Flaubert ist der erste, der die in der Alltäglichkeit bestehenden Widersprüche und Ambivalenzen nicht moralisierend behandelt, sondern sich der heroischen, utopischen und der zeichenhaft erstarrten, abstrakten Elemente des romantischen Ideals und der Personen, die jenes realisieren, bewußt ist. In seinen Romanen und Novellen [118] werden die in ihrer gesellschaftlich vermittelten Imagination mit einem Überschuß an Bedürfnissen, Wünschen und Phantasien lebenden Individuen mit der Realität der gesellschaftlichen Verhältnisse konfrontiert. Desillusion bezeichnet den Prozeß fortschreitender Einschränkung der aktiven, praktischen Individualität,[119] die die Welt nach ihrem inneren Bild zu formen suchte. Selbsttäuschung über reale Ohnmacht durch sprachliche Fiktion ist das eigentliche literarische (und gesellschaftliche) Objekt Flauberts.
4.1. Die Konfrontation von romantisierender Illusion und
alltäglicher Wirklichkeit im weiblichen Sozialcharakter
Madame Bovary ist der erste Roman, der den Lebenszusammenhang einer »Frau der breiten Mittelschicht« (wie es heute zu bezeichnen wäre) charakterisiert. Die soziologische Aktualität dieser Analyse besteht in der Konfrontation romantischer Illusion, der ästhetischen oder ästhetisierenden Innerlichkeit, mit der »natürlichen« Wirklichkeit. Gustave Flaubert - der einmal bemerkte, ein Schriftsteller habe zu 70 Prozent Soziologe zu sein[120] - analysiert die besonderen Ideologien und Selbsttäuschungen des weiblichen Sozialcharakters[121] in einer Schicht, die zumindest nicht so arm ist, die Frau im realen Leben nur als Arbeitskraft zu verschleißen, aber auch nicht so reich, um die Erfahrung des Luxus zu machen, d. h. um den Traum von Reichtum, der das Glück ist, zu entkräften.
Gesellschaftliche Macht, öffentliches Leben sind von den Provinzgemeinden Tostes und Yonville ebenso entfernt wie das große Geschäft und der große Reichtum. Es ist ein Leben in der Mittelmäßigkeit.
»Aber in diesem Augenblick erhob sich die Stimme des Regierungsrats zu besonderem Schwung. Er deklamierte: Die Zeiten sind vorbei, meine Herren, da bürgerliche Zwietracht unsere öffentlichen Plätze mit Blut befleckte, da der Grundbesitzer, der Kaufmann und sogar der Arbeiter, wenn er abends zu redlichem Schlummer sich niederlegte, davor erzitterte, durch das Stürmen der Brandglocke jäh erweckt zu werden, da die umstürzlerischsten Maximen kühn die Grundfesten des Baus der Gesellschaft unterminierten, da alle Handelsbeziehungen gehemmt, unsere Werkstätten geschlossen, unsere Gewissen alarmiert, unsere Besitztümer bedroht waren, und da, kurzum, der Landwirt (Sie wissen es, meine Herren!), da der Landwirt manchmal große Mühe hatte, trotz allen vergossenen Schweißes, dem Grundeigentümer seine Pacht zu zahlen, der seinerseits unter dieser Verzögerung zu leiden hatte. [...] >Aber meine Herren<, fuhr der Regierungsrat fort, >wenn ich diese düsteren Bilder aus meiner Erinnerung auslösche und meine Blicke auf den gegenwärtigen Zustand unseres schönen Vaterlands richte, was sehe ich dann? Überall herrschen Frieden und Überfluß; überall blühen Handel und Künste; überall stellen neue Verkehrswege, wie neue Arterien im Staatskörper, neue Beziehungen her; unsere großen Industriebezirke haben ihre Tätigkeit voll wiederaufgenommen; die Religion, gefestigter denn je, lächelt allen Herzen; unsere Häfen sind voll, das Vertrauen ist wiedererstanden, endlich atmet Frankreich wieder auf!<«[122]
Während der Feier des Mittelstands von Yonville, während der Landwirtschaftsausstellung, Symbol des sozialen Fortschritts, inmitten der Bewohner des Ortes und der Bauern, der Hirten und Knechte, die »mit gierigen, verblüfften Augen auf die Häuser, die Damenkleider, die Fahnen, die Estrade, auf so viel zur Schau gestellten Reichtum«[123] blickten, bemerkt Mme Bovary zu ihrem Begleiter und zukünftigen Liebhaber Rodolphe.
»>Denn schließlich wenn es um die Existenz von euch Männern schlecht bestellt ist, dann könnt ihr euch eine andere suchen; ihr habt die Jagd, Pferde, ihr könnt reisen, ihr habt die Freiheit, was weiß ich? Schlechthin alles. Aber wir armen Frauen sind sogar der lauten Zerstreuungen beraubt, die doch so tröstlich sein müssen! Und wir müssen ständig schweigend in unserer Einsamkeit bleiben.<
>Klagen Sie nicht darüber!< entgegnete Rodolphe. >Das kommt der Entwicklung des Herzens zugute.<
>Aber ich klage ja gar nicht<, sagte sie. >O mein Gott, nein! Ich mache mir nur sehr wenig aus Welt und Gesellschaft; und schon als ich noch ganz klein war, empfand ich einen solchen Ekel davor, daß ich oft entwischt und ganz allein in den Wald gelaufen bin. Da haben sie mich eines Abends gefunden, als ich im Mondschein Blumen pflückte.<
>Ach, das glaube ich Ihnen!< sagte Rodolphe. >Mich überkommt oft das Verlangen, Türke zu werden und in der Wüste zu wohnen.<«[124]
In diesen Worten ist Emma Bovarys Unglück, sind ihre Illusionen beschlossen: Ihre Aussagen über das Unglück der Frauen sind immer zugleich Rationalisierungen ihrer eigenen Passivität und Untätigkeit.
In Flauberts Analyse der Geschichte der Emma Bovary, ihrer Jugend, Ehe, Mutterschaft, ihres Ehebruchs, ihres Selbstmords, werden bestimmte Bedürfnisse, die im Leben der »durchschnittlichen« Frau nur halb bewußt werden bzw. der Verdrängung unterliegen, in Aktion übersetzt. Mme Bovary handelt, sie träumt nicht nur (was von Flaubert nicht heroisiert wird; die Übersetzung von Bedeutungen in Handlung ist bei ihm ein literarisches Mittel der Darstellung und Analyse). Es sind ihre Träume und ihr Wille, jene zu leben, die Mme Bovary zur Unversöhnlichkeit mit der sie umgebenden Gesellschaft zwingen. Sie hat ein anderes Ideal entwickelt. Sie orientiert sich an Frauen, die in Luxus und reiner Passivität großartige Schicksale erleben. Mme Bovary träumt von Luxus und Leidenschaft, von Abenteuern und schicksalhaften Ereignissen. Das Bild dieses Glücks ist Romantik in trivialer Form - d. h. das Abschütteln und die Abkehr von jeder alltäglichen Tätigkeit, von der Arbeit und zugleich von der Körperlichkeit, soweit sie nicht hoch stilisiert ist. Emma Bovarys Träume orientieren sich an Paris, dem Zentrum des Luxus, der Leidenschaften, der großen Schicksale. Ihre Vorstellungen von der Metropole sind infantil, grotesk; aber da sie niemals Gelegenheit hat, diese Träume zu praktizieren, bleiben sie in mythischer Ferne und zerstören ihr Verhältnis zur Wirklichkeit.
Die Illusion hat zwei Aspekte: Sie ist »überspannt« und irreal, aber zugleich erscheint vor ihrem Hintergrund die Wirklichkeit als Kontrast, als Abgrund oder mögliche Erfüllung. Der Wunsch strukturiert die Erfahrung dieser Wirklichkeit: Die Wünsche der Mme Bovary enthalten alles das, was das zentrale Thema der kulturindustriellen Produktion bis heute bildet:
»Man setzt sich unter blühende Orangenbäume. Man ergeht sich am Strand der Meeresbuchten, die lauer Schaum säumt. [...] Warum konnte sie sich nicht auf die Holzveranden eines Schweizerhauses stützen, [...] mit einem Gatten, dessen blondes Haar ihm über den Samtkragen seines Fracks fiel, und mit rosa gekleideten Kindern, die Milch aus Tassen tranken.«[125]
So befindet sie sich zwar in einer naturwüchsigen Feindschaft zu dem sie umgebenden arbeitsamen Streben nach Ordnung und Besitzvermehrung (sie ersehnt den Luxus). Da dies untrennbar mit den produktiven Leistungen verbunden ist, haßt sie jedoch auch die Arbeit. Damit haßt sie zugleich das Wirkliche und schneidet sich den Weg zur Selbständigkeit ebenso ab wie die Möglichkeit der Rückkehr in die Zufriedenheit des bescheidenen Kleinbürgerdaseins. Nicht durch Tätigkeit und Erfahrung kontrolliert, bleiben ihre Träume Klischees. Mme Bovary täuscht sich bis zum Tod. Sie begreift nichts, weil sie in den Träumen der weiblichen Rolle lebt.
Die Illusion der Mme Bovary entspringt vor allem ihrer Passivität: Sie knüpft die Vorstellung der Veränderung und des Glücks an eine äußere Veränderung ihrer Situation, die durch den Reichtum oder die Arbeit anderer zustande kommen soll. Eine solche Veränderung erwartet sie zunächst von der Ehe. Flaubert verweist darauf, daß Mme Bovary verschiedene Illusionen durchläuft; aber zunächst gilt: praktische Erfahrung belehrt sie.
»Die realistische Seite ihres Geistes, die sich in ihrer Kindheit gegen die Märchen aufgelehnt, die später vor dem naiven Mystizismus innegehalten, hatte das Lügenhafte der Morallehren [der religiösen Erziehung, U. P.] bei deren praktischer Anwendung erkannt.«[126]
Bleibt dies noch im Rahmen der gesellschaftlich institutionalisierten, »normalen« weiblichen Entwicklung, so wiegt bereits die nächste Illusion - die Eheschließung - weit schwerer. Sie heiratet den gutmütigen Bovary, um nach kurzer Zeit festzustellen:
»Vor der Hochzeit hatte sie geglaubt, sie liebe ihn von Herzen und da diese Liebe ihre glückliche Lösung durch die Heirat gefunden hatte, und da das erstaunliche Glück, das sich daraus ergeben mußte ausgeblieben war, mußte sie sich doch wohl getäuscht haben, und es war nicht Liebe gewesen! Warum hatte sie dann eigentlich geheiratet?«[127]
Die Ehe[128] bestimmt den sozialen Kreis und damit die Lebenschancen der Mme Bovary, die sich schmerzlich bewußt wird, daß ihre Wünsche und Träume mit dieser Identität nicht übereinstimmen. Mit der Eheschließung vollzieht sich in ihrer Situation eine qualitative Veränderung: Die Auflösung der Illusion, daß die Ehe die Erfüllung ihrer Wünsche sei, steht nun in Gegensatz zu dem, was ihre Umwelt als normal ansieht. Ihre Phantasien beziehen sich nun nicht mehr auf eine Zukunft, sondern auf ein Verlorenes. Sofern sich Mme Bovary als Ehefrau begreift, ist sie zu lebenslangem Unglück verurteilt.
Gegenüber der Reinheit der geträumten Illusion, die aus Tableaus besteht, ist das Leben im Haushalt Auseinandersetzung mit Natur und Verfall, Umgang mit dem Immergleichen: mit der gleichen Umgebung, den gleichen Menschen, den gleichen Möbeln. Dinge und Menschen ihrer Umwelt haben für Mme Bovary nur den negativen Sinn, daß sie ihr eine Identität zuweisen, die sie nicht will. Das Alltägliche erscheint in seiner unendlichen Langeweile, geschichtslose Zeit:
»Nun begann abermals die Reihe der immergleichen Tage. Sie sollten einander jetzt also folgen wie im Gänsemarsch, langsam, stets einer wie der andere, unzählig, und nichts mit sich bringend. Und es lagen hunderte, tausende vor ihr, zehn Jahre lang, zwanzig Jahre lang! Es würde nicht enden und bis zu ihren Tod weitergehen. [...] Sie gab das Musizieren auf. Wer würde ihr denn zuhören? Auch auf das Stricken verzichtete sie. [...] ihre Zeichenblöcke ließ sie im Schrank liegen, da sie nicht wußte, was sie zeichnen sollte. [...] Nähen langweilte sie. Sogar sämtliche Bücher langweilten sie.«[129]
Mme Bovary ist in zweierlei Hinsicht »lernunfähig«: sie kann ihr erträumtes Leben nicht durch Praxis bearbeiten; sie kann es aber auch nicht aufgeben; sie hat nicht die Energie, ein neues Ideal, sei es der Anpassung, sei es der Revolte, zu entwickeln. Zugleich verweigert sie sich dem traditionellen Ausweg: Sie ist nicht in der Lage, ihr Leben in das anderer zu verlagern, ihr Glück in der Hilfe für die Tätigkeit ihres Mannes zu finden, ihre Wünsche und ihre Zukunft in der Planung des Lebens und Heiratsschicksals ihrer Tochter zu besiegeln. Ihre Tochter ist ihr gleichgültig, ein Objekt ihrer Launen, die Mutterschaft berührt sie nicht, der Schmutz des Kindes erfüllt sie mit Schauder und Fremdheit. Ihr Unglück, ihre Ablehnung der Welt, die sie als die ihre akzeptieren soll, findet seinen Ausdruck in Ungerechtigkeit, Grausamkeit, Destruktivität. Mme Bovary quält ihren Ehemann, sie haßt und verleumdet ihre Nachbarn, sie läßt ihre Launen aus. Sie ist ohne Mitleid und ohne Solidarität. Insofern ist sie »unmoralisch«, wie die französische Zensur zu Recht befand. Ihre Grausamkeit ist empörend.[130]
Das Schicksal der Mme Bovary ist nicht tragisch und nicht komisch - die Entscheidung hierüber fällt schwer, ebenso schwer wie eine parteiliche Charakterisierung: Mme Bovary ist lächerlich, geschmacklos, naiv, unerträglich, gemein, und sie ist stolz, großartig, unbändig.
4.2. Utopie und Fixierung auf Zeichen: die Ambivalenz der weiblichen Rolle
»Es gab für sie drei Aspekte von Paris, drei Stockwerke des Lebens. Im ersten, in den großen Wohnungen, um lange, ovale [...] Tische, [...] die Welt der Gesandten und Diplomaten. [...] Dann kam die Welt der Reichen, die der hübschen Frauen und der Salonlöwen, [...] Opernbälle, [...] Extrazimmer der Boulevard-Restaurants [...], Literaten und Schauspieler, [...] venezianische Feste, [...] Ganz unten schließlich, [...] in seinem schwarzen Loch verbleibend, hielt sich das Volk auf, [...] zerlumpt, [...] sammelte Abfälle in den Rinnsteinen, verkaufte seine Töchter, mordete sein Weib [...]. Alles, was sie unmittelbar umgab, was ihr diente, Landschaft, Bauern, Kleinbürger, vulgäre Lebensgewohnheiten dünkte sie eine Ausnahme in der Welt. Diese Mittelmäßigkeit des Lebens hatte ihre Daseinsberechtigung nur darin, sie leiden zu lassen.«[131]
Das Imaginäre, das Flaubert hier beschreibt, bildet das geheime Zentrum von Emma Bovarys Leben und Identität. Das Imaginäre ist mehr als Innerlichkeit: es hat eine Sprache. Mme Bovary will, daß die Wirklichkeit ihren Phantasien entspreche; das kann nur auf der Ebene von Zeichen - als begrenzte Fiktion - geschehen.
Emma Bovary lebt als Frau innerhalb der Welt der kulturellen Symbole, während die industrielle Arbeit und Reproduktion von anderen geleistet wird. Das hat zur Folge, daß sie ihre Allmachtsphantasien nicht aufgeben kann; in ihrer Schönheit stehen ihr vielfältige Möglichkeiten des Schmeichelns, Flehens, Betörens etc. als »Ressourcen« zur Verfügung, also
immer wieder Möglichkeiten, die ihr ihre Macht über die Wirklichkeit, Männer, Kinder und »die Gesellschaft«, widerspiegeln. Zur Realität der Gesetzmäßigkeit von Natur und Gesellschaft hat sie kein Verhältnis. Gerade wenn sie als Frau ihre Vorteile wahrt und nutzt, gerät sie in die spezifische Dialektik von emanzipativen und regressiven Strukturen des weiblichen Sozialcharakters: Mme Bovary, zu deren Identität als Frau es gehört, daß sie ernährt wird, die nichts lernte als »Spielerei«, will erlöst werden, in andere Situationen versetzt werden, und dies ohne Unannehmlichkeiten, ohne den Widerstand des Wirklichen, ohne Arbeit. Ausgeschlossen von der gesellschaftlichen Arbeit, weigert sie sich, auch psychisch zu arbeiten, also in Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit Modifikationen ihrer psychischen Struktur zu erarbeiten. Damit gerät sie zur Wirklichkeit in ein eigenartiges Verhältnis: Sie kann ihre Träume nicht aufgeben, sich anpassen und in Bescheidenheit und Alltäglichkeit integrieren, aber sie kann auch nicht handeln, ihre Träume entmystifizieren und die Wirklichkeit verändern.
Von der jungverheirateten Mme Bovary sagt Flaubert:
»Sie hätte nichts besseres verlangt als alle diese Dinge jemandem sagen zu können. [...] Aber wie hätte sie es anfangen sollen, bis in die Einzelheiten hinein die verworrene Qual darzulegen, die irgendwo hockt, die ihre Form ändert, einen Wunsch, der sein Ziel ändert, eine Sehnsucht nach etwas, das man nicht gehabt hat? Das ist das gleiche, wie eine vorüberziehende Wolke, einen fliehenden Gedanken festhalten zu wollen. Ihr fehlten die Worte, die Gelegenheit, die Entschlußkraft.«[132]
Mme Bovary kann sich nicht artikulieren, weil das Imaginäre, an das sie fixiert ist, irreal, unbescheiden und utopisch ist. Sie würde Hohn oder Mitleid ernten, auf jeden Fall die Aufforderung, von unfruchtbaren Träumen zu lassen, sich zu beschäftigen, mehr zu arbeiten. Wie soll sie also erklären, was ihr zu wünschen gar nicht zusteht, was sie gar nicht vernünftig formulieren kann? Weil das tiefste Wünschen nicht verbalisierbar ist, weil die vernünftige, d. h. schichtspezifische Antwort institutionell schon bereitliegt, bleibt es geheim; die Produktion der Wünsche und der aus ihnen hervorgehenden Handlungen bleibt anarchisch verschlossen. Emma Bovarys »Dummheit«, der Wille einer Lernunfähigen, die Realität möge ihren Wünschen gehorchen, sucht sich ihre Befriedigung in der symbolischen Bestätigung ihrer aller Veränderung entzogenen Wünsche. »Um befriedigt zu sein, mußte sie aus den Dingen einen gewissen persönlichen Nutzen ziehen können; und instinktiv verwarf sie alles als unnütz, was nicht auf der Stelle zur Labsal ihres Herzens beitrug.«[133]
Emma Bovary strukturiert sich nach ihren Phantasien, d. h. sie verschafft sich die Zeichen dieses anderen Lebens - aber eben bloß deren Zeichen, wobei sie diese nicht aneignen, bearbeiten kann, weder in der Realität noch in wissenschaftlicher oder künstlerischer Sublimation. Flaubert beschreibt die Accessoires der Weiblichkeit deutlich in diesem Sinn. Emma Bovary konsumiert ruhelos alle Accessoires dieses anderen Lebens, deren sie habhaft werden kann: »eine Schreibmappe, ein Petschaft, einen Federhalter aus Jade, eine Gürtelschnur mit langen Quasten«; sie erfindet ausgefallene Namen für einfache Gerichte, studiert Gesellschaftsjournale;[134] den Hintergrund dieser Sammlung von Zeichen bildet die quälende Unzufriedenheit, eine unendliche Langeweile, da die mit Imaginärem beladenen Dinge niemals einen angemessenen Gebrauch finden. Die alltägliche Wirklichkeit eines kleinbürgerlichen Lebens in der Provinz, die soziale Definition der Mme Bovary, bleibt unverändert bestehen. Die Objekte ihres Konsums sind daher kein Gegenstand der Befriedigung, sondern sie steigern die Leiden und die Einsamkeit, sie erneuern stets nur die Wünsche und bezeichnen den Kontrast zwischen den Träumen und den wirklichen Lebensverhältnissen. Mme Bovary unterwirft sich der Mode. Die Mode als gesellschaftlich geregeltes und anerkanntes Zeichensystem verleiht dem erträumten Sein der Mme Bovary eine begrenzte Wirklichkeit, denn sie verändert sich nicht nur in der Phantasie. Die Mode läßt ihren Sehnsüchten eine gesellschaftliche Form: ihr »abweichendes Verhalten« hat die Erscheinung der Eleganz, der Raffinesse, der besonderen, kostbaren Schönheit. Obwohl sie sich von ihrer provinziellen Umgebung unterscheidet, bleibt sie im Rahmen tolerierter weiblicher Überspanntheit.
Für Charles, den bäuerlichen Ehemann Emma Bovarys, den Naiven, bestehen die Objekte. mit denen sie sich umgibt, aus einer Welt fremdartiger, erstaunlicher Dinge. Charles versteht die Warensprache nicht; er bewundert unschuldig; er versteht die Bedeutung dieser Ästhetik nicht einmal so weit, wie der erste Liebhaber, der Gutsbesitzer Rodolphe, der bei Mme Bovarys Anblick ihr Wesen sofort unter strategischem Gesichtspunkt erfaßt:
»[...] eine Haltung wie eine Pariserin. Wo mag er sie aufgegabelt haben, dieser plumpe Bursche. [...] Arme kleine Frau! [...] Sie muß schon einiges durchgemacht haben! So was hat kein Geld und viele Wünsche, so was möchte in der Stadt wohnen und Abend für Abend Polka tanzen! So was schnappt nach Liebe wie der Karpfen auf dem Küchentisch nach Wasser. >Die bekomme ich<, rief er und zerschlug mit einem Hieb seines Spazierstockes eine vor ihm liegende Erdscholle.«[135]
Hinter den Wortwolken, den Liebessprüchen, hinter dem Gerede und den Illusionen erscheint die Gesetzlichkeit der Gesellschaft als Naturzusammenhang, als gesetzmäßige Produktion und Distribution, in der nur zahlungsfähige Bedürfnisse Berücksichtigung finden. Flaubert beschreibt die Erfahrung der Mme Bovary, die sich bewußt werden muß, daß ihre Liebhaber keine finanzielle Unbequemlichkeit und kein Risiko auf sich nehmen, um sie vor der Schande einer Pfändung zu bewahren:
»Dann verfiel sie in eine große Stumpfheit und war ihrer selbst nur durch das Pulsen ihrer Arterien bewußt, von dem sie glaubte, es gehe von ihrem Kopf aus wie eine betäubende, das Land durchhallende Musik. Die Ackerfurchen dünkten sie ungeheuer schwarze Wellen, die rings um sie her brandeten. Die Erde unter ihren Füßen war weicher als Wasserflut und beim Gehen wunderte es sie, daß sie nicht hineinsank, während sie immer weiterschritt, wie vom Wind getrieben, leicht wie dieser, schwerelos, körperlos, seelenlos, aufgelöst, ausgelöscht. Alles, was an Erinnerungen, Wunschbildern, Gedankenverknüpfungen in ihr war, zerstob gleichzeitig, mit einem Schlage, wie tausend Leuchtfunken eines Feuerwerks. Klar und in losgelösten Bildern sah sie ihren Vater, Leon, das Arbeitsgelaß Lheureux', ihr eigenes Schlafzimmer dort drüben, eine andere Landschaft, unbekannte Gesichter vor sich. Wahnsinn packte sie, sie bekam es mit der Angst, und jäh riß sie sich zusammen und es gelang ihr, wieder zu sich zu kommen. Aber der Ursache ihres Zustands, der Geldfrage mithin erinnerte sie sich nicht. Einzig an ihrer Liebe litt sie, die durch eine furchtbare Ungerechtigkeit zermalmt worden war; kraftlos, haßlos, erschöpft wie sie war, spürte sie verworren, daß durch diese Erinnerung ihre Seele sie verließ, wie Verwundete, die im Sterben liegen, fühlen, wie das Dasein zusammen mit ihrem strömenden Blut von ihnen weicht.[136]
Mme Bovary - und das ist der Grund, weshalb Baudelaire sie als Heroine bezeichnet verweigert sich der Umstrukturierung. (Bei Flaubert, dem »Materialisten der Seele«, heißt dies, daß sie dazu unfähig ist.) Mme Bovary stirbt an dem Punkt, an dem sie sich hätte abfinden müssen - an dem Punkt, an dem das Vergessen und das Leben in der Erinnerung begonnen hätten.
Die Figur der Emma Bovary verkörpert den Versuch, die Widersprüche und die Ambivalenzen der Weiblichkeit zu »leben«. Sie träumt von dauerhaftem Glück, unauslöschlicher Leidenschaft, konsistenter Jugendlichkeit - Wünsche, in deren Unerfüllbarkeit Freud den Beweis dafür sieht, daß der Mensch nicht zum Glück geschaffen ist. Auf jede Illusion folgt eine neue. Dieses Leben im Schein steht quer zur Wirklichkeit, zur Natur ebenso wie zur Gesellschaft. Mme Bovary täuscht sich über beides: die »mythologische« Betrachtung der Männer ruiniert sie, die klischeehafte Betrachtung der Natur bringt sie schließlich um. Sie stirbt, ihr Mann geht am Schmerz darüber zugrunde die formalen Elemente eines romantischen Lebens stimmen, doch die Wirklichkeit des gelebten Lebens geht nicht in die romantische Abstraktion ein; doch gerade das Moment des nicht überhöhten Lebens ist es, was schließlich bleibt: Ihr Kind wird Fabrikarbeiterin.
Was zeigt Flaubert, das in die soziologischen Studien [137] nicht eingeht?
Die Lebensgeschichte der Mme Bovary ist die Rekonstruktion einiger relevanter, mit der weiblichen Rolle verbundener Selbsttäuschungen. Die beschränkten gesellschaftlichen und psychischen Ressourcen der Frau gestatten keine angemessene befreiende Verarbeitung ihrer phantastischen Wünsche. Der institutionelle Rahmen der etablierten Gesellschaft bildet in diesem Roman eine unverrückbare Realität. Die Wünsche, die mit dieser Realität konfligieren, bleiben unerfüllbar und unartikulierbar. Das Subjekt muß sie abwehren oder am Konflikt mit der äußeren Realität zugrunde gehen.
4.3. Institutionalisierte Zeichen: der falsche gesellschaftliche Zusammenhang
Flaubert ergreift, bei aller Kritik an der Realitätsuntüchtigkeit der romantischen Illusion, nicht Partei für die gesellschaftlichen Institutionen.[138]
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»Alle Kultur beruht auf der unterdrückenden Modifizierung der Triebe. Auch wenn Freud dieses Opfer als unabänderliche Voraussetzung des kulturellen Fortschritts ansah (dieser Fortschritt bedeutet ein Fortschreiten der Fähigkeiten der Kontrolle im Interesse der Selbsterhaltung der Menschen), verweist er doch auf die Kosten. Diese liegen in der immer stärker werdenden Unterdrückung direkter Triebbefriedigung, in einer Verkümmerung der Lust. Der mögliche pathologische Abwehrcharakter gesellschaftlicher Institutionen bleibt aber in der neueren sozial-psychologischen Diskussion um den Begriff der Ich-Identität häufig ausgeschlossen. Identitätsprobleme erscheinen ausschließlich als Anpassungsprobleme, als Lernstörungen der Einzelnen. Die Übernahme sozialer Rollen erscheint als Prozeß der Reifung. Extrem formulierte De Levita diese Position: »Der Schritt nach vorn besteht darin, daß nun vielmehr betont wurde, wie wichtig die Kontinuität des Individuums für die Gemeinschaft ist [...]: die Gemeinschaft hält das Individuum durch
seine Identität in einem ständigen Zustand der Verantwortung für seine Handlungen und verteidigt sich auf diese Weise gegen asoziale Tendenzen, die das Individuum gegen die Gemeinschaft entwickeln könnte. Die Identität bildet die Bedingung, unter der das Über-Ich im Namen eben dieser Gemeinschaft seine Aufgabe erfüllt.« (David J. de Levita, Der Begriff der Identität, S. 66.) In den neueren Versuchen, in der Nachfolge Eriksons zu einer Darstellung typischer Identitätsbildungsprozesse und typischen Mißlingens zu kommen, erscheint das Leben der Frau (mehr noch als das des Mannes) als eine einzige vorgezeichnete Folge der Unterwerfung tätiger Subjektivität unter »objektive gesellschaftliche Bedingungen«, die vor allem als mit biologischen Erfordernissen in prästabilierter Harmonie befindlich vorgestellt werden. Aus der Summe in ihrem Verlauf erfaßter Lebensläufe wird »das Typische« abstrahiert und zum Gesetz erhoben. (Vgl. Theodore Lidz, Das menschliche Leben.)«
Jenes »normale« Erstarren der seelischen Struktur, das Flaubert im sozialen Zusammenhang darstellt, das er in Zusammenhang mit dem Erlöschen der Hoffnung auf glückbringende Veränderung der Realität bringt, erscheint in der Beschreibung des Romans als Prozeß der Vergesellschaftung der Subjekte und zugleich als Teil der gesellschaftlichen Totalität. Die Darstellung der Identitätskrise zeigt die Einschränkung der Individualität: realitätsgerechte Anpassung und Bewußtsein als Fortschritt von Erfahrung sind auseinandergerissen. Anpassung ist gleichbedeutend mit einem Vergessen der vergangenen Wünsche und ist Verlust eines Teils der eigenen Geschichte. Flauberts Beobachtung verweist auf die Fragwürdigkeit des »Normalen«: Der Begriff der Normalität ist zweifelhaft, wenn der institutionelle Rahmen einer Gesellschaft, das Kriterium individueller Normalität, selbst pathologischen Charakter aufweist.
Das zentrale Interesse Flauberts ist die Analyse der »Verhärtung« der gesellschaftlichen Beziehungen und der Psyche: des Erstarrens menschlicher Beziehungen zur Interaktion über zur Konvention gewordene Symbole; das Ende aller individuellen Entwicklung.
Flaubert widersetzt sich der Idealisierung der faktischen Geschlechtsrollenmerkmale ganz entschieden. In seinen Analysen erweist sich die von der Strategie der Gleichheit der Geschlechtsrollen geforderte Übernahme männlicher Eigenschaften in die weibliche und weiblicher Eigenschaften in die männliche Rolle als illusionär, denn beide Rollen stellen Abstraktionen dar: die männliche Rolle den Gebrauch der Welt als Objekt von Gewaltausübung mit dem Ziel der Unterwerfung, der Bereicherung und des Ehrgeizes; die weibliche Rolle die Verdrängung der Welt als Naturzusammenhang, die Distanzierung, den Ekel, die Ästhetisierung, die sentimentale Ausbeutung der Welt. In beiden Geschlechtsrollen dominiert die institutionalisierte, gegenüber den lebendigen Bedürfnissen und Erfahrungen verselbständigte, durch Zeichen repräsentierte gesellschaftliche Funktion, aufrechterhalten durch die Institutionalisierung des komplementären Mißverständnisses »symbolischer Interaktion«.
Die männliche Rolle ist zentriert um die Elemente der Gewalt und des Kampfes. In der Gestalt des Julian in der Legende von Sankt Julian dem Gastfreien charakterisiert Flaubert die »Zeichenproduktion« der männlichen Rolle.
Die Legende spielt im Mittelalter, doch meint sie die bürgerliche Familie, die bürgerliche Gesellschaft.
Die Familie Julians, in ihrer geordneten Burg, scheint von aller Gewalt ganz frei. Sie ist durch einen Interessenzusammenhang geprägt, der dem wirklichen, geheimen Leben ihrer Mitglieder äußerlich ist. Ihr Zusammenhang ist durch Arbeitsteilung bestimmt. Das System des familialen Zusammenhangs bleibt naturwüchsig - es gibt kein Gegenüber, keine Auseinandersetzung.
Der Vater: »Er ging in seinem Hause umher, wobei er stets einen Fuchspelz trug, sprach seinen Vasallen Recht und schlichtete die Händel seiner Nachbarn.« Die Mutter: »Ihr Hauswesen war geregelt wie das eines Klosters; allmorgendlich teilte sie ihren Mägden die Arbeit zu; sie überwachte das Eingemachte und die Spezereien, spann am Rocken oder stickte Altardecken.«
Alle Leidenschaften wurden außerhalb des familialen Systems befriedigt. »Nach mancherlei Abenteuern hatte er ein Fräulein edelster Abkunft geehelicht« und »kraft ihrer Gebete zu Gott gebar sie einen Sohn«.[139] Die Leiden der Natur scheinen in der Gewaltfreiheit der Familie überwunden: die Zähne wuchsen dem kleinen Julian, »ohne daß er ein einziges Mal geweint hätte.«
In dieser Arbeitsteilung, die gesellschaftlich vorgegeben ist, gibt es keine Kommunikation. Der Arbeitsteilung entspricht das große Schweigen, das stumme Verfolgen der geheimen Wünsche, deren Objekt das Kind ist. Dem glühenden Ehrgeiz der Eltern entspricht die Institution der Kindererziehung nur äußerlich. In ihrem geordneten, zweckvollen Ablauf verhüllt sich die erträumte Verlängerung und Erfüllung des eigenen Lebens von Vater und Mutter.
Julian, ein Kind der zivilisatorischen Ordnung, wird zum furchtbaren Krieger. Seine Mutter träumte insgeheim, Julian möge ein Heiliger werden. Der Vater hoffte auf die zukünftigen Eroberungen eines mächtigen Kriegers. Alle diese geheimen Hoffnungen bleiben unausgesprochen. »Die Gatten verbargen einander ihr Geheimnis.«[140] Die Wünsche verändern sich daher auch nicht. Sie bleiben der Bearbeitung in der sprachlichen Auseinandersetzung entzogen. Das »Heilige« bleibt für Julians Mutter eine ebenso von Leidenschaft entleerte, formale Verhaltensweise wie dem Vater das »Eroberer-Sein«. Er betrachtet die Rolle des Eroberers als so natürlich wie jede andere berufliche Karriere. Man wird von seinem Sohn sagen, er habe ein Kaisergeschlecht begründet. Die Produktion, die Taten, die diesen Ruhm begründen, werden zur Vorgeschichte. Das Interesse der Eltern konzentriert sich nicht auf die Taten, sondern auf die zivilisatorischen Symbole des Erfolgs.
»Abends jedoch, nach dem Angelus, wenn er an den sich verneigenden Bettlern vorüberschritt, griff er mit solcher Demut und solch edler Geste in seine Geldtasche, daß es für seine Mutter feststand, sie werde ihn später als Erzbischof sehen.«[141]
In dieser Welt der leidenschaftslosen institutionellen Form und des brennenden, verzehrenden, geheimen Wunsches suchen die Eltern Anzeichen für dessen Wirklichwerden im äußeren Verhalten des Kindes, das ihnen so fremd bleibt wie sie einander. Ebenso bleibt ihnen die Wirklichkeit fremd. »Heiliger« und »Eroberer« sind ihnen formal, d. h. ohne Auseinandersetzung mit der Natur bestimmt, nicht als die wirkliche Untat, sondern als das gesellschaftliche Zeichen, als Ausdruck der gesellschaftlichen Würde, in den Attributen der Rolle. Sie deuten das geordnete Verwaltungs- und Interpretationsnetz der gesellschaftlichen Bestimmungen als die Sache selbst.
Darum sagt Flaubert von diesem System, daß selbst die Blumen einer Rabatte »[...] so gepflanzt waren, daß sie Schriftzeichen bildeten. [...] ferner eine Weinlaube mit Bogengängen zum Lustwandeln. [...] Ringsumher grünten Grasweiden, die wiederum von einer dichten Dornenhecke eingezäunt waren.« Es ist eine zweckvolle Ordnung der Natur für die menschlichen Bedürfnisse - allerdings eine Ordnung, die Natur zum reinen Material herabsetzt, sie nur als solches weiß -, damit eine Ordnung, die selbst naturhaft ist.
Hierdurch wird das Verhängnis bestimmt: Damit Julian zum Eroberer wird, muß er die Leidenschaft des Schlächters entwickeln. Emotionale Bedingung für die Betrachtung der Welt als Zeichen ist der Haß auf alles kreatürliche, sinnlose Existieren. Dessen Anblick reizt den Knaben zu rasender Wut. Er tötet eine große Taube, »die sich in der Sonne brüstet«.
»Die Taube zuckte mit zerschmetterten Flügeln im Geäst eines Ligusterbusches. Das Beharren ihres Lebens reizte den Knaben. Er begann sie zu erdrosseln; und die Zuckungen des Vogels machten sein Herz klopfen und erfüllten es mit wilder, rasender Lust. Beim letzten Würgegriff fühlte er seine Sinne schwinden.«[142]
Flaubert macht hier ganz deutlich, was Julian zum Morden treibt: Es ist der verbotene mimetische Impuls, die verdrängte Sehnsucht, diesem sinnlosen, ohnmächtigen, aber existierenden, sinnlichen Leben anzugehören. Julian imitiert das Tier, das er tötet, er macht sich ihm gleich bis zum eigenen Scheintod.[143]
Der Zwang zum Totschlag, den Julian im geheimen verspürte und dem er insgeheim nachging, bleibt nicht ohne gesellschaftliche Entsprechung. Ihm entspricht die Institution der Jagd als wesentlicher Bestandteil der männlichen Erziehung. Was Julian noch ganz unkultiviert betrieb, ist hier zur stilisierten gesellschaftlichen Form erhoben. Als Julian alles auswendig herzusagen vermochte, was es über die Jagd zu wissen gab, als er gelernt hatte, »Hunde abzurichten, Falken zu zähmen, Fallen zu stellen, den Hirsch an seiner Losung, den Fuchs an seiner Fährte und den Wolf an seinen Scharrspuren zu erkennen, das sicherste Mittel ihren Wechsel zu erkunden, wie sie gehetzt werden, wo sie ihre Schlupfwinkel anzulegen pflegen, [...] stellte sein Vater ihm eine Meute zusammen.«[144] Die kostbare Meute ist ein Symbol gesellschaftlicher Macht und zugleich Ausdruck listiger Beherrschung der Natur durch die instrumentelle Vernunft, die die Naturkraft selbst sich dienstbar macht. In diesem Bildungsprozeß wird Julian zum Mann. Er verachtet das Rezeptive, Weiche, die Zärtlichkeit.
»Er zog aus bei Sonnenglut, Regen und Sturm, [...] um Mitternacht kehrte er heim, blut- und schmutzbedeckt, Dornen im Haar, den Geruch der wilden Tiere ausströmend. Er wurde wie sie. Wenn seine Mutter ihn küßte, litt er frostig ihre Umarmung und schien dabei über tiefe Dinge nachzusinnen.«[145]
Bei Flaubert gibt es keinen Ausweg aus dem System der gesellschaftlich vermittelten Illusionen. Nur das Ende der Abgrenzungen des Ichs von der Welt, die Erfahrung seiner selbst als Natur unter naturhaften Dingen und die Aufgabe des Interesses der individuellen Selbsterhaltung - nicht verbal, sondern emotional - bedeuten die Wiedergewinnung der Unschuld. Diese Unschuld ist »spontan«. Sie ist nicht legitimiert. Sie hat keinen Grund. »Er übte die Tugend aus, ohne daran zu glauben, ganz schlicht und einfach, wie ein Vogel singt und wie ein Rosenstrauch Blüten trägt«: so charakterisiert Flaubert die einzige durchweg positive Figur in Madame Bovary, den Arzt Lariviére.[146]
Beide Geschlechter, Männer und Frauen, sind von dieser menschlichen Kraft der spontanen Güte, d. h. der Fähigkeit zur Identifikation ohne strategische Interessen, entfremdet.
Das Erstarren des fließenden freien Lebens, die »Institutionalisierung«, ist der Punkt, an dem keine neuen Bedeutungen mehr produziert werden, an dem die Arbeit an den Bedeutungen aufhört, also keine wirklichen neuen Erfahrungen mehr stattfinden. Am prägnantesten faßt Flaubert den Prozeß der gesellschaftlichen und psychischen Erstarrung in Lehrjahre des Gefühls.[147] Dort zeigt er, wie mit dem Verlust aller wirklichen Beziehungen die Bedeutung der Zeichen dieser vergangenen und verlorenen Beziehungen unentwegt zunimmt, bis diese eine neue Welt bilden, eine Welt der Bedeutungen, die sich nicht mehr verändern, da die wirklichen Beziehungen vergangen sind. Je mehr die wirklichen menschlichen Verhältnisse erstarren, desto bedeutender wird das Leben dieser Zeichen, die für vergangenes Leben stehen.
Das ist der Beginn des »Vergessens« und des »Verzeihens«. In Lehrjahre des Gefühls erinnern sich die Freunde an der Schwelle des Alterns:
»Das hätten wir uns einst nicht gedacht, in Sens, als du eine kritische Geschichte der Philosophie schreiben wolltest und ich einen großen mittelalterlichen Roman über Nogent. [...] Erinnerst du dich? Und sie gruben ihre Jugend aus und schlossen jeden Satz: >Erinnerst du dich<?
[...] Schwatzhaft erzählten sie jetzt davon, und jeder ergänzte das, was der andere wußte.[148]
Doch in diese beschworene Erinnerung geht von der wirklichen Geschichte nichts mehr ein. Mit der Hoffnung auf Zukunft und Praxis ist auch die Vergangenheit verloren gegangen. Das »schönste Erlebnis« der beiden Freunde ist ein mißglückter Bordellbesuch in ihren Schülerjahren.
Das Ende der Jugend, der »éducation sentimentale«, ist für Flaubert der Beginn eines Lebens, das ganz innerlich im Betrachten von Gegenständen endet, in der Fixierung auf sie und zugleich in einem unendlichen Grübeln und Betrachten der Objekte, die konstant sind, Beweise dafür, daß das Vergangene wirklich war, obwohl es verschwunden ist und die Erinnerung selbst sich auflöst.[149]
Die Menschen haben eine bestimmte Ausstattung an Fähigkeit zur Leidenschaft: Sowohl gesellschaftlich wie individuell stehen nur bestimmte Ressourcen der Entfaltung, der Erfahrung, der Identität zur Verfügung. Wenn sie aufgezehrt sind, ist das Individuum endgültig das geworden, was es ist. Es gibt keine über die bestehende Situation hinausführenden Träume, keine Imagination mehr; es gibt kein »Anderes«, kein »Draußen« mehr, das zu erobern, zu untersuchen, zu leben wäre; dieser Zeitpunkt ist der des »Erwachsenseins«; die Charaktermaske ist fertig; das Leben ist nur noch ein Reproduzieren, kein Produzieren mehr. Der Zeitpunkt, an dem es nichts Neues mehr gibt, ist nicht nur individuell, sondern gesellschaftlich bestimmt.
Flaubert bearbeitet in seinen Romanen und Novellen das entscheidende gesellschaftliche Problem, das im nachrevolutionären Frankreich deutlicher hervortrat als im übrigen Europa: Die Menschen machen ihre Geschichte, sie machen sie ohne Bewußtsein - aber wie sollen sie, die wirklichen Subjekte, Bewußtsein erlangen? Er stellt eine Gesellschaft dar, in der das Bedürfnis nach herrschaftsfreier, kooperativer Reflexion und Arbeit, das Bedürfnis nach freier Assoziation empirisch nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Die Trennung von Allgemeinem und Besonderem, von öffentlicher Macht und privatem Leben ist gesellschaftliche Realität - das Allgemeine erscheint für die Individuen nurmehr als das Offizielle. Auf allen Ebenen (der persönlichen, der wissenschaftlichen, der politischen) verselbständigen sich Systeme von Zeichen, Interpretationen und Rationalisierungen realer Machtverhältnisse.[150]
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»Marx hat auf der politischen Ebene denselben Zusammenhang formuliert: den
Kontrast zwischen den Ansprüchen, die - vor allem in Frankreich, dem Zentrum der
revolutionären Unruhe im 19. Jahrhundert - mit den Begriffen »Konstitution«,
»Revolution«, »Helden«, »Geschichte«, als Ansprüche an reales Verhalten, im
allgemeinen Bewußtsein gegenwärtig sind und den bürgerlichen Karikaturen, die
diese Sprache zu usurpieren suchen, indem sie ihr Verhalten der ökonomischen
Interessenrealisierung darunter zu fassen suchen: »Die Periode, die wir vor uns
haben, umfaßt das bunteste Gemisch schreiender Widersprüche: Konstitutionelle,
die offen gegen die Konstitution konspirieren, Revolutionäre, die eingestandenermaßen
konstitutionell sind, eine Nationalversammlung, die allmächtig sein will und stets
parlamentarisch bleibt. [. . .] Verbindungen, deren erste Klausel die Trennung,
Kämpfe deren erstes Gesetz die Entscheidungslosigkeit ist, [. . .] Helden ohne
Heldentaten, Geschichte ohne Ereignisse, Entwicklung deren einzige Triebkraft der
Kalender scheint. [. . .] Wenn irgendein Geschichtsausschnitt grau in grau gemalt ist,
so ist es dieser. Menschen und Ereignisse erscheinen als umgekehrte Schlemihle, als
Schatten, denen der Körper abhanden gekommen ist. Die Revolution selbst paralysiert
ihre eigenen Träger und stattet nur ihre Gegner mit leidenschaftlicher Gewaltsamkeit aus.
Wenn das >rote Gespenst< von den Konterrevolutionären beständig geweckt, heraufbeschworen
und gebannt, endlich erscheint, so erscheint es nicht mit anarchischer Phrygiermütze auf dem
Kopfe, sondern in der Uniform der Ordnung, in roten Plumphosen.« (Karl Marx,
Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, S. 38 f.) Der politische Machtkampf ist auf der Ebene
der Kultur ein Kampf um die Bedeutungen. Das ist der Sinn der Marxschen Feststellung,
daß die herrschenden Gedanken immer die der herrschenden Klasse seien.«
(Der gesellschaftliche Träger des »Offiziellen« ist für Flaubert die nachrevolutionäre Bourgeoisie, die das siegreiche »Allgemeine«, den Profit, repräsentiert und die dieses Allgemeine sprachlich überhöht, obwohl es doch nichts anderes bedeutet als das naturhafte Funktionieren des gesellschaftlichen Zusammenhangs über die egoistischen, bornierten Interessen der einzelnen.) Flaubert zeigt auf der Ebene der wirklichen Menschen die praktizierte und immer wieder erneuerte Illusion, die aber in extremer Weise »privat«, nicht mitteilbar ist.[151] Er weigert sich also, das Individuum oder die Klasse zum prädestinierten Träger von Autonomie und Handlungsfähigkeit zu erheben.
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Die fehlende Heroisierung des einheitlichen»politischen« Menschen ist es
auch, was Jean-Paul Sartre an Flaubert als »unpolitisch« rügt: »Wenn ich Stendhal
und andere lese, fühle ich mich mit den Helden in jeder Hinsicht in Einklang, sei es
nun Julien Sorel oder Fabrice. Bei der Lektüre Flauberts dagegen befinde ich mich
mitten unter irritierenden Personen, mit denen ich mich ganz und gar nicht im
Einklang fühle. Manchmal fühlt man mit ihnen, aber dann stoßen sie einen plötzlich
ab, und man steht ihnen wieder feindlich gegenüber [. . .].« (Jean-Paul Sartre, Das
Imaginäre, S. 24.) Sartre vermißt in den Flaubertschen Analysen die Überhöhung.
»Zwischen 1830 und 1840 war Flaubert in einem Gymnasium in Rouen und in allen
seinen Texten aus dieser Zeit beschreibt er seine Mitschüler als erbärmliche und
mittelmäßige Bürger. Nun haben sich aber damals in diesem Gymnasium fünf Jahre
lang heftige politische Kämpfe abgespielt. Einige Schüler trugen nach der Revolution
von 1830 den politischen Kampf in diese Schule. Sie kämpften und unterlagen.«
Überraschend findet es Sartre, daß Flaubert von diesen Vorfällen nichts erwähnt:
»Er beschreibt die jungen Menschen seiner Umgebung«, bemerkt Sartre empört,
»einfach als zukünftige Erwachsene, das heißt als abscheulich. Er schreibt: Ich sah
Fehler, die zu Lastern, Bedürfnisse, die zu Süchten, Torheiten, die zu Verbrechen
werden - kurz: Kinder, die zu Männern werden würden.« (Jean-Paul Sartre, a.a.O.,
S. 26.) Sartre will an der Vorstellung der Autonomie als der empirischen Voraussetzung
der Möglichkeit politischer Freiheit festhalten. Er kritisiert Flauberts zersetzende Kälte,
seinen Pessimismus, und er sieht die Ursachen dafür vor allem in Flauberts persönlicher Biographie, in seiner Klassenlage, nicht aber in der gesellschaftlichen Entwicklung, die Flaubert beschreibt: in den neuen Formen der sozialen Kontrolle, in der »Absperrung des Universums der Rede«, wie Marcuse es bezeichnet hat.
(Vgl. dazu auch Jean-Paul Sartre, L 'Idiot de la Familie, Bd. 3, insbes.
La Solution nevrotique, S. 133 ff.) Sartre kann auf den »ganzen Menschen« nicht
verzichten. Er braucht ihn, weil er seine Überzeugung absichern muß, daß der
Klassenkampf eine Wahrheit ist, »und zwar glaube ich an sie [diese Wahrheit, U. P.]
genau in der Form, in der Marx sie beschrieben hat. Die Zeit hat sich geändert, aber
es ist immer noch derselbe Kampf derselben Klassen auf demselben Weg zum Sieg.«
Den gleichen Mangel an Einheit seiner Figuren, den Sartre Flaubert zum Vorwurf
macht, konstatiert er auch in der Psychoanalyse: »In der Psychoanalyse fehlt diese
Idee der Autonomie« (ebenda). Zerstörung der Autonomie heißt Determinierung
des Menschen durch nicht bewußte Zwänge, deren Konsequenz die zwanghafte
Wiederholung des nicht gelösten Konflikts ist.«