Einige ambivalente Strukturen im weiblichen Bewußtsein

»Was die Frauen betrifft, so kennen wir schon die Zweideutigkeit ihres Zustandes. Ins Alltägliche verbannt, machen sie daraus eine Festung und bemühen sich um so mehr, da herauszukommen, wobei sie jedoch den Implikationen des Bewußtseins ausweichen. Daher ein unaufhörlicher, aber ungeschickter Protest, der nur auf wenig orientierte Forderungen hinausläuft.«
Henri Lefebvre[117]

Die für die Frauen entscheidenden Probleme entstehen im Rahmen der Familie.[118] Es sind jedoch nicht, wie häufig angenommen wird, einfach innerfamiliale Rollenprobleme und Arbeitsüberlastung, die in diesem Bereich die Unzufriedenheit und den Protest der Frauen bestimmen. Haushalt und Familie bleiben ein Bereich, auf den sich die Frauen durchaus wegen bestimmter Vorteile zurückziehen (wobei dieser Rückzug zugleich regressiv ist und die Probleme nicht löst):

»In den Worten einer Arbeiterfrau: >Wenn bei uns das Thema Gleichberechtigung kommt, da sagt mein Mann immer: Die gibt es gar nicht; mache mal meine Arbeit. Wenn ich dann sage: Mache meine, sagt er: Gerne, wenn du raus gehst. Da bin ich bedient. Ich soll rausgehen, damit er meine Hausarbeit machen kann und zu Hause sitzt!... Es ist so, daß die Männer uns noch das Geldverdienen in die Schuhe schieben wollen, daß wir dann noch unsere Männer ernähren sollen.<
Gleichberechtigung als Gleichheit der Aufgaben und Gleichheit der Aufgaben als Berufszwang auch für die Frau - ein solcher Zustand scheint den meisten Befragten [Hausfrauen der BRD, U.P.] nicht attraktiv. Genötigt, Farbe zu bekennen, präsentieren viele von ihnen die Hausfrauenrolle indirekt auf einmal als Privileg, als Vorrecht, das man sich nicht nehmen lassen will. Nur jeweils eine von fünf Befragten hält es für erstrebenswert, daß Mann und Frau beide halbtags erwerbstätig sind und in der anderen Tageshälfte beide Haushalt und Kinder versorgen. Jede zweite will nichts davon wissen. 19 Prozent differenzieren: Müßte man ausprobieren, käme auf die Berufe an.«[119]

Das Problem der Unzufriedenheit der Frauen scheint auch nicht so sehr ein Problem fehlender Anerkennung der weiblichen Arbeiten durch die Männer zu sein. In ihrer Tätigkeit als Hausfrau jedenfalls fühlen sich die Frauen von den Männern anerkannt. So glauben zum Beispiel 87% der Hausfrauen in der Bundesrepublik, der Mann bewerte ihre Tätigkeit richtig, nur 14% fühlten sich zu wenig anerkannt.[120] Ärger oder Sorgen machen zwar die Schulkinder durch Unordnung und Mangel an Fleiß.[121] 18% der Frauen ärgern sich außerdem über die ungenügende Bereitschaft der Kinder, mitzuhelfen.
Es ist vor allem die im Alltag vorherrschende »Geschichtslosigkeit«, die die Frauen subjektiv bedroht. Bestimmend für ihre Unzufriedenheit und diffuse Angst ist die in der alltäglichen Routine vorherrschende innere und äußere Isolation. Die Frauen haben stets das Gefühl, im familialen Alltag mit ihren Bedürfnissen zu kurz zu kommen.[122]
Die Unzufriedenheit der Frauen mit dem Haushalt, aber auch mit der Berufsarbeit scheint eine Unzufriedenheit zu sein, die aus der Fesselung der Produktivkräfte (der »Bedürfnisorientierung«) stammt und die sich schwer mit der Isolation im Haushalt (und ebenso schwer mit der Einsperrung in das »Berufsleben«) abfindet. Die Verhinderung von Autonomie, eigener Entwicklung und Identität wird - gerade angesichts der Vorteile der im weiblichen Lebenszusammenhang bewahrten Produktionsweise - einer zunehmenden Gruppe von Frauen bewußt. Viele Frauen erkennen, daß sie im Rahmen des Haushalts nicht »Subjekt« werden können; zugleich ist aber auch klar, daß die Berufsarbeit - obwohl sie, vor allem wegen der Möglichkeit der ökonomischen Selbständigkeit, einen Zuwachs an Freiheit bedeutet - das Gefühl der Unzufriedenheit nicht vertreibt.

»Während der letzten Generation etwa hat sich die Unzufriedenheit der Frau interessanterweise verlagert. Viel von dem Neid der Frau gegenüber dem Manne - zweifellos eine starke Unterströmung in den Anfängen der Frauenbewegung - hat jetzt die Richtung gewechselt und ist zum Neid einer Gruppe von Frauen gegen eine andere geworden: die berufstätige Frau mißgönnt der Hausfrau die Freiheit, ihre Arbeit zu tun, wann und wie sie will [...]; die Hausfrau dagegen beneidet die berufstätige Frau wegen ihrer finanziellen Unabhängigkeit, wegen der größeren Vielfältigkeit ihrer gesellschaftlichen Kontakte und wegen ihrer Zielstrebigkeit.«[123]

  • zu Anm. 123

    »Alva Myrdal, Viola Klein, Die Doppelrolle der Frau in Familie und Beruf S. 28. Im Infas-Report werden hierzu Ergebnisse einer für Köln repräsentativen Frauenstudie vom November 1963 referiert: »Die Einstellung der Berufstätigen zu ihrem Beruf ist ambivalent. Gefragt, ob sie, wenn sie es sich erlauben könnten, ihren Beruf gern aufgäben oder lieber berufstätig bleiben wollten, sprach sich mehr als die Hälfte gegen den Beruf aus. Die Unzufriedenheiten der Nichtberufstätigen sind etwas weniger prägnant, aber nicht weniger bemerkenswert. Zwei Fünftel der Hausfrauen wären lieber berufstätig, wenn sie sich von ihren häuslichen Pflichten frei machen könnten. Nimmt man die Wünsche der Berufstätigen und die der Hausfrauen zusammen, so ergibt sich, daß mehr als die Hälfte (55 %) am liebsten zu Hause sein möchte und zwei Fünftel am liebsten im Beruf. Letztlich geht also vom Haus immer noch die größere Anziehungskraft aus.« (Infas-Report, Frau und Öffentlichkeit, S. 32 f.) Allerdings spielen hierbei Alter und Schulbildung eine wichtige Rolle. - Das Dilemma ist jedenfalls nicht dadurch aus der Welt zu schaffen, daß man - je nachdem, für welchen Bereich man Partei nimmt - die Identität betont, die, je nachdem, in Haushalt oder Beruf zu gewinnen sei. Es wäre konservativ, wollte man das Eingeschlossensein der Frau in den Bereichen Haushalt und Familie mit empirischen Ergebnissen darüber rechtfertigen, wie die Hausfrauen hierin ihre »Identität« gewinnen. Ebenso konservativ ist es, aus empirischen Untersuchungen über die Berufstätigkeit der Frau - in diesem Fall bei 10 französischen Unternehmen - lediglich zu folgern, daß die Berufstätigkeit eine Quelle psychischen Gleichgewichts bildet, daß also die Arbeit, »wenn sie auch manchmal Folge von Schwierigkeiten ist, die sich in der Familie ergeben, doch häufiger eine Quelle des Gleichgewichts ist, denn sie gestattet es, Schwierigkeiten in dem Maß zu lösen, wie sie mit einer hinreichenden Bedeutung versehen ist«. (M.-C. Levitte, Familie-travaille -Y a-t-il une Opposition? Zit. bei Betty Frantzen, Influence du travail professional de la femme sur la famille, S. 254.)«

Die Frage jedoch, was für die Frau »Subjektwerdung« bedeuten kann, ist ebenso offen, wie die weiblichen Produktivkräfte selbst unentwickelt sind. Die Frauen wollen vor allem »anders leben«; das heißt zunächst empirisch, sie wollen mehr konsumieren, und darauf richtet sich ihre Imagination. Ihr Objekt ist nicht die Berufsarbeit und der Protest in gewerkschaftlich organisierter Form, sondern die Artikulation einer tiefergehenden, prinzipiellen Unzufriedenheit mit der bestehenden Form des »Lebens« überhaupt. Die bedürfnisorientierten Beziehungen, die in der im weiblichen Lebenszusammenhang vorherrschenden Produktion strukturell angelegt sind, implizieren nur sehr wenige manifest geäußerte Wünsche und Bedürfnisse. Werden sie auf ihre »großen Wünsche« hin befragt, so äußern sich die meisten Frauen, vor allem Arbeiterfrauen, »realistisch«, »vernünftig«, aufs Mögliche hin orientiert.[124] Daß die im weiblichen Lebenszusammenhang angelegten Produktivkräfte dennoch gefesselt sind - und daß die Frauen hierunter leiden -, manifestiert sich nur in psychisch und institutionell verfestigten kulturellen Mustern,[125] in denen sich die aus der Bedürfnisorientierung hervorgehenden (unentwickelten und regressiv bleibenden) Wünsche symbolisch verschlüsselt äußern. Diese Äußerungen und Verhaltensweisen der Frauen sind regressiv und kompensatorisch, zugleich jedoch enthalten sie Momente der Kritik und des Protests.

3.1. Angst und Unzufriedenheit der Frauen

Was die verheirateten [126] Hausfrauen in der Bundesrepublik betrifft, so empfindet etwa ein Drittel die Hausarbeit als ganz unbefriedigend; für 35% ist sie einigermaßen, für 10% manchmal und nur für 23% sehr befriedigend.[127] Kritisiert wird an der Hausarbeit vor allem deren Eintönigkeit und Einförmigkeit. Dennoch kann man die Hausarbeit in ihrer Zeitstruktur nicht mit der Lohnarbeit parallelsetzen. Natürlich zerhackt die alltägliche Routine die Zeit der Frauen; trotzdem haben die meisten noch Freiräume und die Möglichkeit, ihre Zeit autonomer einzuteilen, als es Berufstätigen möglich ist.

»Im Alltag der >Nur-Hausfrauen< geht es insgesamt offenbar ruhiger zu. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß sie nach ihren eigenen Angaben und im Durchschnitt etwa 55 bis 60 Stunden mit den häuslichen Pflichten verbringen. Diese 55 bis 60 Stunden sind nicht so rigoros durchorganisiert wie die Arbeitsstunden der erwerbstätigen Männer und Frauen, sie unterliegen keiner, aus der Sicht der einzelnen Frau, unverrückbaren Einteilung wie in Fabrik, Büro oder Ladengeschäft; sie lassen mehr Spielräume für individuelle Abweichungen, für Anpassungen an das persönliche Befinden, an Unpäßlichkeiten oder Phasen gesteigerter Leistungsfähigkeit. In diesem, gewiß beschränkten, gleichwohl wichtigen Sinn ist das Gros der Hausfrauen freier, sind Hausfrauen mehr Herrinnen ihrer selbst. Die Befunde korrigieren damit das in der Öffentlichkeit noch verbreitete Bild der Hausfrau als der nimmermüden, rastlos schaffenden Frau. Die in der Fachliteratur immer wieder genannte Zahl von 60 Arbeitsstunden pro Woche scheint zwar korrekt, ist aber irreführend, wenn man sie nicht in der oben angedeuteten Weise relativiert.«[128]

Im Gegensatz zu den berufstätigen Frauen haben die sogenannten »Nur-Hausfrauen« nicht ständig das Gefühl des Gehetztseins und des Eingespanntseins:

»Gemessen an den Mitteilungen über die Pausen, fielen die Antworten auf eine Frage nach der Freizeit sehr positiv aus: >Gibt es im Laufe des Tages Stunden, die sie ganz für sich haben?< (Frage 18) Zwei Drittel sagten: Ja; ein Drittel: Nein. Die Schätzungen über die Zahl der Stunden, die man ganz für sich hat, gehen wieder stärker auseinander: Je ein Fünftel sprach von einer Stunde und von zwei Stunden, ein weiteres Fünftel von drei Stunden und mehr. Die Zahl derer, die über freie Stunden verfügen, geht mit steigender Kinderzahl stark zurück«.[129]

So ist es nicht erstaunlich, daß die Frauen ihr Zeitbudget im allgemeinen, vor allem verglichen mit der Lage des Mannes, als zufriedenstellend empfinden. Das dennoch vorhandene Gefühl des immerwährenden Gehetztseins hat andere Ursachen, ist ein Symbol für anderes.

A. Diffuse Angst, vegetative Störungen, »Motiv der Vermeidung von Erfolg«

Unzufriedenheit und Angst gehen vor allem aus dem in der Alltagsroutine herrschenden Mangel hervor. Angst ist hierbei einerseits Ausdruck realer Furcht (vor allem vor der Verschlechterung der ökonomischen Situation), andererseits Ergebnis verdrängter Wünsche nach autonomer Entfaltung von Fähigkeiten, nach Individuierung und nach persönlicher Anerkennung. Das Geregelte, Ritualisierte des Alltagslebens entwickelt sich vor dem Hintergrund der Angst vor Katastrophen, vor Schulden, vor dem finanziellen Chaos, vor dem Gefühl des »überrolltwerdens« durch Unordnung, Staub und Schmutz, vor dem »Nicht-fertig-Werden« mit der Situation.[130] Wie die Untersuchung von 1973 ergeben hat, gehen Angst, Unsicherheit und Abhängigkeitsgefühle der Frauen nicht so sehr von dem Bewußtsein aus, daß der Mann der Geldverdiener ist, nicht die Frau; das Geld wird mehr oder weniger partnerschaftlich geteilt. Unsicherheit und Abhängigkeitsgefühle finden vielmehr ihren Ausdruck in der Phantasievorstellung darüber, was geschehen würde, wenn der Mann einmal ausfiele (was letztlich ein Ausdruck für die gefühlsmäßigen Ambivalenzen ist, die aus finanzieller und emotionaler Abhängigkeit und dem Sicherheitsbedürfnis der Frau hervorgehen).

»Fast zwei Drittel der Frauen haben darüber nachgedacht, nur ein Drittel baut ohne weitere Überlegungen auf die Erhaltung des gegenwärtigen Zustands. Wider Erwarten sind es häufiger die Frauen in jungen und mittleren Jahren - zwischen 18 und 40 -, die sich mit solchen Gedanken befaßten, und nicht die ältesten Befragten. Wider Erwarten sind es auch häufiger Frauen mit einem Kind oder zwei Kindern als kinderreiche Mütter. Den höchsten Anteil der Nachdenklichen weisen die Frauen von Angestellten und Beamten auf, den niedrigsten die der un- und angelernten Arbeiter. Das heißt nichts anderes, als daß die relativ gut gesicherten Frauen sich eher den Kopf zerbrechen als die relativ ungesicherten.«[131]

Bei den berufstätigen Frauen wie bei den Hausfrauen ist eine diffuse Angst vor physischer und psychischer Gefährdung, ein nicht genau definiertes Unbehagen vorhanden. Aus der >Brigitte<-Studie geht hervor, daß fast jede zweite Hausfrau zwischen 18 und 54 Jahren an die Möglichkeit einer Berufskrankheit (durch Hausarbeit) glaubt (was mit dem hohen Maß an Zufriedenheit mit dem gegenwärtigen Leben kontrastiert, das die Frauen selbst bekunden).[132]

»Im ganzen, so muß man folgern, ist unter den Frauen der Bundesrepublik, ob erwerbstätig oder nicht, das Gefühl, gesundheitlich gefährdet zu sein, stark verbreitet. Ein Drittel der Arbeitnehmerinnen und fast die Hälfte der Hausfrauen zwischen 18 und 54 glaubt, >Berufskrankheiten< ausgesetzt zu sein. Da der Begriff der Berufskrankheit offenkundig nicht in einem präzisen Sinn verwendet wurde, kann man annehmen, daß das große Ausmaß der Besorgnisse Symptom für andere Ängste ist, deren Wurzeln nicht im Gesundheitsbereich liegen müssen.«[133]

Die Beschwerden, unter denen die Frauen häufig leiden, liegen im Bereich psychosomatischer Symptombildungen: Fünf vegetative Beschwerdekomplexe treten bei Frauen gesichert häufiger auf als bei Männern: Kreislaufstörungen, Darmträgheit, Abgespanntheit, Nervosität, Schlaflosigkeit. [134] Hausfrauen in der Bundesrepublik klagen vor allem über »Nervosität« (62%), Kreislaufbeschwerden (50%), Kreuzschmerzen und Kopfschmerzen (42% bzw. 41%), Erschöpfungszustände (36%), Herzbeschwerden (24%), Schlafstörungen (21%), Schwindelanfälle (21%), Magenleiden (16%), Angstzustände (15%), Gallenbeschwerden (13% ).[135] Horst-E. Richter bestätigt, daß Frauen, vor allem die zwischen 31 und 60 Jahren, das Gefühl haben, besonders belastet und schwach zu sein; sie betonen besonders Schwäche und Minderwertigkeitsgefühle. »Dazu gehören ihre vermehrte soziale Gehemmtheit, Gefügigkeit und Unzufriedenheit mit sich selbst. Abweichend von den jüngeren Frauen bewerten sich die älteren in der Richtung von vermehrter Abhängigkeit, Isolation, Unattraktivität, Neigung zu Selbstvorwürfen.«[136]


Quelle: Thomas Held, René Levy, Die Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft, S. 255.

Die Ergebnisse der schweizer Frauenstudie von 1970/71 präzisieren diese Daten (vgl. Tabelle 3): Psychosomatische Störungen treten mit großer Häufigkeit bei Frauen mit (manifest geäußerten) traditionellen Normen auf, die zugleich in einer stark traditionellen (strikte Rollentrennung zwischen Mann und Frau, Dominanz des Mannes etc.) realen Situation leben (in der Tabelle ist dies die Kategorie »Übereinstimmung Normen/Struktur: hohe Traditionalität«). 82% dieser Frauen zeigten psychosomatische Symptome. (Abgesehen davon ist an den Ergebnissen der schweizer Untersuchung bedeutsam, daß mehr als die Hälfte aller verheirateten, in der Großstadt wohnenden Frauen psychosomatische Symptome angaben.)
Ein anderes Syndrom, in welchem sich ein Gefühl der Minderwertigkeit, der Hilflosigkeit und der Angst bei den Frauen artikuliert, betrifft, wie bereits kurz dargestellt,[137] den Bereich der Leistung und des Leistungsprinzips: das »Motiv der Vermeidung von Erfolg«. Zwar suchen die Frauen nicht den Mißerfolg; das Motiv der Vermeidung von Erfolg bedeutet, daß die freie Äußerung von Leistungsorientierung (auch bei sonst positiv motivierten jungen Frauen) durch Dispositionen der Angst vor den negativen Konsequenzen (soziale Ablehnung, Gefühl der Unweiblichkeit) des gewünschten Erfolges verhindert wird.[138] Zum Beispiel stellte es sich in einer Untersuchung von Undergraduate Students einer amerikanischen Universität heraus, daß mehr als 90% der männlichen Untersuchungspersonen gegenüber vorgegebenen Thematiken für männlichen Erfolg - verwendet wurde ein Standard Thematic Apperceptive Test zur Messung des Leistungsmotivs [139] starke positive Einstellungen zeigten, während in bezug auf die Thematik für weiblichen Erfolg 65% der Mädchen irritiert, beunruhigt oder verwirrt reagierten:

»Ungewünschter Erfolg war bei den Frauen ganz klar mit dem Verlust an Weiblichkeit, sozialer Ablehnung, persönlicher oder gesellschaftlicher Zerstörung oder mit einer Verbindung dieser Thematiken verbunden. Ihre Antworten drehten sich vor allem um die negativen Konsequenzen, [...] sie waren sogar unfähig, den Informationsgehalt der vorgegebenen leistungsbezogenen Thematik überhaupt aufzufassen. Nehmen wir als Beispiel die folgende typische Thematik: >Freiwillig verringert Anne ihre akademischen Leistungen und unternimmt alles, was ihr möglich ist, um Karl zu helfen, der vor dem Examen steht. Bald muß sie ihre medizinische Ausbildung aufgeben, da ihre Leistungen nicht mehr ausreichen. Sie heiraten. Karl studiert weiter, während sie Hausfrau wird.<
Manche Mädchen betonten in ihrer Fortführung dieser Geschichte, daß Anne unglücklich sei, aggressiv, solange sie unverheiratet sei; andere glaubten, sie sei so ehrgeizig, daß sie ihre Familie als Mittel zur Durchsetzung ihrer eigenen Karriere benutze, andere meinten, Anne sei ein Code-Name für eine nicht existente Person, die eine Gruppe von Medizinstudenten erfunden haben, die nacheinander Examen machen und Papiere für >Anne< schreiben. Mit anderen Worten, die befragten Frauen zeigten siginifikant mehr vom >Motiv der Vermeidung von Erfolg< als die Männer: 59 der befragten 90 Frauen rangierten hier hoch, aber nur 8 von den 88 befragten männlichen Vergleichspersonen.«[140]

Die entsprechenden Studien sind in Tabelle 4 zusammengefaßt. Sie lassen erkennen, daß die Angst vor Erfolg bei Frauen (vor allem der Mittelschicht) generell häufiger ist als bei Männern. (Allerdings stellt sich in neueren Untersuchungen heraus, daß sich auch bei Männern eine zunehmend negative Einstellung gegenüber Erfolg und Leistung entwickelt.)[141]
Das Motiv der Vermeidung von Erfolg ist zugleich verbunden mit Frustration, Feindschaft und Aggression:

»Eine Sekundärinterpretation der Ergebnisse der ersten Studie erbrachte ebenso wie unsere neuesten Ergebnisse, daß derartige Entwicklungen nicht ohne Kosten vor sich gehen. Der Preis besteht in Gefühlen der Frustration, in Feindseligkeit, in Aggression und Verbitterung und in Identitätsproblemen. Alle diese Momente treten in der Phantasieproduktion der jungen Frauen deutlich hervor. Das wurde deutlich im Vergleich der Vorstellungen, die Frauen entwickelten, die in unserer Untersuchung ein starkes >Motiv der Vermeidung von Erfolg< gezeigt hatten, mit solchen, die wenig solche Neigungen erkennen ließen. Es handelt sich um Weiterentwicklungen der Ausgangsthematik: >Anne sitzt in einem Sessel, sie lächelt.< Mehr als 90% der Frauen, die im Hinblick auf das >Motiv der Vermeidung von Erfolg< niedrig eingestuft worden waren, führten die Thematik mit folgenden positiven Vorstellungen weiter: Verabredungen, Verlobungen, bevorstehende Heiraten und erfolgreiche Leistungen. Dagegen brachten nur 20% der Frauen mit der Tendenz zur Vermeidung von Erfolg vergleichbare Phantasien. Die übrigen Antworten enthielten soweit sie nicht besonders exzentrisch ausfielen - vor allem negative Einfälle, Vorstellungen von Feindseligkeit oder von der Manipulation anderer Menschen.
Typische Geschichten, wie sie Mädchen erzählen, die wenig >Angst vor Erfolg< zeigen, sind etwa:
Ihr Freund hat gerade angerufen ... Was soll ich nur anziehen... Ob er mich mögen wird? Ich bin so aufgeregt... Anne ist sehr glücklich. Anne wird eine herrliche Zeit verbringen.
Anne ist glücklich - sie ist glücklich, weil die Welt so schön ist. Es schneit und es ist schön draußen - sie ist glücklich, zu leben, und das gibt ihr ein Gefühl von Geborgenheit und Wärme. Ja, Anne hat eine Prüfung gut bestanden.
Von solchen Äußerungen weicht die Gruppe mit starker Tendenz zur >Vermeidung von Erfolg< in extremer und dramatischer Weise ab:
Anne überdenkt gerade ihren Tageserfolg. Sie hat ihrer Ex-Freundin eben den Freund abspenstig gemacht.
Sie sitzt lächelnd im Sessel, denn sie ist gerade sehr zufrieden, jemanden gekränkt zu haben. Mit der Waffe in der Hand wartet sie auf die Rückkehr ihrer Stiefmutter.
Anne ist beim Begräbnis ihres Vaters. Mehr als 200 Leute sind gekommen. Sie weiß, es gehört sich nicht, zu lächeln, aber sie kann nicht anders ... Ihr Bruder Ralph versetzt ihr vor Wut einen Stoß in die Rippen, aber sie beherrscht sich nicht ... Anne steht dramatisch auf, verläßt den Raum und zieht als erstes eine Nelke aus dem Strauß, der auf dem Sarg liegt.«[142]
Das Resumé, das Horner aus ihren Ergebnissen zieht, lautet: »Unsere Ergebnisse zeigen mit großer Deutlichkeit, daß zahlreiche leistungsorientierte amerikanische Frauen, vor allem dann, wenn sie ein starkes >Motiv der Vermeidung von Erfolg< haben, im Konflikt zwischen ihrer Vorstellung von Weiblichkeit und der Entwicklung ihrer Fähigkeiten und Interessen, ihre Fähigkeiten zurückhalten (verbergen) und auf Konkurrenz in der nicht-familialen Welt verzichten.«[143]


Quelle: Matina S. Horner, Toward an Understanding of Achievment-Related Conflicts in Women, S. 160

B. Manifestes Unbehagen, Protest und schichtspezifische Kompensation

Ein manifestes Unbehagen - eine generelle »Protesthaltung«[144] - zeigt in der Untersuchung über die schweizer Frauen etwa die Hälfte aller Frauen (ob in Stadt oder Land, ob in einem hochentwickelten oder niedrigentwickelten Kanton); sie nehmen eine allgemeine Benachteiligung der Frauen wahr. Etwa 60 bis fast 70% der schweizer Frauen unterstrichen die Forderung nach einem Zusammenschluß der Frauen.[145]
Wir ziehen hier Ergebnisse über die schweizer Frauen heran, weil eine detaillierte Untersuchung des Unbehagens und des Protests der Frauen für die Bundesrepublik und auch für andere Länder nicht vorliegt. In den Untersuchungen über die Arbeitnehmerinnen in der EWG (1971) und die verheirateten Ehefrauen in der Bundesrepublik zeigen sich jedoch deutlich vergleichbare Einstellungen.[146] Betrachtet man in dieser Studie den Anteil lediger und verheirateter Frauen mit konsequenter Befürwortung bzw. konsequenter Ablehnung von »Frauenprotest« (»konsequent« ist hierbei definiert als Anteil der Frauen, die mehrere Items zum Frauenprotest zugleich befürworten bzw. ablehnen), so ergibt sich immerhin, daß in den niedrigentwickelten Kantonen, sowohl in der Stadt als auch auf dem Land, etwa 40% der Frauen Protesthaltungen »konsequent« zustimmen (8-16% Ablehnungen), in den hochentwickelten Kantonen auf dem Land 43-48% (14-22% Ablehnungen) und in der Stadt sogar 44-47% (5-8% Ablehnungen).[147] Der schweizer Studie zufolge besteht die, wie die Autoren dies nennen, »Emanzipationsideologie« bei den meisten Frauen (in der Stadt wie auch auf dem Land, in hochentwickelten Kantonen ebenso wie in niedrigerentwickelten) darin, daß man eine Gleichheit der Geschlechtsrollen bejaht, gegen die Benachteiligung der Frauen jedoch im allgemeinen nicht protestiert. Die Autoren nennen dies eine »individualistische Haltung«: man sucht die Diskriminierung, die man spürt, zu ignorieren.[148]
Manifest richtet sich das aus der Unzufriedenheit der Hausfrauen mit der Hausfrauenrolle hervorgehende Interesse nicht auf eine Berufstätigkeit, sondern auf Formen realer Öffentlichkeit, auf Kommunikation. Der Mangel an Kommunikation wird von den Hausfrauen nicht unmittelbar mit der Familie in Zusammenhang gebracht; von vornherein ist man an außerfamilialen Aktivitäten interessiert. Anschaulich wurde dieses Bedürfnis in einer Gruppendiskussion der Hausfrauen im Rahmen der >Brigitte<-Studie formuliert:

»>Es ist alles ein bißchen eintönig<. - >Daß man mit dem Kind spielt, es unterstützt, das ist alles klar. Manchmal habe ich die Nase voll. So halbtags arbeiten, das würde mir schon gefallen. Mal was anderes hören, nicht nur immer mein Kind<. - Wenn die Frau nur zu Hause ist, stimmt es, daß die Frau langsam verblödet. Wenn man so viele Jahre nur daheim ist, nur im Haushalt. Irgendwie kommt man nicht mehr mit Leuten zusammen, man hat keinen richtigen Kontakt, man weiß nicht, was unter Arbeitskollegen geschieht, wie sie sich unterhalten. Nur daheim, nur die Kinder, nur den Mann - es wäre angebracht, wenn eine Frau nach einer gewissen Zeit wieder rauskommt. Es muß nicht das Geld sein, auch deshalb, damit man wieder unter Leute kommt und ein bißchen Ansprache hat und vom Berufsleben mitreden kann<. - >Ich sehne mich nicht nach einer ausgesprochenen Berufstätigkeit, sondern nach einer Ansprache<.« Und: »>Der Kreis in einer Familie ist doch furchtbar klein, der Kontakt nach außen ist in jedem Beruf größer. Selbst wenn man am Fließband steht, sind Sie immer im öffentlichen etwas drin, zu Hause schließt sich dieser Kreis so furchtbar schnell<.«[149]

Von den Hausfrauen, die später einmal wieder berufstätig sein wollen, gab jede dritte hierbei den Wunsch nach sozialen Beziehungen als Grund an. Die Großfamilie jedoch wird nicht als eine mögliche Form einer solchen Öffentlichkeit verstanden. Nach der >Brigitte<-Studie können sich die meisten der befragten verheirateten Hausfrauen das Leben in einer Großfamilie (die in der Befragung positiv dargestellt wurde) nicht vorstellen. (69%, 13% kaum, 7% halten sich zu alt dafür, lediglich 7% bejahten das Modell der Großfamilie; 2% meinten, man müsse es erst einmal ausprobieren.[150]).

»Auch Frauen, die der Hausfrauenexistenz kritisch gegenüberstehen, wollen nicht deren Ablösung durch eine partiell kollektivierte Form. Die Privatheit der Familie, der eigene Haushalt sind sakrosankt. Sie sind es vor allem für Frauen ab 30, nicht so eindeutig für die jüngeren Befragten. Auch unter den jungen überwiegt jedoch bei weitem die Ablehnung der neuen Form. Zwischen den Männer-Berufs-Gruppen, also nach Schicht (gemessen am Beruf des Mannes, U. P.), besteht überhaupt kein Unterschied nach dem Grad der Antipathie.[151]

Anstelle einer Veränderung der Familie wünschen sich die Frauen mehr zusätzliche außerfamiliale Kommunikation, vermutlich wegen der in diesen Kommunikationszusammenhängen geringeren sozialen Kontrolle.
Unzufriedenheit und auch Protest der Frauen hängen nicht zuletzt davon ab, welche Ressourcen der Mann in die Familie einbringt. Von Verzicht sprechen die Frauen um so mehr, je niedriger der Berufsstatus des Mannes ist:

 

»Die Frauen von Männern in niedrigen Berufen neigen auch stärker als die Frauen von Männern in höheren Berufen zu der Deutung, es würden ihnen besondere Verzichte abverlangt. Die These, die Hausfrau gebe mehr, als sie zurück erhalte, bejahten ohne Einschränkung von den Frauen der

an- und ungelernten Arbeiter 74 Prozent
Facharbeiter 75 Prozent
kleinen Selbständigen 72 Prozent
unteren Angestellten und Beamten 63 Prozent
mittleren Angestellten und Beamten 59 Prozent
höheren Angestellten und Beamten 58 Prozent
leitenden Angestellten und Beamten 58 Prozent

Die Feststellung, die Hausfrau und Mutter sei der Dienstbote ihrer Familie, bezeichneten als uneingeschränkt zutreffend von den Frauen der

an- und ungelernten Arbeiter 54 Prozent
Facharbeiter 58 Prozent
kleinen Selbständigen 45 Prozent
unteren Angestellten und Beamten 43 Prozent
mittleren Angestellten und Beamten 38 Prozent
höheren Angestellten und Beamten 29 Prozent
leitenden Angestellten und Beamten 35 Prozent

Ähnliche Abstände ergaben sich bei der Auffassung, die Leistungen einer Hausfrau und Mutter seien für die Allgemeinheit von größerer Bedeutung als die Arbeit der Frauen in der Berufswelt. Die Frauen von Arbeitern, von kleinen Selbständigen sowie von unteren Angestellten und Beamten stimmten ihr sehr viel häufiger zu als die Frauen von Angestellten und Beamten der nächsten Stufen.«[152]

Auch die schweizer Frauenstudie ergab, daß das Unbehagen an der Frauenrolle (hier als »Protest« gekennzeichnet) bei den verheirateten Frauen (vor allem in den hochentwickelten Kantonen) in der Unterschicht stärker ist als in der Mittelschicht, und zwar sowohl in der Stadt (47% gegenüber 31%) als auch auf dem Land (25% gegenüber 13%).[153]

»Betrachtet man auch noch Angehörige höherer Berufsschichten, so ist übereinstimmend in allen Kontexten eine deutlich U-förmige Verteilung festzustellen: Arbeiterfrauen protestieren relativ häufig, Frauen der Mittelschicht weniger, Frauen aus höheren sozioökonomischen Schichten dagegen wieder häufiger, oft sogar noch häufiger als jene aus der Unterschicht. Dies ist ein wohlbekanntes Bild; es entspricht dem besonders hohen Konformismus der Mittelschicht, der mit Normen zusammenhängt, die allgemeineren Charakter haben als die spezifischen Frauennormen und sich gegen jede Art von >auffälligem< - eben nicht-konformem Verhalten richten. Diese Normen können mit der besonderen Situation der Mittelschicht (vor allem mit ihrer Mittelstellung zwischen Unter- und Oberschicht und mit ihren Aufstiegserwartungen) erklärt werden.«[154]

Diese Unzufriedenheit bei Arbeiterfrauen besteht unabhängig von ihrer Berufstätigkeit, hängt also von anderen Faktoren als von Berufstätigkeit ab; entgegen der Annahme, es sei vor allem die Belastung durch die Doppelrolle, die das Frauenproblem ausmacht, ist es sogar so, daß berufstätige Frauen weniger manifestes Unbehagen an der Frauenrolle äußern als Hausfrauen.[155] Die Autoren vermuten die Ursache der Unzufriedenheit der städtischen, nicht berufstätigen Frauen der Unterschicht in der Diskrepanz zwischen realer sozialer Lage und Konsum- und Kommunikationsbedürfnissen. Bei den kleinstädtischen nicht-berufstätigen Frauen ist diese Diskrepanz ebenfalls vorhanden, sie wird jedoch im Rahmen allgemeiner »Verzichtkultur« rationalisiert. Die städtischen berufstätigen Frauen können solche Bedürfnisse wenigstens partiell befriedigen.[156] Aufgrund der beruflichen und finanziellen Position des Ehemanns verfügen die Frauen der Mittelschicht auch innerhalb von Haushalt, Familie und sozialen Beziehungen über relativ mehr Privilegien und damit auch Möglichkeiten, ihre innerfamiliale Isolation zu kompensieren. In den Unterschichtfamilien sind es dagegen vor allem außerfamiliale Aktivitäten, die den Frauen Gratifikation bringen, denn im Alltag des Haushalts und der Familie haben die Frauen der Unterschicht wenig Privilegien, daher auch wenig Möglichkeiten der Kompensation (obwohl die Mittelschichtfrau hier generell reichere Möglichkeiten hat). Mit zunehmenden »Modernisierungsgrad« und damit auch wachsendem allgemeinen Protest der Frauen [157] nehmen daher bei den Unterschichtfrauen deren nicht-familiale Aktivitäten (nicht nur Berufstätigkeit, sondern auch Cliquenbeziehungen etc.) zu; in der Mittelschicht dagegen artikuliert sich das mit steigender »Modernisierung« generell höhere Protestniveau der Frauen nicht in einer Zunahme außerfamilialer Aktivitäten.[158] Abgesehen davon sind die außerfamilialen Aktivitäten jener Mittelschichtfrauen, die in modernisierterem Kontext leben - die außerfamilialen Beziehungen nehmen mit dem Modernisierungsgrad in der Mittelschicht nicht zu, jedoch bestehen von vornherein mehr außerfamiliale Beziehungen -, »individualisierter« als in der Unterschicht: der Bekanntenkreis, in den die Mittelschichtfrauen im modernisierten Zusammenhang integriert sind, hat weniger Cliquencharakter.[159]
Bei Arbeiterfrauen findet man also mit zunehmender »Modernisierung« nicht nur verstärkt Berufstätigkeit, sondern auch andere, »freiwillige« Aktivitäten im außerfamiliären Bereich (was zugleich ihre familiäre Isolation und die Bedeutung der in der Familie bestehenden Probleme - und damit Unbehagen und Protest - reduziert).[160] Dabei ist jedoch zu beachten, daß bei den jüngsten Frauen vor allem der Unterschicht weiblicher Protest kaum vorkommt. Sie weichen häufig in Mode aus; sie haben hohe Aufstiegserwartungen, die sich auf den Mann konzentrieren, was bereits zu einer Art Delegierung ihrer Entscheidungskompetenzen an den Mann führt. Bei ihnen dominieren eher »individualistische« Haltungen (egalitäre Einstellung ohne »Protest«), denn sie, die berufstätig sind und ihre Interessen auf die Mode konzentrieren, können ihre Wünsche nach Konsum und Soziabilität (außerfamilialen Beziehungen) wenigstens teilweise erfüllen.[161] Ganz anders sieht dies bei älteren, nicht berufstätigen Unterschichtfrauen aus, bei Frauen also, die eng an ihre Familiensituation gebunden sind und, anders als die Mittelschichtfrauen, keine Ausweichmöglichkeiten oder Aufstiegserwartungen haben, so daß ihnen nichts anderes übrigbleibt, als sich das Schichtschicksal zum Anlaß des Protests zu nehmen - häufig vor allem dann, wenn sie in cliquenartige Bekanntschaften integriert sind, die die einzige außerfamiliale Partizipation von Bedeutung für sie darstellen.[162]

Die Fesselung der im weiblichen Lebenszusammenhang vorhandenen Produktivkräfte in den Produktionsverhältnissen und die Folgen, die die darin bestehende Produktionsweise für die Identität und für das Bewußtsein der Frauen hat (knapp charakterisierbar als Ambivalenz von »Bedürfnisorientierung« versus »Ich-Schwäche«[163]), ist also in der bei allen Frauen, unabhängig von ihrer Schichtlage, vorhandenen diffusen Angst, den vegetativen Störungen und in den prekären Einstellungen zum Bereich von Leistung und Konkurrenz spürbar. Die Art und Weise, wie dieser Widerspruch verarbeitet wird, wieweit also daraus ein manifestes Unbehagen oder ein bewußter Protest hervorgeht, hängt auf differenzierte Weise mit den schichtspezifisch unterschiedlichen Produktionsverhältnissen der Frauen zusammen: mit den unterschiedlichen Ressourcen, die den Frauen der Mittelschicht, aber für eine bestimmte Zeit auch den jungen städtischen Frauen der Unterschicht zur Verfügung stehen. Manifestes Unbehagen und manifester Protest sind jedoch nur eine Form der Reaktion im Rahmen der vorhandenen Ressourcen. Wie schon hier bei den Frauen der Mittelschicht und auch bei den jungen städtischen Frauen der Unterschicht deutlich wird, sind bestimmte kulturelle Muster, mittels derer die Frauen ihren Alltag und ihren gesamten Lebenszusammenhang deuten, praktisch noch wichtiger: die kulturellen Muster der Ritualisierung des Alltags, der Imagination und der Mode.

3.2. Rituale im Alltag, Imagination und Mode; »Frauentypen«

Die Ambivalenz des weiblichen Verhaltens und der weiblichen Vorstellungen wird besonders in den institutionellen Mustern der weiblichen Imagination [164] deutlich, d. h. in der Idealisierung bestimmter Elemente des Alltagslebens durch die Frauen selbst: im Versuch, entweder aus der aktiven »Ordnung« oder aber aus der »Dynamisierung« des Alltagslebens Gratifikationen zu gewinnen. Auch diese Möglichkeit der Konfliktlösung ist Teil des (schichtspezifisch unterschiedlichen) weiblichen Sozialcharakters. Die imaginäre Ausstattung des Alltagslebens, wie sie die Frauen vornehmen, ist ambivalent, weil sie nicht nur Ideologie ist,[165] sondern auch Mittel der Artikulation latenter Kritik.
Der Bereich des Imaginären nimmt eine eigenartige Mittelstellung ein: Vermittlung zwischen Tagtraum und Realität. Das Imaginäre ist ein Bedeutungszusammenhang realer Dinge; es ist die Überlagerung des Gebrauchs durch Zeichen. Die Frau, die sich in einen Pelz schmiegt, nicht nur, weil er warm und leicht ist, sondern auch, weil er das Kostbare repräsentiert, ein Zeichen ist - von Luxus, Reichtum, Schönheit, Begehrtwerden. Konflikte entstehen durch Widersprüche zwischen der Realität und den Interpretationen, Werten und Wünschen, etwa der Vorstellung der Frau von ihren Aufgaben als Mutter, ihren Eigenschaften als Geliebte, ihrer Vorstellung von Schönheit, gutem Leben, Geselligkeit; durch Widersprüche zwischen Liebe und Haß gegenüber Kind, Mann, Eltern und Nachbarn; durch Widersprüche zwischen den Wünschen, wegzufahren, in die Ferien, nicht mehr zu arbeiten, alles stehen und liegen zu lassen, Liebhaber zu haben - und auch all das wiederum nicht zu wollen, weil es unerreichbar bleibt, weil man ein schlechtes Gewissen bekommt - und dem, was im Rahmen der Ressourcen etwa als Fabrikarbeiterin oder Sekretärin oder »Hausfrau« davon zu realisieren möglich scheint. In der Betonung und Ritualisierung von Handlungen und Ereignissen, die die herrschende Geschichtslosigkeit des Alltags durchbrechen (oder positiv umdeuten), werden diese Konflikte stillgestellt.
Familienzeremonien, Wechsel der Mode, neue Objekte des Konsums, Feierlichkeiten des Kollektivs, politische Haupt- und Staatsaktionen, Sportereignisse sind die Zeichen von Geschichte, die aus dem Fluß der Lebenszeit herausragen, Ansatzpunkte der Identitätsbildung. Damit sind auf der Seite des Subjekts Unselbständigkeit, Passivität, Konformismus und Autoritätsanfälligkeit verbunden. Zugleich jedoch erfährt das bedürfnisorientierte Denken und Handeln, sobald es sich auf sich selbst (auf den Bereich des Alltags, dessen Ordnung, die Reputation und Dynamisierung) zurückzieht, auch Gratifikation. Was kann »glücklicher« machen als »die Mode, die Anordnung des familiären Raumes, das Streben nach Stimmung und Personalisierung durch das Kombinieren von Elementen?«[166] Wie empirische Studien zeigen, ist bei Frauen Glücksgefühl verbunden mit dem Gefühl der Rezeptivität gegenüber der Welt und Soziabilität.[167] Glück und Zufriedenheit der Frauen hängen zusammen mit »guter Stimmung« und mit Geselligkeit.[168] Frauen, die sich selbst als unglücklich bezeichnen (aber auch unglückliche Männer), schätzen effiziente Arbeit und Ehrgeiz am höchsten ein.[169] (Hierüber darf man nicht vergessen, daß die Frauen, selbst wenn sie sich auf den Bereich von Haushalt und Familie mehr oder weniger beziehen und hierin ihre eigentliche Welt sehen, ebenfalls bedroht und unzufrieden sind.)

Das Imaginäre, mit der weiblichen Rolle besonders verknüpft, ist der Versuch, einer Vorstellung, einem Wunsch durch Anordnung von Zeichen Ausdruck zu verleihen. Das Imaginäre besteht in einer Symbolsprache - einer Sprache, die einem Wunsch zum Ausdruck, zur Erscheinung verhelfen soll. Dabei entstehen immer Kompromisse: Es gibt eine festgelegte Sprache (Gegenstände der materiellen und der immateriellen Kultur, Verhaltensweisen).
Unterschiedliche Ressourcen bedingen einen unterschiedlichen Zugang zu den Mitteln der Imagination und ihrer öffentlichen Darstellung, entsprechend verschiedene Möglichkeiten der Gratifikation und der psychischen Equilibrierung. Die Produktion der Zeichen, die für andere verständlich das Imaginäre darstellen, variiert mit den schichtspezifischen Ressourcen. Die Frau der Unterschicht findet keine der Mittelschicht vergleichbare Gratifikation. Ihr fehlen die Mittel, sich in die Unerreichbare, Kostbare, Kapriziöse, Erfolgreiche zu verwandeln. Ihr ist Selbsttäuschung, die Illusion, die von anderen bestätigt wird, nur begrenzt gestattet. Das Imaginäre besteht aber auch in der Unterschicht und ist Ausdruck und Träger von Konflikten. Wir wollen die unterschiedlichen Formen der imaginativen Besetzung des Alltagslebens

  1. anhand von Ergebnissen der qualitativen Marketing-Zielgruppenforschung darstellen und
  2. anhand deskriptiver Fallstudien untersuchen.

In einer Untersuchung des Fachbereichs Marketing der Firma Gruner und Jahr, durchgeführt vom Bremer GETAS-Institut,[170] wurden die rund 15 Millionen westdeutscher Frauen (Hausfrauen und berufstätige Frauen) zwischen 14 und 49 Jahren in bestimmte »allgemeine Frauentypen« (Cluster)[171] gegliedert. In unserem Zusammenhang sind diese Untersuchungen relevant, weil sie nicht nur Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber Konsum generell und gegenüber Mode, Kosmetik, Wohnen und Haushalt beachten, sondern auch Einstellungen, Interessen und Bedürfnisse in allgemeinen Lebensbereichen, also das »persönliche Selbstverständnis« der Frauen. (Einen Überblick gibt Tabelle 5.) Das Ziel derartiger Frauen-Typologien ist es, den Markt der weiblichen Konsumentinnen - 15 Millionen Frauen sind unter 50 Jahre alt - in »marketing-gerechte« Zielgruppen zu gliedern, und dem Produktplaner, dem Marketing-Fachmann, dem »Creativen«, dem Mediaplaner die Möglichkeit zu geben, diese weiblichen Teilgruppen »klarer zu definieren, genauer abzugrenzen, wirkungsvoller anzusprechen, gezielter zu erreichen«.[172]

Im Zusammenhang dieser Arbeit sind die »Frauentypen« deshalb von Bedeutung, weil sie über eine grobe schichtspezifische Differenzierung hinausgehen. So erweist es sich, daß bestimmte konträre Typen des Modeverhaltens und des Kosmetikverhaltens gleiche sozialstrukturelle Merkmale aufweisen; daß sich zum Beispiel der »Kleidungs-Muffel und Kittelschürzen-Typ«, was die Verteilung von Alter, Haushalts-Nettoeinkommen, Berufstätigkeit und Haushaltsgröße betrifft, kaum vom in Einstellungen und Verhalten durchaus entgegengesetzten »Kosmetik-Expertin- und Schmink-Typ« unterscheidet.[173] Den Untersuchungen zur Typologie der Frauen geht es nicht um unterschiedliche psychische Grundstrukturen, sondern um Marketing-Zielgruppen, also um die feinen empirischen Oberflächenunterschiede im praktischen Verhalten. Diese Unterschiede im faktischen Verhalten können durchaus Reaktionsweisen auf die gleiche strukturelle Lage sein. Wenngleich sich etwa in ihrer »demographischen Struktur« die »unauffällige, passive Jugendliche« und der »improvisierfreudige Mode-Twen« wenig voneinander unterscheiden, so können doch Unauffälligkeit und Passivität einerseits und Improvisierfreudigkeit in der Mode andererseits gerade eine unterschiedliche Reaktion auf die gleiche strukturelle Lage sein.
Gemessen wird bei derartigen Untersuchungen stets das Selbstverständnis der Frauen. Für die Zwecke unserer Untersuchung, die ja nicht auf die Differenzierung unterschiedlicher Marketing-Typen abzielt, sondern auf Grundstrukturen des Verhaltens und der Imagination, ist es sinnvoll, diese Typen neu zu gruppieren, und zwar nach der Betonung von:

  1. Traditionalität, Solidität:
    hierzu gehören die »rückständige, anspruchslose Frau« und die »solide Hausfrau alten Stils«;
  2. Damenhaftigkeit, Gepflegtheit, Geltungsbedürfnis:
    die »geltungsbedürftige >Möchtegern-Dame<« und die »gepflegte, unausgefüllte Frau«;
  3. Aktivität, Berufstätigkeit, Unabhängigkeit:
    die »schicke Berufstätige« und die »aktive, intelligente Frau«;
  4. Jugend:
    »junge, passive Jugendliche« und der »improvisierfreudige Mode-Twen«.




Quelle: >Brigitte<, Gruner + Jahr AG & Co. (Hrsg.), Frauen-Typologie

Einen allgemeinen Überblick über die erfaßten Eigenschaften gibt Tabelle 6. Im folgenden werden wir diese Eigenschaften erläutern.

2. Anhand der qualitativen Fallstudien läßt sich stark idealtypisch zwischen der Unterschicht-Frau und der Mittelschicht-Frau unterscheiden. Durch diese Studien kann - und dies ist gegenüber der an der Oberfläche bleibenden und in gewisser Weise zynischen (»geltungsbedürftige >Möchtegern>-Dame«) »Frauen-Typologie« bedeutsam - die Funktion unterschiedlicher Formen der Imagination genauer bestimmt werden.[174]
Leider vernachlässigt die »Frauen-Typologie« die genaue Bestimmung der sozialen Schichtung. Lediglich aus den Einkommensverhältnissen läßt sich ungenau auf die schichtspezifische Verteilung schließen. Man kann jedoch von dieser Frauentypologie her die idealtypische Beschreibung der »Unterschichtfrau« und der »Mittelschichtfrau«, wie wir sie aus den deskriptiven Fallstudien gewinnen können,[175] durchaus bestätigen. Wie Tabelle 7 zeigt, sind die »Frauentypen«, wenn man das Haushalts-Nettoeinkommen betrachtet, auch schichtspezifisch unterschiedlich verteilt: Die Gruppe 1 (Traditionalität etc.) bezieht eher ein niedriges Einkommen (1000-unter 1500 DM); die Gruppe 3 (Aktivität, Berufstätigkeit etc.) eher ein höheres Einkommen(2000DM und mehr), während die Gruppe 2 (Damenhaftigkeit etc.) sich mit ihrem Einkommen zwischen diesen beiden Gruppen befindet, mit Tendenz nach unten (1000 bis unter 1500; unter 2000DM). Im Gegensatz zur Gruppe 1 gibt es bei der Gruppe 2 jedoch mehr Personen mit höherer Schulbildung (Mittelschule, Abitur, Universität), so daß hier offensichtlich ein Widerspruch zwischen den vorhandenen Ressourcen und den über die Schulbildung begründeten Ansprüchen besteht. Die Frauen der Gruppe 4 (Jugend) befinden sich größtenteils noch in der Ausbildung.
Wir wollen nun die spezifischen kulturellen Muster der Besetzung des Alltagslebens für die verschiedenen Typen beschreiben.

A. Die Imagination der Unterschichtfrau;
Ordnung des Alltagslebens

In der »Frauen-Typologie« von 1972 wird das besonders von der Unterschichtfrau vertretene Selbstbild der Traditionalität und Solidität von den Frauentypen der »rückständigen, anspruchslosen Frau« und der »soliden Hausfrau alten Stils« verkörpert.

Die »rückständige, anspruchslose Frau« (12% = 1,81 Mio.):

Dieser Frauentyp weist im Vergleich zur Gesamtheit der Frauen ein höheres Alter (40-49 Jahre) auf, ist überdurchschnittlich häufig katholisch, verheiratet (mit Kindern), hat eine Volksschule ohne Lehre besucht. Zu diesem Typus gehören überdurchschnittlich häufig die nichtberufstätige Hausfrau, ein niedriges Haushalts-Nettoeinkommen und ein Wohnort in einer kleineren Gemeinde.
Das Verhalten der Frauen dieses Typs und ihre Einstellungen sind starr und eingefahren; Aufgeschlossenheit und Mobilität (Voraussetzungen für aktiven Konsum) fehlen. Diese Frauen haben das geringste Interesse an Mode, an Schönheit, Kosmetik und an Fragen der Emanzipation der Frau im Beruf. Sie kleiden sich schlicht und einfach und unscheinbar; ihr Kleiderkonsum ist konservativ, sie tragen am häufigsten Kittel und Schürze. Auch kosmetische Artikel werden von ihnen kaum gebraucht. Sie verfügen über relativ wenig Taschengeld, sind Nichtraucher, besitzen keinen Führerschein, machen nur selten Reisen, auf keinen Fall Auslandsreisen. Traditional ist auch ihre Einstellung gegenüber Ehe und Sexualität, in der eigene Ansprüche unterdrückt sind. Alles Neue, ob es nun Kaufverhalten, Haushalt, Kochen und Wohnen betrifft, wird von diesem Frauentyp strikt abgelehnt.

Die >solide Hausfrau alten Stils« (19% = 2,88 Mio.).

In dieser Kategorie finden sich überdurchschnittlich häufig Frauen im Alter von 35 bis 49 Jahren, die katholisch und verheiratet sind und Kinder haben. Es sind Frauen, die eine Volksschule ohne Lehre besucht haben, die nicht berufstätige Hausfrauen sind, die ein niedriges Haushalts-Nettoeinkommen haben und in kleineren Gemeinden wohnen.
Haushalt und Probleme des Haushalts spielen im Selbstverständnis dieser Frauen eine zentrale Rolle. »Das konservative Moment darin wird überdeckt durch die positive Zentrierung auf die Rolle der Hausfrau im Rahmen der Familie. Frauen dieses Typs halten sich für besonders häuslich, ordnungs- und sauberkeitsliebend. Die Hausarbeit macht ihnen Spaß, sie kochen gerne, und sie bekennen mit Stolz, gute Hausfrauen zu sein.«[176] Auch diese Frauen kaufen Kittel und Schürzen häufiger als andere Kleidungsstücke, sie tragen selten Hosen, und sie benutzen an kosmetischen Artikeln vorwiegend Handcreme und Haarfestiger. Sie wollen sich nicht »schön machen«, sondern »anständig aussehen«. Ihr Einkaufsverhalten ist generell auf »Vernünftigkeit« ausgerichtet



Quelle: >Brigitte<, Gruner + Jahr AG & Co. (Hrsg.), Frauen-Typologie

Was die Imagination dieser beiden Frauentypen betrifft, so wurden in der an Konsumfähigkeit interessierten »Frauen-Typologie« nur solche Aspekte untersucht, die sich auf bestimmte Einstellungen und Verhaltensweisen zu Konsum, Kosmetik, Haushalt, Wohnung und Mode beziehen. Nicht berücksichtigt ist hierbei zum Beispiel die immer wieder beobachtete Tatsache, daß gerade Frauen der Unterschicht - und hierzu wird man beide Typen rechnen können - gegenüber Interviewern sehr vernünftige Angaben machen, in ihrem tatsächlichen Verhalten aber sehr zu Üppigkeit und expressiver Darstellung, im Wohnverhalten zum Gebrauch von Fransen und Quasten tendieren. Dennoch bleibt festzuhalten, daß von diesen beiden Typen überdurchschnittlich häufig Häuslichkeit, Ordnung und Genügsamkeit hervorgehoben werden, wobei die »rückständige, anspruchslose Frau« eher Traditionalität, die »solide Hausfrau alten Stils- eher Solidität und Spaß an den Arbeiten in Haushalt und Familie betont. Von der »soliden Hausfrau alten Stils« wird immer wieder der Spaß am Kochen und an Haushaltsarbeiten unterstrichen. Ordnung und Sauberkeit zu schaffen gehört also zum dominanten Teil des Selbstverständnisses dieser Frauen, wobei auch hier die »rückständige, anspruchslose Frau« eher die Traditionalität, z. B. das Verwenden traditioneller Kochrezepte, erwähnt, während die »solide Hausfrau alten Stils«, die in der Regel 35 bis 49 Jahre alt ist, Vergnügen am Haushalt, ihre Kompetenz in der Haushaltsführung, Sauberkeit und Ordentlichkeit als zentrale Werte betrachtet. Wie bereits im vorherigen Kapitel erwähnt, wird dieser Typ eher von den Frauen repräsentiert, die älter als 30 Jahre sind, während die berufstätigen jüngeren Unterschichtfrauen aktiver an Mode und Konsum partizipieren.
In seiner Funktion verständlich wird dieses Muster erst durch die qualitative Beschreibung des spezifischen Lebenszusammenhangs anhand verschiedener Fallstudien.
Das Leben der Unterschichtfrau ist stärker als das der Mittelschichtfrau auf Familie und Alltag hin zentriert. Die Unterschichtfrau lebt stärker in der Alltäglichkeit, in der Alltagsroutine. Entsprechend sind ihre Abhängigkeit und ihre Angst vor Einsamkeit größer als bei den Mittelschichtfrauen. Für sie ist - wie die empirischen Untersuchungen ergeben - das Gefühl der Deprivation und der Angst weniger kompensierbar und stets bewußt. So verbringt sie zum Beispiel, nach ihrer eigenen Aussage, ihre Lebenszeit immer gleich: »Es ist genau dasselbe, außer, daß ich keine Hausarbeit mache am Wochenende. Ein Tag ist für mich wie der andere.«[177] Tatsächlich bestehen im Tagesablauf ziemliche Unterschiede zwischen Werktagen und Wochenenden. So werden z. B. Verwandtenbesuche gemacht, Ausflüge unternommen, man geht ins Kino oder essen, oder man geht zur Kirche. Warum diese Unternehmungen nicht als Unterbrechung der Routine wahrgenommen werden, läßt vielleicht der folgende Ausspruch vermuten: »Sonntags trifft sich die ganze Familie, das passiert ganz automatisch.«[178] In dieser Formulierung drückt sich das Gefühl aus, Teil eines mechanischen Systems, einer »Maschinerie«, zu sein.
Die Statik ihres Lebenszusammenhangs ist der Unterschichtfrau bewußt. Dies läßt sich z. B. anhand der Orientierungen nachweisen, die die Frauen in bezug auf ihr Haushaltbudget haben. Während die Frauen der Mittelschicht ihr Einkommen im allgemeinen für ausreichend halten und mit Stolz betonen, daß sie sich »normale« Wünsche nach Belieben erfüllen und ihre Entscheidungen ohne Rücksicht auf die finanzielle Situation treffen können, finden die von Rainwater et al. befragten Frauen der Unterschicht, daß ihr Einkommen zu gering ist, um an vielen der durchschnittlichen, normalen Aktivitäten des (amerikanischen) Lebens teilzunehmen. Etwa Mitglied eines Clubs zu sein, jedes Jahr Ferien zu machen, abends in der Stadt auszugehen oder ihre Wohnungen auszustatten, wie sie es gern möchten. Das Leben der Arbeiterfrauen ist ein ständiger Kampf mit den Bedürfnissen, für die das Einkommen nicht ausreicht; sie haben das Gefühl, daß sie niemals genügend Geld haben werden, um sich wirklich sicher fühlen und um Ersparnisse zu machen, da sie keine Verbesserung der ökonomischen Situation erwarten. Sie sind auch nicht rigide genug gegen sich selbst und beherrschen sich zu wenig, wie die Sozialforscher stirnrunzelnd bemerken.

»Auch bei verhältnismäßig hohem Einkommen haben Arbeiterfrauen das Gefühl, zu wenig Geld zu haben. Das Thema des Mangels, die Vorstellung, nicht genug Geld zu haben, >um rund zu kommen<, kehrt in ihren Kommentaren immer wieder. Wir wissen, daß sie tatsächlich ein durchschnittliches Einkommen beziehen und eine ansehnliche Menge einkaufen. So erscheint dem außenstehenden Beobachter dieses Gefühl materieller Benachteiligung noch andere, nicht nur finanzielle Ursachen zu haben. Einer der wesentlichsten Gründe ist die Fixierung auf den Konsum sowie das überaus starke Bedürfnis nach materieller Sicherheit.«[179]

Für die Statik ihrer Lebensweise sucht sich die Unterschichtfrau zu entschädigen. Sie fixiert sich demonstrativ auf die Alltagsroutine, die sie haßt und aus der sie gleichzeitig identitätsstiftende Elemente zu gewinnen sucht - das letztere gilt vor allem für das Streben nach »Reputation«, die aus der Herstellung eines geordneten Alltagslebens zu ziehen ist. Aus dem »Meistern« eines Tagesablaufs, dem Bewältigen eines ordentlichen Haushalts ist Selbstbewußtsein zu gewinnen. Die »Funktionen« des Haushalts und der Erziehung bringen zugleich Elemente der Autonomie mit sich: etwa die selbständige Disposition des Budgets und die entsprechende Verantwortung für die Familie und die Kinder. Eines der Hauptziele ist Sicherheit. Die Frauen der Unterschicht gehen davon aus, daß man mit einigem Glück von Unglück verschont bleibt, daß man aber nicht individuell gegen das Schicksal ankommen kann. Zugleich wünschen sie Veränderung in der Zukunft, erwarten diese jedoch passiv als Ereignis, als Zufall; zugleich tendieren sie dazu, die unbekannte Welt als katastrophisch, zumindest als chaotisch wahrzunehmen. Als Kompromiß zwischen phantastischen Wünschen dem Glück - und auch phantastischen Befürchtungen - der Katastrophe - schätzen es die Frauen der Unterschicht, wenn alles ruhig und friedlich seinen Gang geht. Diese psychische Konstellation ist die Voraussetzung des praktischen Sichabfindens mit dem alltäglichen Leben. - In ihrem Alltagsleben ist die Frau der Unterschicht praktisch, realistisch auch in der Einschätzung von Personen; sie ist entschlossen, »sich nicht unterkriegen zu lassen«, und die »Reputation« vor sich selbst und anderen aufrechtzuerhalten. »Alles geht seinen ordentlichen Gang.«
Von der Funktion der Aufrechterhaltung einer bedrohten Identität her erklärt sich auch die Betonung der »Ordnung« in den Geschlechtsrollen in der Unterschicht, also der definitiv getrennten Rollen von Mann und Frau und deren Formalisierung. Männlichkeit und Weiblichkeit werden als einander ausschließende Verhaltensmuster begriffen, zwischen denen es keine Überschneidungen gibt.[180] Die meisten Frauen heiraten früh, bald nach dem Schulabschluß. Phantasie und Selbstbilder zentrieren sich um die Familienrollen:

»Die Unterschichtfrau ist nicht glücklich ohne klar definierte Familienrollen. Nach der Tochterrolle bewegt sie sich so rasch als möglich in die Ehefrau- und Mutterrolle. Diese Fluchtbewegung, die mit Angst zusammenhängt und die Ausbildung einer selbstbewußten Individualität behindert, führt dann dazu, daß das Verhältnis zwischen den Eheleuten sehr formal bleibt. Der Ehemann repräsentiert die Gelegenheit von Liebe, Sicherheit und Schutz gegen die im Leben drohenden Gefahren und das mögliche schicksalhafte Chaos. Zugleich ist der Besitz eines Ehemanns Zeichen dafür, daß man erwachsen ist, eine erwachsene Frau, die eine gute Ehefrau und Mutter ist und als solche anerkannt wird.«[181]

Wegen der Formalisierung der zudem nur über die Erfüllung bestimmter häuslicher Aufgaben demonstrierten Zuneigung zwischen den Ehepartnern besteht bei der Unterschichtfrau ein ständiges Gefühl von Frustration und Entfremdung. Wie Männer überhaupt, so erscheinen auch Ehemänner der Frau der Unterschicht häufig als willkürlich und unverständlich handelnd. Das Gefühl der Isolation und Bedrohung, das daraus resultiert, verarbeitet sie, indem sie die Rigidität der Rollentrennung zusätzlich von sich aus betont. Die Unberechenbarkeit der persönlichen Beziehungen wird durch feste Verantwortlichkeiten in der Familie verringert. Das Alltagsleben wird so organisiert, daß es ruhig, aber nach Aufgaben und Interessenbereichen getrennt abläuft. Auch hier ist die Starrheit, mit der Geschlechtsrollen aufrechterhalten werden, ein Kompromiß zwischen vorherigen phantastischen Wünschen und Hoffnungen einerseits - die jungen, berufstätigen Arbeiterinnen partizipieren an der Mode und erhoffen sich sozialen Aufstieg über den Mann [182] - und realer Frustration in der Ehe andererseits. Die Phantasien vom »Geld-Haben«, vom gemeinsamen Verdienen, »Reichtum«, gemeinsamen Reisen und gemeinsamer Freizeit werden bei der Übernahme der zentralen Rolle der Hausfrau und der Mutter aufgegeben.
Die stärkere Rollentrennung in der Unterschicht geht auch auf die Kompensationsbedürfnisse des Mannes zurück: auf sein Bedürfnis, sich in der Familie für die Bedrohung seines Selbstwertgefühls und fehlende Befriedigung, die mit einem niedrigen sozialen Status häufig zusammengehen, zu entschädigen. Die Betonung der männlichen Rolle soll Leistungsfähigkeit bestätigen: dazu gehören sexuelle Aktivität, physische Stärke, Macht über andere und offen geäußerte Aggressivität. Dieses Verhalten widerspricht allerdings den anerkannten Erfordernissen einer stabilen ehelichen Beziehung ebenso wie den Vorbildern der Vaterrolle. Wechselseitige Anerkennung und Rücksichtnahme werden als zentrale Werte sowohl in der Mittelschicht als auch in der Unterschicht zunehmend anerkannt. Die aggressiveren Komponenten werden daher häufig außerhalb der Familie in männlich-aggressiven Freundesgruppen und Vereinen zum Ausdruck gebracht. Solches Verhalten verstärkt bei den Frauen der Unterschicht das Gefühl der Isolation. Die Unterschichtfrau fühlt sich von ihrem Ehemann isoliert, ohne dieses Gefühl nun auf konkrete Dinge beziehen zu können, außer vielleicht durch den ständigen, halbbewußten Zweifel darüber, wie die Einstellung ihres Ehemannes zu ihr »wirklich« ist. Sie ist daher ängstlich darauf bedacht, die Wünsche des Mannes zu erfüllen.[183] Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, daß die »Störung der sexuellen Beziehungen«, von der die Frauen am meisten sprachen, sich auf die Diskrepanz zwischen den sexuellen Forderungen der Ehemänner und dem Bedürfnis der Frau nach Liebe und Zärtlichkeit bezieht. Sie fühlt sich häufig vom Mann als Objekt zur Befriedigung ausschließlich seiner Bedürfnisse behandelt. Allerdings lösen sich diese autoritären Strukturen bei den Gruppen innerhalb der Unterschicht, die eine gewisse materielle Sicherheit erreicht haben, allmählich auf; in diesen Gruppen wird der sexuelle Glücksanspruch der Frau zunehmend anerkannt.[184]

B. Die Imagination der Mittelschichtfrau;
Dynamisierung des Alltagslebens

Betrachtet man die demographische Struktur der westdeutschen Frauen zwischen 19 und 49 Jahren (Haushalts-Nettoeinkommen und Schulbildung, vgl. Tabelle 7), so ist, soweit man aus dem Material ersehen kann, in der BRD (1972) das Syndrom der »Damenhaftigkeit, Gepflegtheit« und des »Geltungsbedürfnisses« vor allem, wenn auch nicht überdurchschnittlich häufig, in der unteren Mittelschicht vertreten.

Die >geltungsbedürftige >Möchtegern-Dame« (12% = 1,81 Mio.):

Mit einer geringfügigen Ausnahme (geringfügige Überrepräsentation in der Ausbildungsgruppe »Volksschule mit Lehre« und einem etwas häufigeren Wohnsitz in Bayern) ist diese Gruppe in ihrer demographischen Struktur identisch mit der Frauengesamtheit zwischen 14 und 49 Jahren. Dieser Frauentyp ist relativ undifferenziert im Urteil, zeigt eine vergleichsweise geringere Fähigkeit, sich kritisch gegenüber der Umwelt und der eigenen Person zu verhalten. Er ist meist familien- und haushaltsbezogen, versteht sich jedoch selbst als besonders aktiv und selbständig: einerseits als modern und aufgeschlossen, andererseits als Verkörperung häuslicher Tugenden. Diese Frauen kochen gern und probieren gern neue Rezepte aus. »Obwohl sie in erster Linie für ihre Familie und den Haushalt da sind, beanspruchen sie in diesem Rahmen doch eine wesentlich souveränere Rolle als die der sich aufopfernden und sich unterordnenden Ehefrau, Mutter und Nur-Hausfrau.«[185] Sie fühlen sich als Meinungsführerin im Konsumbereich; sie achten, nach ihren eigenen Angaben, mehr als andere auf Qualität und kaufen nur »das Beste«. Sie bemühen sich, guten Geschmack zu zeigen, und sie sind stolz darauf, daß andere Frauen sie in Fragen des Konsums um Rat fragen und sich nach ihren Empfehlungen richten. Ihren Kleidungsstil empfinden sie als elegant, gepflegt. Ihnen kommt es auf geschmackvolles Wohnen, auf Gediegenheit an.

Die »gepflegte, unausgefüllte Frau« (12% = 71,85 Mio.):

Überdurchschnittlich häufig findet sich dieser Typ bei Frauen, die 30 bis 49 Jahre alt sind, Volksschule und Lehre absolviert haben, verheiratet, nicht berufstätige Hausfrauen sind, in Großstädten und vor allem in Nordrhein-Westfalen wohnen. Es handelt sich um einen »durchschnittlichen«, mehr oder weniger unauffälligen Frauentyp, der sich von der Gesamtstichprobe kaum unterscheidet, allenfalls durch einen relativ hohen Medikamentenverbrauch (die Einnahme jeder Art von Medikamenten liegt über der Norm) und durch einen relativ intensiven Gebrauch von Kosmetika, insbesondere von pflegenden Kosmetika. Frauen dieses Typs neigen eher zu Passivität und Introversion; sie haben wenig Selbstvertrauen.

Die Imagination dieser beiden Frauentypen richtet sich, soweit dies aus der primär am Konsumverhalten interessierten Untersuchung hervorgeht, auf Aktivität und Dynamik in Haushalt und Familie. Zugleich bescheinigt die Studie der »geltungsbedürftigen >Möchtegern<-Dame« eine allgemein positive Einstellung zu sich selbst und zu den Dingen, aber auch eine gewisse Undifferenziertheit des Urteils sowie eine relativ geringe Fähigkeit, sich kritisch zur Umwelt und zur eigenen Person zu verhalten, und von daher eine Neigung, auf dynamisierende Konsumangebote hereinzufallen. Die »gepflegte, unausgefüllte Frau« dagegen, die überdurchschnittlich häufig unter den Frauen von 30 bis 49 Jahren repräsentiert ist, scheint mit zunehmendem Alter eher die negative Seite des Selbstbilds der aktiven, dynamischen Frau zu entwickeln. Ihr Selbstbild ist vorwiegend passiv und nach innen gerichtet. Hier scheint Resignation eine Rolle zu spielen; jedenfalls könnten der relativ hohe Medikamentenverbrauch, die intensive Verwendung pflegender kosmetischer Mittel und die Unzufriedenheit darauf hinweisen.
Die Mittelschichtfrau ist auf Grund ihrer schichtspezifischen Ressourcen (finanzielle Möglichkeiten, Ausbildung) gegenüber dem Alltagsleben relativ autonom. Sie bekommt es besser »in den Griff«. Während die Unterschichtfrau die Alltagsroutine als Realität anerkennen muß, versucht die Mittelschichtfrau, die Angst, die auch bei ihr die Alltagsroutine verursacht, durch ein Überangebot an Imagination und Dynamik zu kompensieren.[186] Auf das Bild eines einsamen Mädchens reagierten Unterschichtfrauen mit der Deutung, das Mädchen sei zurückgestoßen, ausgeschlossen worden, und sie identifizierten sich unmittelbar mit der Dargestellten. Dagegen lautete der typische Kommentar der Mittelschichtfrauen: »Ein armes Kind, das allein ist. Ihre Lebensverhältnisse scheinen nicht besonders gut zu sein. Hat zu viel Zeit, keine Spielkameraden, nichts um sich zu beschäftigen. Das könnte zu ziemlichen Schwierigkeiten führen. Scheint das Kind braucht jemanden, der es gern hat und sich um es kümmert.«[187] Die Mittelschichtfrau betrachtet die Situation mehr oder weniger technisch, sie schneidet ihre Wahrnehmung der Situation bereits auf die technischen Möglichkeiten zu. Im Mittelschichtverhalten findet man generell »Nervosität«, eine Unruhe, die auch hier in der Interpretation deutlich hervortritt: »Es ist nicht gut allein zu sein«, und: »Aktivität ist alles«. Das ganze Verhalten ist von Hektik geprägt, von Angst vor »Leere«.
Die Unterschichtfrau sieht ihre tägliche Routine als langweilig und normal, d. h. als Schicksal an.[188] Ganz anders fällt die Beurteilung bei jungen Frauen der Mittelschicht aus. Sie fragen scheinbar indigniert: »Gibt es überhaupt typische Tage? Jeder Tag ist irgendwie anders. Wie kann ich überhaupt einen typischen Tag beschreiben?«[189] Der Unterschied im Tagesablauf einer Mittelschichtfrau und einer Unterschichtfrau scheint ebensosehr eine Folge ihrer Wahrnehmung wie ihres wirklichen Verhaltens zu sein:

»Auch die Frauen der Mittelschicht verbringen viel Zeit mit der Versorgung der Kinder; auch sie haben Geschirr zu spülen, zu waschen, auch sie bereiten täglich (im Durchschnitt) drei Mahlzeiten zu. Der Unterschied zwischen den Frauen der Mittelschicht und der Unterschicht besteht eben weniger in dem, was sie tun (obwohl auch hier bemerkenswerte Unterschiede bestehen), als in ihrer gesamten Reaktion auf ihre Lebensverhältnisse. Die Frau der Mittelschicht sieht ihr Leben nicht als eintönig und >durchschnittlich< an. Ein Tag ist für sie nicht wie der andere.«[190]

Dies kommt zum Beispiel in der Einstellung zu den Kindern zum Ausdruck, die für die Mittelschicht gerade nicht die Routine des Tagesablaufs bestimmen sollen, im Gegenteil: »Sie erfinden immer neue Sachen.« Ihre Hausarbeit hat die Mittelschichtfrau auf verschiedene Tage aufgeteilt: Montag Wäsche, Dienstag Einkauf etc. (Außerdem sind die Frauen der amerikanischen Mittelschicht meist Mitglied in einem oder zwei Vereinen.) Wenn die Mittelschichtfrau von Besuchen spricht, meint sie meist eine »Party« oder ein »Vereinstreffen«, während die Unterschichtfrau von »Nachbarn, Verwandten, alten Freundinnen« spricht, deren Besuch sie nicht als Unterbrechung der alltäglichen Routine empfindet, weil es »immer dieselben Leute« sind. Auch das Wochenende betrachtet die Mittelschichtfrau anders, »dynamischer«: Es ist die Zeit der Familienunternehmungen (Familie bezeichnet in der Mittelschicht immer den engen Kreis der Kernfamilie; in der Unterschicht die gesamte Verwandtschaft, den »Clan«). Was die Unterschiede ihres Tagesablaufs in den verschiedenen Jahreszeiten betrifft, so macht die Unterschichtfrau davon wenig her: »Im Sommer sind wir mehr draußen als im Winter, das ist alles.«[191] Die Mittelschichtfrau dagegen verleiht den Jahreszeiten unterschiedliche Funktionen: Winter ist die »Social season«, Sommer hauptsächlich die Zeit »privater« Vergnügungen.

»An den Winterabenden haben wir mehr Gäste als im Sommer. Im Sommer sind unsere Freunde und Bekannten dauernd in Urlaub, verreist, im Winter bekommt man die Gruppe leichter zusammen.
Im Winter haben wir alle möglichen Geselligkeiten - Parties, Tanzveranstaltungen, Schulveranstaltungen, fast jeden Samstag Fußball und den ganzen Winter über Theater oder Konzerte. Aber im Sommer haben wir unsere Hütte am See, wir fahren viel dorthin und sind unter uns. Wir schwimmen und erholen uns. Wenn der Sommer vorbei ist, haben wir wieder Lust zu unseren Winterunternehmungen.«[192]

Betty Friedans Beschreibung des »Weiblichkeitswahns« war ein Versuch, diese Dynamisierung des Alltags mit einer Ideologie der Weiblichkeit zu umgeben. (Zum Teil war der »Weiblichkeitswahn« allerdings eine journalistische Erfindung.) Auch ihren Beobachtungen zufolge spielt die Dynamisierung des Alltags im Leben der Mittelschichtfrau die Hauptrolle:

»Zwar fand ich niemals eine Frau, die dem Bild der >glücklichen Hausfrau<, tatsächlich entsprach, aber mir fiel bei diesen tüchtigen Frauen, die ihr Leben im Schutz des Weiblichkeitswahns führten, etwas anderes auf. Sie waren ungemein betriebsam - sie machten Besorgungen und spielten Chauffeur, die Geschirrspülmaschine, die Trockenschleuder und der Elektromixer waren ständig in Betrieb, sie arbeiteten im Garten, bohnerten, putzten Silber, beaufsichtigten die Schularbeiten ihrer Kinder, sammelten Geld für irgendwelche wohltätigen Zwecke und taten noch tausenderlei anderes. Im Verlauf meiner Unterhaltungen mit ihnen begann mir klarzuwerden, daß es sich mit der Zeit, die ein Haushalt erfordert, seltsam verhält.«[193]
»1. Je mehr einer Frau die Betätigung in der Gesellschaft auf dem Niveau ihrer Fähigkeiten verwehrt wird, um so mehr werden sich Hausarbeit und Ehefrauen- und Mutterpflichten ausdehnen - und um so mehr wird sie trachten, niemals mit diesen Arbeiten fertig zu werden, um nicht ganz unbeschäftigt zu sein. (Offenbar hat auch die menschliche Natur einen Horror vor dem Vakuum, selbst bei Frauen.)
2. Die Zeit, die eine Frau benötigt, um die Hausarbeit zu erledigen, schwankt je nach den Anforderungen einer anderen Tätigkeit, die ihr am Herzen liegt. Ohne irgendwelche Interessen außerhalb des Hauses ist eine Frau praktisch gezwungen, jeden Augenblick ihres Daseins auf die Bagatellen des Haushalts zu verwenden.
Den einfachen Grundsatz, daß sich >Arbeit wie Gummi dehnen läßt, um die Zeit auszufüllen, die für sie zur Verfügung steht<, hat als erster C. Northcote Parkinson formuliert. Parkinsons >Gesetz< kann im gleichen Maße auf die amerikanischen Hausfrauen angewendet werden. Hausarbeit läßt sich wie Gummi dehnen, um die Zeit auszufüllen, die für sie zur Verfügung steht, oder Muttersein läßt sich wie Gummi dehnen, um die Zeit auszufüllen, die dafür zur Verfügung steht, oder auch: Sex läßt sich wie Gummi dehnen, um die Zeit auszufüllen, die dafür zur Verfügung steht. Das ist zweifellos die wahre Erklärung für die Tatsache, daß die moderne amerikanische Hausfrau trotz all der neuen arbeitsparenden Geräte wahrscheinlich mehr Zeit mit Hausarbeit verbringt als ihre Großmutter.«[194]

Der »Weiblichkeitswahn« bezeichnet den Rückzug berufstätiger oder auf Berufstätigkeit hin durch College etc. ausgebildeter Mittelschichtfrauen - Frauen also, die, anders als die Arbeiterfrauen, Möglichkeiten haben, auch einen Beruf auszuüben, der ihnen Spaß machen könnte und ihre Interessen entwickeln könnte - in eine Vorort-Hausfrauenrolle, mit allem was dazu gehört: Bedienen der Haushaltsgeräte, konformistische Kindererziehung, ritualisiertes Sexualverhalten, konformistisch-standardisiertes »Beisammensein«. Betty Friedan registrierte jedoch zugleich eine wachsende Verzweiflung gerade bei diesen Frauen.[195]
Eine weitere Variante der Betonung von Dynamik im Alltagsleben findet sich bei den voll berufstätigen Frauen vor allem der höheren Schichten. Nach der »Frauen-Typologie« gehören hierzu die »schicke Berufstätige« und die »intelligente, aktive Frau«. Die Art und Weise, wie die Mittelschichtfrau versucht, durch Betonung von Aktivität und Dynamik das Alltagsleben zu besetzen, ist bei den berufstätigen Frauen der Mittelschicht und auch bei den jüngeren berufstätigen Frauen der Unterschicht ebenso stark ausgeprägt wie bei den Hausfrauen.

Die »schicke Berufstätige<, (10% = 1,43 Mio.):

Frauen dieses Typs finden sich überdurchschnittlich häufig unter den 14-29jährigen; sie sind überdurchschnittlich häufig ledig, haben eine Mittelschule oder Fachschule besucht, sind voll berufstätig, beziehen ein hohes Haushalts-Nettoeinkommen und wohnen überdurchschnittlich häufig in Großstädten. Dies ist der Typ der lebensfrohen und konsumfreudigen, mode- und kosmetikbewußten, progressiven jungen Frau. Sie verfügt über reichliches Taschengeld, raucht, fährt Auto und unternimmt zahlreiche Reisen. Sie ist für alles Neue »aufgeschlossen«. Sie ist unternehmungslustig, geht gern aus und hat viele Bekannte, mit denen sie oft zusammen ist. Sie tritt für die Gleichberechtigung der Frau ein und hält Hausarbeit für Zeitverschwendung. Sie stellt häufig ihre Möbel um und plädiert dafür, sich in gewissen Abständen wieder neu einzurichten. Sie ist besonders konsumfreudig, kauft viel und »spontan«. Sie bevorzugt Jeans und Hosenanzüge, macht jedoch jede Mode mit. Ihr Aussehen ist für sie von großer Bedeutung; sie will jugendlich, »gewagt« und »sexy« aussehen.

Die »Intelligente, aktive Frau« (14% = 2,04 Mio.):

Frauen dieses Typs sind überdurchschnittlich häufig 20-34 Jahre alt; sie haben Abitur, die Mittelschule, die Fachschule und/oder Hochschule besucht, sie sind voll berufstätig, beziehen ein höheres Haushalts-Nettoeinkommen und wohnen meist in Großstädten. Sie unterscheiden sich kaum von der gesamten Stichprobe, zeigen also ein durchschnittliches Verhalten und »normale« Einstellungen. Was die dennoch vorhandenen geringfügigen Abweichungen betrifft, so beziehen sie sich hauptsächlich auf das größere Interesse an Politik und sozialen Problemen. Die »intelligente, aktive Frau« verfügt über viel Taschengeld, sie verbraucht relativ viel Tag- und Nachtcremes. Sie ist auffällig mobil (Reisen, Auto), gibt sich selbständig und selbstbewußt. Sie betont »Lebensfreude« und »Lebensgenuß«.
In beiden Gruppen haben Aktivität und Mobilität, Selbständigkeit und Selbstbewußtsein eine hohe Geltung. Die »intelligente, aktive Frau« fühlt sich jung, modern, aktiv, erfolgreich, selbständig und zufrieden; sie hat ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein. Während der Typ der »intelligenten, aktiven Frau«, in dem ein überdurchschnittlicher Anteil von Frauen mit einer über das Abitur hinausgehenden Schulbildung repräsentiert ist - gegenüber dem Konsumbereich desinteressiert ist, zugleich aber im Modeverhalten sich als geschmackssicher versteht, bezieht die »schicke Berufstätige« ihre Identität insbesondere aus neuen Konsumgütern. Vor allem die »schicke Berufstätige« setzt auf »Dynamik«; sie ist »Schönheitsexpertin«, fühlt sich jung, modern, erfolgreich, sie verwendet sämtliche kosmetischen Mittel, selbst die »extremsten«, häufiger als der Durchschnitt der Frauen. Sie schätzt Aktivität, Geselligkeit und Partnerschaft, kauft oft Kleidungsstücke und Accessoires. Von Zeitschriften erwartet sie Informationen über Mode und Informationen über die »schönen Seiten des Lebens«. Sie ist ausgesprochen kauffreudig, macht gern einen Schaufensterbummel und gehört zum Typ des »Möbelumstellers«. Als »Möbelumsteller« wird ein Typ charakterisiert, der »selbst im Wohnen mobil ist«: »Diese Frauen wollen ihre Wohnung immer wieder anders sehen. Die Möbel sind in den Augen dieser Frauen Konsumgüter, die man wie andere auch nach einer gewissen Zeit satt hat. Wechsel, Veränderung von Zeit zu Zeit ist das Grundmotiv, das auf verschiedene Weise realisiert werden kann: sei es durch bloßes Umstellen von Möbeln, den Erwerb neuer Möbelstücke oder durch vollständig neues Einrichten.«[196]
Ein Spezialfall der »schicken Berufstätigen« scheint der »improvisierfreudige Mode-Twen« zu sein: die junge, noch in der Ausbildung befindliche Frau.

Der »improvisierfreudige Mode-Twen« (9% = 1,36 Mio.):

Frauen dieses Typs sind überdurchschnittlich häufig 14-19 Jahre alt, evangelisch, ledig und befinden sich noch in einer Schulausbildung bzw. Berufsausbildung (Mittelschule oder Fachschule).
Diese Gruppe gleicht der der »schicken Berufstätigen« weitgehend, verfügt allerdings über weniger Taschengeld und lehnt korrekte, damenhaft wirkende Kleidung ab. Sie verwendet vor allem Kosmetika, die eine dekorative Funktion haben. Ihre Imagination richtet sich deutlich auf Jugendlichkeit, »Poppigkeit«, »Progressivität«; dieser Typ ist generell unbeständiger.
Die »unauffällige, passive Jugendliche« dagegen scheint ein Protesttyp gegen die bei der Mittelschichtfrau übliche Imagination von Dynamik und Aktivität zu sein:

Die »unauffällige, passive Jugendliche« (11% der weiblichen Bevölkerung von 14-19 Jahren = 1,69 Mio.):

Im Vergleich zu der Gesamtheit der Frauen zwischen 14 und 49 Jahren gehören dieser Kategorie überdurchschnittlich viele Frauen an, die zwischen 14 und 24 Jahren alt, evangelisch, ledig sind, sich in einer Schul- und Berufsausbildung befinden, in Großstädten und vor allem in Hessen und Berlin wohnen.
Überdurchschnittlich häufig zeigt sich bei diesem Frauentyp eine kritische Haltung gegenüber allem, was mit »bürgerlichen« Selbstverständnissen zu tun hat. Er ist eher introvertiert und selbstkritisch, zeigt freilich wenig Selbstvertrauen und Selbstsicherheit. Gegenüber Werten wie Planung und Ordnung, Wohnlichkeit und Häuslichkeit, Korrektheit, Gepflegtheit und Eleganz verhält er sich ablehnend. »Haushaltsführung, Hausarbeit, werden von ihnen ebenso kritisch beurteilt wie das Wichtignehmen der Art und Weise, wie man wohnt. Hierbei wenden sie sich insbesondere gegen ein anspruchsvolles, mit Sinn für Ästhetik verbundenes Wohnen. Diese Frauen lehnen es in der Regel ab, sich mit irgendeinem Kleidungsstil zu identifizieren; im übrigen trägt man bevorzugt Hosen und Jeans. In puncto Kosmetik wird ebenfalls Konsum-Unwille dokumentiert.«[197] Dieser Jugendlichen-Typ ist also durch Ablehnung aller Merkmale der »schicken Berufstätigen« charakterisiert, insbesondere aller Merkmale der Dynamisierung des Alltagslebens. Konsum, effektive Haushaltsführung, Ästhetisierung des Wohnens, Stilisierung der Kleidung und Kosmetik.
Sowohl die Betonung von Ordnung und Regelung des Alltagslebens und der daraus zu gewinnenden Reputation als auch die Dynamisierung des Alltagslebens sind (je nach Ressourcen unterschiedliche) Versuche der Frauen, das Alltagsleben mit Imagination zu besetzen. Das Bewußtsein der meisten Frauen ist von derartigen Reaktionen bestimmt. Es ist deshalb wichtig, sich die Ambivalenz dieser Bewußtseinsformen zu vergegenwärtigen. Bei der imaginativen Besetzung bestimmter Elemente des Alltagslebens handelt es sich stets um Versuche der Rationalisierung der eigenen strukturellen Lage, zugleich jedoch um Bemühungen, mit der Bedürfnisorientierung, die sich in der im weiblichen Lebenszusammenhang gegebenen Produktionsweise erhält, »etwas anzufangen«, hieraus »etwas zu machen«. Sowohl die Betonung von Ordnung und Reputation als auch die Dynamisierung des Alltagslebens sind restringierte, deformierte und zum Teil auch neurotische Versuche, besondere Gebrauchswertqualitäten des Alltagslebens zu artikulieren, selbst wenn diese Artikulation sofort einer falschen institutionellen Stilisierung verfällt. Leider ist diese Ambivalenz in den Verhaltensweisen und Vorstellungen der Frauen bisher nicht empirisch untersucht worden; sie wird jedoch auch in der Bedeutung sichtbar, die die Mode für die Frauen hat.[198]

C. »Modernität« in Mode und Warenwelt

»Modernität« in Mode und Warenwelt ist für die Frauen (aller Schichten) eine gratifizierende Kompensation der im Alltag vorherrschenden Zeitlosigkeit.
Das Alltagsleben der Frauen wird durch das »Neue«, »Moderne« strukturiert, wie es in Mode und Konsum auftritt. Das imaginative Angebot von Mode und Konsum hat die Funktion, die Sehnsucht der Frauen (aller Schichten) nach Öffentlichkeit und Bedeutung, nach Repräsentation und folgenreichem Handeln zu kanalisieren. Gerade aufgrund dieser Sehnsucht verfangen sich die Frauen in den Angeboten der Warenwelt, in der Statussymbolik; daher rührt die Ideologie des leichten Einkaufs schöner und angenehmer Dinge und des interessanten Freizeitlebens (die darum auch nicht einfach als Ideologie denunziert werden kann). Es ist bezeichnend, daß es
vor allem den jüngeren Frauen der Unterschicht gelingt, ihre Unzufriedenheit durch Mode und Konsum zu kompensieren, während in der Mittelschicht gerade die jüngeren Frauen, die an Mode und Konsum partizipieren, hierdurch offensichtlich nicht zufriedengestellt werden können:

»In der Unterschicht protestieren vornehmlich diejenigen Frauen, die keinen Zugang zu Beruf, Einkommen und Mode haben, also die älteren Frauen, während bei den jüngeren die Mode Protestäußerungen absorbiert. In der Mittelschicht ist es umgekehrt: Hier äußern gerade die jüngeren Frauen, die eher an der Mode teilnehmen und seltener cliquenartige Beziehungen haben, häufiger Protest, während bei den älteren eine traditionell (und konform) orientierte Fraulichkeitskultur Protestäußerungen nicht aufkommen läßt.«[199]

In der faktischen Häufigkeit der Teilnahme an der Mode (Häufigkeit des Kleiderkaufs oder Kleidermachens) gibt es (in der Stadt) nur geringfügige Unterschiede nach sozialer Schicht: Arbeiterfrauen nehmen nur geringfügig weniger teil als Frauen der Mittelschicht.[200] Es gibt jedoch Unterschiede in der Art der Imagination.
Rainwater et al. weisen darauf hin, daß es vor allem die Wahl der Accessoires und der Farben, der Gebrauch von Schminke sind, die die Frau der Unterschicht von der Mittelschichtfrau unterscheiden.[201] Die Mittelschicht bevorzugt den »natural look«. Dagegen sucht die Unterschichtfrau mit jeder neuen »Modewelle« aufs neue die Möglichkeit der Verwandlung. Zur Milderung ihrer Schwierigkeiten und Identitätsprobleme versucht sie, ihre Umgebung und sich selbst so schön wie möglich zu machen,[202] doch erliegt sie hierbei dem jeweils »Neuen« (ihre mangelnden Ressourcen zwingen sie, zu verdrängen, daß die Zeichen des »Soliden«, »Ordentlichen«, »Gediegenen«, »Bürgerlichen«, die die ihr zur Verfügung stehenden Waren darstellen - der schwere Wohnzimmerschrank, der Marmortisch, das Plüschsofa -, eben nur Zeichen sind). Was die Unterschichtfrau schön findet, ist das, was sie zugleich als »modern« bezeichnet. Sie versucht, in ihrem Geschmack »mit der Zeit zu gehen«. Der Gegenbegriff ist »Old fashioned«. Es scheint, als ob das, was das Neueste auf dem Markt ist, zugleich auch das Beste wäre.[203] Die neueren Modelle der Waschmaschine, der Gardinen oder Autos erscheinen unwandelbar »schöner« als die vom Vorjahr. Gegenüber dem »Neuen« zeigen die Frauen vor allem der Unterschicht eine kriterienlose Bewunderung. Das »Moderne«, »Neue« berührt sie in verschiedener Hinsicht: Es bedeutet die ganze Breite des »Fortschritts«, ökonomische Sicherheit, Wohlhabenheit, einen mittleren sozialen Status. Außerdem erscheint das »Neue« als Unterbrechung der Routine, der Monotonie, in der die Frauen leben und die sie deutlich fühlen. Da die Frauen es »satt haben, immer dasselbe Leben zu führen«, erscheint jeder »New Look« als wünschenswert; er regt die Phantasie an (wobei sie das »Neue« mit gewisser Aggression als »arbeitssparend« legitimieren, seien es nun Waschmaschinen, Möbel, Kleider oder Wohnungen, Häuser, Gärten). Im Urteil der Mittelschichtfrau wirkt die Frau der Unterschicht im allgemeinen »aufgedonnert«; das gleiche gilt für ihren Geschmack in bezug auf Möbel (Silber, Gold, glänzende falsche Seide, vor allem durch die schlechte Qualität in den niedrigen Preislagen) und die Unfähigkeit, »Geschmack« zu zeigen. Die Unterschichtfrau hat eine Tendenz zur »overdecoration«; alles wirkt demonstrativ und überladen - jedenfalls auf Beobachter aus der Mittelschicht, [204]zugleich jedoch auch widersprüchlicher, unbeherrschter. Der Geschmack der Mittelschichtfrauen ist demgegenüber »individueller«, d. h. nicht so offensichtlich durch einen vorgegebenen »New Look« geprägt. Ihr Geschmack mag aus der »Faszination anderer Länder« stammen oder - mit den vorgestellten Erfordernissen von Repräsentation oder Eleganz - ein Nebenprodukt ihrer Aufstiegsorientierung sein; jedenfalls macht sie nicht unbedingt jede Modeänderung mit.
Die Unterschichtfrau, die stets das Gefühl hat, hinter der Entwicklung zurückzubleiben, ist sich nicht klar darüber, daß sie »modischer« ist als die Frau der Mittelschicht. Das hängt auch damit zusammen, daß sie sich weniger bewußt für ein Publikum in bestimmten sozialen Situationen anzieht als die Mittelschichtfrau, die versucht, den »Anlässen« entsprechend gekleidet zu sein. Die Unterschichtfrau dagegen zieht das an, »was mir am besten steht«, sie folgt mehr ihren geheimen Phantasien über ihre mögliche Wirkung (bezogen auf die oft widersprüchlichen Elemente Erotik und Reputation). Die Mittelschichtfrau hat eher Angst, mit der Mode zu gehen, um nicht »unangenehm aufzufallen«; die Frau der Unterschicht fürchtet eher, hinter der Modeentwicklung zurückzubleiben, und zugleich ist für sie jede neue Mode eine neue Hoffnung.