Die Formulierung der sich bildenden Subjektivität in der frühen Romantik

»Eine Stunde später ist unendlich viel später.«
Friedrich Schlegel, Lucinde

Wir wollen die in der psychoanalytischen Theorie.[38] angelegte Orientierung an der realitätsgerechten Aktivität nicht unbefragt übernehmen, sondern vom utopischsten Versuch der Bestimmung weiblichen Protests ausgehen: von der frühen Romantik.
Wenn im folgenden von der Romantik gesprochen wird, beziehen wir uns hierauf unter dem Aspekt der Untersuchung der Dialektik von Illusion und Wirklichkeit. Der Kern der romantischen Einstellung zur Wirklichkeit ist das Bewußtsein des Konflikts zwischen Subjekt und Objekt - und der Versuch, eine utopische Lösung zu finden. Das romantische Bewußtsein ist nicht schlicht mit romantischem Illusionismus gleichzusetzen, der die Abkehr von der Wirklichkeit mit der Hinwendung zu konservativen Zielvorstellungen verknüpft.[39]
Der romantische Protest steht zur »Frauenfrage« in vielfältiger Beziehung: zunächst und offensichtlich sind die radikalsten Angriffe gegen die bürgerlichen Institutionen, die das Leben der Frauen bestimmen - die Familie, die monogame und unauflösliche Ehe, die natürliche Rolle der Frau als Mutter und Erzieherin - aus dem romantischen Lager hervorgegangen. George Sand und Mary Wollestonecraft, die als erste im modernen Sinn feministische Positionen vertreten haben, sind von der romantischen Schule geprägt. Es wäre möglich, den Einfluß und die Veränderung dieses romantischen Protests im Zusammenhang der bürgerlichen und der proletarischen Frauenbewegung zu verfolgen. Wir wollen jedoch unsere Aufmerksamkeit auf einen anderen Aspekt konzentrieren: Die romantischen Forderungen repräsentieren einen moralisch-politischen Impuls, den Versuch, das Subjekt und seine Empfindungen zum Maß aller Dinge zu machen: »Alle Zufälle unseres Lebens sind Materialien, aus denen wir machen können, was wir wollen«[40] - dieser Ausspruch von Novalis bringt eine Sehnsucht nach Allmacht und Einheit mit der Welt zum Ausdruck, die nach unserer Auffassung nicht nur für die Entwicklung der feministischen Richtungen der Frauenbewegung bestimmend gewesen ist und heute noch bestimmend ist, sondern auch Ausdruck des widersprüchlichen und widersprechenden Elements im »weiblichen Sozialcharakter«. Die romantische Schule ist charakterisiert durch die Begriffe des Subjektivismus, der Sensibilität, - der Rezeptivität, durch die Ablehnung der Polarität der Geschlechter, durch Einfühlung und spontane Reizbarkeit, durch die Verachtung der bürgerlichen Seßhaftigkeit und der Ordnung des privaten Lebens. Die Romantik ist Revolte gegen den bürgerlichen Beruf, gegen Karriere, »Fachmenschentum«, geregelte Produktion.

2.1. Protest gegen Leistungsprinzip und traditionelle Rollentrennung

Seinen ersten Ausdruck hat der Konflikt zwischen Illusion und Wirklichkeit im provokativen Protest der Romantik gefunden: in der Kritik an der arbeitsteiligen Aufspaltung der Person und an der Fetischisierung ökonomischer Produktivität:

»In der Tat sollte man das Studium des Müßigganges nicht so sträflich vernachlässigen, sondern es zur Kunst und Wissenschaft, ja zur Religion bilden! Um alles in eins zu fassen: je göttlicher ein Mensch oder ein Werk des Menschen ist, je ähnlicher werden sie der Pflanze; diese ist unter allen Formen der Natur die Sittlichste und die schönste. Und also wäre ja das höchste, vollendetste Leben nichts als ein reines Vegetieren.[41] - Und: »Durch die schweren, lauten Anstalten zum Leben wird das zarte Götterkind Leben selbst verdrängt und jämmerlich erstickt in der Umarmung der nach Affenart liebenden Sorge.«[42]

... ebenso in der Kritik an der »weiblichen Rolle« in Ehe und Familie:

»[...] Das gelob ich Dir, daß ich mich nicht will zügeln lassen, ich will auf das etwas vertrauen, was so jubelt in mir, denn am End ist's nichts anderes als das Gefühl der Eigenmacht, man nennt das eine schlechte Seite, die Eigenmacht. Es ist aber auch Eigenmacht, daß man lebt. [...] Es ist aber doch ebenso dumm, irgendeine Macht anzuerkennen über uns als nur das Leben selbst, [...] ich kann nur sagen, was auch in der Welt für Polizei der Seele herrscht, ich folg' ihr nicht, ich stürze mich als brausender Lebensstrom in die Tiefe, wohin es mich lockt! Ich! Ich! Ich!
[...] Ich rufe an alles, was meine Tätigkeit reizt, ich sage mir, du wirst alles, was aus der Natur des Menschen entspringt mutig ertragen, [...] Gott ist die Zukunft! wen diese nicht göttlich an sich reißt, daß er sich von den Ketten befreie aller Vergangenheit und in der Zukunft ganz aufgehe, den führt's nicht zu Gott. [...] Aber Sittlichkeit und Anstand sind zwei dumme Wächter, die dem menschlichen Sein und Willen den Weg verwehren. Ich weiß, was ich bedarf! Ich bedarf, daß ich meine Freiheit behalte, daß ich das ausrichte und vollende, was eine innere Stimme mir aufgibt zu tun.«[43] Und: »Ich wollte dir nur sagen, >erwiderte sie<, daß ich gar nicht, niemals heiraten will und werde. >[...]< Was nützen uns Bücher, der Umgang mit verständigen Männern, die Kenntnis der Vorzeit, wenn das alles nur wie an Klötzen und Steinen vorübergeht und nicht zu unserem Geiste sagt: stehe auf, die Morgenstunde ist da, rufe aus allen Kammern des Herzens und Gehirns die Diener, daß sie an die Arbeit gehn, daß in den Wellen des Blutes Entschlüsse und Kräfte erwachen, die das Geistige, Unsichtbare in Tat und Wahrheit verwandeln! Ja Mutter, und so bin ich geworden, bin so geschaffen, daß ich ein Grauen vor allen Männern empfinde, wenn ich den Gedanken fasse, daß ich ihnen angehören, daß ich ihnen mit meinem ganzen Wesen mich aufopfern soll. [...] Und diesen Herzlosen, Gelangweilten, Geldgierigen, nach Ehrenstellen, und Lob der Großen Durstenden soll ich das Kleinod meines Leibes hingeben [...], wie man sich Tisch, Gefäß, Buch oder sonst ein Totes aneignet?«[44]

In ihrer Auseinandersetzung mit der Aufklärung und den Erfahrungen der beginnenden Industrialisierung, der sich differenzierenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung, stellt die deutsche Frühromantik Gewinnstreben und ökonomisch orientierte Produktivität in Frage. Die romantische Literatur kommt zugleich zum Angriff auf die Ehe als Institution, da sie der lebendigen Liebe eine äußerliche, fremde Form der zerstörten Beziehung eine unwürdige Fessel (vor allem für die Frau) sei. Selbst wenn es sich um eine »unpolitische« Bewegung an Kunst und Wissenschaft orientierter bürgerlicher Frauen und Männer handelte, so artikuliert ihre radikale Betonung lebendiger menschlicher Beziehungen - die Kritik an der Aufspaltung des alltäglichen Lebenszusammenhangs in institutionell verfestigte Verhältnisse, im Bereich von Leistung und Konkurrenz ebenso wie in der Familie - doch das Interesse an der »Entfesselung« menschlicher Produktivkräfte. Allerdings - man kümmert sich nicht um die rechtlich-institutionelle Ebene, sondern bleibt auf der persönlichen - auch dann, wenn zum Beispiel von Schlegel und Schleiermacher eine für beide Geschlechter gleiche Bildung gefordert wird. Warum die Frau strukturell unterdrückt ist, wird nicht analysiert.
Die Frauen und die Männer der romantischen Zirkel hatten den Mut, sich über die Konventionen ihrer Zeit öffentlich hinwegzusetzen [45] - aber sie waren nicht politisch. Sie richteten Idealbilder auf: Das Vorbild der romantischen Literatur ist die heroische Hetäre, die die bürgerlichen Gesetze der weiblichen Wohlanständigkeit verachtet und ein stolzes einsames Leben in Verachtung, Schönheit und Leiden führt und deren Liebe aus Freiheit hervorgeht, weder von Konvention noch von ökonomischen Interessen bestimmt ist (Idealbilder, die heute noch - selbst wenn sie eine Illusion sind - im »Muster der romantischen Liebe«[46] wirksam sind).
Die deutsche Romantik ist eine Bewegung des späten 18. Jahrhunderts. Die Argumentationen, auf die wir uns im folgenden beziehen, wurden vor allem von den Romantikern des »Jenaer Kreises« vertreten, einer Freundesgruppe junger Romantiker, die um 1796 in Jena zusammenarbeiteten. Die bekanntesten von ihnen sind die Brüder August W. Schlegel und Friedrich Schlegel, Friedrich von Hardenberg (Novalis), Clemens Brentano, Ludwig Tieck, Karoline Michaelis, Henriette Herz, Dorothea, die Tochter Mendelssohns und spätere Frau Friedrich Schlegels, und später die in Berlin lebende Rahel Varnhagen.[47] Das Wichtige an den Schriften der frühen deutschen Romantik ist die Kritik der entfremdeten menschlichen Beziehungen und der Unterwerfung der Frau in der Familie wie in der bürgerlichen Gesellschaft. Die deutsche Romantik hat das reale Elend der Individualität in Familie und Ehe formuliert (das bei Hegel als unbedeutendes Opfer erscheint): Tieck. Vittoria Accorombona; Schlegel: Lucinde; in verschlüsselter Form: E. T. A. Hoffmann: Nachtstücke; Schleiermacher: Katechismus für edle Frauen u. a. Ihre Arbeiten spielten (zusammen mit denen von George Sand und Mary Wollstonecraft) eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung der Ideen der Gleichberechtigung der Frau.[48]

2.2. Qualitativ bestimmte Forderung nach Aufhebung der Geschlechtsrollen

In der Analyse der »Frauenfrage« kommt die Romantik zu einer dialektischen Position: Sie negiert die starre, traditionelle Geschlechtsrolle, die die wechselseitige Beziehung, die Übereinstimmung in der Verschiedenheit zerstört, da sie ein Unterordnungsverhältnis begründet. Unterordnung, ein Verhältnis der Ungleichheit, stellt ihrem inneren Wesen nach eine Hemmung, Erstarrung der Bewegung zur wechselseitigen Anerkennung der Individualitäten dar. Zugleich kritisiert die Romantik das abstrakte Aufklärungsideal der »Gleichheit« - wie es etwa in Deutschland von Theodor Gottlieb von Hippel [49] verfochten wurde -, nach welchem die Gleichheit der Frau vor allem darin begründet ist, daß sie ebenso schwer arbeiten und ebenso viel leisten kann wie der Mann. Gleichheit der Menschen, von Männern wie von Frauen, ist in der Frühromantik gleichbedeutend mit der »Darstellung der Menschheit in den Geschlechtern«. Der Inhalt der Menschlichkeit ist die Entwicklung des »totalen Menschen«. Diese Entwicklung beschreibt Schlegel als Bildungsprozeß:

»Nichts widerspricht dem Charakter und selbst dem Begriffe des Menschen so sehr, als die Idee einer völlig isolierten Kraft, welche durch sich und in sich allein wirken könnte. Niemand wird wohl leugnen, daß derjenige Mensch wenigstens, den wir kennen, nur in einer Welt existieren könnte.«[50]
»Es ist schon oft bemerkt worden: die Menschheit sei eine zwitterhafte Spielart. [...] Der Mensch ist eine aus einem reinen Selbst und einem fremdartigen Wesen gemischte Natur. [...] Nur das Gemüt, welches von dem Schicksal hinlänglich durchgearbeitet worden ist, erreicht das seltne Glück, selbständig sein zu können. [...] Ohne alle Freiheit wäre es keine Tat: ohne alle fremde Hilfe keine menschliche.«[51]

Freiheit wird gelernt; und sie besteht in der Selbstreflexion des naturhaften Charakters des Menschen. Das ist das Zentrum der »romantischen Ironie«. In der romantischen Ironie wird die Geschlechtsrolle zum »Rollenspiel«. In dem Kapitel Dithyrambische Fantasie über die schönste Situation - dem Teil in Lucinde, der Schlegel die empörtesten Kritiken einbrachte heißt es:

»[...] die witzigste unter den Gestalten der Freude und die schönste: wenn wir die Rollen vertauschen und mit kindischer Lust wetteifern, wer den andern täuschender nachäffen kann, ob dir die schonende Heftigkeit des Mannes besser gelingt, oder mir die anziehende Hingebung des Weibes. [...] Ich sehe hier eine wunderbare sinnreich bedeutende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen, ganzen Menschheit. Es liegt viel darin, und was darin liegt, steht gewiß nicht so schnell auf wie ich, wenn ich dir unterliege.«[52]

Schlegel will die Geschlechtsrolle nicht abschaffen. Sie soll als Teil der menschlichen Freiheit angeeignet werden; es muß erlaubt bleiben, mit ihr zu spielen:

»O! es ist wahr, der Mensch ist von Natur eine ernsthafte Bestie. Man muß diesem schändlichen und leidigen Hange aus allen Kräften und von allen Seiten entgegenarbeiten. [...] Es wäre ja grob mit einem reizenden Mädchen so zu reden, als ob sie ein geschlechtsloses Amphibion wäre. Es ist Pflicht und Schuldigkeit immer auf das anzuspielen, was sie ist und sein wird; und so unzart, steif und schuldig, wie die Gesellschaft einmal besteht, ist es wirklich eine komische Sache, ein unschuldiges Mädchen zu sein.«[53]

  • zu 53

  • »Ebd., S. 45.Daher versteht die heutige Strategie der Gleichheit der Geschlechtsrollen (KapitelI.1.2)
    die Theorie der Frühromantik falsch. Von der heutigen Strategie her wird aus zweierlei
    Gründen gegen die romantische Theorie der Frau argumentiert:
    1. die Romantik lege die Frau auf den häuslichen Bereich
    fest, 2. sie verwehre der Frau eine eigene Entwicklung: »Für die Gesellschaft folgt
    aus der Polaritätstheorie, daß sie die besonderen Eigenschaften der Frau<, die ja als
    wertvoll anerkannt werden, beschützen und Ihre Ausprägung unterstützen muß.
    Dasläuftaber darauf hinaus, sie als Exponent der Mütterlichkeit, Weichheit
    Passivität, Unmittelbarkeit usw. besonders zu beschirmen und sie damit gleichzeitig
    auf den diesen Eigenschaften besonders entsprechenden häuslichen Bereich festzulegen. -
    Wenn auch die Frau durch diese Anschauungsweise eine Aufwertung erfuhr
    so schadete und schadet die Polaritätstheorie ihrem Emanzipationsstreben gerade
    dadurch sehr, daß den Frauen hiermit eine positiv erscheinende Identifikationsbasis
    geboten wird, die im Endeffekt ihren Protest gegen die traditionelle Rollenstruktur
    unterläuft. Die romantische Polaritätstheorie ist deshalb den Bestrebungen der Frau
    eine eigene Existenz und die Entfaltung aller ihrer Möglichkeiten zu gewinnen,
    gefährlicher als die grobe Anschauung von ihrer andersartigen Minderwertigkeit, die
    wenigstens zum Protest herausforderte.« (Ingrid Langer-El Sayed, Frau und Illu-
    strierte imKapitalismus, S. 64.) Diese»Polaritätstheorie«der Geschlechtsrollen
    jedoch, die heute allgemein als »romantisch« bezeichnet wird, ist erst später entstan-
    den. Der Kult der Mütterlichkeit und Häuslichkeit war der frühen Romantik ganz
    entgegengesetzt.«

Entsprechend meint der Begriff der »Natürlichkeit«, wie ihn Schlegel verwendet, einen synthetischen, »künstlichen«, reflektierten Zustand. Ganz gegen den Rousseausschen Begriff von »weiblicher Natur« heißt es bei Schlegel:

»Ob eine gebildete Frau, bei der von Sittlichkeit die Frage sein kann, verderbt oder rein sei, läßt sich vielleicht sehr bestimmt entscheiden. Folgt sie der allgemeinen Tendenz, ist Energie des Geistes und des Charakters, die äußre Erscheinung derselben und was eben durch sie gilt, ihr Ein und Alles, so ist sie verderbt. Kennt sie etwas Größeres als die Größe, kann sie über ihre natürliche Neigung zur Energie lächeln, ist sie, mit einem Worte, des Enthusiasmus fähig, so ist sie unschuldig im sittlichen Sinne. In dieser Rücksicht kann man sagen, alle Tugend des Weibes sei Religion. Aber daß die Frauen gleichsam mehr an Gott oder an Christus glauben müßten als die Männer, daß irgendeine gute und schöne Freigeisterei ihnen weniger zieme als den Männern, ist wohl nur eine von den unendlich vielen gemeingeltenden Plattheiten, die Rousseau in ein ordentliches System der Weiblichkeitslehre verbunden hat, in welchem der Unsinn so ins reine gebracht und ausgebildet war, daß es durchaus allgemeinen Beifall finden mußte.«[54]

Auf dieses Thema der »Rolle« und der »Rollendistanz« kommt Schlegel immer wieder zurück: Die Verhärtung gegen die eigenen Bedürfnisse, die Unterwerfung unter eine repressive Moral führen zu einem Reagieren, das selbst der Reflexion entzogen ist: es ist »unnatürlich«, da dies dem allen Menschen angeborenen Bedürfnis nach wechselseitigem Verstehen und Befriedigen von Bedürfnissen entspricht; die Fähigkeit, die dazu erforderlich ist, ist ein Zulassen der Wahrnehmung von Bedürfnissen - die Definition der Liebe bei Schlegel überhaupt:

»Es ist Elektrizität des Gefühls, dabei aber im Innern ein stilles leises Lauschen, im Äußern eine gewisse klare Durchsichtigkeit.«[55]

Diese Fähigkeit vermutet Schlegel eher bei den Frauen »als angeboren«, d. h. als dem weiblichen Sozialcharakter entsprechend; die Männer müssen sie erst lernen.

2.3. Imaginäre »Verzauberung«

Was ist die »Methode« der Selbstreflexion und des »Rollenspiels«? Sie macht zugleich den eigenartigen Charakter der literarischen Romantik bei Novalis, Tieck, Hoffmann, Eichendorff, Baudelaire oder Poe aus: Es ist die »Verzauberung« der alltäglichen Dinge, sei es, daß die Alltäglichkeit aufgelöst wird in die Bereiche des Rauschs, der Exzentrität, der Übersteigerung des Luxus; sei es die Entlarvung der Verzauberung wie in den ersten Detektivgeschichten bei Poe, die Spuren der Untat mühsam verhüllend, mit rissiger Oberfläche; sei es, daß, wie bei E. T. A. Hoffmann, kein alltägliches Ding ist, was es ist. Die romantische Welt, an der Freud exemplarisch den Begriff des »Unheimlichen« analysierte, ist unheimlich, weil Menschen und Dinge sich dem «normalen« Gebrauch verweigern.
Die rationalistische Trennung von Denken und Gegenstand beantwortet die Romantik mit der Auflösung aller Gegenstände als Objekte in die Einheit wechselseitiger Aneignung von Individualitäten.[56] »Nun versteht die Seele die Klage der Nachtigall und das Lächeln des Neugebornen, und was auf Blumen wie an Sternen sich in geheimer Bilderschrift bedeutsam offenbart, versteht sie. Alle Dinge reden zu ihr und überall sieht sie den lieblichen Geist durch die zarte Hülle.«[57] Die Bewegung zum Mystizismus ist in der Romantik bewußter Verzicht auf technische Effizienz, auf instrumentelle Vernunft und strategisches Handeln. Auf die einfachste Formel gebracht, ist nach Novalis die Poesie »Darstellung des Gemüts«.[58] Darstellung des Gemüts im Gegenstand bedeutet in diesem Zusammenhang: »Verwandlung des Gegenstands in Subjektivität, Verwandlung aller von den Wissenschaften vorgestellten gegenständlichen Beziehungen in personale Begegnisse und geheimnisvolle Verwandtschaften von Geistigem und Natürlichem [...] eine Verwandlung, durch welche die Natur erst in ihrem wahren Sein erscheint.«[59] Eine Aufzeichnung von Novalis aus dem Jahr 1798 beschreibt den Doppel-Prozeß des »Romantisierens«:

»Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identifiziert. So wie wir selbst eine solche qualitative Potenzreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es. Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche - dies wird durch diese Verknüpfung logarithmisiert - Es bekommt einen geläufigen Ausdruck. Romantische Philosophie. Lingua romana. Wechselerhöhung und Erniedrigung.«[60]

»Poesie ist die eigentümliche Handlungsweise des menschlichen Geistes«, heißt es bei Novalis. Gegenstand der Kunst ist in der Romantik die Bildung des Menschen, nicht die Bildung von Kunstwerken; Lukács bemerkt dazu: »Es ist kein l'art pour l'art, sondern ein Panpoetismus.« »Sie wollten eine Kultur schaffen, die Kunst erlernbar machen und die Genialität organisieren.«[61]
Frei schaffende Wirksamkeit der Phantasie und Negation aller Bindung und Beschränkung durch eine etablierte, Dichten und Denken begrenzende Gesetzeswelt: die romantische Phantasie sprengt die Grenzen der konventionellen Ordnung, sie ist daher chaotisch für das herrschende Bewußtsein.

»Chaos und Eros sind die beste Erklärung des Romantischen. Schlegel hat diesen Gedanken verschiedentlich variiert: >[...] alle romantische Poesie im engeren Sinn chaotisch.< Und Novalis: >ich möchte fast sagen, das Chaos muß in jeder Dichtung durchschimmern.< An anderer Stelle bei Schlegel: >Nur diejenige Verworrenheit ist ein Chaos, aus der eine Welt entspringen kann.<«[62]

Gefordert wird nicht natürliche Ordnung, sondern künstliche Verwirrung, nicht Illusion der Notwendigkeit, sondern Schein der Zufälligkeit, nicht Stimmigkeit, sondern Brüche, nicht Geschlossenheit, sondern Fragment.
Die Negation aller Bindung und Konvention hat ein gesellschaftliches Interesse: »Sie hofften: gerade die heftigste Entfaltung der Persönlichkeit werde letzten Endes die Menschen einander wirklich nahe bringen; sie selbst suchten ja darin die Rettung aus der Einsamkeit und aus dem Chaos.«[63] »Philosophieren«, sagt Schlegel, »heißt die Allwissenheit gemeinschaftlich suchen.« »Wir sind nur ein Stück von uns selbst.« Geister sollen sich verbinden, die eigentlich zusammengehören wie getrennte Hälften. Es entstand die romantische »Akademie«, ein Kollektiv, in dem nicht nur das »Symexistieren« und »Symfaulenzen«, sondern auch die Produktion gemeinsam waren - das Athenäum.[64]

2.4. »Künstlichkeit« als Mittel der Reflexion des Warenfetischs und die Ästhetisierung des Protests

Das zentrale Problem der Romantik, ihr Rückzug in die Innerlichkeit, hängt zusammen mit der politisch-ökonomischen Situation Deutschlands: der Kleinstaaterei, der kleinlichen politischen Hierarchie und der zurückgebliebenen Entwicklung der industriellen Produktion. Gesellschaftlicher Zusammenhang, in Frankreich begriffen als politisch (staatlich) vermittelt, in England als durch die Gesetzmäßigkeiten des Warentauschs hergestellt - in beiden Gesellschaftskonstruktionen mit einem Element der moralischen Legitimation verknüpft -, scheint in Deutschland von der Willkür der Kleinfürsten abhängig. Öffentlichkeit ist in diesem Kontext immer nur die geballte öffentliche Meinung der Sittenwächter, nicht die Öffentlichkeit von Produzenten, wie sie etwa in Frankreich die Basis der Öffentlichkeit direkter Demokratie, in England als Öffentlichkeit der Selbstverwaltung der Privateigentümer sich entwickelt hatte.[65]

»[...] aber plötzlich sprang ein häßliches Untier mitten unter den Blumen hervor. Es schien geschwollen von Gift, die durchsichtige Haut spielte in allen Farben. [...] Es war groß genug, um Furcht einzuflößen. [...]: bald hüpfte es wie ein Frosch, dann kroch es wieder mit ekelhafter Beweglichkeit auf einer unzähligen Menge kleiner Füße. Mit Entsetzen wandte ich mich weg: da es mich aber verfolgen wollte, faßte ich Mut, warf es mit einem kräftigen Stoß auf den Rücken und sogleich schien es mir nichts als ein gemeiner Frosch. Ich erstaunte nicht wenig. [...] da plötzlich jemand ganz dicht hinter mir sagte: Das ist die öffentliche Meinung.«[66]

Entscheidend ist die bereits in der Form der Allegorie zum Ausdruck gebrachte Ablehnung der politischen Analyse. An anderer Stelle schreibt Schlegel: »Die französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethe's Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters.«[67] Lukács bemerkt dazu: »Für Deutschland gab es nur einen Weg zur Kultur: den inneren, den der Revolution des Geistes; an eine wirkliche Revolution konnte niemand ernsthaft denken. [...] Diese Feststellung Schlegels ist also, wenn man Zeit und Umstände richtig wertet, überraschend gerecht und objektiv.«[68] Der Öffentlichkeit stellt die Romantik die wechselseitige Aneignung von Individualitäten im Medium der Reflexion entgegen, und zwar unter dem Titel der «Natur«, der »Natürlichkeit«. Natur heißt hier Befreiung von Konvention, vom Zwang der Rolle. Aber was soll an deren Stelle treten?
Die Theorie der Romantik verbleibt auf der Ebene des Individuellen, ohne zur Psychologie vorzustoßen. Sie anerkennt einerseits die naturhafte Bedingtheit des menschlichen Wesens, mag aber andererseits nicht auf den freien Willen verzichten. Es bleibt bei einer abstrakten Entgegensetzung. Dadurch entsteht eine Entsinnlichung, eine absolute Künstlichkeit aller Figuren. Trotz aller Problematisierung von Beziehungen bleibt die »Schönheit« der Darstellung, verstanden als Erhabenheit des Dargestellten, oberstes Prinzip. Die Romantik reflektiert die Entwicklung der Warenproduktion in der totalen Künstlichkeit der dargestellten Verhältnisse und der Darstellung selbst: Es gibt nichts »Natürliches«. Die Auflösung der Geschlechterrollen, wie sie die Romantik vorantreibt und ausdrückt, erhält dadurch etwas Zweideutiges. Die Romantik entdeckt den Warencharakter der Frau und die Frau als Ware; das richtige Interesse an der Reflexion des Rollenhaften in den Geschlechterbeziehungen verfängt sich jedoch in der Fetischisierung der Vollkommenheit, die die »ideale« Frau symbolisiert. »Die Kunstform der Allegorie und die Warenform des Produkts korrespondieren einander. [...] Die Romantik ist geblendet vom Rätsel des Geldfetischs - die totale Verrätselung der Welt.«[69]
Im Charakter der Lisette in Lucinde stellt Schlegel - ein Thema, das in der Romantik immer wiederkehrt - die Dirne dar, nicht unter dem Aspekt der bürgerlichen Ehemoral bzw. ihrer christlichen viktorianisch Mitleid heuchelnden - Variante, sondern als Verkörperung des Protests und der Verdinglichung zugleich. Die Entfremdung des Menschen in der Arbeitsteilung findet ihren schärfsten Ausdruck im Verkauf des weiblichen Körpers, einem Verkauf, der in der romantischen Fiktion von einem starken Ich, einer stolzen Frau, im Zorn als radikale Durchführung des alle menschlichen Beziehungen beherrschenden Tauschprinzips in skandalöser, da öffentlicher Weise, als protestierende Aktion verstanden wird. Die Charakteristik der widersprüchlichsten Eigenschaften, die Schlegel als Rätsel an den Anfang seiner Schilderung setzt, werden im Vollzug der Verbindung des Julius mit der seltsamen Lisette sinnhaft verständlich:

»Was sie ihm so interessant machte, war nicht allein das, weshalb sie allgemein gesucht und gleichsam berühmt war, ihre seltne Gewandtheit und unerschöpfliche Mannigfaltigkeit in allen verführerischen Künsten der Sinnlichkeit. Ihr naiver Witz überraschte ihn mehr und reizte ihn am meisten, wie die hellen Funken von rohem tüchtigen Verstand, vorzüglich aber ihre entschiedene Manier und ihr konsequentes Betragen. [...] Nächst der Unabhängigkeit liebte sie nichts so unmäßig wie das Geld, aber wie wußte es zu brauchen. Dabei war sie billig gegen jeden, der nicht sehr reich war und selbst gegen die andern treuherzig in ihrer Habsucht und ohne Ränke. Sie schien ganz sorgenlos nur in der Gegenwart zu leben und war doch immer auf die Zukunft bedacht. Sie sparte im Kleinen, um nach ihrer Art im großen zu verschwenden und im überflüssigen das Beste zu haben.«[70]

In der Hure Lisette schildert Schlegel die Frau als Ware und ihre Einsamkeit. Er beschreibt ihr Boudoir, auch »ihr heiligstes Kabinett« genannt, den intimen Raum, in den sie nur die Männer führte, die ihr wirklich gefielen. Dieses Privatissimum könnte man den »Raum der Verdopplung« nennen; er ist angefüllt mit Abbildern des Lebens: »schöne Originale von frischen, vollen Blumen- und Fruchtstücken, [...] die lebendigsten und fröhlichsten Darstellungen [...] aus Gips nach der Antike«; die große Kunst, die mehr ist als ein gefälliges Bild, die eine andere Beziehung zum Leben hat, erscheint in »einigen guten Kopien von den wollüstigsten Gemälden des Correggio und Tizian«. Daneben »von allen Seiten große kostbare Spiegel«. »Statt der Stühle echte orientalische Teppiche und einige Gruppen aus Marmor in halber Lebensgröße« den Objektcharakter der Weiblichkeit darstellend - »ein gieriger Faun, der eine Nymphe, die im Fliehen schon gefallen ist, eben völlig überwinden wird; eine Venus, die mit aufgehobenem Gewande lächelnd über den wollüstigen Rücken auf die Hüften schaut und andere ähnliche Darstellungen«. In diesem Raum der Objekte und des einsamen Narzißmus saß Lisette »Oft auf türkische Sitte tagelang allein und die Hände müßig im Schoß, denn sie verabscheute alle weiblichen Arbeiten.«

»Sie war einmal Schauspielerin gewesen, aber nur kurze Zeit und sie machte sich gern lustig über ihr Ungeschick dazu und über die Langeweile, die sie dabei ausgestanden. Es war eine von ihren vielen Eigenheiten, daß sie bei solchen Gelegenheiten in der dritten Person von sich sprach. Auch wenn sie erzählte, nannte sie sich nur Lisette, und sagte oft, wenn sie schreiben könnte, wollte sie ihre eigne Geschichte schreiben, aber so als ob es ein andrer wäre.«[71]

Lisette, in diesem Raum, ist reines Bild, reine Erscheinung, reine Passivität - aber eine fremdartige, nicht die der demütigen Weiblichkeit. Auch Ingres, Delacroix, Verlaine (später Baudelaire) haben jenes Bild der Frau als reines Versprechen, als reine Form im Bild des türkischen Bades, des Harems gefunden. Die Frau ist reines Objekt, vollkommene, ebenmäßige Schönheit, absolute Passivität, reiner Ausschluß von Produktion, reiner Konsum, reine Ware, reine Oberfläche, absolut unzugänglich, da in sich geschlossen. Diese Weiblichkeit ist dem Manne zwar dienstbar, aber nicht erreichbar. Die totale Entfremdung der Frau von sich selbst und vom Mann in der Bildhaftigkeit des abgeschlossenen Raumes verweigert sich den beruhigenden Kompromißformeln der bürgerlichen Frauenrolle: der »weiblichen Tätigkeit«, die (wie das Sticken) dem Betrachter die Beruhigung erlaubt, das im Schutze des Hauses geborgene Weib ruhe glückhaft in sich, ja es arbeite sogar ...
Die weiblichen Charaktere in der romantischen Kunst sind Allegorien, Personifikationen realer Verhältnisse. Die Frühromantik wollte die freie Menschlichkeit, die Auflösung der Geschlechterrollen und die Aufhebung der Unterdrückung der Frau. Für sie gab es nur eine Antwort: individuellen Mut, Bildung. Die Befreiung ist individuelle Entscheidung der Einzelnen gegen den Druck der »öffentlichen Meinung«. Darin ist die Frühromantik noch ganz Erbe der Aufklärung: die gesellschaftlichen Institutionen sind für sie nur Worte, »Pfaffentrug«; sie sind nicht »notwendig falsches Bewußtsein«. Der romantische Protest kommt aber nicht zur Konkretion der Darstellung, da das alltägliche, das wirkliche Leben gerade ausgeschlossen bleibt und nur überhöht, in stilisierten Kommunikationsfiguren zugelassen wird. Der Protest selbst erstarrt schon zur Form. Schon die frühe Romantik hat zumindest auf der literarischen Ebene [72] - eine Tendenz zum Konsumfetischismus, zur kaschierten Summierung von Zeichen (Jugendlichkeit, Schönheit, Luxus), die alles Lebendige zum Material heruntersetzt, das keinen Widerstand leistet. Schließlich geht die Romantik theoretisch im Mystizismus, praktisch im Kolportageroman unter. Sie hat eine Affinität zur weiblichen Imagination auch in ihrem negativen Aspekt.