Das Erbe, welches das Mittelalter zu verarbeiten hatte, besteht bekanntlich aus der antiken Philosophie und der Patristik. Vor allem haben drei Faktoren dazu beigetragen, daß die philosophisch-theologische Anthropologie des Mittelalters sich im Rahmen patriarchalischer Vorstellungen hielt, auch wenn dies nicht ohne Ausnahmen gilt.
I
Das neuplatonische Hierarchieschema wird besonders deutlich an einem im Mittelalter viel zitierten Satz aus der augustinischen Schrift De genesi ad literam, wo neuplatonisches Denken in Stufen von verschiedener Seinshöhe an den biblischen Schöpfungsbericht herangetragen wird. Gottes Vorsehung unterwarf sich am Anfang alles Geschaffene, dann die körperliche Kreatur der spirituellen, die irrationale der rationalen, die irdische der himmlischen, die weibliche der männlichen, die weniger wertvolle der wertvolleren, die bedürftige der reicheren.' In diesem Saz sieht man auch den ordo-Gedanken ausgedrückt und findet keinen Anlaß, ihn irgendwie zu korrigieren.
[1]Der karolingische Theologe Johannes Scotus Eriugena, der den späteren Jahrhunderten des Mittelalters immer präsent blieb, bietet in seinem System ähnlich wie Dionysius Pseudo-Areopagita im 5./6. Jahrhundert, dessen Schriften er verarbeitet hat, den Versuch einer Synthese von Neuplatonismus und Christentum. In seinem Werk De divisione naturae folgt Scotus Eriugena der Bewegung des Ausgangs alles Seienden von Gott (emanatio) und der Rückkehr (reductio) zu ihm. Es wird angenommen, daß der Sündenfall sich ereignete, als der Mensch in seiner sublimen Paradiesesnatur existierte, noch ohne in zwei Geschlechter und in zahlreiche Individuen gespalten zu sein. Ohne die Sünde würde der Mensch ganz himmlisch, reiner Intellekt geblieben sein, von dem sich die sinnliche Natur nicht abgehoben hätte. Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit erscheinen so als Folgen eines gleichsam praeexistenten Sündenfalls, der als Akt des Stolzes verstanden wird. Weil Gott den Sündenfall des Menschen vorausgesehen hatte, war schon vor seiner Erschaffung die Welt der Körperlichkeit und Vergänglichkeit erschaffen worden. Nach diesem Denken ist die geschlechtliche Fortpflanzung eine Angleichung der gefallenen menschlichen an die tierische Natur und somit Strafe, weil sie dem Menschen ursprünglich nicht zugedacht war, da er den Engeln gleich sein sollte. Die geschlechtliche Differenzierung ist in diesem System aber zugleich die letzte Stufe der divisio naturae, die im Menschen endet, der in sich alle Geschöpfe zusammenfaßt. Aber der Mensch soll aus der Geschichte zu seiner geistigen Natur und in dieser zu Gott in einer gestuften reductio zurückgeführt werden.
Der Tod, zugleich der tiefste Punkt in der Folgenkette des Sündenfalls, wird als Anfang der Befreiung gesehen, da er das Ende der materiellen Körperlichkeit bedeutet. Aber nicht nur dies. Die Auferstehung des Leibes geschieht in seinen ursprünglich von Gott gewollten Zustand hinein und läßt die geschlechtliche Differenzierung hinter sich. Nach diesem Denken wird das Weibliche wieder in das Männliche zurückgenommen, weil dem Geschlecht als solchen kein letzter Sinn zugebilligt wird. Parallel dazu kehrt die äußere Schöpfung in den paradiesischen Zustand zurück, und es gibt keine Trennung mehr von Erde und Himmel. Die nächste Reduktionsstufe ist die Rückkehr des Leibes in die Seele, also der bereits sublimierten Körperlichkeit in die reine Geistigkeit. Die Rückkehr der gesamten Kreatur in Gott im Sinne der unio mystica bedeutet die Aufhebung aller Spaltungen. Dies besagt aber nicht einen Verlust jeglicher Individualität, denn Scotus Eriugena setzte seinem Neuplatonismus christliche Schranken, wohl aber eine Aufhebung des Schmerzlichen an der Individuation. Die Vergöttlichung alles Geschaffenen, ohne daß es zur Identität mit Gott kommt, ist nach diesem von griechischen Kirchenvätern übernommenen Denken des Scotus Eriugena der letzte Sinn der Schöpfung. Materie und Geschlechtlichkeit als das Vorläufige werden transzendiert.
Aus der Geschichte der mittelalterlichen Mystik ist bekannt, welche Faszination solche Gedanken für Männer und Frauen hatten.[2] Dagegen stellen die Häresien verschiedenartige Mischungen von neuplatonisch-gnostisch-manichäischen Gedankengängen dar und fallen im Gegensatz zum monistischen System des Scotus Eriugena in dualistische Weltanschauungen auseinander, wonach die Frau noch viel einseitiger auf Seiten der dunklen Materie steht, so daß sie im Tod in einen Mann verwandelt werden muß, um erlöst werden zu können.[3]
Aber die großen Theologen der Hochscholastik sprachen ein klares Nein nicht nur zu gnostisch-manichäischen Häresien, sondern auch zu dem aus neuplatonisch-mystischen Strömungen herrührenden Gedanken, daß die Frau in der eschatologischen Vollendung nicht mehr Frau sein wird. Thomas von Aquin ist nicht der einzige, der es für notwendig hält, darauf hinzuweisen, daß die Frauen nicht etwa, weil der Endstand keine Unvollkommenheit mehr kennt, als Männer auferstehen würden. Beide menschlichen Geschlechter sind für ihn etwas EndgÜltiges. Kritik an philosophischen Auffassungen wird also geübt, wo dies aus dem christlichen Verständnis von Schöpfung für notwendig gehalten wird.[4]
II
Die Exegese der alttestamentlichen Texte von Schöpfung und Sündenfall hat dagegen auch große Theologen des 12./13. Jahrhunderts dazu verführt, ihr patriarchalisches Selbstbewußtsein und ihre androzentrische Weltanschauung unmittelbar auszusprechen, ohne die Barrieren ihrer Vorurteile zu durchbrechen. Was im 12. Jahrhundert in Genesiskommentaren und Sentenzenbüchern und im 13. Jahrhundert in Sentenzenkommentaren und Summen zu lesen steht, veranlaßt auch Philosophiehistoriker, offen von Antifeminismus oder Misogynie zu sprechen.[5] Bei der Lehre von Schöpfung und Sündenfall wird mit dem Kirchenvater Ambrosius davor gewarnt, die Erschaffung Evas im Paradies als Vorteil gegenüber dem Mann zu mißdeuten, denn der außerhalb des Paradieses Erschaffene erweise sich als überlegen, da er nicht direkt von der Schlange verführt worden sei, sondern sich von seiner Gefährtin habe verführen lassen. Dies wird im 12. Jahrhundert als eindeutig stärkere Belastung der Frau mit dem Sündenfall verstanden, in dem Sinne, daß sie die Sünde der Idolatrie begeht, während der Mann aus Liebe zu seiner Frau sündigt - eine Interpretation übrigens, die sich in vollendeter Form in Miltons Paradise Lost findet. Dies ist die Tendenz bei der Deutung des Literalsinnes.
Bei der allegorischen Interpretation der Schöpfungs- und Sündenfall erzählung vermittelt Ambrosius an das Mittelalter den Vergleich des jüdisch-platonischen Theologen Philon von Alexandrien, der den Mann mit dem nous, dem Intellekt also, und die Frau mit der Sinnlichkeit oder Wahrnehmungsfähigkeit, der aisthesis, identifiziert (im Lateinischen ratio und sensualitas). Diese allegorische Interpretation will besagen: Sünde kommt zustande, wenn die Frau im Menschen, die Sinnlichkeit, den Mann im Menschen, den Intellekt, zu verführen fähig ist. Um die Mitte des 12. Jahrhunderts wurde der von Philon herrührende Vergleich auf drei Glieder ausgedehnt. Der Mann repräsentiert die augustinische ratio superior, die Frau die ratio inferior und die Schlange die Sinnlichkeit im Menschen. Die unter dem Namen des Alexander von Haies überlieferte Summa z. B. schreibt: »Serpens est sensualitas, inferior pars rationis mulier, superior vir.«[6] Die Versuchung sucht, von der Sinnlichkeit ausgehend, ihren Weg zur Frau im Menschen, welche durch den "Mann" unterworfen werden muß, um Sünde zu vermeiden. Die Scholastiker betonen zwar immer wieder, daß dieser Vergleich für alle Individuen gelten soll, ob männlich oder weiblich, aber dennoch kann man vermuten, daß dieses allegorisch-psychologische lnterpretationsmodell, das einerseits ein negatives Frauenbild voraussetzt, andererseits wieder auf die negative Einschätzung der konkreten Frau zurückgewirkt hat. Vielleicht liegt gerade in diesem Modell der tiefste Grund für die streng durchgehaltene Subordinationsthese. Der status subordinationis oder subiectionis der Frau, bei Thomas und anderen Scholastikern der Grund für den Ausschluß vom Amt, insbesondere vom Lehramt, gilt allgemein. Es gibt für Frauen nur die Möglichkeit charismatischen Lehrens außerhalb des Amtes, dem zwar keine geringe Wirksamkeit, aber ein rein privater Charakter zugesprochen wird.
Die juristisch belangvolle Lehre vom status subiectionis der Frau hat auch ihre Gottbildlichkeit neben der des Mannes in bestimmter Hinsicht verblassen lassen. Zwar sind nach mittelalterlicher Lehre Mann und Frau einander gleich in der trinitarischen Struktur der Seelenkräfte memoria, intelligentia und voluntas, aber in einem anderen Element der Gottbildlichkeit, der Analogie des Ursprungs, ist nur der Mann und nicht die Frau Gott ähnlich.
Nicht das Zweiprinzip der Inter-Aktion des menschlichen Paares, sondern das Ein-Prinzip des schöpferischen Mannes, der mit seiner Kreativität den Schöpfergott abbildet, beherrscht hier das Denken, eine starke Legitimierung auch für hierarchische Spitzen im Sozialleben von Staat und Kirche. Das erste Kapitel des Buches Genesis hätte ohne weiteres den Ausgangspunkt vom Zweiprinzip des menschlichen Paares ermöglicht, aber die zeitgenössische patriarchalische Bibelinterpretation ließ solche Gedanken nicht aufkommen.[7] Die Festlegung auf die Analogie des Ursprungs zwischen Gott und dem Mann konnte sogar dazu führen, daß Thomas von Aquin den eindeutigen Satz schrieb, der Mann sei principium et finis der Frau, so wie Gott principium et finis der gesamten Kreatur.
Damit hängt zusammen, daß der Daseinssinn der Frau auf das Kindergebären beschränkt wird, es sei denn, sie ziehe sich durch den Lebensweg der Jungfräulichkeit so weit wie möglich aus ihrer Geschlechtlichkeit zurück und werde durch die Kultivierung des Geistig-Spirituellen dem Manne ähnlich. Denn die jungfräuliche Frau ist in dieser Sicht eine "männliche" Person, deren geistliches Lebenswerk die Bezeichnung opera virilia erhält. Vielleicht ist dies eine Spur jener abgelehnten neuplatonisch-gnostisch-manichäischen Lehre, nach der das Weibliche zu seiner Erlösung ins Männliche zurückverwandelt werden muß.
III.
Infolge der Auswirkung der Aristoteles- Rezeption auf die theologisch- philosophische Anthropologie des Mittelalters erscheinen gegen Ende des 12. und zunehmend im 13. Jahrhundert die aristotelischen Begriffe aktiv und passiv, Form und Materie in Anwendung auf das Verhältnis von Mann und Frau in ihrer Funktion bei der Zeugung. Der Mann gilt bekanntlich als das aktive, formgebende, die Frau als das passive, rein materielle Prinzip. Dieses Denken, das auf einer überholten biologischen Voraussetzung beruht, ist die Konklusion aus der falschen Prämisse, die Frau steuere nur in rein passiver Weise das Gebärmutterblut bei, in dem der männliche Same das künftige Kind bilde. Diese falsche Prämisse konnte jedoch zu jener Zeit nicht korrigiert werden, und deshalb ist es zwar fatal, aber nicht Schuld der scholastischen Philosophen und Theologen, daß die Vorstellung von der Aktivität des Mannes und der Passivität der Frau jahrhundertelang weiterwirkte und auch hinüberwirkte in die Psychologie, die ja erst vor einigen Jahrzehnten die Redeweise von der Passivität durch die von der Rezeptivität der Frau ersetzt hat.
Die künftige Frauenforschung wird danach fragen müssen, ob das in Früh- und Hochscholastik anzutreffende Menschenbild von den zeitgenössischen Frauen akzeptiert und bestätigt wird oder nicht. Wir stellen diese Frage an die einflußreiche Benediktinerinnenäbtissin des 12. Jahrhunderts, Hildegard von Bingen. Auf den ersten Blick könnte es so scheinen, als sei sie das, was man in heutiger Sprache eine man-identified woman nennt. Als zum Geburtsadel gehörend, hält sie an der feudalen Ständeordnung fest und leitet das Volk zum Gehorsam an. Als Frau in die literarische Welt eindringend, bezeichnet sie sich bei jeder Gelegenheit als ungebildete mulier paupercula, die nichts von dem, was sie schreibt, aus sich, sondern alles von Gott empfangen habe. Sie spricht von der Schwäche der Frau und der Stärke des Mannes, vergleicht das Verhalten von Mann und Frau mit dem von Sonne und Mond, hält Ehefrauen zum Gehorsam gegenüber ihren Männern an, spricht Frauen die Möglichkeit des Priesteramtes ab und bezeichnet ihre scharf kritisierte, als Epoche des Abfalls gekennzeichnete eigene Zeit als tempus muliebris debilitatis. Dies alles klingt nach kritikloser Übernahme scholastischen Denkens über die Frau. Aber das ist ein oberflächliches Urteil.
Bei Hildegard ist es nicht anders als bei späteren Autorinnen der Frauenmystik, etwa einer Mechthild von Magdeburg: Da es für Frauen nicht möglich war, als Autorität in der philosophisch-theologischen Gelehrsamkeit aufzutreten, suchten sie nach anderen Wegen, ihre Meinung zu den in ihrer Zeit heiß diskutierten Fragen beizusteuern, ja sogar politischen Einfluß zu nehmen und Zeitkritik zu üben. Sie fanden dazu Gelegenheit bei der Beschreibung ihrer Visionen und vor allem bei deren Ausdeutung. Die Mystik der Frauen ist insofern nicht weltabgewandt, als sie didaktische, moral- und geschichtsphilosophische Passagen einschließt, die man in ähnlicher Weise in den Werken ihrer männlichen Zeitgenossen findet, ohne daß diese sich der Form von Visionen und deren Auslegung bedienen müssen. Denn allein der als Offenbarung erlebte, visionär-mystische Bereich ist den Frauen zugestanden, aus ihm legitimieren sie ihr prophetisches Sprechen. Charisma und nicht Amt heißt für sie die soziale Wirkmöglichkeit, die ihnen das Kirchenrecht offen läßt. Während Frauen es nötig haben zu betonen, daß ihre Werke eigentlich von Gott geschrieben und sie selbst nur die unwürdigen Werkzeuge seien, können die Männer im eigenen Namen ihre Anschauungen über das Wirken Gottes in der Menschheitsgeschichte darstellen. Wenn Hildegard den Bescheidenheitstopos mulier paupercula, femina indocta oder simplex homo verwendet, bedient sie sich geradezu des Frauenbildes ihres patriarchalischen Zeitalters, aber nur, um es umzupolen im Sinne der biblischen Lehre, daß Gott eben nicht die Starken und in der Welt Geachteten beruft, sondern die Schwachen erwählt, um durch sie zu den Menschen zu sprechen.
Die in der benediktinischen Kultur lebende Hildegard von Bingen, die den Vulgatatext der Bibel genau kennt und in den lateinischen Kirchenvätern bewandert ist, die auch lateinisch zu predigen verstand, scheint ihre literarische Bildung bewußt herabgesetzt zu haben, weil sie als ungebildete Prophetin gelten wollte. Das hindert sie aber nicht daran, ihrem Gottesbild auch weibliche Züge zu geben und vor allem ein polares Menschenbild auszuarbeiten, in welchem der eigenständige Wert des Frauseins dem des Mannseins entgegengesetzt ist, und dies sowohl auf der symbolischen wie auf der Realitätsebene. Meistens verfährt sie so, daß sie die zu ihrer Zeit der Frau zugeschriebenen negativen Eigenschaften zunächst repetiert, aber dann entweder nachträglich positiv interpretiert oder durch bei männlichen Theologen ungenannte Eigenschaften der Frau kompensiert. So scheut sie sich z. B. nicht, im ersten Werk ihrer Trilogie von Visionsbeschreibungen und -deutungen, dem Liber Scivias, zum biblischen Text eine Hinzufügung zu machen. Daß die Frau wegen des Mannes geschaffen sei, liest sie bei dem die zeitgenössische jüdische Auffassung widerspiegelnden Paulus 1 Cor 11,9 (im Gegensatz übrigens zu Gal 3,28), und sie fügt kühn hinzu: »et vir propter mulierem factus est«.[10] Nicht zu übersehen sind in Scivias die großen weiblichen Symbole der Synagoge, die in ihrem Herzen Abraham, in ihrer Brust Moses und in ihrem Schoß die Propheten des Alten Bundes trägt, und der Ecclesia, an deren Gestalt sich die Epochen der christlichen Geschichte bis zum Eschaton spiegeln. Das Weibliche ist als das Umfassende des Männlichen dargestellt. (Jer 3,22) Auch in dem - mythologiegeschichtlich gesehen - weiblichen Symbol einer heiligen Stadt schaut Hildegard die einzelnen Phasen des Geschichtsverlaufs. In ihrer Weltallvision in Scivias bedient sie sich des in ihrer Zeit beliebten mythologischen Motivs vom Weltenei, das über den Mithraskult zurückreicht in alte asiatische Traditionen, die in eine matriarchalische Religiosität gehören, die den heutigen Hochreligionen vorausging.[11]
Obwohl Hildgard dies in ihrer Zeit auf keinen Fall historisch zurückverfolgen konnte, ist es doch bedeutsam, daß weibliche Motive von ihr mit besonderer Vorliebe verarbeitet werden. In ihrer naturkundlichen Schrift Causae et Curae setzt Hildegard nicht weniger ihre Überzeugung von Gottes guter Schöpfung voraus als in ihren Visionsschriften. Obwohl die augustinische Lehre von der Übertragung der Erbsünde durch die Konkupiszenz (Begierde) im menschlichen Zeugungsakt nicht spurlos an ihr vorbeigegangen ist, bemüht sie sich doch, im radikalen Gegensatz zu theologischen Ehetraktaten des Mittelalters, für die sexuellen Organe und ihre Funktionen poetische Vergleiche aus dem Bereich von Natur und Kultur zu finden und die Ehe auf der Liebe beider Partner zu fundieren, was außer ihr im 12. Jahrhundert wohl nur der ihr geistesverwandte Hugo von St. Viktor tut. Man hat Hildegard einen gewissen Determinismus zugeschrieben, weil sie annimmt, daß Charakter und Begabungen der Kinder vom elterlichen Zeugungsakt abhängen. Aber eher zeigt sich darin der Versuch, die Kultur von Ehe und Geschlechtlichkeit zu ihrer Zeit zu heben und elterliche Verantwortung zu wecken.
In ihrer Tugendlehre, dem ebenfalls im Visionsstil geschriebenen Liber vitae meritorum, wird Hildegards Kompensationskraft und die Mehrdeutigkeit der den beiden Geschlechtern zugeschriebenen Eigenschaften besonders greifbar. Wenn sie die Frau gegenüber dem Mann als schwach bezeichnet hat, fügt sie gern hinzu, daß die Frau aber auch zart, sensibel und agil sei, sie wertet also, außer wenn sie beabsichtigt, Kritik zu üben, die Negativität um in Andersartigkeit. Als Variante zur Stärke des Mannes erscheint seine Härte, die jedoch eher negativ als positiv gedeutet wird. Hildegard vergleicht aber auch das Alte Testament als das Unvollkommenere mit dem Harten und das Neue Testament als das Vollkommenere mit dem Weichen. Deutet sie damit an, daß sie der Frau in bestimmter Hinsicht größere Vollkommenheit zutraut als dem Mann? Offen wagt sie dies wohl kaum zu sagen. Jedoch wertet sie die gewohnten Klischees an Geschlechtereigenschaften um, setzt jedes der beiden Geschlechter sowohl in positiver wie in negativer Symbolik ein und beschreibt das Frausein nicht etwa als Mangel, sondern mit eigenwertigen, positiven Eigenschaften.
In ihrem letzten Werk, De operatione Dei, das die Trilogie ihrer Visionsschriften vollendet, nimmt die Beschreibung des jungfräulichen Frauseins einen großen Raum ein. Entgegen den Auffassungen männlicher Scholastiker ist in Hildgards Erfahrung jedoch das Werk der Jungfrau alles andere als ein männliches Werk, es ist die höchste Steigerung des Frauseins. Aus einem der Selbstverteidigung dienenden Brief geht deutlich hervor, wie ihre klösterliche Gemeinschaft von Frauen sich für den Gottesdienst schmückt.[12] Wenn man weiß, daß Hildegard ihre zahlreichen Hymnen und Sequenzen für den Hausgebrauch, also für die liturgischen Feiern in ihrer Klosterkirche, verfaßt hat, kann man sich vorstellen, daß diese zugleich Feiern des Frauseins waren.
Das Buch De operatione Dei enthält aber auch die Lehre von den makro-mikrokosmischen Entsprechungen, weshalb Hildgard in die naturphilosophische Tradition des Abendlandes gehört. Sie schaut den Menschen als Mikrokosmos, der mit ausgebreiteten Armen im Makrokosmos steht, und deckt die Entsprechungen zwischen menschlichem Körper und kosmischen Sphären auf, woraus sie ethische Konklusionen zieht. Weder in ihrer Beschreibung, noch in den Illustrationen der Handschrift ist dieser Kosmosmensch als männlich gekennzeichnet, obwohl Hildegard alles andere als prüde ist. Da die Tradition des Kosmosmenschen sich auch in vorbuddhistisch-asiatischen Überlieferungen findet, kann mit der Möglichkeit eines ursprünglich androgynen, wenn nicht gar matriarchalisch-weiblichen Kosmosmenschen gerechnet werden. Jedoch ist diese Frage einstweilen an die Mythenforschung weiterzugeben. Natürlich konnte Hildegard zu ihrer Zeit solche bis ins Prähistorische zurückreichenden Zusammenhänge nicht durchschauen, es ist aber doch bedeutsam, wie sehr diese Motive sie ansprechen.
Ihr letztes Werk wie auch andere, kleinere Schriften zeigen den Zusammenhang ihrer Geschichtsphilosophie mit ihrem Menschenbild. Da sie ein zyklisches Geschichtsbewußtsein hat, rechnet sie damit, daß sowohl negative wie positive heilsgeschichtliche Zustände wiederkehren können. Mit den erst später über den arabischen Aristotelismus in die europäische Philosophie gelangten Auffassungen von der Ewigkeit der Welt etc. hat ihre Zyklik jedoch nichts zu tun. Heilsgeschichte ist aber für sie kein geradliniger Fortschritt, sondern eine Folge von Abfall und Reform, die innerhalb der Geschichte immer von neuem notwendig wird. Weil sich Kirche und Gesellschaft nach ihrer Meinung in einem üblen Zustand befinden, bedient sie sich in ihrer Zeitkritik vielfach der geschichtssymbolisch-typologischen Vorstellung, die Zeit der Evasschuld sei zurückgekehrt. Besonders der Kauf und Verkauf von kirchlichen Ämtern wird scharf verurteilt, wenn Hildegard vom verhängnisvollen Zustand des tempus muliebris debilitatis spricht. Dies bedeutet alles andere als eine Verurteilung ihres eigenen Geschlechtes. Mit ihrer geschichtssymbolischen Ausdrucksweise will sie vielmehr verdeutlichen, daß die verheerende Wirkung der ersten Sünde auf Natur und Geschichte sich durch die Übel der Gegenwart wiederholen könnte, wenn nicht rechtzeitig durch menschliche Umkehr Einhalt geboten wird.
... et tunc muliebre tempus fere primo casui simile venit, ita ut omnis iustitia secundum infirmitatem mulieris debilitata est.[13]
Aber auch in positiver Bedeutung tritt die Frau in Hildegards Geschichtsphilosophie auf. Hildegard ist überzeugt, daß die jungfräuliche Frau dazu berufen ist, durch ihr Werk wie Maria an der Herbeiführung eines neuen heilsgeschichtlichen Zustandes mitzuarbeiten. Die in naher Zukunft erwartete Zeit des Friedens und der Gerechtigkeit ist daher für sie Zeit der Jungfrau, als Wiederkehr der Geburt Christi eine neue aetas aurea im voreschatologischen Zustand:
In diebus itaque supradictis suavissimae nubes cum suavissimo aere terram tangent, ... quia homines ad omnem iustitiam tunc praeparabunt ... diem illum inspicientes quem nobis stirps aurorae videlicet stellae maris Mariae ostend it.[4]
In dieser Friedenszeit erwartet Hildegard die Erfüllung der Prophetie des Joel (2,28), wonach Männer und Frauen weissagen werden, ein Ausdruck geistlicher Ebenbürtigkeit.
Es ist also nicht so, wie manche Forscher meinen, daß Hildegard wegen ihrer Aktivität männlich geprägt sei und sich selbst, unter Absetzung von ihrem eigenen Geschlecht, so empfunden habe. Sie nutzt vielmehr jede Möglichkeit aus, die ihre Zeit ihr zugestand, um ihre warnende und mahnende Stimme ertönen zu lassen, und weiß sogar daraus Kapital zu schlagen, daß sie außerhalb der Ämterstruktur steht: Bis in das höchste kirchliche Amt hinein erlaubt sie sich Kritik. So schreibt sie an Papst Anastasius IV: »Warum schneidest du die Wurzeln des Bösen nicht ab, die die guten, nützlichen, die wohlschmeckenden, süßduftenden Kräuter ersticken? Du, o Rom, liegst wie in den letzten Zügen. Du wirst so erschüttert werden, daß die Kraft deiner Füße, auf denen du bis jetzt gestanden, dahin schwindet.«[15]
Alles in allem: Die Frau ist keine Kümmerform des Menschseins für Hildegard. Sie bereitet im Gegenteil jene historische Stufe des Menschenbildes vor, die erst viel später zur Ausprägung kam. »Gott schuf den Menschen, und zwar den Mann als ein Wesen von größerer Kraft, die Frau aber von weicherer Stärke. Er ordnete beider Gestalt in dem rechten Maß an Länge und Breite in all ihren Gliedern, wie er auch Länge, Tiefe und Breite der übrigen Geschöpfe im richtigen Verhältnis festgesetzt hat, auf daß keines von ihnen das andere ungebührlich überschreite.«[6] Sogar die Dynamik des menschlichen Paares deutet Hildegard an und läßt damit die Ursprungsanalogie Gott - Mann weit hinter sich: »Aus der Wurzel des Baumes nähren sich Blüten und Früchte, entstammen sie doch der Einheit. Und so werden auch durch den Mann und die Frau gar viele hervorgebracht, die dennoch von einem einzigen Schöpfer abstammen.«[17]
An Hildegard von Bingen sehen wir deutlich, daß das zeitgenössische Frauenbild in seinen partriarchalischen Zügen von weiblicher Seite zwar aufgegriffen wird, aber nicht unverwandelt stehen bleibt. Es ist der Frau nicht zumutbar, sich selbst als Kümmerform des Menschlichen zu empfinden. Der Stand der Jungfräulichkeit erlaubt es ihr auch im Mittelalter, sich als exempt vom status subiectionis zu fühlen und sich zugleich ganz als Frau zu erfahren. Hildegard von Bingen bereitet das später in der Romantik vorherrschende Menschenbild der Polarität vor,[8] nach dem Mann und Frau sich verhalten wie die zwei Brennpunkte einer Ellipse, und eilt damit ihrer Zeit voraus, obwohl sie ganz und gar ein mittelalterlicher Mensch bleibt.
Auch heute, da wir vom Menschenbild der Polarität zu dem der Konvergenz übergehen, indem wir mehr und mehr das gemeinsam Menschliche von Mann und Frau entdecken und zu realisieren versuchen, sprechen ihre Texte uns unmittelbar an und stehen uns sicher näher als so manches aus der scholastischen Anthropologie.[19]
Diskussion zu: »Hildegard von Bingen«, von Elisabeth Gössmann
Diskussionsleitung: Simone Zurbuchen
A.: Ich wollt nur sagen, daß mich die Gestalt der Hildegard von Bingen eigenartigerweise schon seit Jahren fasziniert hat. Ich hab mich immer gefragt, warum diese Frau nicht als Hexe verbrannt worden ist.
E. Gössmann: Es war ein bißchen zu früh dazu.
A.: Oder ich mein, warum man sie nicht viel rigider behandelt hat. Ich hab mit Heide Göttner mal darüber gesprochen. Sie hat gemeint, daß Hildegard dermaßen verschlüsselt geschrieben hat, daß sie gar nicht in allem verstanden wurde. Mir erscheint das ein bißchen zu einfach zu sein. Ich hab mich also gefragt, welchen Mechanismen sie sich trotzdem noch hat unterwerfen müssen, um in der Kirche sprechen zu können. Denn es gibt bei ihr ganz eindeutig Sätze, wo sie sich als Materialistin ausweist, indem sie sagt: der Mensch ist ganz Körper. Und in ihrer Heilkunde ist sie zum Teil ja noch radikaler. Dann das andere: es ist ja eine Tradition der Frauen, sich immer an jemanden zu wenden. Das ist etwas, das bis in die Gegenwart reicht. Sie wendet sich an den Papst, Olympe de Gouges wendet sich an die Königin, und Bettina von Arnim an den König. Also die Frauen erkennen die Mißstände, aber sie können sie selber nicht ändern. Hier zeigt sich also auch ein gewisser Ausdruck der Machtlosigkeit der Frau.
B.: Wieweit haben Sie den Zusammenhang von Kloster-Frauengemeinschaften und andern Frauengemeinschaften im Mittelalter erforscht? Mich interessiert die Unterscheidung von Ehefrauen und Jungfrauen. Die Hildegard beschäftigt sich ja auch mit Menstruation etc. Sie sagt z. B., daß sich die Ehefrauen einesteils ihrer Ganzheit begeben, um sozusagen mit dem Mann ganz zu werden, während die Jungfrauen in sich ganz sind. Und das erinnert mich wieder an die Göttin. Ich sehe auch die Kraft und Stärke dieser Frauengemeinschaften damals, die eben nicht nur jenseits des Sinnlichen lag. Also ganz bestimmt waren da ganz viele lesbische Frauen dabei. Zu erfahren, wie diese gelebt haben, kann uns Impulse geben, wie wir als Frauen voneinander lernen können, wenn wir uns aufeinander einlassen.
C.: Die Beginenbewegung zeigt dieselben Strukturen und Verhaltensweisen von Frauen. Es gibt fast nur männliche Autoren, die darüber schreiben. Ich kann nicht unterscheiden, was die wirklich gelebt haben. Hast du dich damit auch schon beschäftigt?
E. Gössmann: Bin gerade dabei. Bin bei allem gerade dabei.
D.: Noch nie habe ich einen so pfiffigen Vortrag über das dunkle Mittelalter gehört. Und dennoch möchte ich vor einer ldealisierung des Heimeligen warnen, konkret davor warnen in Hildegard von Bingen gar eine Lehrmeisterin für die heutige Zeit zu sehen. Sie hat zwar das Frauenmögliche in ihrer Zeit und das in vorsichtig zu gestaltender Auseinandersetzung mit den finsteren Mittelalter-Herren zu formulieren verstanden, aber es war auch zeitgemäß. Es sollte historisch gewürdigt werden. Endlich. Das damals propagierte Idealbild einer Frau, die mit weicherer Stärke sich die Gunst oder Güte der harten entscheidenden Männer wie eine Schlange zu erzüngeln weiß, wurde mir noch in meiner Klosterschulerziehung und nicht nur dort und damals als besonders gescheite weibliche Diplomatie vermittelt. Genau an dieser Stelle haben die hier anwesenden Männer sehr zustimmend und wohlig schmunzelnd dieser Art von Feminismus zugenickt. Nein, solch ein demütiger Feminismus bereitet ihnen kein Unbehagen, ganz im Gegenteil, so offeriert, könnten sie Geschmack daran finden, so lecker einfach konsumierbar, ohne Probleme, nicht wahr? Wir sollten nicht weiterhin so selbstlos sein und appetitanregend für ihre großen Mäuler.
E.: Ich möchte noch eine historische Bemerkung machen: der Gedanke der Gleichberechtigung der Geschlechter ist in der Antike immer wieder vertreten worden von der nichtaristotelischen Philosophie. Leider liest man immer nur die aristotelische Philosophie, im Mittelalter wie heute. Ob von der epikureischen Philosophie, deren Kenntnis nämlich noch vorhanden war, die Theorie auch zur Hildegard von Bingen gedrungen ist, wäre interessant zu wissen. Man hat dort auch die Sexualität der Frau entdeckt, die Sexualorgane der Frau waren selbstverständlich bekannt, einschließlich der Klitoris, und es war auch das Ei bekannt, nur noch mehr mythologisch, nicht im streng naturwissenschaftlichen Sinne. Durch die Ähnlichkeit des Kindes mit der Mutter wird auch umständlich bewiesen, warum beide Geschlechter an der Erzeugung des Kindes beteiligt sind. Diese epikureische Theorie ist eben noch um 1600 an der Pariser Sorbonne verboten, bei Todesstrafe; und das wirkt noch auf die heutige Generation, die nur Aristoteles und nicht Lukrez liest, auf den Prigogine zurückgeht, um seine Naturwissenschaft wieder evolutionär aufzumöbeln. Das alles wirkt sich aus auf die Theorie der Frau, und auf die Theorie der Sexualität.
E. Gössmann: Ich gehe der Reihe nach vor.
Zu dem Terminus: verschlüsselt. Sie haben ein solches Beispiel von Verschlüsselung gehört. Was Hildegard an den Papst schreibt, ist mit Bildern von Blumen und Kräutern verschlüsselt. »Warum reißt du nicht die Unkräuter aus, denn die ersticken ja die wohlriechenden Pflanzen.« Die Menschen der Zeit haben sehr wohl verstanden, was gemeint war. Daß die Verschlüsselung aber trotzdem einen gewissen Schutz bedeutete, würde ich vielleicht Heide Göttner zugestehen.
Dann: Frauengemeinschaften im Kloster, andere Frauengemeinschaften, Ehefrauen, Jungfrauen und Beginen. Meine ganze Forschung ist Stückwerk. Ich mußte immer um des Gelderwerbs willen andere Sachen tun, bin jetzt aber intensiv eingestiegen. Ich habe einen Artikel für ein kirchengeschichtliches Lexikon über Elisabeth von Thüringen geschrieben, und da hab ich gemerkt, wie die Beginenbewegung auf die hochadeligen Ehefrauen einwirkt, um sie aus diesem Minnerausch herauszuholen. Mechthild von Magdeburg, selbst eine Begine, nennt etwa Elisabeth von Thüringen "einen snellen boten zu den frouwen die in den burgen sizen". Also: Frauen aller Stände, (Elisabeth von Thüringen war ja Hochadel), finden sich zusammen. Frauen gehobenen Standes verlassen Burgen und Stadtpaläste, leben mit einfachen Frauen von ihrer Hände Arbeit und für soziale Ziele. Man nimmt also heute an, daß Elisabeth von Thüringen sowohl vom Beginen als auch vom franziskanischen Geist erreicht worden ist, und daß sie deshalb die strenge Trennung von ihren Standesgenossen auf sich nahm. Sie hat auch ihre Kinder fortgegeben, sie ist zu den sozial Schwachen gegangen, sie hat selbst Wolle verarbeitet. Und das ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie Frauen aus dem Hochadel dazu getrieben werden, sich von ihrem Stand zu trennen und soziale Dinge zu tun. Da haben wir bereits die Verbindung von Frauengemeinschaften und Ehefrauen. Es gibt im 13. Jh. auch Frauenhäuser, und zwar haben die Frauenhäuser, die von Klöstern errichtet wurden, die Kinder nicht mit aufgenommen. Man stelle sich das einmal vor, so eine Radikalität.
Damit bin ich bei der Warnung vor Idealisierung. Mir ist diese Gefahr sehr wohl bewußt. Aber weil uns bisher die Elisabeth von Thüringen oder wer auch immer, nur als liebende brave Ehefrau oder treue Witwe - das war sie auch - (sie hat das Glück einer zarten Teenager-Ehe gehabt) vorgestellt wurde, müssen wir auch einmal das andere Bild des Mittelalters danebenstellen. Ich hoffe, daß ich nicht zu sehr idealisiere. Im Grunde genommen ist es eine rauhere Wirklichkeit, die sich da auftut.
Dann zur letzten Äußerung.
Zur Zeit, als Aristoteles rezipiert wurde, hätte man geradesogut eine andere antike Biologie rezipieren können, die von männlichem und weiblichem Samen sprach. Die Vorstellung vom Weltenei, also Kosmos, die man häufig im Mittelalter findet, z. B. in der Schule von Chartres, war mythologisch-naturphilosophisch, aber nicht naturwissenschaftlich. Die Chartrenser haben sie. Abaelard hatte diese Vorstellung und Hildegard hatte sie auch. Aber Hildegard hat sie eben am weitesten ausgebaut. Die Frage nach lesbischen Frauen im Mittelalter blieb noch unbeantwortet. Quellen und Forschungsarbeiten habe ich dazu nicht gefunden bisher. Historisch gesehen, hätte Lesbianismus im engeren Sinne wohl zu schweren Gewissensproblemen bei mittelalterlichen Frauen geführt. Lesbianismus im weiteren Sinne als: "Leben und Arbeiten mit Frauen und für Frauen" wurde jedoch bewußt gepflegt. Hildegards Frauenbild ist fortschrittliche Absetzung vom männlichen Frauenbild ihrer Zeit, es (in Klosterschulen) zu konservieren, wäre nicht in ihrem Sinn, wohl aber der beständige Prozess fortschrittlicher und kritischer Absetzung vom jeweils etablierten Bild der Frau.
Und damit bin ich am Ende, und ich glaube, ich darf die freundliche Reaktion als einen Abschied auffassen, von diesem Kontinent. Ich danke.