Dichtung und Wahrheit: lesbische Visionen von Utopia

Meine Phantasien in die wirkliche Welt einzubringen machte mir große Angst. Nicht daß sie schlecht waren, nein, sie waren einfach unwirklich und daher sträflich. Etwas zu verwirklichen, was unwirklich war, hieß ja, die Natur der Dinge mißzuverstehen. Es war keine Sünde wider den Geist (der ziemlich gleichmütig dem Ganzen gegenüberstand), sondern wider die Wirklichkeit und von diesen beiden ist die letzte weit lästerlicher... Es ist das Verbrechen, sich eine eigene Realität zu schaffen, sich selbst »den Vorzug zu geben«, wie es eine gute Freundin von mir nannte. Ich wußte, es war ein unmögliches Vorhaben.[1]

Als erzählendes Ich des »Female Man« spricht Joanna Russ hier nicht von der Schaffung einer utopischen Vision der Zukunft, sondern vom Lesbisch-Werden. Beides beinhaltet den Ausbruch aus »Geschichte« und »Wirklichkeit«, wie sie im allgemeinen definiert werden.[2] Das hier in Szene gesetzte Problem lautet: Welche Möglichkeiten hat ein junges weißes Mädchen, das in den fünfziger Jahren aufwächst? Was erscheint realistisch? Und was ist Realität? Oberflächlich betrachtet liegt die Spannung des Romans im Konflikt zwischen Männern und Frauen. Doch dahinter erkennen wir den Versuch, zu alternativen Paradigmen, anderen Möglichkeiten und Mustern durchzustoßen.
Der Roman beschreibt die verschiedenen Seiten von Jeder-frau, wie sie die Autorin 1975 sah. Jede Seite wird von einer Person repräsentiert, deren Name mit J beginnt. Diese verschiedenen Frauen (Seiten) unterscheiden sich in Vorstellung und Wahrnehmung der Realität total. Das Erzähl-Ich Joanna bewegt sich zwischen Jeannines Vergangenheit-in-der-Gegenwart. Jaels Gegenwart-in-der-Zukunft und den geheimen Sehnsüchten Janets aus dem Lande Zeitvertreib, die ihr gleichfalls unwirklich erscheinen. Denn Janet ist frauen-identifiziert, Männern weder durch Haß noch durch Liebe verbunden. Ist es für eine, die sich als Jedefrau empfindet, möglich, Lesbianismus aus der »Unwirklichkeit« oder Phantasie in die »Wirklichkeit« zu verlagern? Der Roman beschreibt die Momente des Kampfes.
Vor ihrem Coming out hatte Joanna sich in einen Mann verwandelt — eine metaphorische Transformation in die quasi-utopischen Sphären des Science fiction, die Vorfahren finden sich geschichtlich bei den Frauen, die als Männer durchgingen.[3] Diese »Lösung« war die logische Erweiterung, innerhalb eines Systems männlicher Herrschaft zu agieren, um es zu unterwandern. War es jedoch möglich, Wirklichkeit neu zu definieren? Einfach Frauen zu lieben und eine gerechte Gesellschaft zu schaffen, statt Männer zu hassen und zu bekämpfen? Am Ende der Geschichte küßt Joanna die lesende Laur und wartet auf den Tadel, der die Wiederherstellung der göttlichen Ordnung ankündet (»wie es natürlich sein mußte«):

Aber sie ließ mich gewähren. Sie errötete und tat so, als ob sie es nicht bemerkte. Ich kann dir nicht beschreiben, wie sich in dem Moment die Wirklichkeit weit öffnete. Es war, als fiele ich von einem Kliff und hielte mitten in der Luft an, während der Horizont sich von mir wegbewegte. Wenn dies möglich ist, so ist alles möglich... nichts von dem, was danach geschah, war so wichtig für mich... wie jene erste, ehrfurchtgebietende Verrückung des Geistes. (S. 208)

Danach erscheint ihr die Welt nicht länger nur von Männern bewohnt, sondern sie bevölkert sich zunehmend mit Frauen. Sie sorgt sich, wie der Wandel ihres Bewußtseins von den anderen beurteilt werden mag. »Macht es etwas, wenn es dein/e beste/r Freund/in ist? Macht es etwas, wenn du die Körper der Männer, nicht aber ihren Geist liebst?« (S. 209) Und welche Definition stimmt? Mitten im Satz bewegt sich Joanna von der verteidigenden Ablehnung zum Anspruch einer idealen Vorstellung der Identität einer »großen, blonden, blauäugigen Lesbe«. (S. 209) Teil der Schwierigkeit, einen Paradigmenwechsel weg von der Männerherrschaft zu vollziehen, war der Mangel an Modellen in der Gesellschaft, wie auch der weitverbreitete Glaube, daß der Unterschied zwischen Mann und Frau in der Biologie und nicht im anerzogenen Sozialverhalten zu suchen sei. »Ich kann mir keine Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern in der Gesellschaft vorstellen, und ich glaube, das kann wohl niemand«, schreibt Russ 1975. »Wo sonst (außer in Science fiction) könnten solche Visionen ausprobiert werden? Doch wir werden Modelle für die Wirklichkeit haben müssen, wenn ich auch noch keine gefunden habe. Deshalb ist Whileaway nur von einem Geschlecht bevölkert.«[4]
Im späteren 19. Jahrhundert hat die Freidenkerin Elmina Drake Slenker, die von der Entdeckung der Verhütung so angetan war, daß sie die freie Liebe propagierte, ihre Ansichten geändert. Heterosexuellen Geschlechtsverkehr fand sie nur für die Fortpflanzung wichtig. Schließlich stellte sie sich eine utopische Gesellschaft von Frauen vor, die sich durch Parthenogenese fortpflanzten. Die Interessen der Frauen seien am besten in der Abstinenz zu verwirklichen, meinte sie.[5] 1915 erschuf Charlotte Perkins Gilman die Geschichte von »Herland«, einer vernünftigen und hilfsbereiten Gesellschaft von gleichberechtigten Frauen.[6] Sexualität wird nicht thematisiert, vielleicht weil die Autorin auf das Verständnis ihrer Zeitgenoss/inn/en hoffte.
Sexuelle Beziehungen wurden damals phallozentrisch definiert. Frauen wurden nicht als Menschen mit eigener Sexualität betrachtet, der Geschlechtsverkehr mit dem Mann sollte sie sexuell auch nicht erregen; Gefühls- und Liebesbeziehungen untereinander gestand man ihnen durchaus zu — wenn auch im Verborgenen. Ohne Phallus galt Liebe nicht als sexuell.[7] Unter ihren Leserinnen brauchte Gilman keine Ablehnung der beinahe unsichtbaren Liebesbeziehungen unter Frauen zu befürchten. Auch war der meist unbefriedigende heterosexuelle und als Pflicht empfundene Geschlechtsverkehr kein Verlust, der zu bereuen war. Im 19. Jahrhundert waren alle möglichen romantischen Liebesbeziehungen unter Frauen üblich;[8] solange sie der Männerherrschaft nicht ins Gehege kamen, galten sie als ungefährlich. Möglicherweise hat diese Solidarität unter den Frauen Gilman die Veröffentlichung ihrer feministischen Utopie ermöglicht. Diese Solidarität wurde durch die Bedingungen gefördert, die die weiße Frau im 19. Jahrhundert von der Welt des Mannes trennten, und sie entstand zugleich aus der organisierten feministischen Antwort auf genau jene Bedingungen. »Herland« ist die V/Erdichtung Gilmans feministischer Theorien und ihrer Kritik am patriarchalen Kapitalismus, genau wie ihre Erzählung »Die gelbe Tapete« die Beziehung zwischen »Verrücktheit« und dem Verhaften weißer Damen in gesellschaftlichen Ehen darstellt. Nach der Jahrhundertwende wurde die Medizin zum Kontrollsystem für die Heterosexualität. Liberale Männer erhoben die intime Liebe zum neuen heterosexuellen Standard, damit die Einrichtung der Ehe gerettet werden konnte. Damals waren lesbische Beziehungen mögliche Alternativen zu heterosexuellen Bindungen geworden. Frauen waren nicht nur vermehrt auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch in den höheren Bildungsanstalten zu finden. Frauen gingen in die Politik und ergriffen Berufe. Liebesbeziehungen zwischen Frauen erschienen den Männern pervers, kriminell und ungesund. Selbst liberale Kritiker der vik-torianischen Gesellschaft, wie die meist homosexuellen Blooms-bury-Männer in England, setzten sich zwar für die Rechte der Homosexuellen und für den Sozialismus ein, konnten sich aber Frauen nicht »unabhängig von Männern« vorstellen. Sapphis-mus erschien ihnen »unappetitlich«. Virginia Woolf wurde zu Ärzten geschickt, die »Bekehrung vom Sodomitentum«, »rassische Reinheit«, antiweibliche Eugenik und Liegekuren propagierten — so wie es Gilman in »Die gelbe Tapete« beschrieb.[9]
Genau auf diese Kräfte bezog sich Virginia Woolf in ihrem 1936 erschienenen feministischen Werk »Drei Guineen«,[10] worin sie als Betroffene die Außenseitergesellschaft vertritt. Virginia Woolf verschleierte die lesbische Grundlage ihrer Vision, weil ihre Kritik der männlichen Zivilisation als Verrücktheit eingestuft und ihr Lesbischsein als Neurose eingeordnet wurde, die sich bei Frauen entwickelt, wenn sie sich der unweiblichen Tätigkeit des professionellen Schreibens hingeben. Die Außenseitergesellschaft war ein strategischer und vielleicht utopischer Vorschlag. Frauen stellen eine bereits existierende Gruppe dar, deren Energie, Arbeit und Leben von Männern zu ihrer Verherrlichung ausgenutzt wurden. Aus einem solchen System sah sie Imperialismus und Kriege entstehen. Während Hitlers Aufstieg rief Woolf die Frauen auf, ihre Dienste zurückzuziehen und die Unterstützung des Patriarchats zu verweigern. Ohne ausdrückliche Erwähnung des Lesbischseins erzählt sie den Leserinnen, daß es da Dinge gebe, die selbst sie sich nicht zu schreiben traue wegen der Sanktionen, die männliche Furcht, Unsicherheit und Macht über Frauen hervorriefen.
Nur wenige lesbische utopische Visionen wurden gedruckt. Mit dem Beginn der Frauenbewegung forderte die Journalistin Jill Johnston die »Lesben-Nation«.[11] Judy Grahn erweiterte 1973 die sexuelle Bedeutung der Sehnsucht nach einer Geliebten um die revolutionäre oder utopische Dimension der Sehnsucht nach einer sicheren Stadt für Frauen.- »Ich wollte sie, wie nur wenige mich gewollt hatten — ich wollte, daß sie und ich die Stadt, in der wir lebten, besäßen, kontrollierten und regierten...«[12]
In Frankreich war es Monique Wittig, die eine globale Konfrontation der Männer durch die Frauen anvisierte, durch eine Frauenkultur, die materielle Kraft und Macht besaß und der Frauen aller Rassen-, Alters- und Gesellschaftsgruppen angehörten. Die Verschiedenheit der Frauen in »Die Verschwörung der Balkis — Les Guerilleres«[13] trägt mehr zu ihrer Stärke bei, als daß sie sie auseinanderdividiert. Und sie kämpfen, singen und feiern sich ihren Weg zu weltweitem feministischem Sieg. Einigen wenigen langhaarigen Männern, die eine feministische Gesellschaft primitiven Kommunismus akzeptieren, wird erlaubt, dort zu leben. Hochromantisch, stilistisch bar jeder linearen, kausalen oder dramatisch/erzählenden Struktur, entwirft der Roman eine weibliche Kultur voller Kampfstärke und widersagt ihr zugleich als bruchstückhafter Vision, die einer neuen Welt unangemessen sei. Das Gegengewicht zur Verherrlichung der Männerkriege und -tötungen findet sich in einer durchgängig hexenhaften Frauenkultur.[14]
Hierin liegt der zentrale Beitrag des Werks, das schließlich breiten Anklang innerhalb der feministischen Bewegung fand, da es ja von der Linken kam, die gemeinhin »an das Paradies im Schatten des Schwerts« glaubte. Wittig setzt Revolution und Wandel nicht nur mit Gewehren gleich, sondern verbindet sie mit Sprache und Kultur der Frauenmacht:

Sie sagen, daß sie gelernt haben, auf ihre eigenen Kräfte zu zählen. Sie sagen, sie wissen, was sie vereint bedeuten. Sie sagen, daß diejenigen, die eine neue Sprache fordern, zuerst die Gewalt lernen. Sie sagen, daß diejenigen, die die Welt verändern wollen, sich vor allem der Gewehre bemächtigen. Sie sagen, daß sie von Null aufbrechen. Sie sagen, daß es eine neue Welt ist, die beginnt. (S. 85)

Wittig sieht auch die Notwendigkeit zur Umwandlung der Kultur, damit die Frauen in den Mittelpunkt gerückt werden kraft einer Sprache, die die (männliche) Geschichte knackt. Die Löcher in der männlichen Geschichte sind die Erfahrungen der Frauen, und aus dem, was unsere Schwäche genannt wird, wächst unsere Stärke. Diese Botschaft war zentral, besonders für Frauen, die im weißen Patriarchat verfangen sind.

Man muß, sagen sie, alle Berichte außer acht lassen, die sich auf jene unter ihnen beziehen, die verkauft geschlagen genommen verführt erbeutet vergewaltigt und ausgetauscht worden sind wie gewöhnliche und wertvolle Waren. Sie sagen, daß man die Reden außer acht lassen muß, die man sie gegen ihre Gedanken hat führen lassen und die den Gesetzen und Übereinkünften der Kulturen gehorchen, die die Frauen abgerichtet haben. Sie sagen, daß man alle Bücher verbrennen muß und aus jedem nur das behalten darf, was die Frauen in einer zukünftigen Zeit vorteilhaft darstellen kann. Sie sagen, daß es keine Realität gibt, bevor nicht die Wörter die Regeln die Bestimmungen ihr eine Form gegeben haben. Sie sagen, daß in dem, was sie betrifft, alles im Keim neu angelegt werden muß. Sie sagen, daß an erster Stelle der Wortschatz aller Sprachen untersucht, verändert, von Grund auf umgestoßen werden muß, daß jedes Wort durch ein Sieb gegossen werden muß. (S. 138)

Für weiße Frauen, deren Kultur der weiße Imperialismus ist, war die Trennung von männlichem Mythos, männlicher Sprache, Tradition und Moral durch eigene Formen des Selbstausdrucks notwendig zur Befreiung. Uns in Formen auszudrücken, die uns ablehnen, ist selbstzerstörerisch.
Wo sind unsere Quellen für eine Definition und Benennung dessen, was wir wollen? Wohin wenden wir uns, um Wege zu finden, wie wir über Weisheit, Liebe, Frieden, Gleichheit und Freiheit reden können, die wir in der Welt manifestieren wollen? Audre Lorde sagte 1977:

Der Frauenplatz der Kraft in einer jeden von uns ist weder weiß noch oberflächlich; er ist dunkel, er ist alt, und er ist tief...
Daher ist Poesie für Frauen kein Luxus. Sie ist eine vitale Notwendigkeit unserer Existenz. Sie formt die Qualität des Lichts, darin wir unsere Hoffnungen und Träume zum Überleben und Wandel voraussagen; zunächst in Sprache, dann in Idee, dann in die berührende Aktion. Poesie benennt das Namenlose, so daß es gedacht werden kann.[15]

Die hier vorgestellten Schriftstellerinnen verstehen die Bedeutung der Kultur bei der Schaffung eines radikalen Bewußtseins; jede sucht den Frauen Macht im eigenen Interesse zu verleihen-, ein Prozeß, der nicht auf die Zeit nach der Revolution verschoben werden kann. Er findet jede Minute statt, indem wir einen Sinn für Alternativen gegen die Unterdrückung entwickeln, gegen Ohnmacht und Schweigen. Doch haben wir, während wir uns von der Ohnmacht erholen, indem wir unsere »Schwäche« durch Wut in unsere Stärke verwandeln, vielleicht die Kategorien des Opfers beibehalten? Weil die biologischen Unterschiede als Vehikel für Machtunterschiede benutzt wurden, scheint die Macht der einen Gruppe sich inhärent von der der anderen zu unterscheiden.[16] Während es vorteilhaft erscheinen mag, den Gegner unter Kampfbedingungen leicht ausmachen zu können, besteht die Gefahr der Waffe des biologischen Unterschieds als Befreiungsstrategie darin, daß der Kampf um die Befreiung selbst biologisch begründet und somit mörderisch wird.
„Das Wanderland«[17] von Sally Miller Gearhart beginnt mit der Vision von Frau und Natur als Opfer der Männer sowie natürlichen Verbündeten im letzten großen Kampf, um das Leben auf der Erde zu retten. Die rituelle Verbindung von Frau und Erde als Tochter-Mutter-Liebende ist ein starker lesbischer Mythos. Die Vergewaltigung der Erde und die Revolte der Mutter definieren weibliche Energie als lebenspendend und stellen weibliche Solidarität her, während männliche Energie als gewalttätig gilt. Doch so einfach akzeptiert Gearhart diesen Dualismus nicht. Sie führt die Jungfrauengeburt ein, ist der »Männlichkeit« gegenüber mißtrauisch und sieht keine Möglichkeit einer menschlichen heterosexuellen Gesellschaft. Gearhart schiebt aber die Männer nicht einfach ab, sondern erlaubt ihnen sogar, die moralische Geradlinigkeit und Überlegenheit der Frauen als Opfer anzuzweifeln. Da sie einer anderen Rasse angehören, sich von den anderen Männern unterscheiden, behaupten »die Sanften«, daß sie gelernt hätten, autonom zu sein, und Frauen nicht länger brauchen; sie entwickeln ihre eigene Art gewaltloser psychischer Kräfte. Evona mißtraut ihnen:

»Gewaltlos? Niemals. Ihr wißt, was geschehen wird. Ihr werdet eure neue Macht sehr wohl gebrauchen. Ihr werdet sie benutzen, perfektionieren, herstellen, verpacken, verkaufen und der Welt verkünden, daß sie sauber und neu ist, weil sie von einer besonderen Gattung Mann stammt. Aber es ist nur ein weiterer schicker Schwanz, mit dem ihr die Welt erobern könnt. Und ihr werdet ihn gebrauchen, weil ihr nicht wirklich mitteilen, nicht wirklich lieben könnt...
Andros zuckte mit keiner Wimper. Aber ihre Worte hatten ihn erreicht. Er sprach ruhig. »Ihr wollt noch immer alles, nicht wahr? Genau wie jede Frau seit Anbeginn der Zeiten. Ihr fordert eure heilige Isolation von Männern, damit ihr eure einzigartigen weiblichen Kräfte entwickeln könnt, aber fühlt euch im Kern bedroht bei der Vorstellung, daß wir gleich einzigartige Kräfte haben könnten — und sprich es nicht einmal wispernd aus: daß sie gleichwertig sein könnten...« (S. 196)

Die Tragik dieses Werks zeigt sich hier als Bedrohung der weiblichen Überlegenheit durch die (männlichen) »Sanften«: Der radikale feministische Standpunkt und die utopische Vision der weiblichen Macht gründen in der moralischen Vorstellung, daß die Opfer männlicher Unterdrückung besser sind als die Unterdrücker. Eine Ideologie, die an angeborenes Sozialverhalten glaubt, glaubt natürlich auch nicht an die Veränderung des Unterdrückers. Das wird noch dadurch verstärkt, wenn er es tatsächlich nicht tut. Was aber, wenn einige sich doch ändern? Gearhart ging richtig in der Annahme, daß die Männer von den Frauen abhängen, was in der patriarchalen Kultur sehr gut kaschiert wird. Auch die Frauen wissen um ihre Notwendigkeit und befürchten, daß sie zu Mörderinnen werden, wenn sie mit der Unterstützung der Männer aufhören. Dies unterscheidet sich aber vom Beistehen. Denn wenn die Frauen wirklich glauben, daß die Männer sie nicht zum Überleben brauchen, würden Frauen sich nicht schuldig fühlen, wenn sie Männer zur Autonomie befreiten. Diese Wahrheit liegt so tief vergraben, daß es ein Dienst an der Menschheit ist, sie zu enthüllen und zu benutzen.
Gearhart ist jedoch achtsam genug, die Entwicklung der »Sanften« als Ergebnis von Praxis, Disziplin und schmerzhaftem Wachstum zu gegenseitiger Abhängigkeit zu beschreiben und nicht wie bei den Frauen als »Gabe der Natur«. Die Aufrechterhaltung dieser Unterscheidung erlaubt ihr, die biologische Überlegenheit der Frauen beizubehalten, indem sie eine Art moralische Stufenleiter für Menschen schafft (die Frauen an der Spitze, die homosexuellen Männer als nächste und dann die Männer), während sie über die Fragen der Unterschiede zwischen Frauen hinweghuscht. Offensichtlich sind Lesben biologisch nicht verschieden, doch weist der Roman bei gleichzeitiger Verneinung einen hohen Grad an Ablehnung gegenüber den Stadtfrauen auf. Die unterschiedliche Geographie steht also für die Sexualität der Frauen. So gibt es keine organisierbare Gruppe von Frauen, die vermitteln könnte, die also weder zu den Hügel-noch zu den Stadtfrauen gehören, das heißt entweder Hügelland oder Stadtgebiet, entweder Frauengemeinschaft oder weibliche Versklavung. Frauen müssen sich entweder unterwerfen oder als Männer durchgehen, wenn sie in der Stadt sind. Oder sie nehmen teil am Aufbau einer neuen, rein weiblichen utopischen Gesellschaft. Die utopische Schriftstellerei dient dem Zweck, die gegenwärtigen Tendenzen noch einmal zu beleuchten: Aus der Ferne in einem dramatischen Kontext betrachtet, enthüllen sie ihre Charakteristika und Widersprüche. Wird der Zusammenhang geändert, werden sie unzugänglich, zurückgezogen und offensichtlich unveränderlich.
Bei der Diskussion, ob Frauen denn wirklich jemals ganz frei von jeglicher Männerherrschaft lebten — in Dichtung und Anthropologie —, haben sich einige Frauen der vorpatriarchalen Vergangenheit zugewandt, um Beweise der Freiheit von Frauen zu finden.[18] Mit »Retreat: As It Was!«[19]schuf Donna Young eine phantastische Vergangenheit, die Vision einer fortschrittlichen, doch gesunden Zivilisation vor ihrer Zerstörung durch eindringende Kräfte, die genetische Mutationen in Gang setzten, welche dann zur Erschaffung des Mannes führten. Die friedfertigen Frauen entschlossen sich zur Aufgabe ihres jahrtausendealten Standpunkts der Gewaltlosigkeit: Sie entscheiden sich für Krieg, und der Roman endet mit der Stadt in Trümmern, einigen Überlebenden, die sich mit dem männlichen Kind aufmachen, um irgendwo wieder neu zu beginnen — voraussichtlich mit der Errichtung der patriarchalen Gesellschaft, die wir ererbt haben.
In vielen Romanen entmachtet die patriarchale Stadt die Frauen so radikal, daß sie zu Opfern werden, außerhalb der Sphären feministischer Aktion. In Charnas' »Motherlines«[20] geschieht die Fortpflanzung in einer rein weiblichen Gesellschaft durch Geschlechtsverkehr mit den »natürlicheren« Verbündeten der Frauen, den Pferden. Hier geht es hauptsächlich um die Trennungen zwischen den Frauen. Das Hauptmerkmal der Erzählung liegt auf der Spannung zwischen »femmes«, die dem patriarchalen Gesetz entflohen, und der amazonischen Rasse der Pferdefrauen, den Abkömmlingen der Frauen, die ihr Überleben in den Labors des Patriarchats programmierten, bevor sie aufs Land flohen. Der Roman endet, bevor wir entdecken, ob der Kampf zwischen den neu organisierten »femmes« und den Männern jene befreit hat, die in den Städten versklavt sind — oder ob alle Frauen dabei zugrunde gerichtet wurden.
»Die Demeterblume«[21] von Rochelle Singer führt uns in eine fiktive Zukunft nach dem Holocaust, als die patriarchalen Fürstentümer errichtet wurden und nur eine Enklave von Frauen versteckt in den nördlichen Hügeln Kaliforniens lebt. Untereinander tragen die Frauen Kämpfe aus, die jüngeren Frauen sind entschlossen, wegzugehen und eine andere Frauengemeinschaft anderswo zu gründen. Wird ihr Unternehmen von Erfolg gekrönt sein? Werden die Streitereien die Gruppen schwächen? Spaltungen gefährden die Gemeinschaft auch, als ein Mann eindringt und eine Strategie beschlossen werden muß: Sollen sie diesen Feind dabehalten, ihn töten oder besiegen oder freigeben und riskieren, daß er ihren Ort und ihre Existenz verrät? Es gibt keine Antwort, die Erzählung berichtet mehr von den Gefahren, die weiblicher Einheit drohen, und befaßt sich weniger mit der Arbeit an einer alternativen Sozialordnung oder mit der Notlage von Frauen in der patriarchalen Stadt.
Um 1980 erscheinen die Ängste über Spaltungen unter Frauen vordringlich. Es geht um die Sicherheit vor Männern, Schutz gegen Männlichkeit und Abgrenzung gegenüber dem kapitalistischen Patriarchat. Das sind offensichtlich die Konsequenzen daraus, daß Frauen als Klasse gesehen werden und Männer als ihre Gegner, die sie zu Opfern machen. Rassismus aber, wahrscheinlich die derzeit ernsthafteste Spaltung unter Frauen, wird nicht angemessen behandelt. »Wanderland« ist ein Anfang. Doch die Rettung zweier furchtsamer farbiger Frauen durch eine Gruppe (weißer?) Frauen ändert nicht die Bedingungen, denen sie in der Gruppe ausgesetzt sind. Das klingt eher nach weißer Phantasie über Einheitsversuche. Es sind aber diese Zwischenschritte, die wir als Unterschiede zwischen uns sehen, ansprechen und angehen müssen. Das Kollektiv vom Combahee-Fluß sagte 1977: »Wären schwarze Frauen frei« - und heute würden sie sicher Frauen anderer Hautfarbe einschließen — »würde jede andere Person frei sein, denn unsere Freiheit schließt die Zerstörung aller Systeme der Unterdrückung ein.«[22] Weiße Feministinnen müssen sich fragen, was Frauen davon abhält, auf dieser Grundlage zu handeln, denn sonst beteiligen wir uns an der Unterdrückung und den zerstörerischen Spaltungen unter den Frauen. Dann werden die farbigen Frauen allein weitermachen.
Die dynamischsten und strategisch mächtigsten Visionen kommen heutzutage von Frauen, vor allem lesbischen Farbigen. Gloria Anzaldüa erschafft eine machtvolle Synthese zwischen der heilenden Spiritualität ihrer Großmutter und der materialistischen Analyse der Linken und schafft so eine lebendige Grundlage für die Einheit. »Ich errichte mein eigenes Universum, El Mundo Zurdo«, schreibt sie in »This Bridge Called My Back: Writings by Radical Women of Color«[23] - eine brillante und berührende feministische Arbeit, die zu einem internationalen Feminismus aufruft, der sich auf die Anerkennung der kolonisierten Dritte-Welt-Frauen in den USA stützt, um unabhängige Bewegungen zu gründen:

Schließlich müssen wir zusammen kämpfen. Zusammen gestalten wir die Vision, die die Liebe zu unserer schwarzen Haut einschließt, den Respekt vor unseren Ahninnen, die die Asche der Revolution glühend hielten und die Ehrfurcht vor den Bäumen, die uns an unseren berechtigten Platz auf Erden erinnern.
Der Wandel, der auf diesen Seiten angezeigt wird, ist sowohl materiell als auch psychisch. Wandlung erfordert eine Menge Hitze. Sie erfordert sowohl die Alchemistin als auch die Schweißerin, die Magierin und die Arbeiterin, die Hexe und die Kriegerin, die Zerstörerin und die Erschafferin von Mythen.
Hand in Hand schweißen und schmieden wir die Revolution.[24]

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