»Sehr hoch werden die Entscheidungsmächte aufgerichtet und ausgeübt. Sehr herablassend werden die Strategien ausgearbeitet und die strategischen Variabeln gegeneinander ausgespielt. Aber worüber befinden diese Mächte? Auf welchen Boden stützen sie sich? Was stellen sie in Frage? Worauf lasten die Institutionen, wenn nicht auf dem Alltäglichen, das sie zerstückeln und nach den Zwängen ordnen, welche die Anforderungen repräsentieren und die Strategien der Staaten aktualisieren? Diese Fragen können als nichtig angesehen werden wie auch jedes Protestieren und jedes Kontestieren angesichts der staatlichen Ungeheuer. Es ist nichtsdestoweniger unzulässig, diese Situation durch theoretisches Erkennen zu billigen und dem Staat ein Zeugnis des guten Gewissens auszustellen. Außerdem verschrammen große Ritzen diese Gebäude, und die Beziehungen zwischen dem >Öffentlichen< und dem >Privaten< sind (in Frankreich und anderswo) nicht problemlos.«
Henri Lefebvre [1]
In ihrem Interesse an den praktischen Problemen der Frauen an fehlender Gleichberechtigung in Beruf, Politik und Familie - scheinen die meisten soziologischen Untersuchungen zur Frauenfrage von Anfang an den Erfordernissen einer emanzipatorisch orientierten Soziologie zu genügen. Vor allem sind die neueren wissenschaftlichen Analysen zur Situation der Frauen durch praktische Fragestellungen bestimmt: Seit den Arbeiten von Friedrich Engels und August Bebel dominiert in der wissenschaftlichen Forschung das Thema der beruflichen Gleichstellung der Frauen. Soweit sich eine ausgesprochen soziologische Forschung herausgebildet hat, ist ihr Hauptthema heute die Suche nach den Ursachen fehlender Berufsorientierung und Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit der Frauen, wobei diese Ursachen vor allem in Erziehungsfehlern im Sozialisationsprozeß gesehen werden. Wie ich jedoch in Teil I zeigen möchte, bestimmt gerade dieses scheinbar progressive Interesse die Frauen als bloße Objekte »verselbständigter Strategien«. Es ist die Ausgangsthese dieser Arbeit, daß eine derart unmittelbare Instrumentalisierung der Soziologie der Frau auf den ausschließlichen Zweck der Verbesserung beruflicher Leistungsorientierung gerade (und meist entgegen den gesteckten Zielen) die produktiven, lebendigen Aspekte der »Befreiung der Frau« ignoriert.
Die Bürokratieforschung, die Organisationssoziologie und die politische Soziologie erfassen das, was wir im folgenden als »verselbständigte Strategien« bezeichnen, als »Rationalisierung«,[2] die sich als Kompromiß zwischen Legitimationserfordernissen, Durchsetzungschancen und Abgrenzungszwängen bürokratischer Organisationen (politischer Organisationen, Verwaltungen, Verbände, wissenschaftlicher Institutionen) ergibt: Die »Frauenfrage« markiert sehr unterschiedliche sozialpolitische Probleme, die früher im Rahmen der Familie verblieben, auf die heute aber »öffentlich« von Parteien und Verbänden reagiert werden muß; das betrifft so verschiedenartige Probleme wie die berufliche Ausbildung, die Entlastung der berufstätigen Frau von Aufgaben der Kindererziehung, die Liberalisierung des Scheidungsrechts oder Fragen der Alterssicherung. Im Rahmen der Legitimationserf ordernisse von Parteien und Verbänden werden bestimmte, traditionelle Forderungen der Frauenbewegung notwendig aufgegriffen. Im bürokratischen Prozeß »rationallsiert« - das heißt: ohne Interesse an den Widersprüchen im alltäglichen Lebenszusammenhang der Frauen und an den Möglichkeiten ihrer Selbsttätigkeit -, stagnieren jedoch die Forderungen der bürgerlichen und proletarischen Frauenbewegung nach Gleichberechtigung, nach gleichem Recht der Frauen auf Ausbildung und Berufstätigkeit, nach ökonomischer Unabhängigkeit, nach dem Recht auf politische Betätigung zu formalen Leitbildern.
Wir argumentieren nicht gegen die Entwickluing politischer Strategien,[3] sondern gegen deren Verselbständigung: Die aufklärerischen Forderungen nach Gleichstellung und Gleichberechtigung der Frau in Beruf, Politik und Familie werden Teil verselbständigter Strategien, wenn sie nur als fornmle Forderungen auf das tatsächliche Leben der Frauen bezogen werden. Das pragmatisch Machbare bzw. zur Legitimation Erforderliche wird formelhaft zusammengefaßt, wobei die emanzipatorische Legitimation darin besteht, im Rahmen der institutionalisierten Zielvorstellungen jeweils quantitativ »mehr« zu fordern: mehr Frauen in leitende Berufspositionen etc. Formalistisch bleiben auch die im Rahmen »verselbständigter Strategien« ansetzenden wissenschaftlichen Analysen: Sie beschränken sich aufs Moralisieren dort, wo das empirische Bewußtsein und Verhalten sich dem quantitativ bemessenen Gleichheitsideal nicht fügt.
»Verselbständigte Strategien« sind charakterisiert durch fehlende Auseinandersetzung mit dem Alltagsleben der Frauen und durch Phantasielosigkeit gegenüber den Schwierigkeiten bei der Einlösung progressiver Forderungen.
Allen Formen der »verselbständigten Strategien« ist eine Vermischung traditionell liberaler, rationalistischer und vulgärmaterialistischer Momente zu einer technokratischen Ideologie gemeinsam. Die Auseinandersetzungen um die Rolle der Frau beschränken sich darauf, die allgemeinen und formalen Gleichheitsprinzipien des bürgerlichen Rechts auf das soziale Leben zu übertragen. Ihre Beschränktheit erweist sich, sobald solche Forderungen zur Strukturierung eines realen Lebenszusammenhangs dienen sollen. Den verselbständigten Strategien liegt ein realer Trend zugrunde - die fortschreitende Frauenerwerbsarbeit, der Funktionswandel der Familie -, ein Trend, der, quantitativ gefaßt, zum Leitbild überhöht, ohne weitere Qualifizierung mit Emanzipation gleichgesetzt wird.