Einige Probleme und Ziele einer feministischen Sozialphilosophie

I.

Die etablierte Philosophie, die wir bis jetzt kennen und deren Ideen in allen Bereichen »des« kulturellen Lebens verbreitet sind, ist nur eine Möglichkeit des Philosophierens und folglich nicht die Philosophie überhaupt.
Ihre eigenen Prämissen, zum Beispiel:

  • - daß sie alles philosophisch reflektiert hat, was die menschliche Existenz im allgemeinen betrifft;
  • - daß sie zu allgemeingültigen Resultaten kommt;
  • - daß sie die einzige und absolute Wahrheit produziert;
  • - daß die etablierten Philosophen sich allein durch Ratiorialität leiten lassen;
  • - daß sie allein nach Wahrheit und Weisheit streben;
  • - daß sie ihre Urteile produzieren, unbeeinflußt von politischem Eigeninteresse

werden jetzt durch Frauen, die an feministischen politischen Theorien arbeiten, zur Diskussion gestellt.
Wir können diese Kritik an der etablierten Philosophie erstjetzt beginnen zu entfalten, weil Philosophieren während der vergangenen Periode von zwei- bis dreitausend Jahren das Privileg und Monopol von Männern gewesen ist. Und zur Zeit haben sie dieses Monopol auf Philosophie noch immer fast unangetastet, sicher zu 99%.
Diese von Männern produzierte und tradierte Philosophie und ihre heutigen Vertreter befinden sich in der größten Krise seit ihren Anfängen: Sie finden sich nicht allein deshalb in einer Krise, weil sie seit langem steril, solipsistisch und korrupt sind.
Mit korrupt bezeichne ich große Teile der von Männern produzierten Philosophie, die im Dienste der Eroberung von politischer Macht als Machtmonopol einer Männerklasse steht und Machtmißbrauch rechtfertigt - die Rechtfertigung der Sklaverei, der politischen Macht der Kirchen, des Feudalismus, des Kapitalismus, des Kolonialismus, des Antisemitismus und immer des Patriarchalismus und Antifeminismus. Die etablierte Philosophie befindet sich in einer Krise nicht allein wegen ihrer politischen Korruptheit, sondern auch weil sie mit einer neuen, ungewohnten Situation konfrontiert wird: männliche, in der Regel patriarchal denkende Philosophen, die sich bis jetzt als die höchste Elite der Denker des Abendlandes betrachten, werden durch die »minderwertigsten« Menschen, Frauen, kritisiert und mit Gegenargumenten konfrontiert. Sie kommen an der Kritik von Seiten der Frauen nicht mehr vorbei. Sie müssen sich verteidigen. Ihre sich selbst zuerkannte Autorität wird von Frauen nicht mehr anerkannt: Sind sie wirklich so weise und wahrheitsliebend, wie sie vorgeben zu sein? Haben sie wirklich solche einmaligen Gedanken über den Zustand der Welt und die menschliche Gesellschaft? Oder verteidigen sie lediglich ihre persönlichen und politischen Interessen als Männer gegenüber Frauen? Haben sie nicht ihre Philosophie und Wissenschaft mißbraucht, um Frauen ihrer Menschenrechte zu berauben?
Waren und sind ihre Denkmethoden wirklich rational, logisch, ihre Ergebnisse wirklich objektiv, frei von lrrationalität und Emotionen, wie Frauenhaß und Frauenverachtung?
Allein die Tatsache, daß patriarchale Philosophen Frauen mit aller Macht so lange von der Philosophie ausgeschlossen haben, ist verdächtig. Wenn in der langen Geschichte der Philosophie eine Frau trotz der schwierigen Lebensumstände doch philosophierte und schrieb, haben die männlichen Philosophen sie nicht in ihre Kreise aufgenommen, sondern verleumdet, verfolgt und sogar ermordet.
Die Philosophen des alten Griechenland haben nicht allein Sklaven, sondern selbst griechische Frauen, Ehefrauen und Töchter im Haus, in der Oikos-Despotie, ausgebeutet und erniedrigt, mit Sklaven auf eine Stufe gestellt. Aristoteles rechtfertigt das mit der Behauptung, daß es zwei grundverschiedene Klassen von Menschen gibt: »diejenigen, die regieren und diejenigen, die regiert werden, als eine von Natur gegebene Tatsache«. Die erste Klasse sind diejenigen, »die mit ihrem Verstand Pläne machen, und die andere sind die, die mit ihrem Körper diese Pläne ausführen«. Diese Ideologie ist zu finden in seiner sogenannten Wissenschaft vom Verhältnis des Hausherren (oikos- Despot) zu seiner Frau, den Kindern und den Sklaven. (Aristoteles, Politeia). Und weiter: »Das Verhältnis des Männlichen zum Weiblichen ist von Natur so, daß das eine von höherem und das andere von minderem Wert ist, und folglich das erstere regiert und das andere regiert wird.« Es besteht ein so großer Unterschied zwischen diesen beiden Klassen wie zwischen »Mensch und Tier«. »Die anderen« sagt Aristoteles, sind »Sklaven von Natur aus und für sie ist es besser, auf diese Art regiert zu werden«. Er, der weise Denker Aristoteles, gehört selbstverständlich zur höherwertigen Klasse, denkt er. Aber vom Standpunkt einer feministischen Ideologiekritik aus betrachtet, ist er kein weiser Denker, sondern ein Rechtfertiger der Ausbeutung von Frauen und Sklaven, ein arroganter Antifeminist. Die noch heute von der etablierten Wissenschaft als vorbildlich gepriesene griechische »Demokratie«, war in Wirklichkeit keine, denn Demokratie heißt Herrschaft des Volkes: alle Frauen aber waren davon ausgeschlossen. Die »Demokratien« der jüngsten Geschichte in England, Amerika, Frankreich und anderen europäischen Ländern knüpften an das griechische Vorbild an - unter Ausschluß aller Frauen.
Die jüdisch-christliche Religion ist die zweite Quelle des religiösen und politischen Patriarchalismus, die in der Scholastik zusammenfließt mit der aristotelischen Denktradition.
Opfer des frühen Christentums war z. B. die römische Philosophin Hypatia (370-415), deren Gelehrsamkeit und Popularität so groß war, daß sie zur Leitung der Universität von Alexandria berufen wurde. Ihre Kenntnisse in Mathematik, Astronomie und Naturwissenschaften, vor allem aber ihr Wissen von den matriarchalen Kulten, ihre Lehrtätigkeit und ihr politischer Einfluß waren dem Bischof von Alexandria Grund genug, sie als Frau und Gegnerin zu vernichten. Die christliche Religion war bereits zur Staatsreligion erklärt, hatte aber ihre Macht noch nicht überall gefestigt. Der Bischof organisierte ihre heimliche Ermordung: eine Gruppe fanatischer Mönche lauerte ihr auf, riß sie in Stücke und verbrannte sie. Als die Bibliothek vernichtet wurde, wurden auch ihre Schriften verbrannt.
Die Vertreter der scholastischen Philosophie, die katholische und später auch die protestantische Kirche, haben Frauen strikter noch aus dem geistigen und politischen Leben ausgeschlossen und oft darüber philosophiert wenn man das so nennen will - ob die Frau überhaupt ein Mensch ist oder ein Tier, ob sie überhaupt eine Seele hat. Diese lange Periode der größten und höchst gewalttätigen politischen Macht der Kirche, war die Zeit der "Hexen"-Verfolgung. Auf höchsten Befehl von Papst Innozenz sind schuldlose Frauen in ganz Europa grausam gefoltert und lebend verbrannt worden. Die Folterungen hatten schon damals pornographischen Charakter und werden bis zur Gegenwart nicht als Verbrechen und "Gynocid" betrachtet, sondern als Christenpflicht. Die scholastischen Philosophen und selbst noch Luther haben die Frauenverfolgung mit der irrationalen »Begründung« gerechtfertigt, daß gemäß Gottes Wille allein die Frau verantwortlich ist für die Sünde, auch für die Sünden des Mannes, Verursacherin der Erbsünde überhaupt, Sündenbock für alles. Selbst wenn gläubig ergeben, wird die Frau als minderwertiger Mensch betrachtet, die auf Grund ihres weiblichen Geschlechts niemals im Stande ist, den wahren Glauben in Gott zu haben: sie ist immer der Ketzerei verdächtig, immer verdächtig, mit dem Teufel Unzucht zu pflegen. Folglich ist sie ständig eine Gefahr für den Mann, die christliche Gemeinde und die Kirche, ihre totalitäre geistliche und politische Macht, und muß folglich verfolgt und vernichtet werden. Man studiere den Fall der Johanna von Orléans, die ja eine inbrünstig Gläubige war, aber dennoch verbrannt wurde, nicht nur, weil sie ihr persönliches Verhältnis zu ihren Heiligen und Gott über die Autorität der Kirche stellte, sondern weil sie Hosen trug, zu Pferde durch das Land zog, das Schwert führte, wie ein Mann - also aus der Rolle fiel, die die christliche Ordnung Frauen bei Strafe des Todes aufzwang, sicher aber auch deswegen, weil ihre charismatische Erscheinung das einfache Volk und vor allem die Frauen mitriß. Als Hure und Hexe verketzert, war sie in Wahrheit Jungfrau, eine ungebrochene junge Frau und Gläubige mit politischer Mission, eine androgyne Erscheinung, ein historisches Beispiel weiblichen Heroismus. Ich verweise auf die Studie von Marina Warner, Joan of Arc, The Image of female Heroism.
Die dualistische Denkweise in Begriffen von Geist und Fleisch, Mensch (Mann) und Nicht-Mensch (Frau), gut und übel, gläubig und ungläubig usf., dieser Sorte Philosophie resultiert aus und kulminiert zugleich in der religiösen Ideologie, daß der Mann das Ebenbild Gottes ist und immer auf der Seite des Guten und des Lichts steht, was immer er in Wirklichkeit sündigt und verbricht, wohingegen die Frau nicht das Ebenbild Gottes ist, immer schon auf der Seite der Finsternis und des Teufels steht, per definitionem immer schon schuldig ist, sie mag in Wahrheit so schuldlos und rein von Sünde sein, wie sie will. Urteile, die einem gleichen Moral- und Gesetzeskodex für Mann und Frau folgen, kennen wir auch heute noch nicht: in der nur scheinbar säkularisierten Gesellschaft und Kultur wirkt die irrationale religöse Ideologie von der Schuld der Frau fort: Frauen sind Sündenböcke, wie die Juden.
Die scholastische dualistische Denkmethode ist »für viele Menschen blutiger Ernst«, so die dänische Philosophin Else Barth in ihrem Urteil über Methoden und Ziele der römisch-katholischen Kirche und der deutschen idealistischen Philosophie. Und ihr Urteil kann ich nicht genug unterstreichen. Denn auch die bürgerlich-patriarchalen Philosophen aus der Zeit der sogenannten Aufklärung, von Hugo de Groot bis Rousseau, Kant, Fichte, Hegel und viele andere haben den irrationalen Haß auf die Frau, die »Denktradition« der Entwürdigung und Erniedrigung des weiblichen Menschen übernommen und weiterhin gerechtfertigt mit Gottes Willen und der »Natur« der Frau. Noch immer rechtfertigen sie den Ausschluß der Frauen von geistiger Arbeit, vom Studium, von professioneller Ausübung der Philosophie und philosophischer Diskussion generell. Von ihrem Standpunkt aus betrachtet, sichern sie sich so eine sehr bequeme ideologische und politische Position: solange sie die Opfer ihres Machtmißbrauchs sogar aus der philosophisch-politischen Diskussion fernhalten, können sie auf die Alleinherrschaft und Fortdauer ihrer Gedanken vertrauen, ist doch sogar jedes Gegenargument erstickt und ist man der Mühe enthoben, sich endlich rational zu legitimieren: es genügt, die aristotelischen und scholastischen Dualismen zu reproduzieren. Selbst in der Aufklärung und bis in die jüngste Geschichte hinein haben Frauen noch immer nicht die Chance, sich auch nur verbal gegen die Flut irrationaler Herrschafts-Apologie zu verteidigen.
Trotz alledem und trotz der Tatsache, daß Frauen nicht die Bildungsmöglichkeiten von Männern hatten und unter vergleichsweise sehr miserablen Lebensumständen dachten und schrieben, haben sie dennoch seit der Zeit der französischen Revolution damit begonnen, ihre eigenen sozialen und politisch-philosophischen Gedanken zu entwickeln. Ich werde dafür gleich einige Beispiele geben.
Wir wissen alle, daß Frauen in Europa erst seit sehr kurzer Zeit überhaupt studieren können. Und erst jetzt können wir damit beginnen, feministische Philosophie auf akademischem Niveau zu betreiben, und das noch immer unter sehr schlechten Bedingungen: es gibt kein Geld für Forschung und Lehre, es gibt keine Planstellen für Frauen, es gibt noch nicht einmal Bücher. Im ganzen Land gibt es nicht einen einzigen Lehrstuhl für feministische Philosophie. Aber wieviele Lehrstühle gibt es für patriarchale Philosophie? Wieviele Millionen werden jährlich ausgegeben für die Fortdauer antifeministischer Philosophie und Theologie? Frauen, Philosophinnen haben noch nie die vielen angenehmen Privilegien gehabt, die für jeden männlichen Philosophen selbstverständlich sind: das ganze Leben lang ungestört studieren und philosophieren können, mit allen ökonomischen Sicherheiten, mit der Hilfe von Sekretärinnen und Hilfskräften, mit Unterstützung aller patriarchalen Institutionen und gleichgesinnter Kollegen, der Öffentlichkeit, der Verleger und Redakteure und der Stütze auf eine ausgebeutete Hausfrau, die wie zu Zeiten des Aristoteles die niedere körperliche Arbeit für die Denker tut.
Dies nur, um einleitend die historisch neue Konstellation und die grundsätzlich verschiedenen Ausgangssituationen, nämlich männliche antifeministische etablierte Philosophieversus anti-patriarchale, feministische Philosophie von Frauen, die bis jetzt noch vor den Türen der Universität stehen, anzudeuten.

II.

Die schweren und völlig neuen Aufgaben, die wir Frauen uns stellen, nämlich das Entwickeln einer eigenen politischen Philosophie, führt zu der Frage - an uns selbst, und sie wird uns von anderen oft gestellt: was beinhalten Frauen-Studien in der Philosophie, was soll da studiert werden und mit welchen Zielvorstellungen?
Frauen und Philosophie beinhaltet für mich, Frauen als Subjekt und Objekt in den Mittelpunkt philosophischer Reflexion zu stellen, systematische Forschung und Lehre zu entfalten.
Es beinhaltet auch, daß Frauen als denkende Subjekte über Männer und die männerdominierte Gesellschaft - als Objekt reflektieren. Das ist eine historisch neue Konstellation.
Frauen und Philosophie beinhaltet für mich primär das Entfalten von politischer und sozialer Philosophie mit dem Ziel, die Erkenntnisse in den Dienst der Frauenemanzipation zu stellen. In der Hoffnung, daß wir an jeder Universität einen Lehrstuhl für feministische Philosophie erkämpfen können, schlage ich das folgende wissenschaftliche, noch provisorische Programm vor:

  1. Die Entfaltung einer emanzipatorischen Rechtsphilosophie hinsichtlich der Verhältnisse Frauen- Männer, Frauen- Kinder und Männer- Kinder und zwar a) im häuslichen Leben; b) in der »Gesellschaft« außer Haus mit ihren Institutionen und c) im Verhältnis zum Staat.Rechtsphilosophische Ansätze von Frauen kritisieren z. B. seit langem das allein von Männern gemachte und folglich extrem ungleiche Ehe- und Familienrecht und die katastrophalen Folgen für alle Frauen. Eine radikalegalitäre Rechtsphilosophie von Frauen begründet das Recht auf den eigenen Leib, die Unverletzlichkeit von Leben und Gesundheit, Freiheit und Selbstbestimmung, das Recht auf die eigene Arbeitskraft und die Früchte ihrer Arbeit in allen Rechtsbereichen, was u. a. zu einem ganz neuen Strafrecht, das Frauen, Kindern, Jugendlichen, körperlich Schwächeren und auch rassistisch und antisemitisch diskriminierten Menschen einen viel besseren Schutz gegen alle Arten von Gewalttätigkeit und Ausbeutung durch Männer bieten muß.
    Der patriarchale Staat mit seinem Machtmonopol der Familienväter muß ersetzt werden durch einen feministisch-demokratischen Staat mit dem expliziten Staatszweck, radikal gleiche Rechte für Frauen herzustellen und effektiv zu sichern. Ich betrachte es als eine dringende Aufgabe, eine feministische Demokratietheorie zu erarbeiten, ausgehend von der historischen Tatsache, daß die politische Philosophie das weibliche Volk von der Teilnahme an der »Demokratie« ausgeschlossen und diesen Ausschluß bis heute noch nicht einmal reflektiert hat.
  2. Die Erarbeitung einer nicht-dualistischen, androgynen philosophischen Anthropologie, die jedem Menschen körperliche, intellektuelle und psychische Freiheit einräumt, unabhängig von ihren oder seinen Geschlechtsorganen: z. B. das Wählen von sogenannter Männerarbeit durch Frauen und sogenannter Frauenarbeitdurch Männer, dasaktivewählen eines sexuellen Partners auch durch Frauen, die Möglichkeit der »Mütterlichkeit« für Männer, generell, die Oberwindung der Ideologie von zwei qua Naturgegebenheiten sich dualistisch enlgegenstehenden »Menschenrassen«.
  3.  Die Erarbeitung einer emanzipatorischen Moralphilosophie, deren erster Schritt eine systematische Kritik an der uns aufgezwungenen Beurteilung nach den Maßstäben der Doppelmoral zu sein hätte, primär im Verhältnis Frauen-Männer, aber auch hinsichtlich sozialer Minderheiten, also als Bestandteil von Rassismus und Antisemitismus. Dies beinhaltet systematische Erforschung der Mechanismen dertheologisch begründeten Sittenlehre und der sogenannten säkularen Ethik, gemäß beider, Männer fast alles - und Frauen nichts - tun können ohne moralische Verurteilung der fast ausschließlich von Männern beherrschten moralischen Instanzen. Feministen sollten eine neue, radikal gleiche Ethik für alle Menschen entwickeln.
  4. Das Entfalten einer systematischen Kritik an der patriarchalen etablierten Philosophie von ihren Anfängen bis zur Gegenwart hinsichtlich ihres Gegenstandes, ihrer Methoden, ihrer sozialen und politischen Ziele im Hinblick auf Frauen: ein Arbeitsgebiet das sich erstreckt von der klassischen antiken Philosophie bis zur Gegenwart. Das allein ist ein sehr großes Arbeitsgebiet, das zu einer Neubewertung der patriarchalen Philosophie führen wird. Viele Philosophien können dann wegen ihres antifeministischen Inhalts, wegen oft geradezu demagogischer Hetze gegen Frauen nicht mehr gelehrt und verbreitet werden, so wie z. B. Hitlers »Mein Kampf« nicht unkritisch und affirmativ an den Universitäten verbreitet wird.
  5. Die Rekonstruktion der sozialen und politischen Philosophie, die von Feministinnen sicher in den letzten 200 Jahren - entwickelt worden ist: die Wiederentdeckung und Neuausgabe ihrer Schriften, die wissenschaftliche Auswertung und der Vergleich mit Aussagen der etablierten Philosophie. Die Wissenschaftler an den Universitäten haben bis jetzt allein Autoren ihres Geschlechts wissenschaftlich beachtet und tradiert. Sozialphilosophische Schriften von Frauen wurden und werden nicht der Mühe wert erachtet. Sie waren bis jetzt kein Gegenstand von Forschung und Lehre. Frauen aus der Frauenbewegung haben außerhalb der Universitäten die Arbeit getan, die eigentlich zu den Aufgaben der Universitäten gehören, deren Vertreter doch noch immer prätendieren, unparteiisch und objektiv zu sein. Die Wiederentdeckung der Ideengeschichte von Frauen durch Frauen zum politischen Nutzen von Frauen steht im Mittelpunkt dieses Interesses.
  6. Die Entfaltung einer ökonomischen Theorie der Frauenarbeit im Haus und außer Haus. Auszugehen wäre von einer fundamentalen Kritik an der bürgerlichen Nationalökonomie und an der marxistischen Politökonomie. Die ökonomisch-philosophische Analyse der Hausarbeit ist zu leisten im Zusammenhang mit der unterbewerteten Lohnarbeit und der Doppelarbeit von Frauen.
  7. Die systematische Entwicklung eines adäquaten Begriffsapparates zur Beschreibung der sozialen, ökonomischen und politischen Lage der Frauen in der Geschichte, der Gegenwart und in der Zukunft. Da patriarchale Philosophen und Wissenschaftler sich in der Regel nicht wissenschaftlich seriös mit der Lage des weiblichen Volkes beschäftigt haben, haben sie keine oder keine ideologiefreien Begriffe zur Erfassung der Realität entwickelt. In ihren Lexika und Standardwerken vergessen sie Frauen meistens völlig. Wichtige Schlüsselbegriffe wie Matriarchat, Patriarchat, Frauenemanzipation, Antifeminismus, Feminismus usw. finden wir in der Regel darin überhaupt nicht. Frauen müssen also die adäquate Terminologie erst schaffen oder wieder in den Sprachgebrauch einführen, also im Hinblick auf die Schaffung einer neuen wissenschaftlichen Sprache außergewöhnlich kreativ sein. Vielleicht können wir, vorausgesetzt daß wir die Chance bekommen, feministische Philosophie an den Universitäten zu entwickeln, also professionell zu betreiben, in 10 Jahren mit der Arbeit an einem feministischen politisch-philosophischen Wörterbuch beginnen.
  8. Die Entfaltung einer umfassenden Gesellschaftstheorie in deren Mittelpunkt patriarchale Machtverhältnisse, ihre Ursprünge und Ursachen stehen. Das ist notwendig, weil vorchristliche, christliche und bürgerliche wie marxistische Theorien das Verhältnis Patriarchen (Familienväter) versus Hausfrauen, mit anderen Worten das politische System herrschender Männer - beherrschte Frauen - als Politikum nicht nur völlig vernachlässigen, sondern es überhaupt nicht als solches begreifen. Kritischen Frauen ist seit langem deutlich, daß diese von Männern produzierten angeblich umfassenden Theorien sich mehr oder weniger beschränken auf sozial-ökonomische und politische Verhältnisse unter Männern, und Frauen, wenn überhaupt, lediglich als Objekte ihrer Politik betrachten. Die Klassen-, Schichten-, Rollen- und psychoanalytischen Theorien können daher nicht länger unkritisch übernommen werden: ihr Wahrheitsgehalt steht in Frage. Forschung und Lehre auf diesen Gebieten werden sich, soweit das möglich ist, zugleich auf drei Ebenen bewegen: a. auf der Ebene der aktuellen sozialen und politischen Probleme der Frauen b. auf der historischen Ebene, der Genese der heutigen politischen Mißstände. c. auf der real-utopischen Ebene, derAntizipation politischerVeränderungen, der Suche nach Möglichkeiten der praktischen Durchführung von Nah- und Fernzielen im Sinne der Abschaffung des Patriarchalismus.

III.

Ich habe damit begonnen, einige Probleme aus diesem provisorischen wissenschaftlichen Programm zu bearbeiten: z. B. eine systematische Ideologiekritik an der patriarchalen sozialen Philosophie Fichtes (Grundlage des Naturrechts, 1796) zu entwickeln, wodurch sein extremer Antifeminismus zu Tage tritt. Fichtes Ideologie ist jedoch nur ein Paradigma der patriarchalen Philosophie, die die frauenfeindliche Tradition seit Aristoteles und Thomas von Aquin fortsetzt.
Ich will in diesem Zusammenhang nicht weiter auf meine Forschungsergebnisse eingehen, bezeichnend scheint mir jedoch, daß zahlreiche Verlage sich jahrelang geweigert haben, die Arbeit überhaupt zu publizieren, und daß ich sie schließlich nur auf eigene Kosten herausbringen konnte.
Betrachtet vom Standpunkt patriarchaler Interessen, ist es offenbar so, daß man die Entmystifizierung dieses Philosophen auch heute noch als politisch unerwünscht erachtet und daher die Verbreitung verhindert.

Ein anderes, erfreulicheres Arbeitsgebiet liegt in der Aufgabe, die Ideen von Frauen, die vor fast zweihundert Jahren damit begonnen haben, sozialphilosophische und politische Theorien der Frauenemanzipation, zumindest fragmentarisch, zu entwickeln und niederzuschreiben, wieder zu entdecken und zu untersuchen. Sie entsprangen der Unzufriedenheit mit den eigenen Lebensumständen in der damaligen Gesellschaft und Kultur. Die Wiederentdeckung dieser frühfeministischen Schriften ist von großer Bedeutung für die Frauenbewegung und für die feministischen Wissenschaftlerinnen heute, weil darin viele noch heute aktuelle Gedanken zu finden sind, wovon wir profitieren können. Hier sind unsere intellektuellen und politischen Vormütter. An ihre Gedanken können wir anknüpfen und ihre kritischsten Einsichten müssen wir fortschreiben. Hier haben wir Dokumente unserer feministischen ldeengeschichte, auf die wir aufbauen können, wenn wir ohne weitere Verzögerung an die Arbeit gehen, diese frühfeministischen Pioniere der Vergessenheit zu entreißen und wenn wir ihnen die Anerkennung zollen, die sie verdienen, indem wir uns ihre Erkenntnisse aneignen.
Hier sind Frauen, mit denen wir uns identifizieren können, hier sind Ideen, von denen wir uns inspirieren lassen können und die unser Selbstbewußtsein stärken - unser individuelles und kollektives Selbstbewußtsein, daß durch die »Urteile« patriarchaler Philosophen verletzt, ja vernichtet wird.
Die politisch-philosophischen Leistungen der Frühfeministinnen sind angesichts ihrer sehr beschränkten Bildungs-, Ausbildungs- und geistigen Arbeitsmöglichkeiten, der Spärlichkeit der Informationen, die ihnen zugänglich waren (kein Zugang zu Bibliotheken, Beschränkung auf das Haus, keine Reisen, kein Forum intellektuellen und politischen Austauschs, Armut und Abhängigkeit von Familienverhältnissen) sehr beachtlich und haben historischen Vorbildcharakter. Ihr politisch-kritisches und dezidiert antiautoritäres Denken, das sich furchtlos gegen alle männlichen Autoritäten in Kirche, Staat, Familie, Wissenschaft und etablierter Öffentlichkeit richtet, kann für Feministinnen heute eine Quelle von Geschichtsbewußtsein sein: Bewußtsein von der Frauengeschichte als geistiger und politisch-praktischer Geschichte des Widerstandes. Das herrschende Geschichtsbild, die herrschende Meinung, daß Frauen keine eigenständige politische Theorie entwickelt haben, daß sie keine eigenständige politische Kraft waren, sondern stets a-politisch, bestenfalls im Kielsog einer von Männern theoretisch und praktisch angeführten politischen Strömung mitschwammen, entspricht nicht den historischen Tatsachen. Frauen sind nicht die dummen, hilflosen und passiven Objekte von Hausvätern und Politikern gewesen, wie das die patriarchalen Philosophen unterstellen und wie sie das als soziale Norm gewöhnlich in ihren Sozialphilosophien als unabänderliche Wahrheit präsentieren. Der Konformitätsdruck der herrschenden Gedanken war und ist freilich sehr stark, aber die stärksten, intelligentesten und mutigsten Frauen haben mit großer geistiger Anstrengung Widerstand geleistet gegen das ideologische System, daß selbst im »bürgerlichen Rechtsstaat« alle Frauen rechtlos zu halten gedenkt. Es kann nur fruchtbar sein, wenn philosophierende und politisch engangierte Frauen heute an diese frühe feministische Ideengeschichte anknüpfen, und das geschieht ja auch in zunehmendem Maße in den letzten 10 Jahren, in Amerika und hier in europäischen Ländern. Ich erinnere nur an die Wiederentdeckung der Schrift von J. S. Mill, Die Hörigkeit der Frauen, die zusammen mit Harriet Taylor und Helen Taylor geschrieben ist.
In Holland hat die Philosophin Else Barth schon seit Jahren die deutsche idealistische Philosophie und ihre dualistischen Denkmethoden kritisiert und als lebensgefährlich für Frauen bezeichnet. Geradezu lebensrettend könnte die feministische soziale und politische Philosophie wirken, wenn sie weiterentwickelt wird und praktisch politischen Einfluß gewinnt dadurch, daß die Frauenbewegung ihre Erkenntnisse übernimmt und im Machtkampf als Orientierung benutzt. Die enge Verbindung von Theorie und Praxis ist auch zu studieren an historischen Beispielen wie der französischen Frauenrevolution und der Suffragettenbewegung.
Von ihrer politischen Philosophie wie von ihren Aktionen haben wir bisher fast keine Kenntnis. Was die Entwicklung in Frankreich anbetrifft, so haben wir lediglich gelernt, daß die Erklärung der »Menschenrechte« den Höhepunkt der Philosophie des Naturrechts und das Programm der politischen Befreiung der französischen Revolution darstellt. Selbst heute ist es Frauen generell noch immer nicht deutlich, daß alle Frauen von den »Menschenrechten« und folglich von der bürgerlichen Freiheit und Gleichheit ausgeschlossen waren und es immer bleiben sollten. Jedoch haben schon damals Frauen den politischen Antifeminismus der zur Macht strebenden Bürger und Kleinbürger erkannt: Olympe Marie de Gouges hat 1791 eine Gegen-Deklaration verfaßt, worin sie gleiche Rechte für Frauen und Mütter in der Ehe, in der Gesellschaft und selbst im Staat forderte. Sie verlangte, daß Frauen an der Gesetzgebung der neuen Staatsund Gesellschaftsordnung demokratisch beteiligt werden: »Wir Mütter, Töchter, Schwestern, Vertreterinnen der Nation verlangen, in die Nationalversammlung aufgenommen zu werden.« Sie verlangte, daß Frauen teilnehmen an der Regierung des Landes. Sie begründete diesen Anspruch mit dem philosophischen Argument, daß auch Frauen im Naturzustand frei geboren waren und deshalb auch ihre Freiheit wieder hergestellt werden muß, sie folglich gleiche Rechte haben, die gesichert werden müssen. Sie verlangt dann auch Freiheit, Sicherheit (d. h. Rechtssicherheit), Recht auf Eigentum und das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung. Das Volk ist nach ihrer Auffassung eine Vereinigung von Frauen und Männern und nicht allein von Familienvätern. Sie wünschte die patriarchale Ehe fundamental zu verändern: Frauen und Männer müssen als gleiche Menschen einen Sozialvertrag abschließen, wodurch die finanzielle Sicherheit der Frau und der Kinder rechtlich gesichert wird. Das war im Jahre 1791 - und ist noch heute - eine sehr revolutionäre Theorie. Viele Frauen in Paris und auch in anderen Städten haben damals für die Verwirklichung dieser Ideen gekämpft. Darunter auch die Holländerin Etta Palm, die vielleicht die erste Feministin ihres Landes war. Ihre Schriften sind noch nicht wieder herausgegeben und auch hier fehlt es noch an ideengeschichtlicher und politisch-historischer Forschung.
Etta Palm konnte sich retten, indem sie vor dem Terror der Jacobiner nach Holland flüchtete, aber viele französische Frauen wie Olympe de Gouges, Madame Roland und viele andere wurden auf der Gouillotine hingerichtet, und zwar auf Befehl von Männern, die sich selbst als »Revolutionäre« betrachteten, jedoch Freiheit und Gleichheit nur für Männer durchsetzen wollten und Frauen, die das gleiche für sich verlangten, ohne Zögern umbrachten.
Wie ist es möglich, daß die etablierten, alles umfassenden und hochspezialisierten Wissenschaften diese wichtigen politischen Tatsachen bis auf den heutigen Tag ignorieren?
Seit der französischen Revolution haben immer mehr Frauen immer häufiger Kritik geübt und protestiert gegen die Ehe, die sie als eine Form der Sklaverei betrachteten. Ein Beispiel hierfür ist Flora Tristan, die nach meiner Kenntnis als frühfeministische Denkerin und nicht so sehr als frühsozialistische einzuschätzen ist. Das wird deutlich an Hand eines Fragmentes aus ihrem Buch »Die Emanzipation der Frau oder das Testament einer Paria«.
Neben Frankreich ist vor allem Amerika ein Land, wo kritische Ideen von Frauen und ihre politischen Aktivitäten früh aufkeimen. Ein Beispiel dafür ist der Essay von Judith Sargent Murray »Über die Ungleichheit der Geschlechter«, der schon 1790 geschrieben wurde. Sie kann als Vorläuferin dessen betrachtet werden, was wir heute feministische philosophische Anthropologie nennen. Sie argumentiert höchst kritisch gegen die arrogante Denkvveise von Männern, die sich selbst auf Grund ihres Geschlechts als geistig überlegen und im Gegensatz dazu das »andere« Geschlecht als geistig minderwertig definieren. Murray erkennt die Motive dieser Ideologie, die darauf zielt zu beweisen, daß Frauen allein für die Arbeit in Haus und Küche befähigt und folglich dafür »vorbestimmt« sind.
Auf Grund ihrer eigenen Erfahrungen und Beobachtungen entwickelt sie Ideen, die man heute als androgyne Denkansätze betrachtet. Ihre kritische Wahrnehmung der sozialen Realität läßt sie zu dem Schluß kommen, daß es - entgegen der Ideologie - intelligente Frauen und dumme Männer gibt und daß auch der Dualismus vom körperlich schwachen und körperlich starken Geschlecht in Wahrheit nicht zutrifft. Im täglichen Leben findet sie die Beweise für diese theoretische Einsicht. Wenn man seinem eigenen Urteil vertraut und die Wirklichkeit unverstellt wahrnimmt, so trifft man auf viele robuste, gesunde Frauen und andererseits auf schwache, verweiblichte Männer.

Die Rezeption dieser Gedanken, dieser philosophischen Ansätze kritischer Frauen lange vor unserer Zeit, ist an sich schon ein Prozeß intellektueller Emanzipation. Wir finden uns wieder in diesen alten und zugleich neuen Ideen, die uns erkennen lassen, wie patriarchal und frauenfeindlich, wie falsch die Ideenwelt ist, in der wir leben und zu der wir noch kaum eine kritische Distanz entwickelt haben. Erschreckend ist allerdings zugleich die Erkenntnis, daß wir in den letzten 200 Jahren kaum Fortschritte im Denken und in der politischen Praxis gemacht haben, sondern immer wieder auf die gleichen grundsätzlichen Probleme zurückgeworfen werden. Die feministische Ideengeschichte als Quelle von Geschichtsbewußtsein macht deutlich, wie überfällig, wie lange vertagt die politische Lösung der Frauenfrage ist, daß es seit langem und heute mehr denn je nötig ist, durch theoretische Reflexion und politische Aktion auf die Veränderung der patriarchalen Gesellschaft hinzuwirken. Es ist keine Zeit mehr zu verlieren.
Diese Gesellschaftsordnung ist lebensgefährlich für Frauen:
9 Millionen Frauen sind als Hexen verfolgt und ermordet und allein in Deutschland sind in den letzten 100 Jahren 2-4 Millionen Frauen durch Abtreibungstod umgekommen. Täglich werden Frauen durch Männer ermordet. Diese Morde sind in politischem Licht zu sehen. Das patriarchale System und seine Rechtfertigungsideologien - wozu auch weite Teile der Philosophie gehören - ist lebensgefährlich für Frauen. Dem muß endlich ein Ende gemacht werden.