Keine weibliche Ästhetik?

Die Frage nach einer weiblichen Ästhetik gilt als die Frage nach spezifischen Merkmalen der Kunst von Frauen. Seit Jahren wird versucht, eine solche weibliche Ästhetik zu beschreiben, aber alle mir bisher bekannten Ergebnisse sind unbeftiedigend. Ich kann leider zu der gegenwärtigen Diskussion auch keine geschlossene Untersuchung, sondern nur fragmentarische Ergebnisse meiner Aueinandersetzung mit dem Thema liefern.
Ein großes Problem liegt für mich darin, daß hier weiblich mit Frau gleichgesetzt wird, was bedeutet, daß die Kunst von Frauen weiblich ist. Dabei ergeben sich für mich Widersprüche. Die allgemein als weiblich angesehenen Eigenschaften, die auch von Feministinnen wie Marilyn French so hoch bewertet werden,[1] sind doch genau die, die das Patriarchat über Jahrhunderte von den Frauen gefordert hat, um sie zu unterdrücken. Mit diesen weiblichen Eigenschaften wäre der Kampf um die Emanzipation nicht zu führen gewesen. Mit Milde und Aggressionslosigkeit wären die Frauen sicher nicht in die Positionen gelangt, auf die wir heute stolz sind.
Weibliche Eigenschaften zu verherrlichen und männliche zu verteufeln, also die Werte umzukehren, schafft eine Situation, die genauso an der Realität vorbeigeht wie vorher. Weibliche und männliche Verhaltensweisen sind nicht an ein Geschlecht gebunden: "...(die soziologische Betrachtung) ergibt für den Menschen, daß weder im psychologischen noch im biologischen Sinne eine reine Männlichkeit oder Weiblichkeit gefunden wird. Jede Einzelperson weist vielmehr eine Vermengung ihres Geschlechtscharakters mit biologischen Zügen des anderen Geschlechts und eine Vereinigung von Aktivität und Passivität auf, sowohl insofern diese Charakterzüge von den biologischen Abhängen als auch insofern sie unabhängig von ihnen sind..." Dieses Freud-Zitat stammt aus Juliet Mitchells Buch "Psychoanalyse und Feminismus",[2] aber ich füge noch eins hinzu für die Frauen, die Freud nicht akzeptieren: "Alle Gesellschaften schreiben Männern und Frauen unterschiedliche Aktivitäten und Haltungen vor. Die meisten von ihnen versuchen, diese Vorschriften mittels der physischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern oder ihren verschiedenen Rollen bei der Fortpflanzung begrifflich zu rationalisieren. Eine vergleichende Untersuchung der Stellung, die Frauen und Männern in verschiedenen Kulturen zugewiesen werden, hat allerdings gezeigt, daß solche Faktoren zwar als Ausgangspunkt einer Einteilung dienen können, die tatsächliche Zuweisung jedoch fast vollständig determiniert ist. Selbst die Männern und Frauen in verschiedenen Gesellschaften zugewiesenen psychologischen Charakteristika variieren so stark, daß sie nur eine schwache physiologische Basis haben können."[3]
Also untersuchen wir doch die Kunst (in meinem Fall die Filme) von Frauen ganz objektiv und sehen, was wir finden! Das hört sich einfacher an, als es ist, denn die Einstellung des- oder derjenigen, die forscht, beeinflußt das Ergebnis. In ihrem Aufsatz "Die weibliche Sicht"[4] setzt sich Noll Brinckmann mit Experimentalfilmen von Frauen auseinander und stellt an diesen Beispielen Kategorien für eine spezifische weibliche Ästhetik heraus wie unter anderem "Umgang mit der Farbe", "Enthierarchisierung" und "Konzentration auf eigene Erfahrung." Sie kann hier von einer weiblichen Ästhetik sprechen, aber das gilt nicht generell für die Kunst von Frauen, denn Filme, in denen diese Kategorien nicht vorkommen, stellt sie nicht vor. Das sind nun aber gerade die Filme, die mich interessieren. Mich fasziniert ein Frauenbild, das nicht der üblichen Norm folgt.
Schon vor Jahren bin ich darauf in Horror- und Frauengefängnisfilmen gestoßen. Trivialfilme spiegeln den Zeitgeschmack, also Vorstellungen "der breiten Masse", außerdem ist in ihnen die psychische Zensur geringer als in der offiziellen Kultur. Deshalb sind sie besonders aufschlußreich.
Die Frauen in diesen Filmen "... sind, abgesehen von ihrem sehr weiblichen Äußeren, in ihrem Verhalten äußerst männlich: sie prügeln sich nach allen Regeln der Kunst. Sie gehen ganz selbstverständlich mit Schußwaffen und Messern um. Sie sind hinterhältig und skrupellos. Sie sind sehr geil aufeinander, und wenn es darauf ankommt, sehr solidarisch und mutig. Sie dirigieren ihre Untergebenen mit psychologischem Geschick und führen den Kampf um die Macht mit voller Härte".[5] Unheimlich ist die junge Frau in dem inzwischen verbotenen Film ICH SPUCK AUF DEIN GRAB: nachdem sie von drei Männern auf bestialische Weise vergewaltigt worden ist, bringt sie diese der Reihe nach um. Sie tut das planvoll, ohne Skrupel und ohne Zögern.
In Diskussionen mit Frauen wurden diese Filme meistens als Arbeiten von Männern nicht akzeptiert. Dabei hält sich das Gerücht, daß der Drehbuchautor des Films »Ich spucke auf dein Grab« in Wirklichkeit eine Frau ist, weil so deutlich feministische Züge der Hauptdarstellerin zu erkennen sind.
Die Frauen der Pro-Pomo Bewegung in den USA propagieren eine einfache Strategie: wenn es für unsere Phantasien noch keine Bilder von Frauen gibt, müssen wir eben die Bilder von Männern, die brauchbar sind, für unsere Belange benützen.[6]
Der KALI-FRAUENFILM von B + W Hein geht in dieser Weise vor. Szenen aus etwa 25 verschiedenen Trivialfilmen, in denen Frauen kämpfen, werden aus dem Zusammenhang gelöst und neu montiert zu einer Folge männermordender und kastrierender Kämpferinnen.

Inzwischen ist aber auch ein Action Thriller ins Kino gekommen, der von einer Frau gedreht ist und zeigt, daß diese Männerphantasien auch Frauenphantasien sein können: Kathryn Bigelow arbeitet in BLUE STEEL (1990) mit allen Mitteln dieses Genres. Sie scheut in keiner Weise vor der Darstellung von Brutalität und Gewalt zurück. Das Showdown, den Kampf einer Polizistin mit einem Verbrecher, hat sie als blutige Orgie wie eine Lustphantasie inszeniert. Am Ende gewinnt die Frau, die wie in Raserei ungeheure Kräfte entwickelt hat.
Es gab bisher wenige Regisseurinnen im Trivialfilm. In den 50er und 60er Jahren benutzten die Frauen, die darin arbeiteten, Pseudonyme. Vor allem in den "Sexploitation-Filmen" wäre ein Frauenname in den Credits geschäftsschädigend gewesen. Das gilt auch für Doris Wishman, die ihre Karriere mit sogenannten "Nudies" begonnen hat und dann, nach dem Aufkommen der hard-core Pornos, zum Horror-Fach übergewechselt ist. Sie ist eindeutig eine Pionierin in ihrer Arbeit. Sie wurde jetzt von amerikanischen Fans wiederentdeckt.[7] Eine Auswahl ihrer Filme war bei uns bisher nur auf Video zu sehen. Kann man bei ihr Unterschiede zu den Filmen männlicher Regisseure entdecken?
Zunächst dominiert auch bei ihr, ebenso perfekt wie in BLIM STEEL, der Stil des Genres, entsprechend den Möglichkeiten der Zeit. In der Darstellung von Sexualität und Gewalt geht sie genau so weit, wie es die Grenzen der Zensur erlauben. In einem ihrer Filme, DOUBLE AGENT 73, spielt das Busenwunder Chesty Morgan eine Agentin, die Männer umbringt, nachdem sie sie mit einer geheimen Kamera fotografiert hat, die in ihrem riesigen Busen implantiert ist. Auffallend ist in diesem Film die Darstellung der Morde. In langen Einstellungen blickt die Kamera auf die Getöteten. Ein Erstickungstod mit Eiswürfeln wird gnadenlos langsam zelebriert.
Heißt das nun, daß Frauen besonders grausam und kalt sind? Auf jeden Fall gibt es das bei ihnen auch!
Auch wenn die Trivialfilme häufig weiter gehen als der offizielle kulturelle Film, sind sie doch, wie ich schon betonte, an die Zensur gebunden.
Nur im Avantgarde-Film werden bisher diese Grenzen, vor allem die Tabus der Sexualität, überwunden. Hier haben Regisseurinnen zuerst zu neuen und eigenen Aussagen gefunden. Hier wurden sie zu Pionierinnen seit den 70er Jahren.
Filmemacherinnen wie Valie Export, Chantal Akerman oder Ann Severson bringen zum erstenmal Menstruation, Onanie, lesbische Liebe und die gefürchteten weiblichen Genitalien auf die Leinwand. Ihre Filme rufen bis heute heftige Reaktionen hervor. Aber seit vielen Jahren hat kein Film solche Proteststürme, vor allem von Frauen, provoziert wie FINGERED (1986) von Lydia Lunch und Richard Kein. Ich nehme Lydia Lunch hier als Autorin, weil sie das Buch geschrieben hat und auch die Hauptrolle spielt. Sie fordert Sex von den Männern ganz ohne Umschweife und treibt sie zu äußerst brutalen Aktionen, die sie genießt. Sie selbst scheut vor aggressiven gewalttätigen Angriffen auf eine Frau nicht zurück. Der Mann, den sie schließlich zu einem Mord treibt, ist eigentlich ihr Opfer. Gibt es so etwas nicht? Können Frauen nicht so sein? De Sades grausame Frauen wurden von den zeitgenössischen Autorinnen Angela Carter und Monika Treut[8] gerade für die Emanzipation der Frau in Anspruch genommen!
Es geht mir hier nicht um die Verherrlichung von Gewalt, sondern darum, eine Ideologie der Weiblichkeit zu kritisieren. Vielleicht ist es immer noch die Angst der Frauen vor sich selbst, die sie so sehr für die "weiblichen Tugenden" kämpfen läßt. Den Männern ist die Macht der Frauen offensichtlich schon immer klar gewesen, weshalb sie alles tun, um sie zu bekämpfen, unter anderem eben auch mit der Erfindung der "weiblichen Tugenden", mit denen die Frauen sich selbst in Schach halten.
Aber die schlimmste und umfassendste Unterdrückung der Frau ist die ihrer Sexualität.
In der Auseinandersetzung um die Pornographie haben sich in den USA Frauen zusammengetan[9], weil sie in der Anti-Pornographie-Kampagne einen neuen Versuch der Unterdrückung der Sexualität der Frau erkannt haben. Sie weigern sich zu akzeptieren, daß aktive Sexualität grundsätzlich männlich sein soll und daß eine "gute" weibliche Sexualität praktisch keine ist.
"Wir sind zu lange durch Vorschriften einer männlichen Gesetzgebung unterdrückt worden, die vorschreibt, welche Sexualität gut oder schlecht ist."[10] Also können wir nicht gleich wieder neue Vorschriften von Frauen gebrauchen. Die Frau, die ihre Sexualität selbstbewußt auslebt, scheint die größte Bedrohung zu sein. Sie löst bei Männern und Frauen gleichermaßen Angst aus. Wenn die sexuelle Unterdrückung nicht mehr funktioniert, sind die Frauen vielleicht überhaupt nicht mehr zu bändigen.
Mit ihrem Film MANO DESTRA (1985) rührt Cléo Uebelmann an eines der stärksten noch bestehenden Tabus. Es geht um Sado-Masochismus, um das Männliche in der weiblichen Sexualität. In einem Interview sagt sie, daß sie schon als junges Mädchen nach Bildern gesucht hat, die die Stärke von Frauen ausdrücken.
Cléo Uebelmann ist "(in MANO DESTRA) die schöne Domina. Sie wartet in ungeheurer Ruhe und Gelassenheit. Sie wacht über ihr Opfer, das sich ihr ausgeliefert hat. Dabei gewinnt jede Bewegung außerordentliche Bedeutung; eine Wendung des Kopfes, einige Handgriffe, um Seile zu ordnen, ein Blick in die Kamera und die minimalen Regelungen der gebundenen Frau, deren Gesicht man niemals sieht.[11]
Es ist erstaunlich, welche Empörung dieser Film bei Frauen hervorgerufen hat. Cléo Uebelmann wurde sogar als Faschistin beschimpft, weil sie angeblich eine Frau darstellt, die eine andere unterdrückt. Für sie sind jedoch die Rollen von Opfer und Domina austauschbar, beide gehören zu ihrer Sexualität. Im Film ist das Gesicht des Opfers nie zu sehen, weil Domina und Opfer e i n e Person sind.
Man hat sogar bemängelt, daß der Film zu männlich sei, weil er eine so starke
geschlossene ästhetische Form hat.
Auch Maya Derens NESHES OF THE AFTERNOON hat einen sehr starken formalen Aufbau, und auch die Filme von Mara Mattuschka und Claudia Schillinger stechen hervor durch ihre formale Konstruktion. Was ist das für ein neues Vorurteil, daß Form von Frauen nicht gemeistert wird!
Bei den Filmen der eben genannten Regisseurinnen sind mir auch andere Gemeinsamkeiten aufgefallen. Zum Beispiel das Doppelgänger-Motiv: Die Aufspaltung in eine männliche und eine weibliche Persönlichkeit, der jeweils Schwarz oder Weiß zugeordnet wird, wie in DREAMS OF A VIRGIN, wo Claudia Schillinger mit sich selbst tanzt als schwarze (Mutter) und weißgekleidete (Jung-) Frau.
"Ein sehr auffälliges Merkmal der Filme von Mara Mattuschka ist, daß sie sich als gespaltene Persönlichkeit darstellt. In PASCAL GÖDEL setzt sie sich in positiv und negativ gegenüber und spielt gegen sich selbst Schach. In CEROLAX teilt sie ihr Gehirn in zwei Hälften, in PARASYPATHICA hat sie ihren Körper in eine schwarze und eine weiße Hälfte geteilt, in KUGELKOPF verdoppelt sich ihr Bild im Spiegel und in DIE MUSIKERINNEN schließlich wird eine Frau von einem Mann gespielt, der sich als Mann ausgibt, um dann allmählich zur Frau zu werden.
Die Zerteilung in schwarz und weiß, positiv und negativ, männlich und weiblich, ist natürlich nur ein Element ihrer Arbeit, eher ein Leitmotiv. In allen Filmen geht es darüber hinaus um ganz verschiedene Probleme ....[12]
"In NUNO DESTRA ist der Schwarz/Weiß-Kontrast ein wesentliches Gestaltungselement: aus der schwarzen Kleidung leuchtet das weiße Fleisch, im Dunklen strahlen die weißen Seile, auf den schwarzen Objekten blinken die Metallteile. Allerdings ist dies weniger ein symbolischer Kontrast als ein ästhetisches KonZept."[13]
Reichen die hier aufgeführten Merkmale schon aus, um von einer weiblichen Ästhetik zu sprechen?
Auf jeden Fall habe ich sie auch in Filmen von Männern gefunden! Ich erwähne hier nur CHIEN ANDALOU von Louis Bunuel und BLUT EINES DICHTERS von Jean Cocteau. In beiden Filmen geht es ebenfalls um die Konflikte einer gespaltenen männlichen und weiblichen Persönlichkeit, auch wenn das auf den ersten Blick nicht die Handlung ist.
Wenn wir Kategorien für eine weibliche Ästhetik aufstellen, dürfen wir sie nicht allein von Filmen von Frauen ableiten, sondern müssen auch die Filme von Männern danach abfragen, bevor wir allgemeine Behauptungen aufstellen. Bei meiner Untersuchung von surrealistischen Filmen habe ich gefunden, daß Männer und Frauen gleiche Bilder für gleiche psychische Probleme benutzen wie das oben erwähnte Doppelgänger-Motiv oder das Motiv, das ich "den blutenden Kopf' nenne, als Bild für Kastration.[14]
Vielleicht finden wir im Laufe der Zeit eine weibliche Ästhetik, aber dann ist sie sicher nicht auf die Kunst von Frauen beschränkt.

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