Das Commonwealth der Frau

Utopia im Texas des 19. Jahrhundert

»Gefälligkeiten gibt man ihr als Ersatz für Gerechtigkeit.«[1] Dies schrieb die englische Besucherin Harriet Martineau 1837 über die amerikanische Frau. »Sie hört«, so Martineau weiter:

  • großartige öffentliche Lobeshymnen über die Frau und das Heim; doch steht ihrem Mann das Haar zu Berge, wenn er nur daran denkt, daß sie arbeiten gehen könnte; so verwöhnt er sie mit Geld; sie darf ihr Gehirn mit religiösen Gedanken befrachten, so daß sie ja nicht auf die Idee kommt, sich eventuell mit Moral, Politik oder Philosophie zu befassen; besonders ihre Moral wird behütet, indem man in ihrer Gegenwart strengstens auf anständiges Benehmen achtet.[2]

Religion wurde für viele Frauen der Mittelschicht, wie Martineau beobachtete, »zum Ersatz für den Ausschluß vom öffentlichen Leben«.[3] In Belton, Texas, gelang es jedoch einer Gruppe von Mittelschichtsfrauen, die Religion dazu zu nutzen, ein unabhängiges Leben in einer separatistischen Kommune zu führen.[4]
Diese einzigartige Gruppe entwickelte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Belton, einer Kleinstadt mitten in Texas, sechzig Meilen nördlich von Austin und vierzig Meilen südlich von Waco.[5] Die Gruppe gab sich den Namen: Commonwealth der Frau. Die Kommune, denn dazu entwickelte sie sich mit der Zeit, bestand aus dreißig bis fünfzig erwachsenen Frauen und einigen Kindern aus elf der angesehensten Familien der Stadt. Aufzeichnungen über Existenz und Aktivitäten dieser Frauen sind kärglich, weil die Männer und ihre Familien ob ihres Verhaltens entsetzt waren und diese Schande nicht kundtun wollten. Zum großen Teil stammen die Informationen daher aus Gerichtsunterlagen über die Streitigkeiten, in die sie verwickelt waren. Andere Quellen sind Zeitungen, Berichte ihrer Zeitgenossen und die Folklore, die ihr Verhalten produzierte.[6]
Im günstigsten Fall bezeichneten ihre Zeitgenossen die Frauen, die dem Commonwealth beitraten, als exzentrisch; schlimmstenfalls nannte man sie fanatisch und gemeingefährlich. In jüngster Zeit erst wurden sie wiederentdeckt und als Modell separatistischen Feminismus gepriesen.[7] Sicher waren sie einzigartig. Doch erwuchs die Struktur, die sie sich schließlich gaben, eher aus gesellschaftlich akzeptierten Normen als aus freiwilliger Abwendung von der Konvention.
Das Commonwealth der Frau begann 1866 mit Bibelgruppen und Gebetsvereinigungen. Ihr Antrieb kam von der »Heiligung«, die Martha McWhirter erfahren hatte, die gemeinsam mit ihrem Mann zur Führung der Sonntagsschulbewegung der Methodisten in Belton gehörte. Diese »Heiligung« war bezeichnend für die Frauen jener Pfingstbewegung, die sich mehr den spirituellen als den wörtlichen Inhalten der Bibel verpflichtet fühlten. Mit dem Anwachsen ihrer Gemeinschaft in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts wandten sich diese angesehenen Frauen der Mittelschicht mehr und mehr dem Zölibat zu und verweigerten sexuelle Beziehungen mit ihren »unheiligen« Männern. Auch wollten sie kein Geld aus deren Händen annehmen, um eine unabhängige Ökonomie aufzubauen. Diese Frauen, an Diener, die sich des Haushalts annahmen, gewohnt, verdienten nun ihr Geld mit dem Verkauf von Butter und Eiern, ließen sich für Haushaltstätigkeiten anheuern, übernahmen Waschdienste, schlugen Holz und verkauften es mit Gewinn. 1879 stand ihr gemeinwirtschaftliches System, und einige der Frauen lebten in Martha Mc-Whirters Haus, nachdem ihr Ehemann ausgezogen war.[8] Sie konnten sich einen Bauernhof außerhalb von Belton kaufen und 1886 mit dem Bau des »Central Hotel« beginnen, in dem sie dann schließlich lebten und das zu ihren besten Wirtschaftsunternehmungen zählte, bis sie schließlich 1899 nach Washington, D.C., zogen. Das Hotel florierte, zog die Reisenden zwischen Austin und Waco an und brachte ihnen schließlich wieder das Ansehen, das sie durch ihren Separatismus verspielt hatten. Dank ihres gemeinschaftlichen Wohlstands konnten sie in der Welt herumreisen, sich selbst die nötigen Fertigkeiten beibringen - es gab eine Zahnärztin und eine Schmiedin unter ihnen -und noch einen Hof sowie ein anderes Hotel in Waco kaufen. Martha McWhirter starb 1904, doch blieben die Frauen auf einer Farm, die sie in Maryland gekauft hatten, bis 1918 zusammen. So hatte ihre »Heiligung« sie zusammengebracht, von der Gesellschaft getrennt und ihnen volle spirituelle und wirtschaftliche Unabhängigkeit verschafft.
Warum unterhielt sich eine Gruppe Mittelschichtsfrauen im mittleren Texas im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts durch ihrer Hände schwere Arbeit? Was ermöglichte ihnen die Entwicklung eines eigenen Lebensstils? Ich glaube, die Antwort auf diese Fragen liegt in den sozialen Möglichkeiten, die das Amerika jener Zeit bot. Zunächst waren freiwillige Verbände und moralische Reformbewegungen von Frauen damals in den Vereinigten Staaten eine starke gesellschaftliche Kraft. Die Organisationen entstanden aus Bibel- und Gebetskreisen sowie privaten Netzwerken, die Solidarität und Zusammenhalt unter den Frauen förderten. Das traf vor allem auf ländliche und kleinstädtische Regionen zu. Und wie wir gesehen haben, war das ja auch der Fall in Belton: Die Frauen kamen aufgrund spiritueller Neigungen zusammen. Dann war die Wiedererweckungsbewegung sozialreformerisch ausgerichtet.[9] Und zum anderen waren utopistische Gemeinschaften im 19. Jahrhundert weitverbreitet, sowohl als intellektuelles und soziales Experiment wie auch aus religiösen Beweggründen. In allen wurde gemeinwirtschaftlich gearbeitet und die Frau an der Produktion beteiligt.
Größe und Einfluß dieser moral-reformistischen Frauengesellschaften und freiwilligen Organisationen in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden von Mary P. Ryan, Barbara Berg und Carroll Smith-Rosenberg gut dokumentiert.[10] Am Beispiel Utica in New York zeigt Ryan, wie aus traditionell informellen Haus-zuHaus-Gruppierungen der Frauen formale Organisationen entstanden.[11] Diese Umwandlung von Netzwerken in schlagkräftige Verbände, die moralische, religiöse und politische Macht in ihren Kommunen ausüben, ist typisch für Amerika: Vormals machtlose Gruppen nutzen sozial akzeptierte Mittel und Wege, um öffentlich wirksam zu werden oder eine politische Wende einzuleiten. Weil das »Reich der Frau«[12] Moral und Religion einschloß, brachten Frauen ihre Ablehnung öffentlicher und privater Männerherrschaft in religiös motivierten, moral-reformistischen Aktivitäten [13] zum Ausdruck. Sie übten Druck aus, um die Promiskuität der Männern zu verändern, das Los der Prostituierten zu verbessern, Waisenhäuser zu eröffnen, Alkoholmißbrauch abzubauen und Mäßigung zu fördern. Indem sie die ihnen zugewiesenen Einflußbereiche ausdehnten, konnten die angesehenen Frauen des 19. Jahrhunderts ihre privat-persönlichen Probleme politisieren. Persönliche Freundschaften verwandelten sie in politische Verbindungen und private Gefühle in religiös akzeptierte öffentliche Anliegen.[14]
Religiöse Wiedererweckungsbewegungen formten die amerikanische Gesellschaft in der Mitte des letzten Jahrhunderts. Der Calvinismus und die Theologie der Alten Schule wurden abgelöst durch die zweite große Entdeckungsbewegung (1795-1835)[15] eines Protestantismus, der immer weniger sektiererisch und dafür sozialreformerisch wurde (»die humanitäre Reform« befaßte sich mit der Sklavenbefreiung und dem Wahlrecht für Frauen). Mehr und mehr sollte das Individuum sich selbst bestimmen dürfen.[16] Die Wiedererweckungsbewegung mit der »Heiligung« (sanctification = das individuelle Empfangen des Heiligen Geistes) »verschmolz in der Nachkriegszeit nahtlos mit dem, was soziales Evangelium genannt wurde«.[17] Um 1850 zogen die methodistischen Kreuz- und Heilszüge westwärts.[18] Die 1868 wiederaufgelegten »Vorlesungen über die Wiederbelebung der Religion« von Finney aus dem Jahre 1835 »bezeichnet deutlich das Ende von zwei Jahrhunderten Calvinismus und die Annahme eines pietistischen Evangelismus als vorherrschenden Glauben der Nation«.[19] / [20] Die Teilnahme von Frauen an dieser Wiedererweckungsbewegung und ihren sozial-reformerischen Aktivitäten zeigt das gesellschaftlich akzeptierte Engagement der Frau in der Religion (die Hingabe an Gott spiegelt ja auch die gesellschaftliche Passivität der Frauen wider) und die Zunahme der Laienarbeit bei der Evangelisation. Frauen wurden durch die Pfingstpredigt des Apostels Petrus ermuntert: »Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, da will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen.« (Apostelgeschichte 2:17)[21] Dies ist eine wichtige Stelle für die »Heiligung« Martha McWhirters und die Entstehung des Commonwealth der Frau in Belton, Texas.
Die Ausbreitung zielgerichteter Gemeinschaften in den Vereinigten Staaten in der Mitte des 19. Jahrhunderts weist auf den hohen Idealismus jener Zeit hin und den Glauben an die Vervollkommnung sozialer und wirtschaftlicher Beziehungen sowie der individuellen Seele. Die Jünger von Fourier, Saint-Simon und Robert Owen errichteten utopisch-sozialistische Gemeinschaften, deren Hauptaugenmerk auf wirtschaftlicher Gleichberechtigung lag. Die Nachfolger von Etienne Gäbet wollten die Ideale der französischen Aufklärung realisieren: liberté, egalité, fraternité, indem sie seine literarische Utopie »Voyage en Icarie« (1840) aktualisierten. Die Gründer der Brook Farm versuchten die intellektuellen Ideale des Transzendentalismus zu praktizieren.
Nur die Shaker, Anhänger der englischen Spiritualistin Ann Lee, und die Oneider, Nachfolger des Perfektionisten John Humphrey Noyes, verbanden religiöse Ziele und die Abwendung von der konventionellen Familienstruktur (das tat auch das Commonwealth der Frau) mit der Gemeinwirtschaft: die Shaker praktizierten das Zölibat und die Oneider die »komplexe Heirat« und »männliche Enthaltung«.[22] Alle zielgerichteten Gemeinschaften pflegten den gemeinsamen Güterbesitz und die Rotation der Arbeiten; fast alle wurden autoritär geführt. Die Shaker und Oneider unterwarfen sich außerdem einer religiösen Führung und waren äußerst genügsam, was ihre persönlichen Gepflogenheiten und Bequemlichkeiten anbelangte. Wenn auch einige an die volle Gleichberechtigung der Frauen bei Shakern und Oneidern glauben mochten, so war es doch keineswegs der Fall.[23] Für Noyes in Oneida waren sie minderwertiger als Männer und nicht voll an wichtigen Entscheidungen beteiligt. Bei den Shakern allerdings gab es zumindest Zeiten, in denen Frauen das Sagen hatten. Bei der Rotation der Arbeiten und in der Produktion waren sie jedenfalls voll beteiligt, wie in anderen zielgerichteten Gemeinschaften auch. Die Kindererziehung wurde ihnen von der Gemeinschaft abgenommen. Während die Shaker zölibatär lebten, gingen die Oneider ihren sexuellen Neigungen mit verschiedenen Partner/inne/n nach. Frauen in diesen Gemeinschaften hatten Zeit für sich allein und waren zum Teil von den rigiden Rollen der Frauen »draußen« befreit. Eine zielgerichtete Gemeinschaft ohne Männer konnte also — wie im einzigartigen Fall des Commonwealth der Frauen in Belton — Frauen zu erfolgreicher religiöser, wirtschaftlicher, sexueller und emotionaler Selbstbestimmung verhelfen.[24]
Das Gemeinwesen der Frau in Belton ist deswegen von so großem Interesse für Feministinnen, weil es drei bedeutende Sozialformen des 19. Jahrhunderts in sich vereint, wobei zwei nicht genügt hätten, um es entstehen zu lassen. Diese Gemeinschaft hätte nicht aufgebaut werden können ohne wirtschaftliche Gleichberechtigung, die auch die Frauen in anderen zielgerichteten Gemeinschaften genossen, ohne die Tradition der privaten Netzwerke der Frauen und ohne den besonderen Überbau der Religion.
Hätten die Frauen in Belton nur ihre privaten Netzwerke gehabt, wo sie sich regelmäßig in den verschiedenen Häusern trafen und den Glauben an die Erlösung durch persönliche Offenbarungen (oder die Heiligung) ohne die Möglichkeit zur Entfaltung totaler wirtschaftlicher Unabhängigkeit durch gemeinsame Anstrengungen — das Gemeinwesen der Frauen wäre nicht Wirklichkeit geworden. Die Aussicht, daß sie als angesehene Frauen und Töchter meist wohlhabender Männer der Mittelschicht sich selbst zu solchen Arbeiten wie den Verkauf von Eiern und Butter an ihre Nachbarn, das Fällen von Bäumen und das Vermarkten von Holz, Wäschewaschen und Hausdiensten hergaben, befriedigte ihre religiösen Gefühle; aber selbst diese Tätigkeiten hätten der einzelnen Frau nicht den Lebensunterhalt gesichert. Gleichwohl konnte die Idee der wirtschaftlichen Unabhängigkeit durch Arbeits- und Einkommensteilung sich ja nur entfalten, weil es bereits eine religiöse zielgerichtete Gemeinschaft gab (tatsächlich existierten sogar mehrere in Texas) und weil gerade Frauen entscheidende Plätze in der Wirtschaftsproduktion dieser erfolgreichsten Kommunen innehielten. Gemeinwirtschaft war die einzig mögliche und lebbare Sozialform, die Frauen zum Erreichen wirtschaftlicher Unabhängigkeit freistand, da sie ja nicht zur Arbeit erzogen waren und auch keinerlei Mittel oder Fähigkeiten hatten, wirtschaftlich auf eigene Füße zu kommen. Ohne Gemeinwirtschaft wären sie entweder verhungert oder hätten bei ihren Männern bleiben müssen.
Die traditionellen Bibel- und Gebetskreise ermöglichten Martha McWhirter und den ersten der »Geheiligten Schwestern«, ihre Träume und privaten Offenbarungen zu deuten und ihre spirituelle Entwicklung zu verfolgen. Die Tradition dieser Bibel- und Gebetskreise erlaubte den Frauen, sich unbefangen und regelmäßig in den verschiedenen Häusern zu treffen, intime Gedanken und Zustände ihrer Seelen auszutauschen. Das Netzwerk war ein Forum spirituellen Ausdrucks und Austauschs. Hier empfingen sie ihre Offenbarungen, die ihnen sagten, daß die »Geheiligten« nicht mit den »Ungeweihten« beisammen sein sollten — weder wirtschaftlich noch sexuell. In dieser kritischen Anfangsphase entwickelte sich die Gruppe aus den sicheren und intimen Haus-zu-Haus-Begegnungen der traditionellen Netzwerke.
Hätten die Frauen von Belton nur diese Tradition der privaten Netzwerke und die Wirtschaftsformen der zielgerichteten Kommunen gekannt, ohne den Überbau der Sozialreform und der persönlichen Offenbarung nach der Doktrin von John Wes-ley, es hätte der notwendige Katalysator gefehlt, die traditionellen Netzwerke der Frauen in erfolgreiche und sichere Wirtschaftsunternehmungen umzuwandeln. Daß sie aus eigenem Antrieb ihre Netzwerke transformiert hätten, ist unvorstellbar, hätten sie doch dann sich selbst, ihren Familien und ihren Gemeinden eingestehen müssen, was gesellschaftlich, psychologisch, moralisch und kulturell unmöglich einzugestehen war: daß die emotionale und finanzielle Abhängigkeit von ihren Männern sie erniedrigte und schwächte. Die Privatoffenbarungen waren etwas, das die Frauen in ihren Netzwerken vermitteln konnten und sie motivierten, sich wiederzutreffen. Damit begründeten sie auch die Ablehnung ihren Männern gegenüber, deren Sexualität und Geld sie als »unheilig« ansahen. Dieser Kernsatz ihres Glaubens war ihnen als Verbot offenbart worden: Weder das Geld noch das Bett seien mit den »Unheiligen« zu teilen. So war die persönliche Offenbarung in der Form der »sanctification« (ebenso wie die darin liegende Erlaubnis im sozialen Reformismus der Wesley-Doktrin) der Katalysator, der ein informelles Netzwerk in ein unabhängiges, wirtschaftlich tragfähiges Sozialwerk umformte, das gesetzlich anerkannt wurde. Die »sanctification« gab ihnen die religiöse Rechtfertigung zu ihren wirtschaftlichen Visionen.
Als Feministinnen liegt es an uns, ob wir diese Frauen wie ihre Zeitgenossen als religiöse Fanatikerinnen sehen oder als Krypto-Lesben betrachten. Sie stellen kein geschichtlich abweichendes Phänomen dar. Sie waren vielmehr ganz normale Frauen, die sich der Verbesserung ihres Lebens verschrieben hatten und zur Verwirklichung ihrer Ziele eine einzigartige Synthese der verschiedenen ihnen zugänglichen Sozialformen wählten.