schnell, wie er erschienen war. Die Menge — freudig erregt und ergriffen — begann sich zu zerstreuen. Instinktiv wußten sie, daß am heutigen Abend nichts mehr geschehen würde. Jedenfalls nicht vor dem Parlament.

George und Aniko hatten schon die halbe Strecke zur Universität zurückgelegt, da hörten sie Gewehrschüsse. Er nahm ihre Hand, und sie rannten in Richtung des Museumsboulevards. Die gepflasterten Straßen waren voller ängstlicher, neugieriger Menschen. Als sie zum Museumspark kamen, hing dort noch Tränengas in der Luft. Aniko nahm ein Taschentuch und hielt es sich vor das Gesicht. Georges Augen brannten. Ein hysterisches Mädchen schrie, die Geheimpolizei hätte wehrlose Menschen hingemordet. »Wir werden jeden einzelnen von den Bastarden umbringen«, schluchzte sie. »Ich glaub' kein Wort«, flüsterte George Aniko zu, »bevor ich es nicht sehe.« Er nahm ihre Hand, und sie liefen eilig weiter.
Noch vor dem nächsten Häuserblock blieben sie entsetzt wie angenagelt stehen. An den Füßen aufgehängt, hingen über ihnen die blutigen Überreste eines Offiziers der Geheimpolizei. George wurde es übel.
»Gyuri, Gyuri«, sagte Aniko sich schüttelnd, »du weißt ja, was die mit ihren Gefangenen gemacht haben.« An der
nächsten Ecke sahen sie zwei weitere Leichen von Geheimpolizisten. »Mein Gott«, flehte Aniko, »ich halte das nicht mehr aus.«
»Komm, ich bringe dich nach Hause.«

»Na, yompetz, wie ich sehe, hat man dich noch nicht verhaftet.« Es war fast fünf Uhr früh. Istvàn Kolozsdi saß erschöpft neben dem Radio und rauchte nervös. Marika umarmte ihren Bruder. »Gyuri, wir haben so schreckliche Gerüchte gehört.Ich hatte solche Angst, es wäre dir etwas zugestoßen.« »Vergiß die Gerüchte, Marika«, unterbrach sie der Patriarch. »Die Wahrheit kam gerade in den Nachrichten.« »Ach ja?« sagte George leise. »Und was sagt Radio Budapest über die Vorfälle des heutigen Nachmittags?« »Es hat einen kleinen faschistischen Aufstand gegeben, dem die Polizei mit aller Härte begegnet ist«, sagte Istvàn Kolozsdi. »Und wo bist du den ganzen Abend gewesen?«
George setzte sich seinem Vater gegenüber, lehnte sich vor und sagte lächelnd: »Ich habe Imre Nagy zugehört.« »Du bist wahnsinnig. Nagy ist eine Unperson.« »Versuch das mal den vielen Tausenden zu sagen, die ihn auf dem Platz vorm Parlament bejubelt haben. Und wir werden ihn zurückholen und zum Parteiführer machen.« »So? Eher wachsen mir wieder Haare auf dem Kopf. Ihr seid alle eine Horde total wahnsinniger Idioten.« »Wahrhaftig der Ausspruch eines wahren Sozialisten«, sagte George und stand auf. »Ich gehe schlafen. Auch Verrückte brauchen Schlaf.«

Keine drei Stunden später schüttelte ihn seine Schwester. »Wach auf, Gyuri. Nagy ist zum Premier ernannt worden. Es ist gerade in den Nachrichten gekommen.« Trotz seiner Müdigkeit zwang sich George aufzustehen und knöpfte sich das Hemd zu. Er mußte das Gesicht seines Vaters sehen. Im Wohnzimmer saß der alte Mann wie angewachsen an seinem Platz beim Radio, von übervollen Aschenbechern umgeben. Während Marika ihrem Bruder eine Tasse schwarzen Kaffee gab, fragte er seinen Vater: »Na?«
Der Patriarch sah auf und erwiderte, ohne jeden ironischen Ton in der Stimme: »Du hast mich nie irgend etwas gegen Imre Nagy sagen hören. Er muß jedenfalls den Segen Moskaus haben, weil er die sowjetischen Truppen um Unterstützung gebeten hat.«
»Ich glaube, jetzt bist du der Träumer, Vater.« Er wandte sich zu seiner Schwester und sagte: »Wenn Aniko anruft, dann sag ihr, ich bin schon in die Universität.« Er warf sich eine Jacke über die Schulter und verließ eilig das Haus.

Wenn er in den Jahren danach an diesen Augenblick dachte, fragte er sich jedesmal, warum er es unterlassen hatte, etwas mehr zum Abschied zu sagen. Nicht zu seinem Vater. Denn er ärgerte sich über dessen schamlose Heuchelei. Aber warum war er nicht ein wenig herzlicher zu Marika gewesen? Er konnte sich auch nicht mit dem Gedanken trösten, daß er ja damals an dem kalten Oktobermorgen 1956 nicht einmal im Traum daran gedacht oder gar gewußt hatte, wie weit fort er gehen würde.
In der Universität tobte ein Sturm von Gerüchten. Nach jeder Radiodurchsage rannten Menschen durch die Eingangshalle und schrien die Neuigkeiten heraus. Die erschöpften Studenten jubelten, als sie hörten, was Präsident Eisenhower gesagt hatte: »Das Herz Amerikas ist beim ungarischen Volk.« Sie jubelten. »Die ganze Welt sieht auf uns.«
Aber die Begeisterung erreichte erst am Dienstagnachmittag ihren Höhepunkt, als Premierminister Imre Nagy verkündete, die Evakuierung der russischen Truppen hätte begonnen. George stieß mindestens sechs Leute zur Seite, als er außer sich durch die Halle stürzte und Aniko umarmte.
Am Morgen des ersten November wurde George von Geza, einem Mitstudenten, grob geweckt. »Was zum Teufel...?« Dann sah er, daß der spirrige Geza wie ein ausgestopfter Zirkusclown aussah. George rieb sich ungläubig die Augen. »Was ist denn mit dir los?« fragte er.
»Wir müssen hier schnell heraus«, sagte Geza. »Ich habe alle meine Sachen an — jedenfalls alles, was ich übereinanderziehen konnte. Ich geh' nach Wien.« »Bist du verrückt geworden? Die Sowjets sind weg. Hörst du nicht Radio Free Europe?« »Natürlich tu ich das, aber ich habe auch gehört, was mein Vetter in Györ gesagt hat. Er hat mich vor etwa zwei Stunden angerufen. Ungefähr zweihundert russische Panzer stehen an der Westgrenze. Sie sammeln sich und kommen zurück.« »Ist das ganz sicher?« »Willst du vielleicht solange warten, bis du sie siehst?«
George zögerte, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde.
»Ich hole Aniko«, sagte er.
»Gut, aber mach schnell.«

Sie zögerte. »Woher weißt du so sicher, daß die Russen zurückkommen?« »Muß ich dir die Gründe dafür aufzählen?« antwortete George ungeduldig. »Wenn Ungarn selbständig wird, dann kommen auch die Polen und die Tschechen auf komische Gedanken, und dann fällt das russische Imperium wie ein Kartenhaus in sich zusammen.«
Sie wurde blaß. Sie hatte Angst vor der gewaltigen Entscheidung, die sie treffen sollte. »Aber was wird nur aus meiner Mutter, sie kommt ohne mich nicht zurecht.«
»Sie wird es müssen«, antwortete George teilnahmslos. Er legte den Arm um sie. Sie schluchzte leise. »Laß sie mich wenigstens anrufen«, bat sie. »Gut, aber mach schnell.«

Sie gingen los. George und Aniko nur mit dem, was sie anhatten, Geza mit seinem gesamten Kleiderschrank am Leib. Als sie in den Vororten von Buda waren, sah George eine Telefonzelle und dachte plötzlich an seine Schwester. »Hat jemand Kleingeld?« fragte er.
Aniko gab ihm eine Münze. »Gyuri«, sagte seine Schwester besorgt, »wo bist du? Sogar Vater macht sich Sorgen.«
»Hör zu«, sagte er, »ich hab's eilig...« Da steckte Geza den Kopf in die Telefonzelle und flüsterte: »Sag ihr, Voice of America gibt verschlüsselte Nachrichten von Flüchtlingen durch.« George nickte. »Bitte, Marika, stell jetzt keine Fragen. Hör Voice of America. Wenn da durchkommt...«, er zögerte, »...daß Karl Marx gestorben ist, so heißt das, ich bin gesund.« »Gyuri, ich verstehe nicht. Du klingst, als ob du Angst hast.« »Das habe ich auch«, gestand er und fügte hinzu, »also um Gottes willen, bete, daß Marx stirbt.«
Er hängte ein, ohne noch mehr zu sagen.

»Und was ist mit deinem Vater?« fragte Aniko. »Wird er nicht in Schwierigkeiten kommen, wenn sie herausfinden, daß du geflohen bist?«
»Glaub mir, er ist der perfekte Politiker, ein Genie an Selbsterhaltung. Ihm passiert nichts, da bin ich ganz sicher.« Und er dachte bei sich, er hat sich während meiner ganzen Kindheit nicht um mich geschert, warum sollte ich mir jetzt darüber Gedanken machen, was mit ihm geschieht.
Sie marschierten wortlos weiter. Der einzige Verkehr auf der Straße bestand aus vereinzelten uralten Lastwagen. Ein paarmal wurden sie ein paar Kilometer mitgenommen. Die Fahrer fragten nie, wohin sie gingen und warum.
Es war schon fast dunkel, als sie in Györ ankamen. »Was machen wir jetzt?« fragte George. »Es ist viel zu kalt, um im Freien zu schlafen, und ich habe auch kaum mehr genügend Forint in der Tasche, um etwas Eßbares zu kaufen.«
»Ich habe nicht mal genug für einen Teller Suppe«, fügte Aniko hinzu. Geza lächelte nur. »Überlaßt mir das mal. Könnt ihr noch etwa eine Stunde laufen?« »Ja, aber nur, wenn wir dann irgendwo unterkommen«, sagte George, und Aniko nickte zustimmend.
»Die Eltern von Tibor Kovàcs wohnen in Enese, noch ungefähr zehn Kilometer von hier. Er wollte mit uns weg. Seine Eltern werden ihn erwarten.«
Aniko stöhnte. »Wissen sie denn noch nicht, daß er vorgestern erschossen worden ist?« »Nein«, antwortete Geza, »und es hat auch keinen Sinn, es ihnen zu sagen.«
Und er führte sie weiter in Richtung Enese. Eine halbe Stunde später gingen sie mühsam über eine nur vom Mond beleuchtete vereiste Landstraße. Sie waren seit dem Morgen unterwegs und zu erschöpft, um viel zu reden.
»Morgen müßten wir eigentlich gut über die Grenze kommen«, sagte Geza. »Da ist Allerseelen, und die Straßen sind voll, weil alles auf die Friedhöfe geht.«

Familie Kovàcs nahm die Freunde ihres Sohnes freundlich auf und schien nicht beunruhigt, daß er nicht mit dabei war. Tibor hatte einzelne Gruppen der neugebildeten Miliz an Waffen ausgebildet, so daß Georges Mitteilung, Tibor werde noch ein paar Tage in Budapest gebraucht, völlig glaubwürdig schien. Das Abendessen war ein Traum. Anders als in der Hauptstadt gab es auf den Dörfern genug zu essen, und Frau Kovàcs setzte ihnen eine Mahlzeit mit Huhn und Gemüse vor. Dazu gab es sogar eine Flasche Tokaier.
»Ich bewundere euch«, sagte Herr Kovàcs und lachte, »wenn ich ein paar Jahre jünger wäre, würde ich mitkommen. So sicher, wie es morgen Schnee gibt, kommen die Russen wieder. Alle, mit denen ich geredet habe, haben die Panzer gesehen. Sie vermeiden die Hauptstraße, aber sie sind da draußen im Wald und warten wie hungrige Bären.«
Aniko bekam Tibors Bett angeboten. Obwohl es sie schauderte, mußte sie annehmen. Die beiden jungen Männer rollten sich am Feuer im Wohnzimmer zusammen. Am nächsten Morgen schneite es stark. Geza sah George und Aniko an. »Bei diesem Wetter ist es wahrscheinlich das beste, wir versuchen einen Zug nach Sopron zu erwischen. Nicht weit davon ist ein langes, kaum bewohntes Stück Grenzland zu Österreich. Wenn wir Glück haben, können wir heute nacht über die Grenze.«
Am Mittag bedankten sie sich bei den Kovàcs, hinterließen noch ein paar ermutigende Nachrichten für Tibor und machten sich auf den Weg.
Am Dorfrand kam der erste Schock. Die russischen Panzer versteckten sich  nicht mehr hinter Bäumen.  Zwei davon hielten mitten auf der Straße.
»Und jetzt?« fragte George.
»Nur keine Panik, Gyuri. Es schneit wie wahnsinnig, und sie scheinen nicht besonders aufzupassen. Wir haben kein Gepäck mit, warum sollten sie uns verdächtigen?«
»Aber du siehst mit deinen ganzen Kleidern wie ein Fußball aus«, sagte George. »Wenn du wirklich an den Panzern da vorbei willst, ziehst du dich besser aus.« Geza wurde besorgt, denn er war nicht willens, sich vom Großteil seines irdischen Besitzes zu trennen.

»Wir gehen um den Ort herum und versuchen, von der anderen Seite her zur Bahn zu kommen«, beschloß er. Aber auch auf der anderen Seite des Dorfes gab es zwei Panzer Mehr als eine Stunde hatten sie sich umsonst durch den Schnee gekämpft. George und Aniko starrten Geza an. Wortlos knöpfte er die oberste Jacke auf. Seine Finger zitterten nicht nur vor Kälte.

»Wer... wer... wer redet mit ihnen?« »Hör mal, Geza«, antwortete George. »Schließlich haben wir alle mindestens sechs Jahre Russisch gehabt. Nur müssen wir alle dasselbe erzählen.« »Du hast die beste Aussprache, George«, bestand Geza »Es wäre am besten, du würdest das übernehmen. Und wenn es um Lügen geht, bist du fast ein Genie.« »Also gut, Genosse«, sagte George, »ich werde den Parlamentär spielen.«
Nachdem Geza auch die vorletzte Schicht entfernt und die Kleidungsstücke in einer Schneewehe vergraben hatte, gingen sie auf die Panzer zu.
»Stoi! Kto Idiot?« Ein Soldat forderte sie auf, sich auszuweisen. George ging ein paar Schritte auf ihn zu und sprach mit ihm in fehlerlosem Russisch: »Wir sind drei Studenten der Eotvos-Lorand-Universität und haben einen Freund besucht, der an Drüsenfieber erkrankt ist.
Wir wollen mit dem Zug nach Budapest zurück. Möchten Sie unsere Papiere sehen?« Der Soldat beriet sich flüsternd mit einem seiner Kameraden und wandte sich dann wieder an George. »Nicht nötig!«
Er winkte ihnen weiterzugehen. Mit Herzklopfen liefen sie schnell ins Dorf und zum Bahnhof. »Verdammt«, sagte Geza und zeigte auf den vor ihnen liegenden Bahnhof, »da stehen auch Panzer.« »Am besten gar nicht beachten«, sagte George, »ich glaube, die Soldaten wissen überhaupt nicht, was sie eigentlich tun sollen.« Er hatte recht. Niemand hielt sie auf, als sie auf den Bahnsteig gingen, wo ein überfüllter Zug gerade abfahren wollte. Es gab viel Lärm und Durcheinander. Verzweifelt fragten sie verschiedene Leute: »Sopron? Geht der nach Sopron?« Aus dem Zug, der sich langsam in Bewegung setzte, rief und winkte man ihnen zu. Geza sprang auf, George half Aniko und kletterte dann hinterher. Der Bahnhof lag hinter ihnen.
Es gab nicht einen freien Sitzplatz, weshalb sie im Gang standen und aus dem Fenster sahen. Jeder wußte, was der andere dachte. In höchstens eineinhalb Stunden würden sie in Sopron sein. Und dann die Grenze.
Die ihnen sonst so vertraute ungarische Landschaft war voller russischer Panzer, alle Kanonen waren direkt auf den Zug gerichtet. Sie sprachen eine halbe Stunde lang kein Wort miteinander.
Dann kam der Schock. »George«, sagte Geza, und es klang, als habe er eine Schlinge um den Hals, »erkennst du, wo wir sind?« George sah über die sowjetischen Panzer hinweg. Es blieb ihm fast das Herz stehen. »Wir fahren in die falsche Richtung! Der verfluchte Zug fährt nicht nach Sopron - er fährt zurück nach Budapest!« Voller Schrecken umklammerte Aniko seinen Arm.

Plötzlich blieb der Zug mit einem Ruck stehen. Aniko fiel auf George, den es nur nicht umwarf, weil er sich am Fenstergriff festgehalten hatte. Die Passagiere sahen sich furchtsam und verwirrt an. George starrte auf die russischen Panzer.
»Glaubst du, die fangen an zu schießen?« flüsterte Aniko. »Jedenfalls würde ich keine Wette abschließen«, antwortete er und biß sich auf die Lippe.
Plötzlich tauchte am hintersten Ende des Waggons ein Schaffner in ausgeblichener graublauer Uniform auf und versuchte, sich durch die Menge zu kämpfen. Von allen Seiten wurde er mit Fragen bestürmt. Er formte mit den Händen ein Sprachrohr und verkündete: »Wir können nicht nach Budapest hinein. Ich wiederhole: Wir können nicht nach Budapest hinein. Die Sowjets haben die Stadt umzingelt, und es wird heftig geschossen.« Und dann kam die unglaubliche Ansage: »Wir kehren um. Wir müssen zurück nach Sopron.«
Geza, George und Aniko sahen sich mit Jubeln in den Augen an. Ein paar Augenblicke später setzte sich der Zug wieder langsam in Bewegung — weg von der sowjetischen Umzingelung Budapests.
Die Fahrt Richtung Grenze ging durch ein Spalier von russischen Panzern. Als sie endlich angekommen waren und auf dem Bahnsteig von Sopron standen, atmeten sie auf. Bis hierher war es gutgegangen.
Es war später Nachmittag. »Wo liegt die Grenze?« fragte George. »Ich weiß nicht«, gestand Geza. »Was zum Teufel machen wir denn jetzt? Vielleicht einen russischen Soldaten fragen?« Da hatte Aniko eine Idee: »Gibt es hier nicht eine Forstwirtschaftsschule? Wir könnten doch einen Studenten fragen.« Im nächsten Augenblick hatte George sich bei einer alten Frau nach dem Weg zur Schule erkundigt, und sie gingen los.
Als sie die große Halle betraten, fragte sie ein junger Mann mit Militärmütze: »Braucht ihr Munition, Genossen?« In der Schule herrschte eine fast festliche Stimmung. Patrioten bewaffneten sich, um die russischen Eindringlinge aus ihrem Vaterland zu vertreiben. Sie bekamen jeder ein Stück Brot, eine Tasse Kakao - und eine Handvoll Patronen, die aus einem Faß geschaufelt wurden.
»Wo sind die Waffen?« fragte George, den Mund voller Brot.
»Gleich, gleich, Genosse.«
Die drei setzten sich in eine Ecke und überlegten, was sie als nächstes tun sollten. Eines war klar, sie waren nicht den ganzen Weg hierhergekommen, um sich einem sinnlosen Aufstand anzuschließen. »Die Leute sind wahnsinnig«, sagte Geza und ließ die Patronen wie Nüsse von einer Hand in die andere wandern. »Die Munition hier hat ganz verschiedene Kaliber. Es gibt nicht zwei gleiche Patronen. Was sollen sie damit tun - sie den Russen ins Gesicht spucken?« Dann stand er auf, um sich über den Weg zur Grenze zu erkundigen. George und Aniko sahen sich an. Sie waren das erste Mal seit Tagen allein.
»Wie geht es dir?« fragte er.
»Ich habe Angst. Hoffentlich schaffen wir es.« Sie umfaßte seine Hand. »Keine Sorge«, erwiderte er und fragte dann: »Übrigens,
was hast du deiner Mutter eigentlich gesagt?« »Ich weiß, du wirst mich auslachen, aber sie hätte mir es sonst nicht geglaubt.« Sie lächelte ein wenig. »Ich habe gesagt, wir fahren weg und heiraten.« Er lächelte verlegen und drückte ihr die Hand. »Vielleicht ist das ja gar nicht gelogen, Aniko.« »Ist das dein Ernst, George?« Er zögerte den Bruchteil einer Sekunde und erwiderte: »Warum hätte ich dich denn sonst mitgenommen.« Dann lehnten sie sich beide zurück schweigsam und erschöpft. Wenig später sagte sie traurig: »Ich wüßte gerne, wie es in Budapest steht.«
»Hör auf, daran zu denken«, anwortete er. Sie nickte aber konnte nicht wie er einfach ihre Erinnerungen unterdrücken.
Geza kam zurück. »Osterreich liegt ein paar Kilometer zu Fuß durch den Wald da drüben. Wenn wir gleich losgehen können wir es noch vor Dunkelheit schaffen.«
George sah Aniko an. Sie stand auf, ohne etwas zu sagen. Wieder begann es stark zu schneien. Dicke stille Fetzen Schnee. Sie waren bald durchnäßt und froren. Mit den dünnen Straßenschuhen war es sehr schwer, schnell voranzukommen.
Aber sie waren nicht allein. Alle paar Minuten kamen ein paar Menschen oder eine Familie vorbei. Manchmal nickten sie sich nur zu. Mit anderen tauschten sie die wenigen Informationen aus, die sie besaßen. Ja, wir glauben, die Grenze ist in dieser Richtung. Ja, wir haben auch gehört, daß die Grenzpolizei zum größten Teil desertiert ist. Nein, wir haben keine russischen Soldaten gesehen.
Tief im Wald kamen sie an Grenzbefestigungen vorbei an drohend mit Maschinengewehren bestückten Bunkern die anscheinend unbesetzt waren. Sie gingen weiter, immer darauf wartend, plötzlich hinter sich Schüsse zu hören. Der Schnee tauchte alles in unheimliches Licht. In der Ferne hörten sie einen Hund knurren. Sie blieben wie angewurzelt stehen.
»Sind das die Wachen?« flüsterte Geza in panischer Angst. »Wie zum Teufel soll ich das wissen?« stieß George hervor. Wenige Sekunden später kreuzte ein Mann mit einem Schäferhund ihren Weg. Aber es war nur ein Bauer, der mit seinem Hund spazierenging. Sie drängten weiter. Fünf Minuten später lag der Wald hinter ihnen, und sie sahen von der Anhöhe aus, wo die österreichische Grenze verlaufen mußte.
Sie sahen, wie Soldaten in Mänteln an einer Schranke Autos anhielten und Ausweise verlangten. Einige Autos wurden durchgewunken, andere mußten umdrehen. »Also, hier sind wir«, verkündete Geza mit Triumph in der erschöpften Stimme.
»Ganz recht«, sagte George grimmig, »jetzt müssen wir nur noch an den Wachen vorbeikommen. Weiß einer von euch, wie man fliegt?«
Die folgenden Worte kamen von einer fremden Stimme: »Halt! Hände hoch!« Sie fuhren herum und sahen zwei Uniformierte hinter sich. Einer von ihnen hatte eine Maschinenpistole. Verdammt, die Grenzpolizei!
»Wollen Sie vielleicht in Österreich ein Picknick veranstalten?« Weder George noch Geza noch Aniko antworteten. Sie waren wie betäubt vor Verzweiflung. Der zweite Beamte hatte ein Funkgerät, mit dem er sich mit dem Hauptquartier in Verbindung setzen wollte.
George wußte, sie hatten nichts mehr zu verlieren, und verzweifelt versuchte er es auf diplomatischem Weg. »Hören Sie wir sind doch Ungarn. In ein paar Stunden werden wir russische Gefangene sein. Auch Sie beide, meine ich. Lassen Sie uns doch zusammen ...«
»Ruhe!« bellte der Mann mit dem Funkgerät. »Sie haben versucht, illegal die Grenze zu überschreiten.«
Der Soldat mit der Maschinenpistole schien zu versuchen, mit George Augenkonlakt aufzunehmen. Bildete er es sich nur ein, oder machte der Beamte eine Kopfbewegung, als wollte er sagen: »Lauft los«?
Eigentlich war es egal. Dies war ihre letzte Chance, die Freiheit zu gewinnen, und alle drei wußten das. Vorsichtig berührte er Anikos Hand. Sie verstand. Und im selben Augenblick liefen sie los. Geza lief nach links, George und Aniko stürzten nach rechts.
Schon nach zwei oder drei Schritten pfiffen die Kugeln durch die Luft. Vielleicht zielte der Schütze gar nicht genau. George zog den Kopf ein und rannte, rannte, rannte.
Er wußte nicht, wie lange er schon gerannt war. Er wußte nur, er war noch nicht müde. Er warf sich weiter vorwärts in dem knietiefen Schnee, bis ihm langsam zu Bewußtsein kam, daß nicht mehr geschossen wurde. Es war überhaupt kein Laut mehr zu hören. Plötzlich fand er sich in einem weiten leeren Schneefeld. Er fühlte sich sicher genug, um langsamer zu laufen. Erst jetzt merkte er, wie tief erschöpft er war. Er hörte nur das Geräusch des eigenen schweren Keuchens. Er drehte sich um und sah nach Aniko.
Aber er sah nichts und niemanden. Allmählich wurde ihm schmerzlich bewußt, daß sie nicht mehr bei ihm war. Er war so von dem Gedanken zu fliehen besessen gewesen, daß er nicht mehr an sie gedacht hatte. War sie gestürzt? Hatte sie sich in diesem blendenden Schnee verlaufen? War sie von einem der Schüsse getroffen worden?
George drehte sich um und ging die eigene Spur zurück. Sollte er rufen? Er öffnete den Mund, aber es kam kein Laut. Er hatte Angst. Angst, entdeckt zu werden. Wenn er noch weiter zurückging, würde ihn die Grenzpolizei erwischen. Es war sinnlos, auf diese Weise Selbstmord zu begehen. Nein, Aniko wollte bestimmt, daß er weiterging und sich in Sicherheit brachte. Er drehte um und versuchte, nicht mehr an das Mädchen zu denken, das ihn liebte und alles aufgegeben hatte, um bei ihm zu sein.
Nur wenig später glaubte er, in der Ferne vor dem Abendhimmel die Umrisse eines Turms zu sehen. Dann erkannte er einen Kirchturm. Solche Kirchen gab es in Ungarn nicht. Das mußte Österreich sein. Erging auf den Horizont zu.
Eine halbe Stunde später wankte György Kolozsdi in den österreichischen Ort Neunkirchen. Die Bewohner feierten irgendein Gemeindefest. Als er auftauchte, wußten sie, wer er war, oder zumindest, was er war. Ein untersetzter Mann mit rotem Gesicht deutete mit dem Finger auf ihn.
»Bist du ungarisch?« fragte er. Trotz seines Zustands begriff er, daß sie ihn fragten, ob er Ungar sei. Aber noch wichtiger war, sie redeten deutsch. Er war in Sicherheit.
Zwei Männer kamen auf ihn zu und halfen ihm, sich auf eine Bank zu setzen. Einer von ihnen hatte eine Flasche Schnaps. George nahm einen Schluck. Plötzlich begann er zu schluchzen. Er fühlte sich schuldig, am Leben zu sein.
Ein kleiner österreichischer Polizeibus hielt quietschend etwa fünfzehn Meter von George entfernt. Ein großer, schlanker, völlig ausdrucksloser Beamter kam näher. »Guten Abend«, sagte er ruhig, zeigte auf den Bus und fügte hinzu: »Folgen Sie mir bitte.«
George stöhnte geschlagen, stand folgsam auf und ging hinter dem Beamten her. Als er erschöpft in den Bus stieg, bestätigten sich seine schlimmsten Ängste. Es gab zehn oder zwölf Fahrgäste, alles Ungarn.
»Willkommen im Westen«, sagte ein kleiner drahtiger Mann mit buschigen Koteletten, der es sich auf einem der hinteren Sitze bequem gemacht hatte. George setzte sich neben ihn.
»Was zum Teufel passiert jetzt?« fragte er besorgt. »Die Österreicher sammeln uns ein. Ich heiße Sändor, Miklos. Nennen Sie mich Miki. Und Sie?« »Kolozsdi, György«, erwiderte George und fragte schnell: »Fahren sie uns zurück?«
»Keine Rede. Ich gehe nach Chicago.« »Woher wissen Sie das?« »Weil die Menschen auf dieser Seite der Grenze frei sind und gehen können, wohin sie wollen. Deshalb sind Sie doch hergekommen, oder?«
George dachte einen Augenblick nach und antwortete dann leise: »Ja, ich glaube schon. Aber wohin fährt dieser Bus?«
»Na ja, sie werden noch ein paar von den Fischen aufgreifen, die durch das russische Netz geschlüpft sind, und werden uns dann irgendwohin bringen, wo wir schlafen können. Ich spreche etwas Deutsch und habe mich mit dem Polizisten unterhalten.«
George wäre gerne erleichtert gewesen. Aber er hatte so viele Enttäuschungen, so viele Rückschläge erlebt, daß er weiter auf der Hut blieb.
Sie fuhren durch die Dunkelheit, und viele der Flüchtlinge schliefen ein. George aber blieb wach und sah angestrengt aus dem Fenster, um die Namen der Städte und Dörfer mitzubekommen. Er wollte ganz sicher gehen, daß sie nicht vom Weg zur Freiheit abwichen.
Kurz vor Tagesanbruch kamen sie nach Eisenstadt. Der Bus fuhr auf den überfüllten Parkplatz am Bahnhof, der von Tausenden von ungarischen Flüchtlingen wimmelte. »Und jetzt?« fragte George, als Miki von einer kurzen Erkundigungstour zurückkam.
»Sie stellen Züge zusammen«, keuchte er, »und wollen uns in irgendein großes verlassenes Lager bringen, das die Russen nach dem Krieg benutzt haben.«
»Das klingt gar nicht gut«, sagte George. »Sie haben recht«, antwortete Miki mit einem Zwinkern. »Alles Russische - auch wenn da keine Russen mehr sind - ist nichts für mich. Ich werde freiberuflich tätig.« »Was soll das heißen?«
»Na ja, früher oder später wird man die Leute da nach Wien bringen. Ich gehe lieber schon jetzt hin. Wollen Sie sich
anschließen?« »Ja, gerne. Haben Sie eine Landkarte?« »Hier drin«, sagte der kleine Mann und zeigte auf seinen Kopf. »Alles auswendig gelernt. Allgemeine Richtung ist Norden. Also, wir trennen uns jetzt und gehen lässig zum Ausgang dahinten. Wenn uns gerade keiner beobachtet, gehen wir raus und die Hauptstraße entlang. Wir treffen uns im ersten Gasthof auf der rechten Straßenseite.« Sie trennten sich, George ging so unauffällig wie möglich zum Bahnhofsausgang. Dann ging er pfeifend an den Wachtposten vorbei und, so schnell er konnte, nordwärts die Hauptstraße entlang. Der erste Gasthof tauchte schon nach etwa sechshundert Metern auf. Der ältere Mann war schon dort und lehnte lässig an einem verblichenen Holzschild, auf dem der Name des Gasthofes stand: >Der Wiener Keller<. »Das
hier ist nicht fein genug für uns. Ich schlage vor, wir gehen weiter.«
»Sprechen Sie Englisch?« fragte Miki, während sie kräftig marschierten.
»Nicht ein Wort«, erwiderte George. »Ach so, Sie sind also so ein bevorzugtes Parteikind, das jahrelang Russisch gelernt hat. Das war nicht sehr vorausschauend, wie?« »Nein. Aber ich fange sofort mit Englisch an, sobald ich mir ein Buch kaufen kann.«
»Sie marschieren hier mit einem«, antwortete sein Mitflüchtling. »Wenn Sie gut aufpassen, werden Sie gut Amerikanisch sprechen lernen, noch bevor wir in Wien sind.« »Gut«, lächelte George, »fangen Sie an.«
»Erste Lektion. Wiederholen Sie: / am a cool cat. You are a cool cat. He is a cool cat. She is a...«
»Was heißt das denn?« fragte George. »Cool cat ist ein Kompliment und heißt soviel wie >ein guter, netter Mensch<. Sie können mir glauben George, ich habe haufenweise amerikanische Zeitschriften gelesen und bin auf dem laufenden. Keine Fragen mehr, wiederholen
Sie.«
Nach zwei Stunden konnte George genügend Ausdrücke, um seinen künftigen Landsleuten zu schmeicheln, um ihnen zu sagen, daß das Leben in Ungarn öde sei, während in den Vereinigten Staaten die Zukunft der Menschheit liege. Was die täglichen Bedürfnisse anging, so konnte er nach der Toilette fragen.
Sie gingen langsamer, als sie die Donau überquerten, denn es wurde ihnen schmerzhaft bewußt, daß dieser Fluß ein paar hundert Kilometer weiter östlich durch ihre Heimatstadt floß.
»Haben Sie Familie in Budapest?« fragte George. Miki zögerte. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. »Nein nicht mehr«, antwortete er in rätselhafter Weise. »Und Sie?« George bedauerte, das Thema angeschnitten zu haben und antwortete mit den gleichen Worten: »Nein, nicht mehr.« Und wieder versuchte er mit aller Kraft, die Gedanken an Aniko zu verdrängen.

Mike   erklärte ihm,  er werde die  großen amerikanischen Flüchtlingsorganisationen  abklappern  und  überall  sagen daß er eine Schwester und einen Schwager in Illinois habe.
Und außerdem würde Charles Lancaster für ihn bürgen. »Wer zum Teufel ist Charles Lancaster?« fragte George. »Natürlich mein Schwager.« »Lancaster?« »Hören Sie, Gyuri, wenn Sie Karoly Lukàcs hießen, würden Sie Ihren Namen sicher auch so ändern, daß die Amerikaner ihn aussprechen können.« George stimmte zu und wandte das Gelernte gleich auf seine eigene mißliche Situation an. »Was wird man dann mit Gyuri Kolozsdi machen?« »Man wird Sie nicht wiedererkennen, mein Freund. Ein Amerikaner braucht auch einen amerikanischen Namen.«
»Gut, und was schlagen Sie vor?« »György ist kein Problem«, antwortete Miki und genoß es offensichtlich, einen Erwachsenen umzutaufen. »Daraus wird einfach George. Aber Kolozsdi, daraus muß etwas Klares, Sauberes werden.« George dachte nach. Aus irgendeinem Grund dachte er immer wieder an diesen Gasthof da auf ihrem Weg in die Freiheit: >Wiener Keller<. »Wie klingt denn George Keller?« »Sehr nobel. Wirklich sehr nobel.«
Sie hätten jetzt eine Straßenbahn nehmen können, aber George war noch nicht willens, sich von seinem neuen Freund zu trennen.
»Glauben Sie, man wird mich überhaupt aufnehmen, ich meine, als einfacher Student, ohne jedes Zeugnis?« »Sie müssen eben etwas finden, weshalb man Sie braucht.« »Ich habe sowjetrussisches Recht studiert. Was bringt das in Amerika?«
»Aha, das ist es. Sie haben eine umfassende Parteiausbildung. Sie sprechen Russisch fast so gut wie [hre Muttersprache. Erklären Sie einfach, Sie wollten diese Kenntnisse im Kampf gegen den Weltkommunismus einsetzen. Sagen Sie, Sie wollten auf eine Universität, um bei diesem Kampf mitzuhelfen.«
»Irgendeine bestimmte Universität?« »Die beiden besten Universitäten in Amerika sind Harvard und Yale. Aber es ist besser, Sie sagen, Sie wollen nach Harvard.«
»Und warum?«
Miki lächelte. »Weil es für einen Ungarn schwer ist, >Yale< auszusprechen.«

An der Ringstraße trennten sie sich endlich. »Viel Glück, Georgie.«
»Ich werde Ihnen nie vergessen, was Sie für mich getan haben, Miki.« Etwas später entdeckte George ein Kuvert in seiner Tasche. Es enthielt Mikis künftige Adresse in Highland Park, Illinois, und fünfundzwanzig Dollar.
Das amerikanische Rote Kreuz schien recht beeindruckt von Georges akademischem Hintergrund. Aber statt einen Flugschein zu erhallen, wurde er in eine Kaserne in einem Wiener Außenbezirk eingewiesen. Damit gab er sich nicht zufrieden.
George sprach einen Uniformierten an, der ein frisches und offenes Gesicht hatte und ein Namensschild trug, auf dem >Albert Redding, Englisch-Deutsch-Französisch-Ungarisch< stand. »Entschuldigen Sie, Mr. Redding«, sagte George höflich. »Ich würde gerne nach Harvard gehen.« »Wer würde das nicht?« lachte der junge Mann. »Mich hat man da glatt abgelehnt, obwohl ich der Drittbeste meiner Klasse und Herausgeber der Schülerzeitung war. Aber lassen Sie mal, in Amerika gibt es viele Colleges. Sie werden dort studieren können, das verspreche ich Ihnen.«
George besaß als Trumpf eines der »amerikanischen Schlüsselworte«, die ihm Miki auf dem Marsch von Eisenstadt nach Wien beigebracht hatte. »Mr. Redding«, sagte er mit etwas bebender Stimme, »ich... ich... möchte gerne zu Weihnachten in Amerika sein.« Es klappte. George konnte an Reddings Gesichtsausdruck sehen, wie beeindruckt er von der Sehnsucht dieses einsamen Flüchtlings war.
»Sie sind ein guter Kerl, wissen Sie«, sagte er mit echter Zuneigung, »geben Sie mir Ihren Namen, und ich werde mal sehen, was ich für Sie tun kann.«
György Kolozsdi sprach zum ersten Mal seinen gerade erfundenen neuen Namen aus. »Keller. George Keller.« »Gut, George«, sagte Albert, »ich kann nichts versprechen, aber kommen Sie morgen früh wieder zu mir, okay?« Okay.« »Und wenn Sie bis dahin noch irgend etwas brauchen?« »Ja, da wäre etwas«, unterbrach George diesen leisen Versuch, ihn loszuwerden. »Ich habe gehört, man kann über
Voice of America Nachrichten übermitteln.« »Ja, richtig. Dafür ist zwar meine Abteilung nicht zuständig, aber ich kann das weitergeben.« Er zog Notizblock und Federhalter aus der Jackentasche, und George diktierte. »Ich hätte gerne, daß einfach gesagt wird...: >Mr. Karl Marx ist gestorben<«
»Das ist alles?« »Ja, bitte.«
Der junge Mann sah George an und sagte mißtrauisch: »Sagen Sie, weiß man das denn hinter dem Eisernen Vorhang
noch nicht?« »Vielleicht schockiert das ein paar Leute«, antwortete George, »ich danke Ihnen jedenfalls vielmals. Ich komme morgen früh wieder.«
Am nächsten Morgen um halb acht war Albert Redding erschüttert. »Ich weiß wirklich nicht«, murmelte er und hielt ein Telegramm in der Linken, »vielleicht hätte ich in Ungarn geboren sein sollen.« »Was ist denn?« »Ich kann diesen Zufall einfach nicht fassen«, sagte der junge Mann erschrocken. »Hören Sie sich das an: >An den örtlichen Direktor, Amerikanisches Rotes Kreuz, Wien — die Harvard Universität hat ein Komitee zur Auswahl und Unterstützung von ein oder zwei qualifizierten Studenten von ungarischen Universitäten eingerichtet. Erbitte Rückantwort mit allen notwendigen Angaben über mögliche Kandidaten. Gezeichnet: Zbigniew K. Brzezinski, Professor der Politikwissenschaften«
Redding sah George mit weit aufgerissenen Augen  an. »Können Sie das fassen?« »Vielleicht. Aber jetzt sollten wir diesem Mann Angaben über mich schicken.«

Die Antwort kam innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Dieser junge Flüchtling war genau der richtige Kandidat. Blieben nur noch bürokratische Einzelheiten. Acht Tage später bestieg George einen Bus nach München wo man ihn in ein Flugzeug setzte. Sechsundzwanzig Stunden später verließ er die Maschine auf dem Newark Airport, USA. Die lange Reise hatte ihn nicht ermüdet, denn er hatte die Zeit genutzt, den Inhalt einer Neuerwerbung auswendig zu lernen, eines Buches mit dem Titel »Ein brauchbarer Wortschatz in dreißig Tagen«.

Die Zollformalitäten am Flugplatz waren nur oberflächlich. Das mußten sie schon deshalb sein, weil George nur zwei Bücher, drei Zeitungen und etwas frische Unterwäsche vom Roten Kreuz besaß. Als er durch die Sperre kam und sich suchend umsah, streckte ihm ein blasser kantiger Mann mit militärisch kurzem Haarschnitt die Hand entgegen. »George Keller?«
Er nickte, noch immer nicht an den neuen Namen gewöhnt. »Ich bin Professor Brzezinski. Willkommen in Amerika.
Sie werden heute im New York Harvard Club übernachten.«

Andrew begegnete George Keller zum ersten Mal in Finleys Büro. Professor Brzezinski hatte den jungen Flüchtling gerade vom Bostoner Südbahnhof hergebracht und führte ihn ein. Dann gab er Andrew zweihundert Dollar und bat ihn, mit George zum Harvard Square zu gehen und mit ihm die notwendigsten Kleidungsstücke zu kaufen. Der Ungar brauchte fast alles, er hatte ja nicht einmal Pyjamas. Damit Andrew nicht auf falsche Gedanken kam, warnte Brzezinski: »Das Budget ist klein, Mr. Eliot. Ich meine, es wäre deshalb gut, wenn Sie die meisten Sachen im Coop kaufen.«
Sobald sie auf den Square kamen, las George die Schilder an den Geschäften laut vor und fragte dann eifrig: »Spreche ich das Wort richtig aus, Andrew?« Er las einfach alles laut, ob Zigarettenreklame oder U-Bahn-Zeichen. Und dann versuchte er sofort, das Gelesene in eigenen Sätzen zu verwenden. »Was meinst du, Andrew? Sollen wir Lucky Strike kaufen? Ich habe gehört, das ist ein guter Tabak und schmeckt gut...« Er hörte dann übereifrig auf die Antworten Andrews und fragte sofort nach, wenn er einzelne Worte nicht verstand. »Bitte, nicht mehr, George«, bat Andrew schließlich, »ich komme mir schon wie ein wandelndes Wörterbuch vor.« George war keineswegs undankbar. Er wiederholte immer wieder Ausdrücke wie: »Andrew, du bist wirklich eine cool cat«, und der Preppie fragte sich, woher der Flüchtling diese Slangausdrücke hatte, schloß aber dann, es müßte sich um eine Übersetzung aus dem Ungarischen handeln.
Im Coop benahm sich George wie ein Kind zu Weihnachten. Noch nie in seinem Leben hatte er eine solche Ansammlung von Waren gesehen. Was ihn am meisten beeindruckte waren die besonders grellen Farben.
»Bei mir zu Hause, ich meine, wo ich früher zu Hause war waren alle Sachen grau«, kommentierte er. Obwohl seine Augen glänzten, so daß Andrew vermutete er wolle den ganzen Laden aufkaufen, war George besonders bei den alltäglichsten Sachen ungeheuer wählerisch. So standen sie in der Abteilung für Unterwäsche und diskutierten ausführlich, ob die Mehrheit der Harvard-Studenten lieber Boxer Shorts trugen oder ob »die coolsten Typen« den Jockey-Stil bevorzugten (jede Kleinigkeit mußte für George typisch amerikanisch sein). Auch als es um Strümpfe und Krawatten ging, fanden die gleichen Diskussionen statt. Andrew führte George natürlich zu den Samtschlipsen.
Bei den Kollegheften und dem ganzen Schreibmaterial war es wesentlich einfacher. George wählte einfach nur das wo das Wappen Harvards aufgedruckt war (sogar bei den Kugelschreibern, die sonst nur etwas für Touristen waren). Als Andrew ihm sagte, die Studenten würden ihre Sachen in einer grünen Büchertasche herumtragen, kam ihm das etwas merkwürdig vor. »Warum grün? Die offizielle Universitätsfarbe ist doch dieses Weinrot?« »Ja, schon«, stotterte er, weil er nicht wußte, was er sagen sollte, »aber...« »Warum soll ich denn eine grüne kaufen?« »Also George, ehrlich gesagt, ich weiß es auch nicht. Es ist einfach eine alte Tradition. Ich meine, alle coolen Typen…« »Ach, wirklich?« »Sogar Dr. Pusey«, antwortete Andrew und hoffte, der Präsident von Harvard würde es nicht übelnehmen, daß er als Beispiel herhalten mußte.

Eine Ewigkeit brauchten sie für die Bücher. Brzezinski hatte George im Zug geholfen, sich einen Vorlesungsplan — für jemanden mit perfektem Russisch - zusammenzustellen. Aber außer den Büchern für seine Vorlesungen kaufte er noch alle möglichen englischen Grammatiken und Wörterbücher, alles, was seinen Kreuzzug zur völligen Beherrschung der Sprache befördern konnte.
Als sie alle Einkäufe zurück zum Eliot-Haus schleppten, fragte George plötzlich flüsternd: »Wir sind doch jetzt allein, oder, Andrew?«
Dunster Street war leer, weshalb die Antwort darauf natürlich »Ja« war. »Dann können wir einander auch die Wahrheit sagen?« Andrew verstand überhaupt nichts mehr. »Ich verstehe dich nicht, George.« »Glaub mir, ich verrate es niemandem, Andrew«, fuhr er immer noch flüsternd fort. »Bist du ein Spitzel?« »Ein was?« »Hör mal, ich bin kein naiver Säugling mehr. Die Regierung hat doch in jeder Universität ihre Spione.« »Nicht in Amerika«, antwortete Andrew und versuchte, überzeugend zu wirken. Denn, als wären sie Teil einer Erzählung Kafkas, hatte er ein Schuldgefühl. »George, sehe ich wie ein Spitzel aus?« »Natürlich nicht«, sagte er wissend, »das ist ja gerade der
Grund dafür, daß ich dich verdächtige. Aber du wirst das bitte nicht weitergeben, ja?« »Jetzt hör aber mal zu«, protestierte Andrew, »ich gebe nichts an irgend jemanden weiter. Ich bin ein einfacher Harvard-Student.«
»Heißt du wirklich Andrew Eliot?« »Ja doch. Was ist denn daran so merkwürdig?« »Das Haus, dem man mich zugeteilt hat, heißt Eliot. Du behauptest, auch so zu heißen. Ist das nicht ein merkwürdiger Zufall?« So geduldig wie möglich versuchte Andrew zu erklären, wie
die Gebäude von Harvard zu ihren Namen gekommen waren, den Namen berühmter ehemaliger Abgänger, und was an seiner eigenen Familie Besonderes war. Anscheinend gab sich George für den Augenblick zufrieden. Es schien sogar seine Stimmung zu verbessern.
»Dann bist du ein Aristokrat.« »So könnte man es nennen«, antwortete Andrew ehrlich und war angenehm überrascht, daß George das aus unerfindlichen Gründen glücklich zu machen schien. Und dann kam die Horror-Show.

Sie waren etwa um halb zwei von Eliot weggegangen. Es war kurz vor fünf, als sie zurückkamen. Glücklicherweise ging Andrew als erster in die Wohnung. Irgend etwas ließ ihn zum Schlafzimmer hinsehen und dann mit Schrecken erkennen, wo sie da hereinplatzten. Über den
Ereignissen des Tages hatte er es völlig vergessen. Andrew brauchte nur einen Augenblick, um zu reagieren. Erst befahl er George, vor der Tür im Wohnraum zu warten, dann rannte er zur Schlafzimmertür und warf sie zu. Als er sich umwandte, sah er, daß der Flüchtling, dessen Verdacht jetzt zur Verstörung wurde, ihn anstarrte. »Eliot, was geht hier vor?«
»Nichts, nichts, nichts. Freunde von mir haben sich nur... das Zimmer geliehen.«
Andrew stand wie eine Wache vor der Tür, hinter der man hastige Bewegungen hörte. »Das glaube ich dir nicht«, erklärte George wütend und seine Stimme zitterte, »und ich möchte sofort mit deinen Vorgesetzten reden.« »He, Moment mal, Keller, laß mich das erklären, ja?«
George sah auf seine neue Timex und antwortete wie ein Offizier: »Gut, ich geb' dir fünf Minuten. Dann rufe ich Brzezinski an und bitte ihn, mich hier rauszuholen.« Er setzte sich und verschränkte die Arme. Andrew wußte nicht, wie er anfangen sollte. »Also George, diese beiden Freunde von  mir haben...«, er wußte nicht weiter und machte ein paar nutzlose Handbewegungen »Das hat noch nichts gebracht«, sagte Keller unzufrieden Dann sah er wieder auf die Uhr. »In vier Minuten zwanzig Sekunden rufe ich Brzezinski an.«
Plötzlich sah er auf, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich völlig. Er sprang auf und sagte mit breitem Lächeln: »Hallo, Honey. ich heiße George. Und wie heißt du?« Andrew drehte sich um und sah, daß Sara hereingekommen war. Ihr Gesicht war etwas gerötet.
»Ich bin Sara Harrison«, sagte sie mit soviel freundlicher Gelassenheit, wie sie den Umständen entsprechend aufbieten konnte.
George streckte die Hand aus. Sie schüttelten sich die Hand. Dann erschien Ted und stellte sich vor. George war auf wunderbare Weise verändert.
»Dann wohnen wir wohl alle hier?« fragte er mit neu erwachtem Optimismus. »Nein, eigentlich nicht«, stammelte Andrew. »Ted und
Sara haben nur keinen Platz, wo sie, du weißt schon.« »Aber bitte«, sagte George galant, »das muß nicht erklärt werden. Wir haben solche Wohnprobleme auch in Ungarn « Ted flüsterte Andrew zu: »Entschuldige, das tut mir sehr leid. Aber du hast uns vorher nichts gesagt.«
»Nein, nein, ihr beiden. Es ist meine Schuld. Ich hätte euch anrufen sollen, als ich erfuhr, mit welchem Zug er kommt « »Schon gut«, versicherte Ted. »Es ist schon spät. Ich muß Sara zurückbringen und dann zur Arbeit. Danke, Eliot, es war toll, solange es geklappt hat.« Sara küßte Andrew auf die Wange und ging hinaus, er aber rief: »He, ihr, das kann ruhig alles so bleiben. Ich meine, ihr könnt jederzeit wieder. zu Besuch kommen.« Sara steckte den Kopf noch einmal herein: »Mal sehen «
Sie lächelte. »Aber mir scheint, du hast jetzt genug zu tun «

Der Speisesaal vom Eliot-Haus sollte diesmal über die Weihnachtsfeiertage geöffnet bleiben, um die Ärmsten der Armen zu verpflegen, die während der Ferien in Cambridge bleiben mußten.
Das war eine sehr gemischte Gruppe von Studenten aus allen Bereichen der Universität. Viele waren im letzten Studienjahr und arbeiteten fieberhaft an ihren Abschiußarbeiten. Einige waren Erstsemester, die zu weit weg von zu Hause waren und die nicht einmal die Mittel hatten, per Bus zu reisen. Es gab aber auch Eliot-Leute, von denen jeder einen persönlichen Grund hatte, über Weihnachten im arktischen
Cambridge zu bleiben.
Danny Rossi war einer davon. Er freute sich über die Unterbrechung der Veranstaltungen, denn er wollte sich ans Komponieren von >Arcadia< machen.
Es war ruhig. Nicht ein einziger heiserer Schrei kam aus dem verschneiten Innenhof und lenkte ihn  ab.  Um Maria zu beeindrucken, hatte er voreilig versprochen, die gesamte Partitur bis zum Silvesterabend fertig zu haben. Er arbeitete wie besessen vom Morgengrauen bis tief in die Nacht. Eines der Themen entstand wie von selbst - das klagende Liebeslied der Schäfer. Es war eine Melodie, geboren aus seiner Sehnsucht nach Maria. Alles andere erforderte viel Fleiß, aber endlich waren die Notenblätter gefüllt. Er hatte das Gefühl, es war das Beste, was er jemals gemacht hatte.
Seine Mutter hatte ihn in ihren letzten Briefen dringend gebeten, in den Ferien nach Hause zu kommen und Frieden zu schließen. Aber sein erster wichtiger Kompositionsauftrag lieferte ihm eine legitime Entschuldigung, seinen Vater weiter zu meiden. Danny schloß sich also während der Weihnachtstage geistig wie körperlich ein. Seine besessene Arbeit an dem neuen Ballett half ihm, alle Gefühle zu unterdrücken, so auch das Bedürfnis, Weihnachten mit seiner Familie, und besonders mit seiner Mutter, zu verbringen. Und auch die Gefühle, die er für Maria empfand, für die Liebliche, die Begehrenswerte, und doch so Unerreichbare.
Zum Teufel, sagte er sich, ich schreibe meinen Schmerz in Noten auf. Die Leidenschaft mag die Kunst inspirieren. Nur, in diesem Fall rief sein Versuch, damit die Leidenschaft zu sublimieren, nur noch mehr Leidenschaft hervor.

Auch George Keller hatte sich entschlossen, in Cambridge zu bleiben. Obwohl ihn Andrew Eliot sehr freundlich zu sich nach Hause eingeladen hatte, zog George es vor, die Tage wie ein Mönch zu verbringen und sein sehr schnell besser werdendes Englisch weiter zu verbessern.
Am Weihnachtsabend produzierte die Küche etwas, das fast wie ein gebratener Truthahn schmeckte. George Keller merkte nichts davon. Er saß am schmalen Ende eines rechteckigen Tisches und verschlang ein Vokabelheft. Am anderen Ende saß Danny Rossi und las intensiv, was er an diesem Tag aufgeschrieben hatte. Sie waren jeder zu versunken, um den anderen und seine Einsamkeit zu bemerken.
Kurz vor Mitternacht regte sich das frühere Kind in Danny Rossi. Er legte die Partitur weg, und aus irgendeinem atavistischen Grund heraus begann er, Weihnachtslieder am Klavier zu improvisieren. Da sein Fenster ein wenig offenstand, hörte George Keller die Musik über den Innenhof hinweg. Der Flüchtling lehnte sich zurück und schloß die Augen. Auch in Ungarn hatte ihn >Stille Nacht, heilige Nacht< immer ergriffen. Jetzt, Tausende von Kilometern von zu Hause entfernt, erklang dieses Lied sanft in der eisigen Luft Cambridges, und für einen Augenblick erinnerte er sich an Dinge, die er gehofft hatte, für immer unterdrückt zu haben.