Ein Oeuvre schaffen?

Über Künstlerinnen, über den künstlerischen
Arbeitsprozeß und über Zeit

Im Katalogbuch zu einer Ausstellung von Maria Lassnigs Werk 1985 schreibt Wolfgang Drechsler:

  • »Was in der raschen Aufzählung verwirrend klingen mag, enorme Stilbrüche vermuten läßt, entpuppt sich im Rückblick als geschlossenes Ganzes. Bei aller Wechselhaftigkeit ist das Oeuvre von Maria Lassnig erstaunlich homogen und äußerst konsequent.«[1]

In demselben Text wird eine Aussage der Künstlerin aus einem Katalog von 1970
zitiert:

  • »Ach, die Künstler, die Gefangene ihres Stils sind, griesgrämig in die Welt sehen und verbissen auf den grünen Zweig des Supererfolgs wollen; verwerft den Stil, ändert ihn jede Woche, ändert euren Namen jede Woche, ändert eure Haarfarbe, eure Perücke jeden Tag, ändert euer Vokabularium, eure vorgefaßte Meinung über den Nächsten und in der Politik jeden Tag, eure Lebensart jede Woche, ändert euren Job, kommt den Änderungen zuvor, die die Zeit mit uns vorhat.«[2]

Daß Maria Lassnig ihre provokante Aufforderung, sich bei der künstlerischen Arbeit nicht von einer zielgerechten "Oeuvre-Planung" leiten zu lassen, selbst in die Tat umgesetzt und gerade damit ein Oeuvre ganz eigner Prägung entwickelt hat, wird bei nicht nur flüchtiger Wahrnehmung erkennbar.

Die beiden Zitate enthalten zwei zeitliche Perspektiven: die Retrospektive auf das vorhandene Oeuvre und einen auf Zukunft bezogenen Blick. Die Gegenüberstellung macht darauf aufmerksam, daß im Rückblick erst manche Zusammenhänge innerhalb eines Oeuvre sichtbar werden, die unter dem jeweils gegenwärtigen Blick nicht immer erkennbar sind und die möglicherweise erst gar nicht entstehen, wenn die Arbeit von enger Zielsetzung geprägt ist statt von einem großzügigen Umgang mit Zeit, von einem »langen Atem.«
In der »Lücke« zwischen diesen beiden Zeitperspektiven entscheiden KünstlerInnen darüber, wie sie mit ihrer Zeit umgehen, wie weit sie sich auf bestimmte Oeuvre-Vorstellungen, auf Zeit-Vorgaben (und auf andere Vorgaben) einlassen. Eine Zuspitzung des Gegensatzes der beiden Zeitperspektiven liegt im bewußten Mißverstehen des Titels dieses Essays: in der einen Lesart von »Ein Oeuvre schaffen?« kann »schaffen« im Sinn des schöpferischen Entwickelns einer künstlerischen Arbeit verstanden werden - und im Rückblick (auch auf Werk-Teile) zeigt sich jeweils, ob ein Oeuvre entstanden ist. In der anderen Version wäre das umgangssprachliche »schaffen« als ein Bewerkstelligen, Zustandebringen zu lesen - eine zukunftsperspektivische Sicht auf ein Oeuvre, das gelingen soll.

In der Diskussion über eine im feministischen Sinn »weibliche Ästhetik« ist versucht worden, deren Merkmale zu beschreiben. In einem Aufsatz Peter Gorsens werden Aussagen verschiedener Autorinnen, Künstlerinnen und an künstlerischen Arbeiten Beobachtetes wiedergegeben und erörtert, so unter anderem »das Ephemere, Provisorische und Improvisierte der feministischen Invention«, mit dem »ein Werk auf Veränderung anstatt auf Dauer« geschaffen werden soll; »kommunikative Verantwortung und gemeinschaftliches Arbeiten« als Eigenart »des weiblich Imaginären« im Kontrast zu »monomanischer Einzelproduktion«; das »feministische Environment« als »eine eher nomadische Raumkonstruktion«; die Erprobung der »Einebnung von Innen- und Außenwelt« in der feministisch beeinflußten Kunst und weitere Merkmale, die sich sowohl auf die Erscheinungsformen der Arbeiten selbst als auch auf die künstlerischen Intentionen und Motivationen und auch auf den Arbeitszusammenhang (gemeinsame Arbeit) beziehen.[3]

Gegen solche Beschreibungsversuche sind - innerhalb der feministischen Diskussion - von verschiedenen Ansätzen aus Einwände erhoben worden.

Sigrid Schade hat auf die »identifikatorische Falle« hingewiesen (am Beispiel von Judy Chicagos »The Dinner Party«[4], in die Künstlerinnen mit ihrer Arbeit und die feministische Diskussion geraten, wenn ästhetische Muster, die von jeher in männlich bestimmter Tradition den Frauen zugewiesen worden sind, zur ureigenen weiblichen ästhetischen Sache erklärt werden und damit die zugemutete Beschränkung als eigene Wahl innerhalb eines emanzipatorischen Vorgangs verstanden wird.
Darüber hinaus macht Sigrid Schade deutlich, daß in der Suche nach einem »weiblichen Selbst«, einer weiblichen Identität oder gar nach »dem authentisch Weiblichen« weitere Fallen verborgen sind, die das postmoderne Denken erkennbar gemacht hat, indem es sich in einer spezifischen Haltung gegenüber den »Objekten« äußert, die man als Dekonstruktion von bisherigen »Phantasmen der Macht« bezeichnen könnte. Zu ihnen gehört auch das Phantasma des autonomen Subjekts, das sich der Objekte zu bemächtigen wähnt. Diese Haltung ist keine »irrationale« (so immer der Vorwurf), sondern beschreibt die Irrationalität scheinbar rationaler Aufklärung.[5]

Die Suche nach einer weiblichen Identität setzt demnach die Gültigkeit eines Konzepts von Identität (und damit auch die eines »autonomen Subjekts«) voraus, das selbst bereits als fragwürdig erkannt und als Bestandteil des patriarchalen, bürgerlichen Denkens zudem besonders ungeeignet ist, die Basis abzugeben für die Entwicklung einer weiblichen Variante. Mit ihr würde die Gültigkeit des Konzepts selbst fortgeschrieben und gleichzeitig der Ausschluß von Frauen aus solchen Konzepten noch einmal bekräftigt dadurch, daß es für sie nur eine »Sonder-Form« davon gäbe.

Sigrid Schades Einwände machen deutlich, welche Gefahr in der Übernahme von Voraus-Setzungen (im Wortsinn) liegt, die ihrerseits einer kritischen Betrachtung wert wären.
Die Tendenz von Voraus-Setzungen, einen Status von Selbstverständlichkeit anzunehmen, hat sich für Frauen generell und für Künstlerinnen in besonderer Weise folgenreich ausgewirkt. Voraus-Setzungen selbst schon zu befragen, sie als meist männlich geprägte - Konstruktionen zu erkennen, die bis heute wirksam die Benachteiligung von Frauen und damit auch von Künstlerinnen verursachen, müßte also das Anliegen sein.
In der auf Kunst bezogenen Diskussion um so mehr, als ein Befragen, Untersuchen, ein genaues Betrachten und eine neue, andere Sicht auf »Altbekanntes« eher mit künstlerischem Arbeiten in Verbindung zu bringen sind als das Übernehmen von Voraus-Gesetztem - sofern Kunst nicht Erwartungen bedienen und Sichtweisen bloß bestätigen will. In künstlerischer Eigenständigkeit selbst liegt schon ein kritisches Bezugnehmen auf als selbstverständlich geltende Voraus-Setzungen.

Auch Gisela Breitling nennt in ihrer Kritik einige Merkmale, die in feministischen Beschreibungen als charakteristisch für die Kunst von Frauen gelten: »So wäre denn eigentlich zu vermuten, daß feministische Beschreibung weiblicher Ausdrucksformen den derzeit üblichen »offiziellen« Deutungen von »Frauenkunst« widerspräche. Erstaunlicherweise ist das Gegenteil der Fall: prozeßhaft Arrangements, Zusammenstellungen aus unbeständigen Materialien, körperbezogene Ausdrucksformen wie Performance, Video und Aktionskunst werden nicht nur vom Kunstmarkt und den maßgeblichen Zeitschriften und Feuilletons als genuin weiblich beschrieben, feministische Interpretationen bestätigen solche Zuordnungen. Noch erstaunlicher ist, daß die "weibliche Gegenöffentlichkeit" diese Übereinstimmung bisher offenbar nicht als fragwürdig empfindet. Sie scheint sie noch nicht einmal bemerkt zu haben."[6] Sie kritisiert, daß im feministischen Sinn als weibliche Kunstwerke geltende Arbeiten mit Kriterien beschrieben werden, die das Gegenteil dessen bezeichnen, was die Sprache dem "Geschlechtsneutral-Männlichen" zuordnet", nämlich: subjektiv, regelwidrig (antiklassisch), körperbezogen, antirational oder "verrückt", bewegt, flüchtig, d.h. prozeßhaft, nicht an Dauer orientiert, der Norm entgegengesetzt ... Solche Kriterien sind nicht geeignet, die Fähigkeit der Frau zur Abstraktion zu unterstützen. Sie treiben im Gegenteil die Ausgrenzung der weiblichen Kreativität aus den geschlechtsübergreifenden Bereichen der Kunst voran."[7]

Viele der zitierten Merkmale haben einen Bezug zu Zeit: prozeßhafte Arrangements, unbeständige Materialien, bewegt, flüchtig, nicht an Dauer orientiert - und Performance, Video und Aktionskunst sind nicht nur körperbezogen, sondern weisen auch ein transitorisches Element auf. Silvia Eiblmayr erwähnt einen " transitorisch-momenthaften Chrakter" im Zusammenhang mit der Arbeit von Künstlerinnen, in dem "... sich auch tendenziell eine kritische Haltung der Künstlerinnen gegen männliches Geniegebaren geltend" macht.[8]

Solche zeitbezogenen Kriterien aus der Verknüpfung mit einem "spezifisch Weiblichen" zu lösen, legten mir die im Juni 1989 in einer Ruhrgebietsstadt im Rahmen einer Kunst-Aktion ("Schaufenster Bottrop") präsentierten Beiträge von 38 Künstlerinnen und Künstlern (gleich stark vertreten) nahe. In von den Waren der Geschäfte leergeräumten Schaufenstern - so die Vorgabe - konnten sie eine Woche lang einen Beitrag dort vorbereiten, um ihn dann eine Woche lang zu zeigen.

Dieser Zusammenhang: das Schaufenster als Ort der (wechselnden!) Warenpräsentation, die zum Teil sehr problematischen örtlichen Gegebenheiten, die unruhige Innenstadt-Umgebung und ein Passantenpublikum, all dies rückt die genannten, zeitbezogenen Kriterien in ein anderes Licht. Viele Künstlerinnen und Künstler haben vorhandene (Atelier-) Arbeiten ausgestellt; andere haben in unterschiedlichem Sinn schaufensterbezogene Arbeiten gezeigt. Unter diesen speziell für die Aktion erarbeiteten Beiträgen waren einige, die später auch an anderem Ort zu zeigen wären, andere, die nur in der (zeitlich begrenzten) Aktion gezeigt werden konnten. Eine auf einen bestimmten Laden bezogene und auf seine örtlichen Gegebenheiten zugeschnittene Fassaden-Außen-Installation (Tomas Bittger und Matthias Löcker) ist in anderem Sinn transitorisch als eine Performance (Gabriele vom Scheidt) oder eine Malaktion mit Musik und Tanz (Irmelin Sansen, Lisa Schröder, Susanne Betancor). Wiederum anders prozeßhaft - und bewegt - eine Metallplastik, die ihre Form mit dem Abschmelzen eines Eiskegels verändert (Doris Halfmann).

Noch anders zeitbezogen die Pflanzen-Verteil-Aktion an Passanten in Verbindung mit in einem Apothekenfenster ausgestellten Bildern (Manfred Lux) und in davon verschiedener Weise mit dem Aspekt Zeit verknüpft mein Beitrag, ein Aufbau aus drei Materialien: alte, handgeformte Backsteine (gleicher Größe, aber nicht gleich aussehend), Briketts und weiße Styropor-Klötze. Meine "Bausteine"-Anordnung war speziell für das Schaufenster geplant und wurde nur hier realisiert. In 1 1/2Tage-Abständen wurde die Anordnung mehrmals während der Präsentationswoche umgebaut, und nach dem Abbau wurden die Materialien wieder ihrem "eigentlichen" Bestimmungszweck (Vermauern, Heizen, Dämmen) übergeben.[9]

Einige der so in unterschiedlichem Sinn transitorisch zu nennenden Arbeiten lassen die Intention erkennen, der Bilderfülle in den Geschäftsstraßen durch damit kontrastierende Lösungen etwas entgegenzusetzen, statt flüchtiger Wahrnehmung einen dauerhaften Eindruck bei den Passanten zu erreichen - denn dem "schnellen Blick" drohten in dieser Umgebung die von der Mehrzahl der Passanten allein als "Kunst" akzeptierten Bilder und Skulpturen eher anheimzufallen als "sperrige" Beiträge.

Während auf Zeit bezogene Kriterien wie "transitorisch" und "prozeßhaft" ein Zusammenfassen von untereinander im Hinblick auf ihre Zeit-Bezüge sehr verschiedenen Arbeiten nahelegen (und in einem weiteren Schritt auch ihre Zuordnung zu einem "spezifisch Weiblichen"), öffnet eine differenzierende Betrachtung den Blick für die jeweils in einzelnen Arbeiten erkennbaren besonderen Zeit-Bezüge, die von der Präsentation und dem Zusammenhang mit der Rezeption nicht loszulösen sind. Dabei zeigt sich, daß und wie beispielsweise ein Transitorisches gerade an Dauerhaftigkeit orientiert und auf komplexe Weise verknüpft sein kann sowohl mit klassischen wie auch mit nichtklassischen Mitteln.

Das führt zu einer anderen Art des Fragens: nicht ob eine Arbeit ein transitorisches oder prozeßhaftes Element aufweist oder nicht (und ob das ein Charakteristikum der Arbeit von Künsterinnen ist im Gegensatz zu der von Künstlern), sondern w i e der Aspekt Zeit in einer künstlerischen Arbeit sichtbar ist, von welchem Umgang mit Zeit sie - mehr oder weniger deutlich erkennbar geprägt ist, wird wichtig. Diese Erweiterung des Blicks läßt Zeit-Bezüge wie "transitorisch" oder "prozeßhaft" vor allem anderen als künstlerische Merkmale wahrnehmen und hilft, die künstlerische Haltung zu erkennen, aus der heraus die Arbeiten entstanden sind.

Die nun anders gestellte Frage ist an die Arbeit von Künstlerinnen ebenso zu richten wie an die von Künstlern, und ein Prozeßhaftes wird nicht nur mit Performance, Aktionen u.ä. in Verbindung gebracht, sondern auch mit der Verwendung klassischer Mittel - auch das Prozeßhafte eines malerischen Oeuvres kann dann einbezogen werden. Unter einem weit gefaßten Aspekt Zeit werden komplexe Verknüpfungen zwischen Prozeßhaftem und Transitorischem, Dauerhaftigkeit und den Mitteln der Ausführung erst sichtbar. Nur danach zu fragen, wo Zeit thematisiert ist, wo sie wie als Element im künstlerischen Verfahren eingesetzt ist, wo vergängliche Materialien verwendet, wo dauerhafte Gebilde angefertigt werden, ob einzelne Arbeiten auf Abgeschlossenheit oder auf Erweiterung hin angelegt sind und dies zu trennen vom künstlerischen Arbeitsprozeß und der künstlerischen Haltung, greift zu kurz angesichts von Arbeiten, die Veränderung und Dauerhaftigkeit zugleich zeigen, Zeit also (mit)thematisieren und zugleich als Element im künstlerischen Verfahren einsetzen.

Wichtig ist, daß der Aspekt Zeit sich nicht verselbständigt; er ist e i n Aspekt, der nur im Zusammenhang mit allen anderen Aspekten, die in einer Arbeit von Bedeutung sind, betrachtet werden kann. Gleichzeitig ist er aber ein Schlüssel zum besseren Erkennen dieser anderen Aspekte. Eine besondere Aufmerksamkeit für den Aspekt Zeit führt zu einer differenzierteren Wahrnehmung einzelner Oeuvres (und der Arbeiten in ihnen), das jeweils Besondere an ihnen wird hervorgehoben und damit auch die Unterschiede zwischen ihnen. Zudem werden BetrachterInnen auch auf ihren eigenen Umgang mit Zeit aufmerksam, wenn sie die Erfahrung machen, daß nur die intensive Beschäftigung mit einem Oeuvre entdecken läßt, was dem flüchtigen, "mühelosen" Blick verborgen bleibt.

Werden zeitbezogene Merkmale mit der Arbeit von Künstlerinnen als Aspekte eines Weiblichen in Verbindung gebracht, wird damit einmal mehr den Frauen hier Künstlerinnen - eine Zuständigkeit für das Vergängliche (und manchmal zugleich eine Tendenz zum Bewahren) zugeordnet, während die genauere Betrachtung unter dem Aspekt Zeit erkennen läßt, daß es in auffallender Weise zeitgenössische Künstlerinnen sind, die einen höchst eigenwilligen Umgang mit Zeit in ihrer Arbeit entwickelt haben.

Was hier »eigenwilliger Umgang mit Zeit« genannt wird, läßt nicht eine Vorliebe für das Vergängliche vermuten, sondern eher eine kritische Distanz gegenüber Vorstellungen von einem männlichen und einem weiblichen Umgang mit Zeit. Von der Dominanz männlicher Praxis geprägte Maßstäbe vom Umgang mit Zeit beeinflussen auch das Denken über Kunst und künstlerische Arbeit, und die Vorstellung von einem für Frauen typischen Umgang mit Zeit, der sich auch bei Künstlerinnen noch zeigen soll, ist selbst Bestandteil diese Denkens. Solche Muster setzen sich aber gerade nicht ungebrochen in der Arbeit vieler zeitgenössischer Künstlerinnen fort. Im eigenwilligen Umgang mit Zeit in deren Arbeit scheint vielmehr das Koordinatensystem solcher Muster selbst überschritten. Das könnte unter anderem mit einem geschärften Blick dafür zu tun haben, daß Frauen traditionell nicht nur auf die Zuständigkeit für das Vergängliche reduziert waren, sondern daß gleichzeitig damit auch über ihre Zeit - von anderen - verfügt worden ist.
Die Zuständigkeit für das Vergängliche wurde von Virginia Woolf konstatiert:

  • »Denn alle Dinners sind gekocht; die Teller und Tassen gespült: ... von alledem bleibt nichts. Alles ist vergangen. Keine Biographie oder Geschichte weiß darüber ein Wort zu sagen.«[10]

Die Tagebuchaufzeichnungen der Charlotte Berend-Corinth zeigen, wie nicht nur der Ehemann Lovis Corinth die Zeit der Ehefrau beansprucht hat, sondern wie darüber hinaus die Zeit der Malerin Charlotte Berend-Corinth reduziert wurde zugunsten einer Erweiterung der dem Oeuvre Lovis Corinths zugute kommenden Zeit. Sie trägt unter Verzicht auf ihre eigene künstlerische Arbeit (die sie erst später wieder aufnimmt) noch über Corinths Tod hinaus dazu bei, daß sein Werk in die Dauerhaftigkeit (der Kunstgeschichtsschreibung) eingehen kann. Die Eintragung vom 19. Oktober 1925:

  • »Die Arbeit an deiner Selbstbiographie hat ihren Anfang genommen. Zwei Tage lang habe ich gearbeitet; das Ganze lag dermaßen chaotisch vor mir ... Die Schwierigkeit bestand darin, den Faden zu finden, denn du hattest dich hingesetzt und niedergeschrieben, gerade irgendwo in irgendein Heft hinein. Oft im Jahre 1924 auf der linken Seite hinein in ein Heft von 1908, wo rechts das "Erlernen der Malerei" steht. Doch nun sehe ich Deinen Gedanken, der durch das Ganze geht. Ach, da bemerke ich erst, wie unorganisch mein Leben ist! «

Sie wendet ihre Zeit auf, um eine Ordnung herzustellen, für die er selbst seine Zeit nicht eingesetzt hat. Die Eintragung vom 10. November 1925 beschreibt eine Fülle von im Dienst des Corinthschen Oeuvres erledigten Arbeiten und endet: »Traurig bin ich und müde.«[11]

Die Vermehrung der seinem Oeuvre zugute kommenden Zeit wird mit dem Abbruch ihrer Arbeit erkauft, die über den "Hebel" Zeit verhindert wird.

Hier schließt sein Verfügen über die eigene Zeit einen ihr zugedachten Umgang mit Zeit ein (indem sie nicht selbstbestimmt verfügt über ihre Zeit), und es zeigt sich die Verknüpfung dieser Haltung mit einem künstlerischen Selbstverstädnis und einem Oeuvre-Verständnis, nach dem für die Größe - im doppelten Sinn von Umfang und Ruhm eines Werkes jede Nutzung aller erreichbaren Möglichkeiten erlaubt scheint.
Die Künstlerinnen benachteiligende Situation ist nicht zu trennen von Oeuvre-Vorstellungen, die am "Fortschritt" eines künstlerischen Schaffens und an Studien zunehmender Meisterschaft mehr orientiert sind als am Verlauf des Arbeitsprozesses selbst. Auf ihn sich zu konzentrieren würde erlauben, Schritt für Schritt im eigenen Tempo zu arbeiten, auch zeitlich weit auszuholen, ohne daß im Rückblick nur "Unvollkommenes" wahrgenommen werden müßte, bloße Vorbereitung für ein Oeuvre, das in der Zukunft erst noch entstehen soll.[12]

Maria Lassnigs anfangs zitierte Bemerkung, sich nicht von Oeuvre-Zielvorstellungen unter Druck setzen zu lassen (und selbst unter Druck zu setzen), erscheint wie eine Aufforderung zu größerer Gelassenheit gegenüber diesen Vorstellungen - nicht jedoch zu Gelassenheit gegenüber der Arbeit selbst, etwa in dem Sinn, daß sie weniger ernst zu nehmen oder weniger intensiv zu betreiben sei. Ein jeweils eigenwilliger Umgang mit Zeit ist Voraussetzung für die Entstehung eines Oeuvres, und er ist eines seiner Elemente.
Von Gelassenheit geprägt scheint Laurie Andersons Umgang mit Zeit, und nicht zufällig formuliert die amerikanische Performance-Künstlerin und Musikerin in einem Interview (WOLKENKRATZER 2/1984) Kritik an der Kunstszene:

  • »Ich wollte mir erst mal für mich selbst Zeit nehmen. ... Dann habe ich gedacht, warum soll ich nicht einfach eine Single machen, nur eben einen Song, wäre ganz schön. Und ich fing an, und es wurde länger und länger, und ich sagte mir, vielleicht mache ich doch besser eine LP. Und dann wurde es länger und länger, und ich dachte...«

Sie bestätigt, daß ihre Schallplattengesellschaft regelmäßig verzweifelt, weil sie nie ihre Termine einhält und sagt über ihr Kunstverständnis: "Wenn du anfängst, dich bei deiner Arbeit nach den Urteilen anderer Leute zu richten, ist deine Existenz als Künstler vorbei." Und: "Ich habe kein Interesse an Dauerhaftigkeit ... Das Einzelstück ist nicht wertvoll. Das habe ich auch immer schon gegen die Kunstszene gehabt, die fetischistische Haltung gegenüber ihren Objekten. In Wirklichkeit geht es darum, Geld zu machen und Dinge zu haben, Dinge zu besitzen."

Der auf den Aspekt Zeit gerichtete Blick läßt erkennen, daß andere Künstlerinnen gegenüber "Dauerhaftigkeit" ganz andere Haltungen haben als Laurie Anderson, daß aber auch sie einem bestimmten Fetischismus im Umgang mit Kunst eine Absage erteilen - einem Meisterwerke-Verständnis, in dem Achtlosigkeit und Bewunderung auf seltsame Weise vereint sind.

Mitte der 80er Jahre las ich die Bemerkung einer Galeristin über ihre Bemühungen, der Arbeit von Künstlerinnen mehr Öffentlichkeit zu verschaffen. Sie konstatierte einen offenbar immer noch herrschenden Zweifel daran, daß Frauen so kontinuierlich und produktiv wie Männer an der Entwicklung eines Oeuvres arbeiten wollten und könnten. Am Beginn der 90er Jahre dürfte schon etwas deutlicher geworden sein, wie unbegründet dieser Zweifel ist, und die Galeristin hätte Anlaß zu einer anderen Einschätzung.[13]
Abgesehen davon, daß diese Vorbehalte in ähnlicher Weise auch gegenüber den in anderen Bereichen arbeitenden Frauen bis heute wirksam sind, enthalten sie einen Aspekt, der angesichts des Kunstmarkt-Booms vielleicht mehr denn je von Bedeutung ist.

Ein in allen gesellschaftlichen Bereichen geltendes Verständnis von Produktivität und Kontinuität wird über den Zusammenhang von Kunsmarkt und Käufer-Interessen wie selbstverständlich auch an die Kunst herangetragen. Daß mit den an ein allenthalben gültiges Ökonomie-Verständnis gebundenen Vorstellungen von Produktivität und Kontinuität auch eine bestimmte Art von Umgang mit Zeit einhergeht, wird selten als ein beachtenswerter Gesichtspunkt wahrgenommen. Es gilt als selbstverständlich, daß Zeit nicht nur kostbar, sondern auch rar und knapp ist, daß sie optimal genutzt werden müsse - ein Konsens über ein zeitgeiziges "time is money", der unbesehen auch auf den Bereich der Kunst übertragen wird.

Wenn im Zusammenhang mit Kunst von einer "Ökonomie der Mittel" gesprochen wird, dann ist damit meistens gemeint, daß nicht ein großer, imposanter Aufwand der künstlerischen Mittel einen Mangel an Dichte und Vielschichtigkeit des Ergebnisses kompensieren soll. Daß ein solcher ökonomischer Einsatz künstlerischer Mittel erarbeitet wird nicht zuletzt durch einen "unökonomischen", eher großzügigen Umgang mit Zeit, wird häufig übersehen. Eine unbedachte Gleichsetzung von künstlerischer und anderer Ökonomie im Sinne eines "günstigen" Verhältnisses von (wenig) Aufwand, Zeitaufwand eingeschlossen, und (viel) Ergebnis legt die zugespitzte Rückfrage nahe: Effizienz auch in der künstlerischen Arbeit?

Daß es in der Kunst so nicht "funktioniert", gehört mit zu ihrem besonderen Potential. Das Effizienz-Prinzip wird nicht einfach umgekehrt (viel Aufwand und wenig Ergebnis), sondern unterlaufen dadurch, daß viel - auch zeitlicher - Aufwand nicht schnell zu viel Ergebnis führt, sondern langsam und allmählich zu Dichte und Komplexität (die in den Arbeiten nicht sichtbar werden können, wenn sie nicht im Laufe eines künstlerischen Arbeitsprozesses entstehen konnten). Darin zeigt sich künstlerische Produktivität, und Kontinuität ist in diesem Zusammenhang, den Prozeß in Gang zu halten, über lange Zeiträume, mit viel Zeitaufwand und ohne daß fortwährend etwas "hervorgebracht" werden müßte. So entsteht ein Oeuvre.

In diesem Verständnis ist die künstlerische Arbeit selbst prozeßhaft, ob durch sie Gemälde entstehen oder in verschiedenen Weisen Transitorisches - bis hin zu Prozeßkunst, in der das "Werk" (das im traditionellen Sinn deshalb keines mehr ist) mit seinem Zeit-Verlauf identisch wird.

Das so Verdichtete und Konzentrierte in der Rezeption "auseinanderzufalten", zu erkennen, zu erfahren und - mit allen Eigenanteilen der BetrachterInnen - nachzuvollziehen, erfordert Zeit. Die Erwartung, daß sich Kömplexität einem flüchtigen Blick erschließt, ist so trügerisch wie die Vorstellung, daß sich Kunst schnell machen ließe. Prozeßhaft ist auch die Rezeption. (Deshalb haben es manche Arbeiten besonders schwer, angemessen wahrgenommen zu werden und vermeintlich zugänglichere Arbeiten auch.)

Ein Bewußtsein solcher Zusammenhänge schließt die Vorstellung vom unvermittelt aus dem Nichts sich einstellenden "genialen Wurf" aus, bei dem auf von Außenstehenden nicht nachvollziehbare Weise Eingebungen in Kunstwerke umgesetzt werden - was so als nicht einholbar erscheint, legt bloßes Bewundern nahe, nicht die Mühe eines Annäherungsversuchs.

Es bleibt problematisch, mit kurzen Hinweisen (gerade) auf die Komplexität von Zeit-Bezügen in künstlerischen Arbeiten aufmerksam machen zu wollen. Es soll auch nicht der Eindruck entstehen, daß damit schon das Werk "ausgelotet" sei - die Begrenztheit der Annäherung unter diesem Aspekt muß sichtbar bleiben (und ich zeige hier bewußt nicht e i n e Abbildung je Oeuvre).

In meinen Beispielen konzentriere ich mich auf Künstlerinnen und suche dabei in deren Arbeit die spezifischen Zeit-Bezüge als künstlerisches Phänomen auf, nicht als Kriterium eines Weiblichen. Nicht etwa ein für Künstlerinnen typischer (vs. künstlertypischer) Umgang mit Zeit soll betrachtet werden, sondern die jeweilige Eigenart der Prägung der künstlerischen Arbeit durch den Aspekt Zeit. Die Hinnweise auf nur einige Künstlerinnen sollen darauf aufmerksam machen, daß es unter dem Aspekt Zeit etwas zu entdecken gibt.[14]

Das Katalogbuch zu DOROTHEE VON WINDHEIMs Wiesbadener Ausstellung im Herbst 1989 gibt eine Übersicht der Arbeit vieler Jahre und zeigt die Bedeutung, die der Aspekt Zeit darin hat. Materialprozesse und der Prozeß eigener Veränderung sind verknüpft im - in Phasen erarbeiteten - Werkkomplex der Putzabnahmen. Das Vergraben eines Selbstporträt-Tuches und das Wieder-Ausgraben nach einem Jahr (1971/72) untersucht anders einen Prozeß als das Wiederaufsuchen alter Arbeitsstätten in Italien nach langer Zeit. Über diese Wiederbegegnung der veränderten Künstlerin mit den veränderten Orten schreibt Barbara Wally:

  • »Dorothee von Windheims Sequenz von 38 Schwarz-Weiß-Fotografien italienischer Architekturfragmente sind Stationen eines Prozesses, der sich - von 1971 bis 1984 - über 13 Jahre erstreckte und der vielleicht noch nicht abgeschlossen ist. Diese Fotografien und die begleitenden Tagebuchaufzeichnungen wurden also nicht als autonome Kunstwerke konzipiert, sie sind vielmehr Dokumente einer Entwicklung von Bildwerdung - von Motivsuche, Abbild, Ausschnitt, Abdruck, Spiegelung, Positiv und Negativ, Zeit und Vergänglichkeit - und sie sind auch Zeugnisse der inneren Veränderung der Künstlerin, die in ihren begleitenden Texten beschrieben hat, wie diese Fotografien entstanden sind, welche Entwicklungsgeschichte ihnen vorausging und welch mühsamer und hindernisreicher Weg der Realisierung von "A Ten Years" Afterplay" entgegenstand. Die zeitlich weit ausholenden und aufeinander bezogenen Arbeitsprozesse entsprechen Veränderungsprozessen auf seiten der Künstlerin, und diese werden wiederum in Beziehung gesetzt zu Veränderungsprozessen, die sich an Materialien vollzogen haben und im Verhältnis zwischen der Künstlerin und früheren Arbeitsorten. Die Zeugnisse des Gesamt-Arbeitsprozesses zeigen diesen auf unterschiedliche Weise - in den Baumarbeiten von 1985/86 wird er gesammelt zur Anschauung gebracht, vermittelt durch den intensiven Eindruck, den sie hervorrufen. Der aber - wenn man nachliest - ist durch intensives Anschauen und dann durch einen langen Arbeitsprozeß zustande gekommen. Anders - denkt man zunächst - und doch ähnlich entwickelt - denkt man dann - in der Installation "Die eine Seite ... die andere Seite... Über die Vergeblichkeit" von 1984, zu der eine Toncassette (Schritte der Künstlerin entlang der Berliner Mauer) und ein Tagebuch gehören, ein Erfahrungsbericht über den Versuch einer Arbeit zur Situation an der Berliner Mauer, in dem Ausstellungsbesucher selbst nachlesen können, wie der Arbeitsprozeß an diesem Projekt vor sich gegangen ist. Die "Vergeblichkeit" des Versuchs wird dokumentiert - und wird damit doch zu einer Arbeit. Schon Ende der 70er Jahre wird die Nicht-Realisierung eines Projektes mit Angaben zu den über fast 2 Jahre hin unternommenen Vorbereitungsschritten bekanntgegeben in einer von Galerien verschickten Mitteilung (Projekt Place des Vosges, Paris).

Zur Arbeit "Über die Vergänglichkeit" an der Skulpturenstraße St. Wendel schreibt Dorothee von Windheim: "Im Februar 1989 wird die Glashülse von einem Unbekannten zerstört. D. h. für mich: die Arbeit in St. Wendel geht weiter, wobei ich nicht an eine Rekonstruktion denke."[15]
In welcher Weise hier Prozeßhaftigkeit sichtbar wird, nicht nur daß dies der Fall ist, sondern wie einzelne Prozesse in einem Gesamtprozeß eingebettet sind und wie das für die Betrachtung nachvollziehbar gemacht wird - dies zeigt den Umgang der Künstlerin mit Zeit, Dingen, Orten, BetrachterInnen, mit der eigenen Arbeit - ihre künstlerische Haltung.

ANNA OPPERMANNs Arbeiten unterscheiden sich davon nicht nur durch ein völlig anderes Erscheinungsbild - sie sind vielmehr Zeugnisse eines ganz anders strukturierten Prozesses:
Die raumgreifenden Ensembles aus Objekten, Bildern, Texten (selbst geschriebenen und gefundenem Gedrucktem) mit einem realen Objekt als Ausgangspunkt (Pflanze, Fundstück aus der Natur), Kästen auch, in denen Bilder und Texte angeordnet sind, sie wachsen immer weiter, das Wachstum kann auch zeitweise ruhen, und es gibt aus jahrzehntelanger Arbeit zahlreiche solche Ensembles, umfangreiche und kleinere - auch "Seitentriebe", die das Thema eines größeren Ensembles aufnehmen.
Anna Oppenmnn verweist auf die Bedeutung von Zeit als Mittel zur Distanzgewinnung. Sie beschreibt ihre vom Anfangsobjekt ausgehende, in Zustands-, Bewußtseins- und Handlungsphasen vollzogene Methode in vier Schritten: 1. Meditation, 2. Katharsis, 3. Reflexion oder Feedback, 4. Analyse und Herstellung eines Gesamtbezugs.
Jeweilige Aufbauzustände eines Ensembles werden fotografiert, diese Aufnahmen auf Fotoleinwände übertragen, diese werden auch überarbeitet und dann wieder in das Ensemble eingearbeitet. So entstehen Zusammenstellungen von Fotos, Skizzen, Zeichnungen und Objekten mit Fotoleinwänden, auf denen jene wiederum zu sehen sind. "Es gibt sich Entsprechendes, sich Widersprechendes, sich Bedingendes, sich Ergänzendes", so Anna Oppermann, "in verschiedenen Medien und Ausdrucksfonnen, unterschiedliche Bildebenen und Realitätsebenen und auch Darstellungen - visualisiert oder artikuliert - verschiedener Bewußtseinszustände, Bewußtseinsebenen, Bezugssysteme (Bewertungsräume), Meta-Ebenen."

Georg Jappe betont in seinem Text über Anna Oppermanns Arbeit, daß sich die jeweils um ein Thema kreisenden Assoziationen nicht zum struktuturlosen Wust häufen, sondern geordnet und gestaltet werden auf das Ensemble hin, ohne daß "die Authentizität von Irrwegen, Verzweigungen, Ausuferungen, Rückrufungen zum Ausgangspunkt" gelöscht würde, daß es keinen Abschluß"punkt" gibt, denn "der lebendige, organische Aneignungsprozeß als Werk ist zeitlich offen bis zum Tode, räumlich so offen wie der Umraum, inhaltlich und formal zu Ergänzung und Entwicklung immer fähig."

Und - so Georg Jappe:

  • »Die Ensembles von Anna Oppermann sind dagegen die plastische Darstellung aller Kreationsphasen zusammen, die zeitliche Linearität des Entstehens wird überführt in eine räumliche Simultaneität.« So, "daß hier gewissermaßen eine kritische Gesamtausgabe des künstlerischen Aneignungsprozesses zur Anschauung gebracht und zum Bestand gemacht wird."

Nicht additiv zusammengefügt zu Ensembles werden die einzelnen Teile (s. auch die erwähnte Einfügung von Zustandsaufnahmen), sondern - so Georg Jappe:

  • »Die Elemente des kreativen Prozesses werden eben nicht, um das noch einmal zu betonen, in ihrer zeitlichen Abfolge aufgereiht (das wäre ja auch psychologischer Naturalismus), sondern nach formalen und thematischen Entsprechungen zu Kraftfeldern aufgebaut.«

Uwe M. Schneede weist auf den besonderen Zusammenhang von Dauer und Vergänglichkeit in Anna Oppermanns Arbeit hin und darauf, daß nicht der Auf- und Abbau von Ensembles zu vorübergehenden Präsentationen als ein Element des Provisorischen zu verstehen ist, sondern daß vielmehr "jede Präsentation ... eine Fortsetzung der vorigen" ist, nicht "eine Wiederholung oder auch nur Modifikation der vorigen", ein Charakteristikum, das den Gedanken an einen festen Ort für den dauerhaften Aufbau der Ensembles nicht ausschließt.
Einen Hinweis auf den Umgang mit Zeit in der Rezeption enthält Geog Jappes Anmerkung:

  • »Dieses "von etwas", das Inhaltliche also, die Mitteilungen, Botschaften, sieht Anna Oppermann in der Rezeption unterbewertet oder gar nicht zur Kenntnis genommen. ... Die Ensembles wollen, wie ein Archiv, auch gelesen werden.«[16]

HANNE DARBOVENs Arbeit "Schreibzeit", 1975 bis 1980, enthält auf 3.307 Blättern "neben den Zeit-Aufzeichnungen der Künstlerin seitenweise ab- und aufgeschriebene Textzitate" ... mit Schwerpunkt bei Heine und Baudelaire, Sartre und Brecht, Georg Christoph Lichtenberg und Karl Kraus sowie Lao Tse und Enzensberger, die von einigen Brockhaus-Passagen begleitet werden." Im Katalog zur Präsentation der Arbeit (von 1981/83) "Für Rainer Werner Fassbinder" 1988 in München wird dies über die "Schreibzeit" berichtet und der Zusammenhang zwischen ihr und der Künstlerin, die "Prüfung meiner selbst auf Geschichte und in Geschichte" sei Anliegen der "Schreibzeit" gewesen; der Umgang mit Geschichte ist zentraler Aspekt auch in der Fassbinder-Arbeit.[17]

Im Katalog zur Präsentation der "Weltansichten: 00-99" auf der Biennale Venedig 1982 schreibt Johannes Cladders:

  • »Auf 5.300 Zetteln schreibt Hanne Darboven ... ein Jahrhundert aus, nach einem Plan, der von den 52 Wochen eines Jahres ausgeht und darin wiederum gegliedert ist nach den sieben Tagen der Woche und den vierundzwanzig Stunden eines Tages. Ein ungeheures Zahlenwerk baut sich hier auf ... Doch es ist in eine strenge Ordnung und Disziplin genommen.«[18]

Zu den »Tagesrechnungen« (1968 bis 1977) schreibt Ernst Busche (art 5/1986):

  • »Ein ebenso systematisches wie scheinbar endlosen Tun beginnt: das Umsetzen von Daten, also von Tagen, Monaten, Jahren, sogar Jahrhunderten in Zahlenkolonnen, deren Grundlage die aus den Tageswerten gebildete Quersumme ist ... Nach Gesetzen, die dem flüchtigen Betrachter verborgen bleiben, vermehren oder verringern sich die zeitbezogenen Zahlenmengen. Zeit wird plötzlich räumlich. Das nachzuvollziehen erfordert "eine Geduld, die nur wenige Betrachter aufzubringen vermögen, obwohl Hanne Darbovens Systeme, denen sie stets einen Index als Schlüssel nachstellt, immer eindeutig und zugänglich sind." Die Arbeit "Existenz" (1989 in der Galerie Paul Maenz, Köln, zu sehen) zeigt Fotografien der einzelnen Seiten der Notizkalender der Künstlerin aus den Jahren 1966 bis 1988. Diese Arbeit "verzichtet auf Transformationen des repräsentierten Zeitraums in neue eigenständige Zeit-Zeichen. Die Notizkalender - ihre Struktur, ihr Objektcharakter - sind selbst schon eine Form der Zeitsystematisierung. Durch Fotografieren und durch die Reihung der Fotos entsteht das optische Nebeneinander eines Zeitraums, in dem sich Chronos - als gleichmäßiger Ablauf von Zeit - und Kairos - als individuelles Lebensschicksal - durchdringen.« (Wolfgang Max Faust in: WOLKENKRATZER 5/1989).

Andere Prozeßhaftigkeit zeigt sich bei SIGRID SIGURDSSONS Projekt "Vor der Stille", das 1989 in einem Raum des Karl Ernst Osthaus-Museums in Hagen begonnen wurde und innerhalb von vier Jahren fertiggestellt sein soll:

  • »... ein raumhohes Regal mit zweiundsiebzig Fächern, ein Tisch und die Absicht, zweiundsiebzig Bücher oder Buchobjekte in der Größe von Folianten herzustellen, die im Regal aufbewahrt werden sollen und aus ihm herausgelesen werden können." Die Bücher werden von der Künstlerin gemacht, es gibt solche, die von ihr gesammelte Fundstücke (Erdproben, Samen, Chemikalien z.B.) enthalten und die - ebenso wie drei Tagebücher der Künstlerin - verschlossen bleiben sollen; eine zweite Gruppe von Büchern enthält vorgefundene Dokumente, geordnet nach thematischen Schwerpunkten; eine dritte Gruppe umfaßt Bücher mit von der Künstlerin gemalten, gezeichneten und geschriebenen Blättern, die sich teilweise wiederum auf eingearbeitete Dokumente beziehen. Darüber hinaus gibt es drei nicht von der Künstlerin gemachte Bücher: eine nicht zugänglich im Regal plazierte Gesamtausgabe der Werke Ciceros (von 1616), die "etwa 2000 Jahre Geistesgeschichte" repräsentiert, ein auf dem Tisch liegendes Buch mit 2000 leeren Seiten, das von den Besuchern gefüllt werden und die jeweilige Gegenwart und damit auch die Entstehung der Installation repräsentieren soll und ein drittes Buch mit ebenfalls 2000 leeren Seiten, im Regal nicht zugänglich plaziert, das repräsentieren soll" das Potential des ganzen Unternehmens, also das Noch-nicht wie die "Stille", verstanden als Summe aller Erfahrungen.«

In der Hamburger Kunsthalle bearbeitet die Künstlerin seit 1986 ein ähnliches Projekt unter dem Titel "Verschließen und Öffnen." Vorläufer solcher "Konstruktionen" (Katalogtext) sind über zehn Jahre hin entstandene Bilder: "Mehrlagig übereinander geklebte Dokumente und Objekte veranschaulichen den fortschreitenden Zeitprozeß."[19]
Die Schweizerin URSULA MUMENTHALER bringt in vorübergehend leerstehenden Gebäuden augentäuschende Raum-Ausmalungen an, fotografiert sie und löscht sie wieder.

  • »Das Resultat ihrer Arbeit (und ihre einzige Handelsware) ist ein Foto, von dem Ursula Mumenthaler genau zwei großformatige Abzüge macht ... Größere Annäherung an ein Original ist nicht möglich, denn der wirkliche Stoff ihrer Scheinwelt - Dispersionsfarbe auf dem Fußboden und an den Wänden - muß beseitigt werden, bevor die Künstlerin einen neuen Entwurf umsetzen kann." Dieses prozeßhafte Verfahren, in dem die Ausmalung gelöscht wird, nachdem sie im Foto dauerhaft festgehalten worden ist, damit eine neue Malerei angebracht werden kann, die auch transitorisch sein wird, bringt auch diesen Zeit-Bezug hervor: "Die Doppelarbeit "Badende ohne Schatten/Schatten ohne Badende" (1986) macht aus einem Augenblick zwei« (art 4/1989).

Die großformatigen Eisen-Plastiken der Spanierin SUSANA SOLANO legen nicht den Gedanken an Prozeßhaftigkeit oder Transitorisches nahe. In einem Interview (KUNSTFORUM, Bd. 103) wird jedoch ihr Umgang mit Zeit erkennbar, die Prozeßhaftigkeit ihrer Arbeitens:

  • »Aber letztlich kann ich Ihnen nicht genau sagen, was zuerst da war: die Idee oder das Material. Und der Reifungsprozeß nährt sich zudem aus anderen Gebieten, die über die Kunst hinausgehen. ... Es gibt Arbeiten, die neue suggerieren oder aus ganz alten hervorgegangen sind. Und dennoch arbeite ich auf keinen Fall in Serien. Dazwischen liegen lange Pausen und unter den einzelnen Objekten besteht in formaler Hinsicht keine Ähnlichkeit." Und: "Meine Haltung, meine Meinung verändern sich ständig dabei, und in einem Jahr kann ich an einer ganz anderen Stelle sein als jetzt.«

Gefragt, ob ihre Arbeiten figurativ seien, sagt sie:

  • »Da mache ich keinen Unterschied: für mich ist alles figurativ. ... Wissen Sie, ich nehme mir so etwas nicht vor. Ich denke mir etwas, beginne einfach mit der Arbeit und verändere sie fortlaufend. Es entsteht eben ein Dialog zwischen dem Material und mir. Ich weiß a priori nicht, wie das Stück am Ende aussieht.«

Im hier mehrfach angesprochenen Umgang mit Zeit ist Susana Solanos künstlerische Haltung erkennbar, und nicht zufällig betont die Künstlerin die Wichtigkeit ihrer persönlichen und künstlerischen Freiheit - auch die Unabhängigkeit von der Bindung an eine Galerie; Kategorien wie die einer "weiblichen Sprache in der Kunst" hält sie für von Männern gemachte Einteilungen, und sie sagt: "Es sind übrigens die anderen, die meine Arbeiten als Kunst bezeichnen. Nicht ich."

Über KATHARINA FRITSCH wird berichtet, daß sie an der Vorbereitung einer Ausstellung in Münster (1989) drei Jahre lang gearbeitet hat, und sie wird so zitiert: "Präzision ist die größtmögliche Zuwendung, die man Dingen überhaupt entgegenbringen kann" (art 6/1989). "Alle bisherigen Werke von Katharina Fritsch antworten mit den Mitteln der Plastik in einer ungewöhnlichen Weise auf die gegebenen, unterschiedlichen Situationen, für die die Kunstwerke konzipiert waren." (Information zur Ausstellung im Portikus, Frankfurt/M., August/September 1989). Über ihre "Tischgesellschaft" (32 identische Kunststoff-Männer an einer 16 m langen Tafel) schreibt Edith Krebs: "Ein Werk von atemberaubender Präsenz, unvergleichlich." (NOEMA No. 20, 9/10,1988). Die Arbeit war im Sommer 1988 in der Kunsthalle Basel zu sehen.

Der damalige Kunsthallen-Direktor Jean-Christophe Ammann spricht in einem Interview (art 8/1988) von seinem Umgang mit Kunst und sagt: "Ich möchte Ausstellungen als ein Instrument benutzen, Künstler anzuregen, etwas ohne Zeitdruck zu produzieren, damit sie ein gutes Stück weiterkommen. So wie ich es jetzt mit Katharina Fritsch, Rosemarie Trockel und Anna Winteler ... gehalten habe. Die hatten mit ihrer Arbeit bis zu einem Jahr Zeit."
Er konstatiert, daß am Ende der 80er Jahre - anders als um 1960, 1970 und 1980
- kein neuer Aufbruch zu sehen ist. Aber: "Ich sage nicht, das ist Stillstand. Ich sage vielmehr, wir befinden uns in einer Phase radikaler Veränderungen."
"Der Druck", so Ammann, "auf die Künstler war noch nie so stark. ...Die Unterhaltungsindustrie hat also die wirklichen Probleme noch gar nicht begriffen. Die puscht nur und sagt: Mach mal hier eine Ausstellung, mach mal da eine Ausstellung." Demgegenüber seien die Künstler "sehr langsam geworden, denn es hat sich etwas grundlegend verändert. Künstler müssen nicht mehr tabula rasa machen und auch keine neuen Behauptungen mehr aufstellen, sie müssen keinen Vater mehr ermorden und sich von keiner Mutter mehr lösen. Sie schleudern auch nicht mehr die Bilder heraus, wie das noch 1980 war, sondern sie gehen höchst ökonomisch mit ihren Ideen um - aus Zwang und Notwendigkeit, weil sie ja nicht wissen, wie sie diesen Ideen Form geben sollen. Sie müssen sich nicht mehr in eine Richtung bewegen, sondern sich ausdehnen. Der einzig reale Bezugspunkt, den der Künstler heute hat, ist er selbst."

Der Aspekt Zeit im hier beschrieben Verständnis ist nicht eine Kategorie oder ein Merkmal, sondern eine "Brille", die die komplexe Verbindung von Zeit-Bezügen mit anderen Aspekten eines Oeuvres und darüber hinaus die Besonderheit einzelner Oeuvres klarer erkennen läßt. Sie macht sichtbar, daß sehr unterschiedliche Arbeiten von einem jeweils sehr eigenwilligen und eigenartigen Umgang mit Zeit geprägt sein können. Daß Dorothee von Windheims Arbeiten wie auch die anderer genannter Künstlerinnen selbst Aufschluß geben über den Prozeß, dessen Zeugnisse sie sind, lenkt erst die Aufmerksamkeit auf die Bemerkungen, die Susana Solano und andere zu ihrem Umgang mit Zeit machen, und es wird deutlich, daß es sich dabei um ein Phänomen des Künstlerischen handelt, um künstlerische Entscheidungen; eine weitgehende Unabhängigkeit von allgemeinen Maßstäben im Umgang mit Zeit "vorzuführen" ist ein künstlerisches Bezugnehmen auf Voraus-Setzungen.

Den Umgang mit Zeit im einzelnen Oeuvre aufzusuchen, führt erst dazu, auch zu sehen, daß im Aspekt Zeit wie in einem Knotenpunkt die künstlerische Arbeit selbst, ihre Rezeption durch BetrachterInnen und das Umfeld, in dem dies vor sich geht - samt Kunstmarkt-Betriebsamkeit - miteinander verknüpft sind.

Einen eigenwilligen Umgang mit Zeit - vor allem anderen - als ein wichtiges Element künstlerischer Arbeit zu sehen, schließt nicht aus, daß möglicherweise das künstlerische (!) Potential zum Entwickeln eigener Regeln für die Arbeit, also eine Distanz zu jenen eingangs erwähnten, als selbstverständlich geltenden Voraussetzungen mitgeprägt sein könnte durch spezifisch weibliche Erfahrungen, wie unmittelbar oder vermittelt auch immer. Wichtiger aber erscheint dies: Künstlerische Unabhängigkeit schließt eine Unabhängigkeit von stereotypen Vorstellungen, auch denen eines "Weiblichen" und zumal denen eines "weiblich Künstlerischen" mit ein.
Wer sich über solche Muster trotz erschwerter Bedingungen und in der Erkenntnis, daß die erschwerten Bedingungen von eben diesen Mustern herrühren, hinwegsetzt, um eine eigene künstlerische Arbeit zu entwickeln, wird wenig geneigt sein, dabei die demselben Denken entspringenden Muster vom Umgang mit Zeit, vom Umgang mit Kunst und vom Umgang mit Zeit in der Kunst als selbstverständlich zu übernehmen.

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