Es ist bereits viel gesagt und geschrieben worden über die Situation von Frauen, über ihre Verletzungen, Ausgrenzungen und Verwerfungen, und dennoch möchte ich den Versuch unternehmen, das Thema noch einmal sichtbar zu machen, es exemplarisch darzustellen anhand des Lebens und Werkes von vier jüdischen Dichterinnen, die die Bedrohungen weiblicher Existenz aufgrund einer besonderen historischen Situation auch besonders deutlich erfahren haben.
In einem ersten Teil möchte ich die Kategorien der Entfremdung anhand der Worte IMII und Dichterin allgemein beleuchten. Im zweiten Teil werde ich einige Bemerkungen zu Leben und Werk der jeweiligen Dichterinnen machen, um das Vorhergesagte zu vertiefen und zu illustrieren, und schließlich soll ein Gedicht jeder Dichterin als Beispiel zitiert werden, um das Thema auf der literarischen Ebene auszuweiten, es dem Panikularen zu entheben und dadurch eine Form von Allgemeingültigkeit zu erreichen.
Die nachstrukturalistische Textanalyse hat den Begriff der Intertextualität geprägt, um zu zeigen, daß Texte keine Monologgebilde sind, sondern in einem Dialog mit anderen geschriebenen und gesprochenen Texten stehen, deren Spuren es gilt, sichtbar zu machen. Die Texte dieser vier Dichterinnen stehen in einem solchen Dialog; sie führen durch Intertextualität über das Subjektivistische hinaus und beleuchten ein allgemeineres Phänomen, das man auch mit "weiblichem Schreiben im Exil" benennen könnte. In seinem Buch "Außenseiter" unterscheidet Hans Mayer zwischen intentionellen und existentiellen Außenseitern. Erstere, wie Faust, Don Juan, Harnlet u. a. verlassen die Gemeinschaft willentlich und werden von ihr als Helden noch geehrt; letztere dagegen - Frauen, Juden und Homosexuelle - werden aufgrund von Geschlecht, "Rasse" oder sexueller Neigung ausgeschlossen und als potentielle Gefahr für die Gemeinschaft gedeutet."Existenz selbst wurde zur Grenzüberschreitung."[1]
Oder: "Weibliche Existenz als eine vom männlichen Bewußtsein pejorativ gedeutete Außenseiterexistenz."[2]
Wenn wir Mayers These akzeptieren, können wir daraus folgern, daß weibliches Schreiben stets von außerhalb des herrschenden patriarchalischen Systems erfolgt. Der Ort ihres Schreibens ist ein differenter, verschoben im Verhältnis zur androzentrischen Mitte. Vaterland schließt Mutterland aus.
Diese Kategorie der Differenz wird umso deutlicher bei diesen vier jüdischen Dichterinnen, die deutsch schreiben und durch das doppelte Suffix In in Jüdin und Dichterin doppelt auf die Ausgegrenztheit und Entfremdung von Frauen hinweisen. Irn Französischen hat Hélène Cixous das Wort »juifemme« gebildet, um diese doppelte Entfremdung zu verdeutlichen. Im Deutschen könnte man die Chiffre der Entfremdung mit dem Wort »jübin« darstellen. Alle von uns, die dieses Wort sagen, meinen damit - ich bin die Andere.
Daß Frauen aus dem traditionellen Literaturkanon ausgeschlossen wurden, braucht hier wohl kaum erwähnt zu werden, dazu genügt ein Blick in eine beliebige Literaturgeschichte. Kreativität und Genie waren Männersache, Frauen waren Leserinnen und Musen, eigene schöpferische Leistungen versagten ihnen die Herrschaftsstrukturen.
Hilde Domin bringt folgende Zitate anderer Autoren, die die Verbindung von Jüdin und Frau noch unterstreichen. Virginia Woolf: "Frauen sind wie Juden unter den Nazis", oder Sartre: "Frauen sind jüdische Neger", oder das verkürzte, aber prägnante Zitat von G. B. Shaw: "Ein Jude ist genau wie die Anderen, nur alles etwas mehr."[3] Also können wir daraus schließen, daß im Leben und Schreiben dieser Dichterinnen auch das Schicksal schreibender Frauen sichtbarer wird. Domin selbst formuliert es folgendermaßen: "Ich sehe in dem jüdischen Schicksal nur den Extremfall des Allgemeinen."[4] Wir haben es also hier mit vier Extrenifällen des Allgemeinen zu tun.[5] Aber welches sind die Phänomene, die durch diese Frauen sichtbarer werden? Fünf möchte ich nennen: Heimatlosigkeit, Verfolgung und Gewalt, Armut, Entfremdung und Sprache. Alle fünf sind Kategorien des politischen Exils, die Schriftsteller seit Ovid in der Literatur beschrieben und beklagt haben. Wenn wir diesen Begriffen jedoch die Kategorie des Genus hinzufügen, beleuchten wir dadurch ein inneres Exil, das Frauen erfahren haben, lange bevor sie das äußere Exil nüt ihren männlichen Kollegen teilen mußten. So stehen die Texte dieser vier Dichterinnen im Dialog mit den Texten der Frauen, die vor und nach ihnen schreiben und schrieben, als Paradigma für weibliches Schreiben im Exil.
Heimatlosigkeit:
Vertriebene
Aus Wohnungen
Windgepeitschte
Sachs
Alle vier haben die konkrete Erfahrung des Ausgeschlossenseins gemacht, die andere Frauen auf verstecktere Weise machten und noch machen. Sie waren gezwungen, Geborgenheit und Sicherheit aufzugeben; was sie als Heimat ansahen, war ihnen plötzlich verwehrt. Mehr als hundert Jahre früher drückte die Günderrode diese Erfahrung mit folgenden Worten aus: "Die Erde ist mir Heimat nicht geworden". Ein Satz, der leicht abstrakt und pathetisch klingen mag, der aber durch die Erfahrungen dieser vier späteren Dichterinnen nachträglich noch konkretisiert wird. Ihnen ist die Erde nie wieder Heimat geworden. Die Lasker-Schüler in Palästina, die Sachs in Schweden, die Domin in vier verschiedenen Ländern.
"Unverlierbares Exil, Du trägst es bei dir" (H. Domin).
Verfolgung und Gewalt:
Lange wurdest du um die türelosen
Mauern der Stadt gejagt.
Domin
Beides, Verfolgung und Gewalt, gingen dem Exil voraus und sind am sichtbarsten bei G. Kolmar. An ihr wurden sie geübt bis hin zum anonymen Tod, bis zu dem anklagenden Fragezeichen nach ihrem Todesdatum - 1943? Die Lasker-Schüler erfuhr körperliche Gewalt in den frühen dreißiger Jahren in Berlin. Bauschinger zitiert folgenden Augenzeugenbericht in ihrem Buch über die Lasker-Schüler: "Denkt Euch, nachdem die Lasker-Schüler ausgestiegen war, sah ich, während das Taxi mit mir davonfuhr, daß vor dem Hotel zwei große Lümmel auf die LaskerSchüler warteten und sie hin und her pufften, während sie, die Hände ängstlich erhoben, ins Hotel flüchtete."[6] Diese Frau war über sechzig Jahre alt! Aber schon aus den zwanziger Jahren wird berichtet, daß sie ihren Freunden beim Abschied sagte: "Eck wollt, eck wär in meim Hotel. Da werd eck vorher immer jeschlagen."[7]
Also waren körperliche und seelische Gewalt gegen sie eine jahrelange Erfahrung. Wir brauchen nur an die in der Literatur bekannten Verfolgten und Gejagten zu erinnern, um hier auch den Extremfall des Allgemeinen wiederzuerkennen und die Zwillingsbrüder weiblicher Existenz als Konstante zu erfassen. Wieviele Frauen in der Literatur oder der Kunst endeten in Krankheit, dem Irrenhaus oder dem Tod? Nur einige Namen möchte ich hier erwähnen: Louise Brachmann, Thekla Lingens, Karoline von Günderrode, Annette von Droste-Hülshoff, Camille Claudel, Virginia Woolf, Sylvia Plath. Das Spiel von Hetzern und Gehetzten, von Macht und Ohnmacht zieht sich wie ein roter Faden durch die Literaturgeschichte."Die Angst ist in mir aufgestanden", schrieb Christine Lavant in "Die Bettlerschale" und schuf das Wort Ängstin.[9] Die Ängstin als allegorische Figur für die Frau.
Armut:
Ich bin nur ein Ackerstrauß
Und halte mich selber in Händen.
Kolmar
Armut wurde zur steten Begleiterin der Heimatlosen. Die Lasker-Schüler war fast stets mittellos und angewiesen auf die finanzielle Unterstützung ihrer Freunde. Gertrud Kolmars Lebensraum verengte sich immer mehr, bis sie fast nichts mehr besaß. Nelly Sachs lebte in Schweden mit ihrer Mutter in einem 18,5 qm großen Raum und verdiente sich das Allernötigste mit Übersetzungen. Auch Hilde Domin verdiente mühsam ihren Lebensunterhalt mit Übersetzungsarbeiten. "In der Achtstundenmühle mahlst Du das Mehl des täglichen Brotes."[10] Diese Zeilen schrieb Rose Ausländer im Exil in New York. Armut und finanzielle Not sind ein Wortpaar, das man häufig antrifft in der Lyrikanthologie von Brinker-Gabler "Deutsche Dichterinnen"; also wieder ein allgemeines Phänomen, von dem wir hier den Extremfall betrachten.
Entfremdung:
Ich bin der Baum der demütigen Klage. Weide.
Ich bin das Ding, das niedert:
Sensenblatt und Krug
Kolmar
Die Minimaldefinition des Juden, der Jüdin lautet: "Jude ist, wen Hitler dazu erklärt hat"[11], d. h., ihnen, diesen vier, stellvertretend für andere, wurde eine Identität aufgezwungen, die sie nicht anstrebten. Sie stammten alle aus dem deutschen jüdischen Bürgertum, fühlten sich weit mehr als Deutsche denn als Jüdin, und nun wurde jede von ihnen, kraft Gesetzes, zur Jüdin. Die Gesellschaft wollte sie als solche. Wenn wir uns hier an den berühmten Satz von Simone de Beauvoir erinnern: "Die Frau wird nicht geboren, sie wird dazu gemacht"[12], dann wird vielleicht deutlich, wohin Herrschaftsdenken führen kann. Wir alle kennen die aufgezwungenen Bilder, die Frauen in Heilige, Hexen, Engel, Musen der Dichter, aber nie in Dichterinnen verwandeln. Aufgezwungene Identität und Ichlosigkeit. Ein mörderisches System aberkannte diesen Frauen ihre Menschenwürde, ihre Subjektivität und machte sie zu Objekten. Ich spreche hier wieder vom Extremfall des Allgemeinen. Marlis Gerhardt weist darauf hin, daß das weibliche Ich zwar das Subjekt der Sätze ist, die sie spricht, aber als abstraktes Ich im philosophischen Sinn nicht vorhanden ist. Die Philosophie propagiere ein rein männliches Ich - ein mutterloses Ich.[13]
Lacan formuliert den gleichen Gedanken."La femme n'existe pas", - Entfremdung durch Definition - und meint dabei die Ichlosigkeit des weiblichen Subjekts. Von Schriftstellerinnen wie Christa Wolf kennen wir die "Schwierigkeiten, Ich zu sagen".[14] Denn dieses Ich ist immer das Andere."Ich habe kein Gesicht", schreibt die Kolmar in einem Gedicht, das sie "Götzenbild" nennt. Ist diese aufgezwungene Identität nicht ein Götzenbild, ein falsches Bild?
Das bringt uns zu dem letzten Merkmal:
Sprache:
O-A-O-A
ein wiegendes Meer der Vokale
Worte sind alle abgestürzt
Sachs
Diese Frauen schreiben eine Sprache, die nicht mehr die ihrige ist. Deutsch war ihnen aberkannt worden. Sie sind Sprachdiebinnen im wahrsten Sinne des Wortes. Französinnen haben darauf hingewiesen, daß Frauen Sprachdiebinnen sind, sie verwenden die gleiche Sprache, die zu ihrer Unterdrückung benutzt wird. Sie müssen die Sprache stehlen, um ihre eigenen Erfahrungen von Welt und Ich auszudrücken, den besetzten Worten eine neue Bedeutung zu geben.[15]
Die Vorstellung, die Sprache zu beherrschen, ist ihnen fremd. Ihre Sprache ist etwas Lebendiges. Worte als ungewollte Kinder bei der Domin, das Sich-wehrlos-Ausliefern der Kolmar, das "Märtyrersterben der Buchstaben in der Urne des Mundes" bei Sachs. Ihre Metaphern sind das Flüchtige, Sand, Asche, Hauch, Luft, Wüste, die Rose, der Tanz, der Wind; nichts Festes, sondern das Fluide. Sie bauen keine Festungen aus Worten. Rahel Varnhagen, die ältere Schwester, spricht von "Stützenlosigkeit", die Domin von "nur eine Rose als Stütze". Sie sind nicht Herrinnen im Haus der Sprache, unbehaust, heimatlos, im Exil, stets auf Reisen. Kolmar- "Die Fahrende". Sie sprechen als die Andere in einer gestohlenen Sprache, sind resistent gegen Denkordnungen, warnen vor dem Festen, Ewigen, den Festungen aller Art. Aber sie glauben auch an die Erlösung, an die Wunder der Liebe, der Versöhnung, an das "Sowohl-als-auch". Daß diese Dichterinnen in der gestohlenen Sprache schreiben können, nach all dem, was geschehen ist, grenzt an ein Wunder. Diesen Teil möchte ich mit einem Satz von Hilde Domin schließen, der als letzter in ihrem Essay "Mein Judentum" steht: "Das Wunder ist für mich konkret. Es besteht darin, nicht im Stich zu lassen und Nicht-im-Stich-gelassen zu werden. Das Wunder besteht auch darin, schreiben zu können: auf deutsch."[16]
Bisher habe ich die vier Dichterinnen kollektiv behandelt, ihre Verletzungen und Verwundungen als letzte Konsequenz eines Herrschaftsdenkens dargestellt, unter dem Frauen in der Literaturgeschichte lange vor ihnen schon zu leiden hatten, ohne dadurch die Einmaligkeit des Verbrechens, deren Opfer diese vier wurden, auch nur im geringsten schmälern zu wollen. Aber da allgemeine Entwicklungen gestaltet sind aus individuellen Schicksalen und Lebensläufen, möchte ich jetzt kurz auf die Biographie und das Werk der vier Dichterinnen eingehen.
Else Lasker-Schüler, 1869-1945:
"Ich bin in Theben (Ägypten) geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt kam im Rheinland.
Ich ging bis 11 Jahre zur Schule, wurde Robinson, lebte fünf Jahre im Morgenlande,
und seitdem vegetiere ich."[17]
Das ist der karge Lebenslauf, den Else Lasker-Schüler 1920 für eine Lyrikanthologie schrieb. Flucht und Verkleidung bestimmen diese kurzen Zeilen. Flucht aus dem bürgerlichen Judentum (Elberfeld) hin zu dem "wilden" Judentum Ägyptens. Verkleidung bis hin zum Geschlechtertausch, "wurde Robinson". Auf diese Geschlechtsumwandlung bei Schriftstellerinnen treffen wir immer wieder in der Literatur. Von den männlichen Pseudonymen Günderrode-Tian, Lucie Aurore, Dupin-George Sand, männliche Erzählperspektiven wie bei der Mereau oder Virginia Woolf usw. bis hin zur Thematisierung des Phänomens in der Gegenwartsliteratur bei Christa Wolf, Irmraud Morgner u.a. (vgl. den Beitrag von Wilde-Stockmeyer in diesem Band). Die Gebundenheit an ihr Geschlecht wird hier gesprengt, ihre Leidenschaften, ihre Zerrissenheit finden Ausdruck im männlichen Bild.[18]
Else Lasker-Schüler war die Prinzessin der Verkleidungen:
Beirrend,
Euch verwirrend
Um zu entfliehen
Meinwärts!
Die großen Vorbilder in ihrer persönlichen Mythologie stammen aus der weiten Vergangenheit des Judentums; sie sind aber männlich, und sie schlüpft in ihre Person hinein, identifiziert sich mit ihnen."Ich will das Grenzenlose - zu mir zurück". Das Grenzenlose ist noch immer männlich am Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Joseph-Jussuf Figur, mit der sie sich bekleidet, verkörpert die zwei extremen Pole ihrer Existenz. Auf der einen Seite der verratene, verkaufte und vertriebene Joseph und auf der anderen Seite der Dichterfürst Jussuf, der die Gabe der Traumdeutung besitzt. So herrscht sie als Prinz Jussuf über ihr Phantasiereich Theben, während sie im realen Reich um finanzielle Unterstützung betteln muß. Bauschinger zitiert einen Brief an Richard Dehmel, der die Verquickung dieser beiden Reiche illustriert: "Kalif, der Prinz von Theben, fragt den Kalif, wie wird es mit der Schillerstiftung? Wo der Prinz von Theben seine Lieder hinsendet, sind sie zu dichterisch. Wo der Prinz von Theben vorträgt, kommt kaum die Reise heraus, wo der Prinz von Theben spielen will, mißlingt es ihm. Kalif, oberster Statthalter, wie soll ich weiter leben?"[19]
Die äußeren Umstände ihres Lebens sind schnell erzählt, ihr wahres Reich war das der Phantasie und Liebe. Die Prinzessin der Verkleidungen war ebenfalls eine der großen Liebenden in der Literaturgeschichte, und es war die Liebe, die die Brücke schlug zwischen Phantasie und Wirklichkeit, die sie bis ins hohe Alter auf der Flucht innehalten ließ.
Ich liebe dich
Undfinde dich
Wenn auch der Tag ganz dunkel wird.
Mein Lebelang
Und immer noch
Bin suchend ich umhergeirrt.
Der Text stammt aus "Mein blaues Klavier", 1943 in Jerusalem veröffentlicht.
Sie kommt aus einer bürgerlichen jüdischen Familie in Wuppertal-Elberfeld, verlor die Eltern früh, war zweimal verheiratet, hatte einen Sohn, der 1927 starb. Sie verlor nicht nur die Mutter, den Sohn, zwei geliebte Geschwister, sondern auch viele ihrer Freunde aus den Berliner Jahren. Um alle trauerte sie bis an ihr Lebensende."Ich schweife umher! Mein Kopf fliegt fort wie ein Vogel, liebe Mutter, sterb ich am Wegrand wo, liebe Mutter, kommst du und trägst mich hinaus zum blauen Himmel. Ich weiß, dich rührte mein einsames Schweben und das spielende ticktack meines und meines teuren Kindes Herzen."[20] So beendet sie ihre letzte Gedichtssammlung "Mein blaues Klavier". Die Joseph/Jussuf Figur kehrt thematisch in den Gedichten wieder im Gewand der Trauer und Liebe. Sie war in ständiger finanzieller Not, hatte sie mal Geld, verschenkte sie es. 1933 floh sie überstürzt nach Zürich, 1939 ging sie nach Palästina, wo sie 1945 starb.
Das Werk der Lasker-Schüler umfaßt Gedichte, Prosa, Theaterstücke und Briefe, viele Briefe. Sie war ebenfalls eine begabte Zeichnerin. Ihre Gedichte sind Zeugnisse von Sehnsucht nach Heimat. Lange vor dem wirklichen Verlust der Heimat war sie bereits eine Heimatlose.
Ich kann die Sprache
Dieses kühlen Landes nicht,
und seinen Schritt nicht gehn.
Sie, die verkleidete Prinzessin, ist im Exil und sehnt sich nach der warmen Wüste ihrer wahren Heimat. "Ich, der brennende Wüstenwind, erkaltete und nahm Gestalt an". Die Sehnsucht umschließt aber auch die Sehnsucht nach ihrem "Volk", dem Judentum.
Der Fels ist morsch,
dem ich entspringe
und meine Gotteslieder singe...
Aber auch das Volk, das sie sucht, kann ihr die ersehnte Heimat nicht geben. Ihr Verhältnis zum Judentum war stets voller Spannung. Auch das Reich der Liebe kann ihr keine ewige Heimat sein. Selbst in dem herrlichen Liebesgedicht "Ein alter Tibetteppich" klingt schon das Ende der Liebe an.
Süßer Lamasohn auf Moschuspflanzenthron
Wie lange küßt dein Mund den meinen wohl
Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon?
Die Lasker-Schüler war stets eine Fremde auf der Suche nach Heimat."Sieh in mein verwandertes Gesicht". Ihre Sprache ist die Sprache der Nacht, ihre Räume sind eher unter freiem Himmel oder einem Zeltdach als in geschlossenen Räumen. Jede Heimat ist vorläufig. Letztlich enthält die Sehnsucht nach Heimat auch die Erlösungssehnsucht, die Suche nach einer Heimat in Gott."O Gott, o Gott, wie weit bin ich von Dir! " Am Ende ihres Lebens spürt sie wohl, daß Heimat nicht hier auf Erden zu finden ist.
Mein Odem schwebt über Gottes Fluß
Ich setze leise meinen Fuß
Auf den Pfad zum ewigen Heime.
Diese Verse sprach der Rabbiner bei ihrer Beerdigung.
Gertrud Kolmar, 1894-1943 (?)
Bei Gertrud Kolmar fällt mir immer ein Satz von Sinjawski ein: "Literatur ist nutzlos, aber wichtig - sie ist das Gedächtnis der Menschheit". Auch sie kommt aus einer bürgerlichen jüdischen Familie in Berlin. Sie besuchte ein Lehrerinnenseminar, an dem sie sehr erfolgreich ihr Sprachlehrerinnenexamen bestand. Französisch und Russisch waren die Sprachen, auf die sie sich konzentrierte und die sie auch gut beherrschte. Im ersten Weltkrieg arbeitete sie als Dolmetscherin in einem Gefangenenlager, danach als Erzieherin in Privathaushalten, später mit taubstummen Kindern. Ihr richtiger Name war Gertrud Chodziesner. Ab 1938 mußte sie den Namen Gertrud Sarah Chodziesner tragen: sichtbares Zeichen einer aufgezwungenen Identität. Unter den Nationalsozialisten wurde sie dienstverpflichtet in der Rüstungsindustrie in Berlin bis zu dem Fragezeichen hinter ihrem Todesdatum"Am 3. März 1951 reiht sie das Standesamt Berlin-Schönefelde als "Gertrud Chodziesner, ohne Beruf, ledig, deutscher Staatsangehörigkeit, zuletzt wohnhaft in Berlin-Schöneberg, Speyrer Str. 10" in die Liste der sechs Millionen ermorderter Juden ein. Unter der Nr. 52095 wird sie für tot erklärt."[21]
Für eine Frau, die so viele Berufe ausgeübt hat, ist es eine späte Schmähung und besonders bezeichnend für die herrschende Einstellung weiblichen Leistungen gegenüber. Es ist ihre Sprache, die sie aus dem anonymen Tod rettet, die die Nummer bedeutungslos werden läßt. Ihre Sprache ist ein Teil des Gedächtnisses der Menschheit.
Diese nüchternen Fakten sagen wenig über die Dichterin Gertrud Kolmar aus. Ihr Leben war stiller als das der LaskerSchüler. Sie war nie ein Teil der Berliner Künstlerszene, und nur ihre Dichtung rettet sie aus der Geschichtslosigkeit so vieler Frauen. Dennoch hatte sie etwas Grenzenloses, bei ihr werden die Grenzen des Ichs am deutlichsten aufgehoben.
Ich bin der flimmernde Kristall
Der deinem Blute sich erschlossen.
Oder:
Ich durchschreite zierlich das hölzerne Gatter
In euren Garten komm ich, die Schlange.
Sie will sich verlieren, um sich zu finden. Kein festumrissenes Ich der männlichen Denkentwürfe findet man in ihren Gedichten, sondern eins, das stets neue Formen annimmt.
Ich bin der Ostwind:
hört ihr mich mit Wipfeln schlagen?
Ich bin das Finstre:
fühlt ihr mich aus Mooren ziehn?
Ihr Leben und Werk sind geprägt von der Sehnsucht nach einem Kind und der Liebe, die sie auflösen und neu erstehen lassen könnte. Beides blieb ihr verwehrt. Ihr maßloses Verlangen, sich dem Geliebten auszuliefern, erinnert an die wilde Ekstase von Kleists Penthesilea.
Mann, ich träumte dein Blut, ich beiße dich wund,
Kralle mich in dein Haar und sauge an deinem Mund.
oder:
Du. Ich will dich in den Wassern wecken!
Du. Ich will dich aus den Sternen schweißen!
Du. Ich will dich von dem Irdnen lecken,
Eine Hündin! Dich aus Früchten beißen.
Diese Maßlosigkeit muß wie eine drohende Zerstörung auf die geordnete, kalkulierbare Welt der Männer gewirkt haben. Der Männer, die sich "mit Tod und Frühling, Eisenwerk und Zeit" unterhalten. Hier wagt eine Frau, der ganzen grenzenlosen Macht ihrer Leidenschaft Ausdruck zu verleihen; und das war im Berlin der 20er Jahre dieses Jahrhunderts ebenso anrüchig wie im Frankfurt des frühen 19. Jahrhunderts der Günderrode. Der Gesellschaft gilt eine so schamlos Liebende als verwerflich, und sie verweigert ihr die Zustimmung. Die Frauen in ihren Gedichten sind zurückgestoßen. "Ich ziehe meine Einsamkeit um mich". Und so wendet sich Gertrud Kolmar den Pflanzen und Tieren zu. In dieser Welt, jenseits der herrschenden Vernunft, sucht sie die Einheit zwischen Mensch und Tier, Mensch und Natur. Sprachlich taucht sie ein in die Welt der Natur, entgrenzt ihren Körper, wird ein Teil dieser Schöpfung. Einige Beispiele dafür habe ich bereits genannt. In manchen Gedichten, wie "die gelbe Schlange", wird ihr Körper regelrecht zu einer Landschaft mit Städten und Flüssen. Mit der Macht ihrer Bilder ringt sie gegen die erstarrte Welt um sie herum. Ihr Leiden an der Welt macht sie aber nicht zur stillen Dulderin, im Gegenteil, sie stellt sich dem Schicksal, nimmt es bewußt auf sich.
"Nackte kämpfende Arme pflüg ich durch tiefe Seen". Sie lieferte sich nicht der Brutalität der Welt aus, die ja ab 1938 mit aller Macht über sie hereinbrach. Ab 1933 wandte sie sich bewußt dem Judentum zu, lernte sogar noch Hebräisch."Nur Nacht hört zu: ich liebe dich, ich liebe dich mein Volk". Sie geht ihren Weg zu Ende."Glaube nür, da13 ich, was auch kommen mag, nicht unglücklich, nicht verzweifelt sein werde, weil ich weiß, daß ich den Weg gehe, der mir von innen her bestimmt ist ... So viele von uns sind ihn, Jahrhunderte hindurch gewandert, warum sollte ich ihn anders gehen wollen als sie!" Dies schrieb sie 1941, zwei Jahre bevor sie den Weg antreten mußte.[22]
Nelly Sachs, 1891-1970
Nelly Sachs ist die Stimme der Verfolgten, aller Verfolgten dieser Erde.
O Ihr Gejagten alle auf der Welt!
Unsere Sprache ist gemischt aus Quellen und Sternen
Wie die eure.
Geboren wurde auch sie in Berlin, wächst behütet und umhegt auf in einem sehr deutschen jüdischen Haus. Ihr frühestes künstlerisches Medium ist der Tanz, zu dem sehr bald das Wort als Ausdruck hinzukommt. Mit siebzehn erlebt Nelly Sachs die Erschütterung einer großen verzweifelten Liebe, die sie in eine tiefe Krise stürzt. Das Gedenken an den "Bräutigam", der 1943 ermordet wird, begleitet sie durch alle Stationen ihres Lebens und ist tief verwurzelt in ihren Gedichten. Er ist das Du des Dialogs, den sie mit der Verzweiflung und der Auferstehung führt.
O mein Geliebter,
vielleicht hat unsere Liebe in den Himmel
der Sehnsucht schon Welten geboren.
Seit 1921 erscheinen Erzählungen und Legenden von Nelly Sachs, zuletzt verbannt in jüdische Zeitschriften, bis auch diese ihr Erscheinen einstellen müssen. Mit der Gewaltherrschaft zerbricht auch ihr behütetes Leben. Auch ihr wird eine jüdische Identität aufgezwungen, auch sie wird zur Ichlosigkeit verurteilt kraft Gesetzes. Nach einem Verhör bei der Gestapo verliert sie buchstäblich die Sprache und wird stumm.
Noch zwanzig Jahre später schreibt sie:
Als der große Schrecken kam
wurde ich stumm
Fisch mit der Totenseite
nach oben gekehrt
Luftblasen bezahlten den kämpfenden Atem.
Der Schrecken schnürt ihr die Kehle zu, nimmt ihr den Atem."Schweigen ist Wohnort der Opfer". In letzter Minute gelingt ihr die Flucht nach Schweden, wo sie mit zehn Mark Bargeld mit ihrer Mutter eintrifft. Die finanzielle Lage ist katastrophal, sie muß ihr Geld verdienen als Wäscherin und Übersetzerin, ist angewiesen auf die Unterstützung von schwedischen Freunden. Aber hier im Exil gelingt ihr "die Flucht durch die Lufttür", ihr großes dichterisches Werk beginnt in der Fremde, in der Begegnung mit einer fremden Sprache, dem Schwedischen, das sie übersetzt und das ihr zu ihrer eigenen Sprache verhilft. Nur durch Schreiben kann sie aus dem "sprachlosen Entsetzen" herausfinden. "Ich schrieb, um zu überleben".
Diesen Versuch, sich der Zerstörung durch Schreiben zu widersetzen, benennt Christa Wolf in ihrem Günderrode-Essay folgendermaßen: "Die Frauen lebten lange, ohne zu schreiben, dann schrieben sie - wenn die Wendung erlaubt ist - mit ihrem Leben um ihr Leben. Das tun sie bis heute, oder heute wieder."[23]
Später Ruhm heilt die Wunden nicht mehr. 1970 stirbt sie in Stockholm.
denn es muß ausgelitten werden
das Lesbare
und Sterben gelernt
im Geduldigsein -
Über Nelly Sachs' Lyrik in dieser Kürze zu sprechen, kommt mir wie ein Verrat an ihrem Werk vor. Mit allen Vorbehalten möchte ich mich beschränken auf einige ihrer "Königsworte", sie erwähnen, aber nicht ausführlich behandeln.
Ihre Lyrik ist die Lyrik der Verwandlung, der Heimatlosigkeit. Der gesicherte Raum ist für immer verloren. "Schreckliche Wärterinnen sind an die Stelle der Mütter getreten". Selbst in den ersten Gedichten, die die Vernichtung der Juden beklagen, in denen das Todesmotiv dominiert, ist die Verwandlung zum größeren Motiv erhoben. Tod und Vernichtung haben nicht das letzte Wort, die Sprache schleudert ihnen ein trotziges Dennoch entgegen, verwandelt Vergessen in Erinnerung.
Das Wasser, das mit unserem Angstschweiß dahinperlte
Ist mit uns aufgebrochen und beginnt zu glänzen.
Wir Toten Israels sagen euch.
Wir reichen schon einen Stern weiter
In unseren verborgenen Gott hinein.
Die Verwandlung, deren Sehnsucht allem Lebendigen, aber auch der sogenannten toten Materie innewohnt, ist die Kraft zum Neuen. Aber das Neue erfüllt sich irn Unsagbaren. Ihr Werk ist eine stete Annäherung an das Unsagbare. Die Bilder sind auf der Flucht hin zur Verwandlung. Auf der Flucht sein heißt im Zustand der Sehnsucht sein, der Sehnsucht nach Verwandlung, deren große Figur der Schmetterling ist. Er ist die Lichtfigur, die auf die Transzendenz hinweist, die ihre irdene Gestalt abstreift und die Sehnsucht und Möglichkeit des Jenseits in sich birgt.
Welch schönes Jenseits
ist in deinen Staub gemalt.
Durch den Flammenkern der Erde
durch ihre steinerne Schale
wurdest du gereicht
Abschiedswebe in der Vergänglichkeiten Maß.
Die andere Metapher aus dem Tierbereich ist die des Fisches, metonymisch auch durch Flossen, Kiemen ausgedrückt. Sie steht für die Sprachlosigkeit, das Verstummen, ist Ausdruck des Opferseins. "Ein leidender Fisch zappelt sprachlos". Aber selbst diese Figur bleibt nicht in der Sprachlosigkeit verhaftet - "Und die salzigen Flügel duftend vom Meer" weisen in den späten Gedichten auf die verwandelte Welt hin, in der Fische fliegen und reden werden.
Andere Metaphern sind Staub, Sand, Wind, Stein, Stern, Licht, Flügel, Tanz, Musik - alles Orte der Verwandlung, die sich stets auflösen, etwas Neues werden, auf dem Weg sind. Mit Worten wie Stern, Licht, Tanz und Musik nähert sie sich einer Form von Transzendenz, die eng an die Sprache gebunden ist. Spät entdeckt Nelly Sachs den "Sohar", das Buch der mittelalterlichen jüdischen Mystik. Sie liest das Schöpfungkapitel in der Übersetzung von Gershom Scholem und findet hier den Glauben an die Macht der Buchstaben bestätigt. Der ganze Kosmos ist geschaffen aus den Buchstaben des göttlichen Namens. Die Buchstaben sind heilig und schaffen Welt, so daß sie wieder Jasagen will zu ihren Buchstaben, zu den mißbrauchten Worten, den Worten der Henker. "Laßt uns das Leben leise wieder lernen." Ihre Sprache strebt die größte Verwandlung an: das Dunkle-in-Licht-Verwandeln.
Hilde Domin, 1912
Hilde Domin wurde 1912 in Köln geboren. Auch ihre Eltern fühlten sich eher als Deutsche denn als Juden. "Schon meine Eltern waren keine Glaubensjuden. Soweit mein Vater sich mit einem Juden identifizierte, war es Heine. Auf ihn war er stolz, als sei er ein naher Verwandter, beide Düsseldorfer. Auch Rathenau wurde genannt."[24]
Ihr Vater war ein politisch denkender Mann, so daß die Tochter schon sehr früh ein Bewußtsein für politisches Geschehen entwickelte. Sie studierte dann auch Jura, Nationalökonomie und Soziologie, bis die "Schicksalsgemeinschaft des Judeseins" auch ihr zubestimmt wurde. "Ich habe sie nicht gewählt wie andere Gemeinschaften.... Ich bin hineingestoßen worden, ungefragt wie in das Lieben."[25]
Sie ging früh, 1933, ins Exil, lebte sieben Jahre in Italien, vier in England und sechzehn im spanischen Sprachraum, bis sie 1961 endgültig nach Deutschland zurückkehrte. Heute lebt sie in Heidelberg. Sie ist die einzige, die die schwierige Rückkehr ins Land gelebt hat, den anderen war dies nicht möglich.
Meine Füße wunderten sich
daß neben ihnen Füße gingen
die sich nicht wunderten.
Wie Nelly Sachs, mit der sie eine tiefe Freundschaft verband, begann auch Hilde Domin erst spät zu schreiben, 1951, im Exil. Es war eine zweite Geburt und für sie bald "das Leben selbst."[26] Ihr Werk umfaßt nicht nur Lyrik, sondern auch Essayistisches und Dichtungstheoretisches. Ich möchte meine Bemerkungen auf ihre Lyrik und deren Themen beschränken und mich auch dabei auf die früheren Werke konzentrieren.
Wenn Nelly Sachs die Dichterin der Verwandlungen ist, dann ist die Domin die des Unterwegsseins. Ihre Themen sind ebenfalls Angst Flucht, Tarnung, Stützenlosigkeit, aber auch Wiederfinden von Vertrauen. Ihre Gedichte sind so leicht, fast wie ein Hauch kommen sie daher und verwandeln Schweres in Leichtes, Festes in Fließendes.
Wer es könnte
die Welt hochwerfen
daß der Wind
hindurchfährt.
Es sind zudem warnende Texte, sie warnen vor dem Sicheinrichten in festen Räumen und Strukturen. Das deutsche Judentum hatte sich eingerichtet, bis "der große Schrecken kam" und die Mauern einriß.
Gewöhn dich nicht
Du darfst dich nicht gewöhnen
Eine Rose ist eine Rose
Aber ein Heim
ist kein Heim.
Domins Sprache ist luftig und sparsam. Es sind die Gegenstände des Alltags: Bett, Tisch, Löffel, Rose, Vogel, Luft, Erde, die durch ihre Texte ziehen. Auch ihre Bedeutungen sind unterwegs, getragen von dem, was mitschwingt. "Es ist immer ein Wortloses, was im Wort mitschwingt, anwesend ist und um dessentwillen das Wort da ist."[27]
Vier Dichterinnen, an denen Verletzungen geübt wurden, schrieben durchlässige Texte gegen die Zerstörung, so durchlässige, daß das Wunder der Erlösung hindurchschimmern kann. Das Gemeinsame an ihrem Werk ist:
1. Die Heimatlosigkeit und die Sehnsucht nach einem Ort der Menschen, der Geborgenheit spenden kann. 2. Das Flüchtige; ihre Sprache holt ihre Metaphern aus dem Bereich des Vorläufigen und Fließenden. Alles ist in Bewegung. Die menschlichen Figuren, die in ihrem Werk zu Haus sind, sind Verfolgte und Gejagte, aber keine Besiegten. 3. Das Grenzenlose; die Grenzen des Ichs werden gesprengt, die engen Grenzen der Welt werden durchschritten und überwunden. Die negativen Vokabeln von Heimatlosigkeit, Flucht vor Gewalt und Ichlosigkeit, die das Schicksal von Frauen lange bestimmt haben, werden hier in ihrem Werk in positive Begriffe verwandelt, die eine neue Möglichkeit des Daseins enthalten.
"Lyrik lädt ein zu der einfachsten und schwierigsten aller Begegnungen - der Begegnung mit uns selbst"[28] schreibt Hilde Domin, und deshalb möchte ich Sie jetzt einladen, von jeder Dichterin einen Text zu lesen, das Gesagte daran zu überprüfen und die Begegnung mit uns selbst anhand ihrer Werke zu wagen.
Heimweh
Ich kann die Sprache
Dieses kühlen Landes nicht,
Und seinen Schritt nicht gehn.
Auch die Wolken,
die vorbeiziehn,
Weiß ich nicht zu deuten.
Die Nacht ist eine Stiefkönigin.
Immer muß ich an die Pharaonenwälder denken
Und küsse die Bilder meiner Sterne.
Meine Lippen leuchten schon
Und sprechen Fernes.
Und bin ein buntes Bilderbuch
Auf Deinem Schoß.
Aber dein Antlitz spinnt
Einen Schleier aus Weinen.
Meinen schillernden Vögeln
Sind die Korallen ausgestochen,
An den Hecken der Gärten
Versteinern sich ihre weichen Nester.
Wer salbt meine toten Paläste
Sie trugen die Kronen meiner Väter,
ihre Gebete versanken im heiligen Fluß.
Else Lasker-Schüler "Meine Wunder"
Die Dichterin
Du hältst mich in den Händen ganz und gar.
Mein Herz wie eines kleinen Vogels schlägt
In deiner Faust. Der du dies liest, gib acht,
Denn sieh, du blätterst einen Menschen um.
Doch ist es dir aus Pappe nur gemacht,
Aus Druckpapier und Leim, so bleibt es stumm
Und trifft dich nicht mit seinem großen Blick,
Der aus den schwarzen Zeichen suchend schaut,
Und ist ein Ding und hat ein Dinggeschick.
Und ward verschleiert doch gleich einer Braut,
Und ward geschmückt, daß du es lieben magst,
Und bittet schüchtern, daß du deinen Sinn
Aus Gleichmut und Gewöhnung einmal jagst,
Und bebt und weiß und flüstert vor sich hin:
"Dies wird nicht sein." Und nickt dir lächelnd zu.
Wer sollte hoffen, wenn nicht eine Frau?
Ihr ganzes Treiben ist ein einzig: "Du ..."
Mit schwarzen Blumen, mit gemalter Brau,
Mit Silberketten, Seiden, blaubesternt.
Sie wußte manches Schönere als Kind
Und hat das schönre andre Wort verlernt. -
Der Mann ist soviel klüger, als wir sind.
In seinem Reden unterhält er sich
Mit Tod und Frühling, Eisenwerk und Zeit;
Ich sage: "Du..." und immer: "Du und ich."
Und dieses Buch ist eines Mädchens Kleid,
Das reich und rot sein mag und ärmlich fahl,
Und immer unter liebem Finger nur
Zerknittern dulden will, Befleckung, Mal.
So steh ich, weisend, was mir widerfuhr;
Denn harte Lauge hat es wohl gebleicht,
Doch keine hat es gänzlich ausgespült.
So ruf ich dich. Mein Ruf ist dünn und leicht.
Du hörst, was spricht. Vernimmst du auch, was fühlt.
Gertrud Kolmar "Weibliches Bildnis" "Erster Raum"
Ziehende Landschaft
Man muß weggehen können
und doch sein wie ein Baum:
als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir ständen fest.
Man muß den Atem anhalten,
bis der Wind nachläßt
und die fremde Luft wn uns zu kreisen beginnt,
bis das Spiel von Licht und Schatten,
von Grün und Blau,
die alten Muster zeigt
und wir zuhause sind,
wo es auch sei,
und niedersetzen können und uns anlehnen,
als sei es an das Grab
unserer Mutter.
Hilde Domin "Apfelbaum und Olive"
In der Flucht
welch großer Empfang
unterwegs -
Eingehüllt
in der Winde Tuch
Füße im Gebet des Sandes
der niemals Amen sagen kann
denn er muß
von der Flosse in den Flügel
und weiter -
Der kranke Schmetterling
weiß bald wieder vom Meer
Dieser Stein
mit der Inschrift der Fliege
hat sich mir in die Hand gegeben -
An Stelle von Heimat
halte ich die Verwandlungen der Welt
Nelly Sachs "Flucht und Verwandlung"