Schule und Ideologie

1. Fragestellung und Kriterien
oder:
Vom erhofften Gebrauchswert einer neuen Ideologietheorie

Die Wertfrage in der Erziehung ist in der Geschichte der bürgerlichen Schule und des pädagogischen Denkens kein durchgehendes Thema. Sie ist hauptsächlich dann auf die historische Tagesordnung gesetzt und diskutiert worden, wenn ökonomische und politische Umbrüche und Krisen zu Desorientierungen und Verunsicherungen auf der Seite des Staates und/oder bestimmter Teile der Bevölkerung geführt hatten. In solchen Krisenzeiten erscheint das Selbstverständliche nicht länger mehr selbstverständlich: daß nämlich in der Schule sowohl Unterricht als auch Erziehung stattfindet: daß es sowohl schulische Instruktion als auch schulische Sozialisation gibt; und daß beide Seiten nicht trennbar, sondern miteinander verschränkt sind. (Ziller: »erziehender Unterricht«; vgl. auch Gramsci 1971, S.35: »It is not entirely true that Instruction is something quite different from education.«) Wer als Lehrer nur zu unterrichten meint, übt doch zugleich erzieherische Einflüsse aus. Wer sich vorwiegend als Erzieher versteht, kommt nicht darum herum, zugleich (ja sogar hauptsächlich) unterrichten zu müssen. Noch gibt es kein Unterrichtsfach, das schlicht Erziehung oder Sozialisation hieße.
Die temporär brüchig gewordenen Selbstverständlichkeiten, um die es bei der pädagogischen Wertfrage geht, beziehen sich offenkundig auf die Seite der Erziehung, der Sozialisation. Umstritten sind nicht materielle oder Tauschwerte, an die sonst viele unterm Stichwort Werte am ersten denken. Umstritten sind ideelle Werte. Sie werden gedacht als Orientierungspunkte. Schule macht den Heranwachsenden mit eben diesen Leuchttürmen vertraut. Sie sollen den Sozialisations-und Lebensweg erhellen und vor Abweichungen (Devianzen) bewahren. Genau genommen handelt es sich also nicht so sehr um die (oft fälschlich als objektiv vorgestellten) Werte als vielmehr um bestimmte VJenorientierungen bzw. um Einstellungen und daraus resultierende Verhaltensweisen. Der Kampf - sofern es einen gibt - dreht sich um letztere.
Trotz der - so gesehen - nicht abzustreitenden Wichtigkeit von Wertorientierungen haben wir nicht vor, uns auf diesen Kampfplatz zu begeben. Uns interessiert vielmehr, daß gegenwärtig die Wertfrage in der Erziehung fast immer in einem bestimmten Zusammenhang und von bestimmten Voraussetzungen her thematisiert wird: Wer Schule und die Vermittlung von Wertorientierungen zusammenbringt, schreibt der Schule je nach Standort und Denkungsart entweder erzieherische oder ideologische bzw. ideologisierende Funktionen und Wirkungen zu. Die Zuschreibung ideologischer Wirkungen erfolgt in zahlreichen Varianten, aber sie verbindet zugleich - als gemeinsame Voraussetzung - die jeweils unterschiedlichen Erklärungsansätze. Der größere Zusammenhang, auf den sich diese Theoreme beziehen, wird in der Regel mit Verweisen auf die Herrschafts- und Legitimationsinteressen des bürgerlichen Staates umschrieben. Die herrschende Klasse erhalte sich an der Macht und verschaffe dieser Macht Anerkennung nicht zuletzt dadurch, daß sie den Staat - ihren »geschäftsführenden Ausschuß« (Marx) - über das Zwischenglied der Schule repressive und ideologische Einflüsse auf die Heranwachsenden ausüben lasse (Diszi-plinierungs-, Loyalisierungs- und Legitimationsfunktion der staatlichbürgerlichen Schulen).
Diese These wird heute - um nur die Extreme zu nennen - sowohl von Althusser und Bourdieu/Passeron als auch von päd.extra und jedem zweiten oder dritten Lehrerstudenten vertreten. Theorieelemente und widersprüchlich-diffuses Alltagsbewußtsein durchdringen sich dabei wechselseitig zu eigentümlichen Mischformen. Im Alltagsbewußtsein der Studenten (und z.B. auch vieler päd.extra-Autoren) klingen als gesunkenes Kulturgut Echos der Kritischen Theorie und der Marxschen Kapitalanalyse nach; in die theoretischen Bemühungen Althussers oder Bourdieus und Passerons geraten ungewollt Elemente eben jenes Alltagsbewußtseins mit hinein, das doch gerade - sofern es problematisch ist - von wissenschaftlicher Analyse überwunden werden sollte. Wir zögern daher, das Konstrukt, die Schule sei heute der dominierende ideologische Staatsapparat (dies die Version Althussers), als Theorie zu bezeichnen. Der Zusammenhang, in den Schule im Rahmen einer Theorie, die den Namen verdient, einzuordnen wäre, ist nicht nur derjenige der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft, sondern der historische Zusammenhang der Entstehung und Entwicklung dieser Gesellschaft - und mit ihr der Schule. Ob das, was in der Schule ideologische Praxis und Wirkung ist, sich gleichbleibt, zunimmt oder abnimmt, wird sichtbar erst dann, wenn etwas mehr Klarheit gewonnen ist über den historischen Kontext, aus dem heraus die bürgerliche Schule und die von ihr übernommenen Funktionen entstanden sind. Wir werden im folgenden einige Aspekte einer solchen historischen Funktionsbestimmung der bürgerlichen Schule zu skizzieren versuchen mit der Absicht, das vorherrschende ideologietheoretische Alltagsbewußtsein wenn nicht aufzulösen, so doch an einigen Stellen zu durchbrechen.
Ohne selbst zur neueren Literatur über den Zusammenhang von Schule und Ideologie (vgl. Sharp 1980) zu gehören, kommt unseren Absichten noch am ehesten das Projekt Ideologie-Theorie (PIT) zuhilfe (vgl. AS 40, 1979; AS 60, AS 62,1980). Bei der Beurteilung der ideologischen Funktion und Wirkung der Schule zeigen die PIT-Autoren nicht die Sicherheit derjenigen, die ohne Forschung stets schon im voraus Bescheid wissen, sondern sie bleiben aufgrund der hier von ihnen gesehenen Komplexität des Problems unsicher und lassen Fragen offen. Seinen Begriff der Überdetermination aufgreifend, halten sie den Thesen Althussers entgegen: »Wir wollen eine mit der Sichtweise von oben nach unten verbundene, allzu statische funktionalistische Festlegung von Gebilden vermeiden, die aufgrund der sie bedingenden Kräfteverhältnisse und aufgrund der Produktivkraftentwicklung in ständiger Umschichtung begriffen sind, in mancher Hinsicht geradezu Übergangscharakter haben, da sich in ihnen unterschiedliche, ja gegensätzliche Funktionen überdeterminieren. Zum Beispiel an der Schule, dem nach Althusser im gegenwärtigen Kapitalismus dominierenden ideologischen Staatsapparat, ist mit dieser Kategorie nur eine - allerdings wichtige - funktionelle Dimension erfaßt.« (PIT 1979, 182) Nicht nur diese differenzierte Zurückhaltung und Offenheit, auch andere programmatische Vorstellungen der PIT-Gruppe könnten für unseren eigenen Versuch hilfreich sein. Insbesondere

  • die Distanzierung sowohl von einem zu weit gefaßten, letztlich auf Weltanschauung hinauslaufenden Ideologieverständnis als auch von einem zu eng verstandenen, durchweg Manipulations- und Wirkungsabsichten unterstellenden Ideologiebegriff;
  • das Interese an der Wirkungsmöglichkeit und -weise bzw. am Wie der ideologischen Praxen;
  • die Verknüpfung des Ideologieproblems mit den Prozessen der Vergesellschaftung und den Problemen der Vergesellschaftungskompetenzen (Schlüsselbegriffe: Vergesellschaftung von oben/von unten; Kompetenz-/Inkompetenzstrukturen);
  • der Anspruch, die eigenen Untersuchungen freizuhalten sowohl von ökonomistischen als auch von politizistischen Einseitigkeiten und weder die Entwicklung der Produktivkräfte noch die Klassenantagonismen und -kämpfe noch die Staatsfrage zum alleinigen Kriterium werden zu lassen (vgl. PIT, AS 60, 8);
  • das Bewußtsein, daß ideologietheoretische Untersuchungen der historischen Fundierung bedürfen: »Die hier vorgeschlagene Methode ist die der genetischen Rekonstruktion der zu begreifenden Phänomene.« (AS 40, 178)

Mit den wichtigsten der eben genannten ideologietheoretischen Leitlinien wollen wir im folgenden arbeiten. Vielleicht - so jedenfalls hoffen wir - können in ideologiekritischer Absicht auf die historische Funktionsbestimmung der Schule gerichtete Überlegungen zugleich auch »der Weiterentwicklung der allgemeinen Theorie des Ideologischen dienen« (AS 60, 7). Das mag selbst dann noch gelten, wenn sich zeigen sollte, daß die bisherigen Vorstellungen des PIT in vieler Hinsicht für die Analyse der Schule als ideologischer Macht unergiebig sind und daher für diesen Bereich modifiziert werden müssen.

2. Zur Entwicklung von Schule
Oder: Vom Schulbesuch als Privileg zur Schulpflicht

Wer über die Funktion(en) von Schule nachdenkt, muß sich zunächst klar darüber sein, daß es soziale Prozesse der Erziehung und Ausbildung von der Frühgeschichte an, Schulen jedoch erst sehr spät gegeben hat. Seit unsere fernsten Vorfahren das Tier/Mensch-Übergangsfeld sei es betreten, sei es durchschritten haben, sind die Heranwachsenden von den Erwachsenen auf spezifisch menschliche Weise in die Erfordernisse der jeweiligen Kultur und ihrer Produktionsformen eingeführt worden. Die damit verbundenen Erfahrungs- und Lernvorgänge bestanden in Aneignungs- und Verarbeitungsprozessen, die - wenn nicht ausschließlich, so doch vorwiegend - durch Anpassung und Imitation charakterisiert waren. Der Anschluß der Jüngeren an das von den Älteren erreichte, teils stationäre, teils sich weiterentwickelnde Kultur- und Produktionsniveau ist während der weitaus längsten Zeit menschlicher Geschichte nicht über Schulen, sondern auf dem Wege mithelfender imitierender Anpassung (Assimilation) an die Lebensgewohnheiten, Arbeitsmittel und Arbeitsmethoden der Erwachsenen her-getellt worden (vgl. Alt 1956). Die Jüngeren erwarben dabei von den Älteren nicht nur die Kenntnisse über den historisch erreichten Grad der Naturbeherrschung, sondern erlernten zugleich die damit verbundenen Kooperationsformen. Die auf Anpassung gerichteten Lernvorgänge und Riten schlössen Tätigkeit und Entwicklung nicht aus, sondern ein. Der kulturelle Vorsprung der älteren Generation war nicht etwas Stabiles, ein für allemal Erreichtes, sondern ein Durchgangsstadium auf dem langen und schwierigen Weg zunehmender Naturbeherrschung. Eben diese Beweglichkeit und Entwicklungsfähigkeit der älteren traf auf der Seite der jeweils jüngeren Generation auf die im Evolutionsprozeß herausgebildete besondere menschliche Lernfähigkeit, mithin auf ein aktives Assimilationsvermögen, das seinerseits Entwicklungsmöglichkeiten im Wechselspiel innerer und äußerer Natur in sich barg. Konkret: in einer Gesellschaft von Jägern und Sammlern bedurfte es keiner Schulen. Erziehungs- und Ausbildungsprozesse erfolgten durch den stufenweisen Einbezug der Heranwachsenden in die von den Erwachsenen ausgeübten, für die Produktion und Reproduktion des Lebens erforderlichen (oder für erforderlich gehaltenen - d.h. vor allem auch religiösen Praxen -) Verhaltensweisen und Tätigkeiten. Vereinfacht und tautologisch gesagt. Tiere zu jagen und Früchte zu sammeln lernte man dadurch, daß man Tiere jagte und Früchte sammelte. Ähnlich zehntausende von Jahren später und bis in die Anfänge der bürgerlichen Epoche hinein: Bauern und Handwerker erhielten ihre Erziehung und Ausbildung nicht in irgendwelchen Schulen, sondern über den helfenden Mitvollzug bei den von Bauern und Handwerkern jeweils benötigten Arbeitstätigkeiten. Noch die spezialisierteste und längste Handwerkslehre hat - in einigen Fällen bis ins 19. Jahrhundert hinein - kaum je einer Schule und eines Lehrers, wohl aber eines Handwerksmeisters und seiner Werkstatt bedurft.
Dies alles bedeutet nicht, daß es Schulen oder schulähnliche Einrichtungen erst seit der EtabNerung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Produktionsweise gegeben hätte. Schon in der Zeit der frühen Hochkulturen ist es - teils in sehr ähnlicher, teils (und zwar aufgrund der jeweils besonderen Ausgangsbedingungen) in sehr unterschiedlicher Weise - zur Auslagerung bestimmter Lernprozesse gekommen. Diese Auslagerungen waren mit ein Ausdruck für die Urform und Keimzelle vertikaler Arbeitsteilung, d.h. für die Trennung von Kopf- und Handarbeit. Die Einrichtungen, die dem ausgelagerten Lehren und Lernen dienten, sind nicht von allen Heranwachsenden, nicht von der großen Menge der arbeitenden Bevölkerung, sondern nur von sehr kleinen Minderheiten besucht worden. Den Historiker interessiert in diesem Zusammenhang zunächst einmal die gesellschaftliche und ökonomische Funktionalität solcher Abspaltungs- und Aussonderungsprozesse. Sie bestand - um ein Beispiel zu nennen - in den Wasserbaukulturen Asiens und Südamerikas darin, daß einige wenige Menschen für gesellschaftlich lebensnotwendige Berechnungs-, Regulierungs-, Koordinations- und Leitungsaufgaben von der Handarbeit freigestellt werden mußten (vgl. Needham 1956 u. 1961; Murra 1975; Ravines 1980). Mag auch immer diese schlicht auf praktische Erfordernisse gerichtete, der Naturbeherrschung und damit der Lebensfristung dienende Freistellung wegen des geringen Grades der Naturerkenntnis immer auch mythologisch gerechtfertigt worden sein und sich insofern relativ bald verselbständigt und zu Privilegierungen, zur Ausbeutung und zur Verfestigung von Herrschaft mit beigetragen haben, das für die historische Beurteilung Entscheidende ist, daß es sich zunächst nicht um ideologische Praxis, sondern um gesellschaftliche (Über-)Lebensnot-wendigkeiten gehandelt hat. Die besonderen Kompetenzen, um deren Erlernung es dabei ging, sind nicht von Minderheiten usurpiert, sondern im gesellschaftlichen Interesse aller, um des besseren Überlebens willen, entwickelt und ausgelagert worden. Und diese Kompetenzen waren nicht etwa vor dieser arbeitsteiligen Auslagerung gemeinsames Besitztum aller, sondern überhaupt noch nicht oder allenfalls in ersten Ansätzen vorhanden. Das heißt: die wenigen, die - freigestellt von Handarbeit - diese Kompetenzen entwickelten, weitergaben und jeweils im gesamtgesellschaftlichen Interesse aktualisierten, haben niemandem etwas weggenommen, niemanden von oben her seiner ursprünglich vorhanden gewesenen Fähigkeiten beraubt, sondern neue Kompetenzen entwickelt, die unter dem Druck der Verhältnisse (Lebensnot, mangelnde Naturbeherrschung) eben gerade noch nicht von allen, sondern nur von wenigen entwickelt und wahrgenommen werden konnten. Wären in der Gesellschaft der Inkas oder im alten China bereits ausnahmslos alle Menschen von unten her für die zusammenhängenden Prozesse zunehmender Vergesellschaftung und Naturbeherrschung zuständig und neben der produktiven Arbeit zusätzlich mit der schwierigen und langwierigen Kopfarbeit der Erstellung eines Kalenders, der Entwicklung eines Zahlensystems, der Berechnung von Wassermengen, Höhenunterschieden, Neigungswinkeln, Fließgeschwindigkeiten, Aussaat- und Ernteterminen usw. und außerdem mit der überregionalen Koordination der für das Funktionieren der Bewässerungssysteme erforderlichen Arbeiten beschäftigt gewesen, dann wären die Produktions- und Reproduktionsmöglichkeiten dieser frühen und komplexen Kulturen insofern schwerwiegend beschnitten gewesen, als es für die unumgängliche produktive Arbeit an Arbeitern (= Bauern) gefehlt haben würde.
Die Auslagerung von Kompetenzen und ihre Zentralisation war darüber hinaus insofern für die Reproduktion der einzelnen unumgänglich, als die Bewässerung riesiger Gebiete auf der Stufe des erreichten Produktionsniveaus dezentralisiert nicht hätte bewältigt werden können (vgl. Fitzgerald 1975; Katz 1975; Lamming 1967; Murra 1975; Soriano 1978). Das ändert freilich nichts an dem Tatbestand, daß die historisch funktionale Entwicklung gesellschaftlicher Arbeitsteilung (Marx) bzw. die Entwicklung von Spezialisierungen im Sinne der Verselbständigung von Kopfarbeit zugleich - und zwar über die Monopolisierung bestimmter intellektueller bzw. tendenziell wissenschaftlicher Kenntnisse und Fähigkeiten - zu Privilegisierungen geführt, Herrschaft gestützt und ideologische Anlagerungen begünstigt hat. Problematisch würde die Konstatierung dieses Sachverhalts jedoch dann, wenn sie einherginge mit der unhistorischen, moralischen und sozialromantischen Vorstellung, konsequente Vergesellschaftung von unten wäre der historisch mögliche, eigentlich richtigere Weg gewesen und gesellschaftliche Arbeitsteilung in der Form der Trennung von Kopf- und Handarbeit hätte sich vermeiden lassen. Eine solche Betrachtungsweise projizierte die in der Gegenwart gesehenen Möglichkeiten in die Vergangenheit hinein, ließe die transitorische Notwendigkeit und Funktionalität sowohl bestimmter historischer Herrschaftsformen als auch der Trennung von Kopf- und Handarbeit außeracht und vergäße, daß die bürgerliche und sozialistische Utopie einer freien und gleichen Assoziation aller Menschen die Herstellung des gesellschaftlichen Reichtums zur Voraussetzung hat, daß das Reich der Freiheit auf dem der Notwendigkeit basiert und daß Natur (und zwar die äußere ebenso wie die innere der Menschen selbst) sowohl beherrscht als auch befriedigt und versöhnt sein will, wenn endlich jene freie Assoziation Zustandekommen und an die Stelle des »Teilindividuums« das »total entwickelte Individuum« treten soll, »für welches verschiedene gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Betätigungsweisen sind.« (Marx, MEW 23, 512)
Aber zurück zur Schule und hin zur Hauptthese dieses Abschnitts. Sie lautet: Schule als Ausdruck ausgelagerten, aus der unmittelbaren Lebens- und Arbeitspraxis entfernten, von ihr mit guten Gründen abgehobenen Lehrens und Lernens ist in der Neuzeit (d.h. im weitesten Sinne: im Verlauf der bürgerlichen Entwicklung) zunehmend verallgemeinert und damit zunehmend entprivilegisiert worden. Diese Entwicklung kann hier nur äußerst grob skizziert werden. Dabei springen wir, zugegebenermaßen leichtfertig, von den bereits erwähnten Erscheinungen ausgelagerten Lernens in frühen Hochkulturen unvermittelt in die bürgerlich-europäische Entwicklung hinein. Sie beginnt bereits im ausgehenden Mittelalter, - und zwar in den schon vorhandenen oder allmählich entstehenden Städten. Das Land - im Vergleich zu den wenigen Städten ein riesiges Gebiet, in welchem die meisten Menschen lebten und wo die wichtigste, die agrarische Produktion sich vollzog - war weithin ein schulenloses Territorium (sieht man von den relativ wenigen Klosterschulen ab). In den Städten jedoch entstanden neben den traditionellen kirchlichen Schulen (Dom- und Stiftsschulen) mannigfache Arten genuin bürgerlicher, zunehmend auf die besonderen Interessen und Bedürfnisse städtischer Handwerker und Kaufleute bezogener Schulen. »Das Aufkommen und rasche Durchdringen von zwei neuen Arten von Bildungsanstalten kündigt das unaufhaltsame Vorschreiten des neuen Geistes und der neuen Bildungsbedürfnisse an: es sind die Universitäten und die Stadtschulen, jene für die höheren Studien, diese für den niederen Unterricht.« (Paulsen 1919, 17) Diese Stadtschulen hatten zwar zunächst noch oft den Charakter von Lateinschulen. Für diesen Fall gilt Paulsens Feststellung: »». die Schulsprache ist das Latein, und nicht bloß die Sprache des Unterrichts, auch untereinander dürfen die Schüler wenigstens der oberen Abteilungen nur Latein sprechen. Die Durchführung des Gebots zu erzwingen, steht überall Strafe auf dem Deutschreden.« (A.a.O., 24) Aber die auf Handel und Gewerbe gerichteten bürgerlichen Bedürfnisse setzten sich zunehmend durch. Wo Stadt- bzw. Ratsschulen in der Tradition befangen blieben, konnte man sehr bald auf modernere Stadtschulen oder auch auf Privatschulen ausweichen. Sie hießen vielerorts »teutsche Schulen«, entstanden nicht zufällig gerade dort, wo die Entwicklung zum frühen Handelskapitalismus am weitesten vorangeschritten war, nämlich »gegen Ausgang des 15. Jahrhunderts in zahlreichen Städten, besonders in den großen niederdeutschen und niederländischen, aber auch im Elsaß und sonst in Oberdeutschland« (a.a.O., 20), und vermittelten Lesen und Schreiben in deutscher Sprache, oft auch elementare Rechenkenntnisse, gelegentlich sogar Fremdsprachen (in Straßburg z.B. Italienisch und Französisch; vgl. Paulsen, 20). Aber wie auch immer diese städtischen Schulen genannt wurden (Stadtschulen, Ratsschulen, Lateinschulen, deutsche Schulen, Trivialschulen, schließlich auch frei heraus Bürgerschulen), - sie hatten dreierlei gemeinsam:

  • ihr Inhalt war von der überkommenen religiösen Orientierung zwar noch nicht abgekoppelt, nicht schon völlig entmystifiziert, aber deutlich um bürgerliche Interessenorientierungen erweitert (vgl. Durkheim 1977, 216: »Seit dem Beginn unserer Geschichte haben wir gesehen, wie sich der Unterricht ständig und ungebrochen verweltlichte.«);
  • ihre Gründung und Entwicklung erfolgte nicht von oben, sondern von unten her, nämlich durch Bürgerinitiativen, die erfolgreich darauf gerichtet waren, Lernstätten für den Bedarf an neuen, für Handel und Gewerbe wichtigen Basisqualifikationen zu schaffen und die so entstehenden neuen Schulen nicht länger mehr der Aufsicht und dem Rechtssystem der Kirche, sondern dem obersten Organ der Bürgerschaft selbst, dem städtischen Rat, zu unterstellen;
  • ihr Besuch war in der Regel freiwillig und insofern ein Privileg, das - trotz der Einbeziehung von Armenschülern - auch in den Städten selbst nur von einer Minderheit der Heranwachsenden wahrgenommen werden konnte.

Erst mit der völligen Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert ist dieser Freiwilligkeit ein Ende bereitet und der Schulbesuch zum Privileg aller Heranwachsenden, d.h. entprivilegisiert worden. Dieser Prozeß hat sich über mehr als zwei Jahrhunderte erstreckt und ist bei uns bis heute noch nicht abgeschlossen. In Preußen wurde die allgemeine Schulpflicht zwar schon 1717 und danach noch mehrere Male proklamiert (u.a. im Allgemeinen Landrecht von 1794); die volle Realisierung dieses den Schulbesuch verallgemeinernden und insofern demokratisierenden Prinzips ist jedoch erst um 1900 in den Städten, erst mit der Weimarer Republik auch überall auf dem Lande erreicht worden. Dabei hat der zunehmend bürgerlich infiltrierte Staat eine wichtige, keineswegs jedoch die einzige Rolle gespielt. Ein entscheidender Promotor (Vorantreiber) dieser Entwicklung waren die Verhältnisse, d.h. die neuen Produktionsbedingungen und die mit ihnen verknüpften Interessen der Menschen selber. Die Vorstellung, daß eine alle Heranwachsenden erfassende allgemeine Schulpflicht gebraucht werde, wurde ebenso wie der neue Begriff der Allgemeinbildung historisch »erforderlich und möglich, als naturwissenschaftliche Kenntnisse, vermittelt über Technologie und Technik, zur Voraussetzung der Arbeitsprozesse zu werden beginnen. Menschenbildung als Postulat der klassischen bürgerlichen Pädagogik signalisiert das Ende des Vor-herrschens handwerklicher, den Beginn der Durchsetzung industrieller Produktion. An die Stelle spezialisierter, im engsten Sinne erfahrungs-bezogener, traditionell handwerklicher oder bäuerlicher Serufequalifi-zierung tritt das gesellschaftlich neue Erfordernis einer allgemeinen vorberuflichen Basisqualifikation.« (Rang und Rang-Dudzik 1978, 32f.) Daß diese Entwicklung widersprüchlich und in vielen Etappen vonstatten ging, zeitweise auch von Rückschlägen begleitet war und zunächst vorwiegend die Interessen des Bürgertums berücksichtigte, wird niemanden verwundern. Die Protagonisten (Vorkämpfer) und unmittelbaren Nutznießer des Prozesses haben zuerst an sich selbst gedacht und dafür gesorgt, daß Schulen für die Kinder der Bourgeoisie (Universitäten, Gymnasien, Real- und Fachschulen) vorhanden waren und den neuen, bürgerlichen Bildungs- und Ausbildungsauftrag zu erfüllen vermochten. Trotz der äußerst progressiven, nicht nur in Frankreich, sondern auch in deutschen Ländern auf anspruchsvolle National- und Volksbildung drängenden Schul- und Bildungskonzepte der damaligen Avantgarde (vgl. für Frankreich u.a. Condorcet und Lepele-tier, für Deutschland u.a. Fichte, Stephani, Jachmann, Humboldt und Süvern) blieben die Schulen des Volkes Stiefkinder der Entwicklung, Schulen »im Schatten« (Goebel 1978). Umso mehr jedoch gilt, daß die Kinder der Volksmassen im Verlauf des 19. Jahrhunderts in wachsendem Maße die Möglichkeit des Schulbesuchs, die ihnen oft aus Gründen der Not vorenthalten blieb, als Chance und als ein zu erkämpfendes Privileg anzusehen begannen. Die Teilhabe aller am Privileg des Schulbesuchs kommt jedoch der Aufhebung des Privilegs, der entprivi-legisierenden Demokratisierung der Schule bereits sehr nahe. Zur Schule gehen zu dürfen (und wäre es auch zur schlechtesten), - das war jedenfalls für viele dieser Kinder nicht so sehr ein Zwang, nicht so sehr etwas von außen Auferlegtes und Fremdes, als vielmehr eine Anregungsmöglichkeit für ihre Lern- und Wißbegierde. Angesichts der Alternative Kinderarbeit oder Lernarbeit fiel ihnen die Wahl (sofern sie die überhaupt hatten) nicht schwer. Am Ende des 19. Jahrhunderts dachte in diesem Sinne der Glasarbeiter Josef Peukert, stellvertretend für viele seiner Klassengenossen, an die bürgerliche Volksschule zurück: »Meine Lern- und Wißbegierde war so groß, daß ich so etwas wie Schulschwänzen gar nicht kannte; und ich erinnere mich, daß ich wiederholt in mit Lumpen zusammengehaltenen Schuhen im tiefsten Schnee noch zur Schule ging, um ja keine Stunde zu versäumen; und es war das schrecklichste Leid für mich, wenn ich einmal aus einem triftigen Grunde nicht zur Schule durfte.« (Josef Peukert, Erinnerungen eines Proletariers aus der revolutionären Arbeiterbewegung, hrsg. von Landauer, Berlin 1913; hier zit. nach Emmerich I, 1974, 104)

3. Zur Funktion von Schule
Oder: Kompetenzvermittlung als Korrektur von Alltagsbewußtsein

Folgt man den Kriterien des Projekts Ideologie-Theorie (PIT), dann müßte die Schule, sofern sie sich in der Hand des Staates befindet und von ihm teils unmittelbar, teils mittelbar kontrolliert wird, zu den wichtigsten »ideologischen Mächten« gerechnet werden. In der und durch die Schule fände »ideelle Vergesellschaftung von oben« statt (AS 40, 181). Schule wäre zu begreifen als eine gleichsam übergesellschaftliche Instanz, eine »gesellschaftliche Macht über der Gesellschaft« (a.a.O.), - und sie hätte teil an der widersprüchlichen Aufgabe, die Vermittlung von Vergesellschaftungskompetenzen, die sich ursprünglich »unten« befanden und von allen Menschen erlernt und ausgeübt werden konnten, monopolisierend arV sich zu ziehen und dadurch anstelle der ursprünglichen Gleichheit »Formen der Kompetenz/Inkompetenz« (a.a.O.), d.h. Kompetenzunfersc/7/ede herzustellen. »Entscheidend ist, daß ursprüngliche Kompetenzen, Bestandteil normaler gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit aller Individuen, aus der Gesellschaft herausgezogen wurden. Es handelt sich dabei stets um Kompetenzen der Vergesellschaftung der Arbeit und anderer Formen der Lebenstätigkeit, die ursprünglich horizontal, das heißt zwischen Gesellschaftsmitgliedern ohne vertikale Dazwischenkunft einer übergeordneten Macht wahrgenommen werden. Diese Kompetenzen werden nun transferiert auf Überbauinstanzen und deren Beamtenapparate. An der Basis entstehen im selben Zug Formen der Kompetenz/Inkompetenz.« (A.a.O.) Daß dieser Erklärungsansatz, angewendet auf die Funktionsanalyse der Schule, allenfalls eine Funktion aus einem sehr viel umfassenderen Funktionskomplex herauslöst und insofern zu kurz greift, ist den PIT-Autoren bewußt. Mit der Kategorie des »ideologischen Staatsapparats« sei im Falle der Schule »nur eine - allerdings wichtige - funktionelle Dimension gefaßt« (a.a.O., 182). Wir selbst werden auf die zweifellos auch vorhandene ideologische Funktion der Schule erst im letzten Abschnitt eingehen und zunächst einmal auf das hinweisen, was Gramsci - bezogen auf den bürgerlichen »Kultur-Staat« - mit Recht als die »positive erzieherische Funktion« der Schule bezeichnet hat (Gramsci 1971, 258).
Die von den PIT-Autoren nicht ausgesprochene, wohl aber nahegelegte Vorstellung, Schule als ideologische Macht und als Stätte transferierten, aus der gesellschaftlichen Horizontale in die Vertikale gedrehten, von oben organisierten und kontrollierten Lernens nehme ursprünglich vorhanden gewesene Kompetenzen weg, erscheint uns abwegig. Obwohl wir es für äußerst wichtig halten, historische Genauigkeit zu wahren und die Epochen der gesellschaftlichen Entwicklung mit ihren spezifischen Unterschieden nicht in schlecht-philosophischer Manier zu überspringen (vgl. die Anlehnung W.F. Haugs an Formulierungen des unhistorisch-philosophischen jungen Marx im AS 40, 182: »Mit Marx und Engels begreifen wir also den Staat als entfremdete Gemeinschaftlichkeit. Seine Wirklichkeit beruht auf der Entwirklichung der Urgemeinschaft.«), riskieren wir an dieser Stelle die allgemeine, fast schon omnihistorische These: Schule nimmt Kompetenzen nicht fort, sondern fügt Kompetenzen hinzu und erweitert damit den vorhandenen Kompetenzrahmen - und zwar auch im Hinblick auf die Fähigkeit der Selbstvergesellschaftung. Eine solche Fähigkeit ist ja doch mit den konkreten, auf Naturbeherrschung gerichteten Einzelkompetenzen unlösbar verschränkt und nicht etwas für sich allein Bestehendes, von außen Hinzukommendes. Im Arbeitsvermögen waren und sind stets beide Kompetenzdimensionen enthalten: die Fähigkeit, die Naturstoffe zu bearbeiten, und die Fähigkeit, dabei mit anderen Menschen arbeitsteilig zu kooperieren. Die auf späten Stufen der Entwicklung von der Schule bewirkten Kommpetenzerweiterungen erfolgten und erfolgen in vielen Fällen lückenhaft und hatten und haben insofern stets auch defizitären, vorenthaltenden Charakter (vgl. unten, Abschnitt 4); das ändert jedoch nichts an dem pädagogisch konstitutiven Sachverhalt, daß Schule grundsätzlich - wie verkürzt und fragmentarisch auch immer - ein Kompetenzgeber und nicht ein Kompetenznehmer war und ist. Dem Bauernkind, das im 17. oder 18. Jahrhundert einige Jahre in eine aus heutiger Sicht primitive preußische Küsterschule gegangen ist, wurde von seinen ursprünglichen Kompetenzen nichts weggenommen. Die Fähigkeit, in Kooperation mit anderen auf dem Lande zu arbeiten, Kühe, Schafe, Ziegen zu melken, Unkraut zu jäten, Getreide zu säen und zu ernten usw. ging durch den Schulbesuch nicht verloren. Was durch ihn hinzukam, war freilich damals wenig (Katechismus, Bibel- und Gesangbuchverse, vielleicht auch schon einige elementare Schreib-, Lese- und Rechenfähigkeiten), - aber es kam hinzu und war nicht etwa bei den Kindern oder ihren Eltern ursprünglich bereits vorhanden (denn die meisten preußischen Bauern des 17. und auch noch des 18. Jahrhunderts waren Analphabeten; ohnehin hätten sie nicht die Zeit gehabt, ihre Kinder zu alphabetisieren).
Einen Hauptmangel des bisher von den PIT-Autoren Vorgelegten sehen wir darin, daß die historischen Prozesse zunehmender Vergesellschaftung (die u.E. keineswegs nur von oben her, sondern bis zum heutigen Tage auch von unten her vorangetrieben wurden) nur unzulänglich mit dem Prozeß zunehmender Naturbeherrschung in ein Verhältnis gesetzt werden. Eine der Folgen dieses Mangels ist eine spezifische Blindheit für die historische Funktionalität gesellschaftlicher Arbeitsteilung (vgl. oben) und für die Notwendigkeit, Antwort geben zu müssen auf die Frage, wie denn eigentlich die Entwicklung von Vergesellschaftung und Naturbeherrschung zu erklären sei und woher denn eigentlich historisch die jeweils neuen bzw. erweiterten Kompetenzen gekommen sind. Solange diese Kompetenzen nur als ursprünglich überall vorhanden gewesene gesehen werden, die im Verlauf der Entwicklung quasi von oben geraubt bzw. im Interesse der Etablierung oder Aufrechterhaltung von Klassenherrschaft nach oben verlagert worden seien, - solange bleibt weithin ungeklärt, wie, warum und von wem das nach Marx entscheidende Moment der Evolution, die Entwicklung der Arbeitsmittel als Werkzeugen für die Naturbeherrschung, überhaupt hat vorangetrieben werden können. Auch sind, zumindest in ihrer bisherigen Fassung, die Umrisse zu einer Theorie des Ideologischen wohl kaum von dem ebenso unhistorischen wie undialektischen Mißverständnis freizuhalten, daß die Trennung von Kopf- und Handarbeit nichts anderes als einen beklagenswerten historischen Sündenfall darstelle (vgl. die als retrograd gerichtet mißverstehbare Klagerede von der »Entwirklichung der Urgemeinschaft«, in: AS 40, 182).
Aber zurück zur Schule und ihren kompetenzerweiternden Funktionen. Der (ideologie)kritische Blick vieler Sozial- und Erziehungswissenschaftler ist freilich seit Jahren nicht so sehr auf die inhaltsorientierte Analyse der jene Kompetenzerweiterungen befördernden Qualifizierungsprozesse als vielmehr auf deren bürgerliche Formbestimmtheit, auf Disziplinierungs-, Selektions- und Kommunikationsprozesse und auf die Loyalisierungs- und Legitimierungsbemühungen der Schule gerichtet. Nicht der Entwicklung und den Entwicklungstendenzen der Lehrpläne, sondern dem heimlichen Lehrplan (hidden curriculum) hat sich die Aufmerksamkeit der meisten zugewendet. Nicht das an Schule offen Zutageliegende (Inhalte, Unterricht) interessiert, sondern das, wovon man meint, daß es sich als die eigentliche Funktion von Schule gleichsam hinterrücks durchsetze: sei es nun symbolische Gewalt im Sinne der Bourdieu/Passeron-Thesen, denen zufolge sich die Selbstrekrutierung der Eliten - und zwar unter dem Deckmantel vorgeschützter Autonomie und Leistungsorientierung - primär über die Schule vollzieht (Bourdieu/Passeron 1973); oder sei es die schlichtere Vorstellung, die bürgerliche Schule erschöpfe sich in Anpassungsvorgängen und habt? nichts anderes im Sinn als die repressive Bemühung, Heranwachsende im voraus zu Lohnarbeitern zu konditionieren.
Ohne die begrenzte Bedeutung dieser Betrachtungsweisen abstreiten zu wollen, bestehen wir darauf, daß es für das Verständnis von Schule erheblich aufschlußreicher ist, sich im Sinne von Gramsci dem schwierigeren Problem des inhaltlichen Beitrags der Schule zur Hebung des kulturellen Niveaus der Massen zuzuwenden. Die dabei naheliegende Gefahr, von bürgerlichen Klasseninteressen abzusehen und naiv-beschönigende Fortschrittslinien zu konstruieren, läßt sich am ehesten dann vermeiden, wenn man sich des von Gramsci entwickelten Konzepts der politischen und kulturellen Hegemonie der herrschenden Klassen stets bewußt bleibt: »Jeder Staat ist sittlich insoweit, als eine seiner wichtigsten Funktionen darin besteht, die große Masse der Bevölkerung auf ein bestimmtes kulturelles und moralisches Niveau ». zu heben, das den Entwicklungserfordernissen der Produktivkräfte und insofern den Interessen der herrschenden Klassen entspricht. Die Schule mit ihrer positiven Erziehungsfunktion und die Gerichte mit ihrer repressiven und negativen Erziehungsfunktion üben in diesem Sinne die wichtigsten Staatstätigkeiten aus.« (Gramsci 1971,258)
Die von Gramsci vorgenommene Verknüpfung von Kultur, ökonomisch-technischer Entwicklung und bürgerlicher Hegemonie erschließt zugleich Möglichkeiten, ideologische Praxis im Sinne der PIT-Autoren genauer entschlüsseln und den Begriff der Ideologie von Manipulationstheoremen freihalten zu können. Darüber später. Zunächst ist es wichtiger, im Anschluß an Gramsci unsere These von der kompetenzerweiternden Funktion der Schule zu konkretisieren. Das müßte eigentlich in großer, ins Detail gehender Ausführlichkeit geschehen. Da uns jedoch für eine differenzierte Sozialgeschichte der Lehrpläne des bürgerlichen Schulwesens in diesem Band der Platz fehlt, beschränken wir uns auf wenige Beispiele. Wir wählen sie aus dem Bereich des Elementar- bzw. Volksschulwesens, also gerade nicht aus der Sphäre der Universitäten und Gymnasien, in welcher die Entwicklung im bürgerlichen Interesse am raschesten und intensivsten vorangetrieben wurde. Gegenübergestellt werden Zitate aus solchen Schulordnungen bzw. Lehrplänen aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die Konzepte der Volksbildung bzw. der Massenerziehung beinhalten. Zwischen dem ersten und dem letzten Konzept liegt die historische Zäsur der Französischen Revolution und der preußischen Reformen - beide Ereignisse begleitet von revolutionären Entwicklungen des Denkens, nämlich von der Herausbildung des dialektischen Idealismus und des Neuhumanismus als Fortwirkungen der Aufklärung.
1702 heißt es in einer Schulordnung für die damals in vieler Hinsicht an der Spitze der pädagogischen Entwicklung stehenden Franckeschen Anstalten in Halle:
»Der vornehmste Endzweck in allen diesen Schulen ist, daß die Kinder vor allen Dingen zu einer lebendigen Erkäntniß Gottes und Christi und zu einem rechtschaffenen Christenthum mögen wohl angeführet werden. Derowegen wird mit ihnen nicht nur fleißig gebetet, sonder auch Gottes Wort und der Catechismus Lutheri so wol in der Kirchen als Schulen täglich getrieben. Dabey sie denn auch angewöhnet werden selbsten aus ihren Herzen zu Gott ihrem Vater im Himmel umb den Heiligen Geist umb seine Gnade, Erkäntniß, Glauben, Liebe, Gehorsam ec. im Namen Jesu Christi zu beten und also zugleich die erlernete Sprüche Heiliger Schrift füglich und andächtig ins Gebet zu bringen.« (Vormbaum 1864, 3)
Daß es außerdem auch um Buchstabieren, Lesen, Schreiben und Rechnen ging, erwähnt ein weiterer Artikel vergleichsweise beiläufig.
1773 liest man gleich im ersten Artikel einer anderen Schulordnung: »Dieweil die Schulen in der Absicht gestiftet sind, damit die Jugend dar-inne zum wahren Christenthume, zu gründlicher und nützlicher Gelehrsamkeit, und zu guten Sitten angeführet, und dadurch selbst wahrhaftig glücklich, auch dem Vaterlande brauchbar werde, so sollen die Lehrer diesen Zweck beständig vor Augen haben ».«(A.a.O., 613f.) In weiteren Artikeln erfolgt - im Unterschied zur Schulordnung von 1702 - eine genaue und ausführliche Beschreibung dessen, was - über das Religiöse hinaus - das inhaltlich zu Lernende war. Neu ist auch die Anforderung an die Schulmeister, darauf zu achten, daß die Kinder die Buchstaben »nicht nach einer bäuerlichen oder sonst verderbten, sondern reinen und deutlichen Mundart aussprechen« (a.a.O., 676).
1832 schließlich berichtet Cousin, die preußischen Volksschulen hätten im allgemeinen folgende Lehrinhalte:

  1. Religionsunterricht, um die Sittlichkeit der Kinder nach den positiven Wahrheiten des Christenthums zu bilden.
  2. Deutsche Sprache. 
  3. Die Elemente der Geometrie, verbunden mit den allgemeinen Anfangsgründen des Zeichnens. 
  4. Rechnen und praktische Arithmetik. 
  5. Die Elemente der Physik, der Geographie, der allgemeinen und besonders der Preußischen Geschichte. 
  6. Gesang, um die Stimme der Kinder zu entwickeln, ihre Seele zu erheben, den Volks- und Kirchengesang zu vervollkommnen und zu erheben. 
  7. Schreib- und körperliche Übungen, welche die Sinne und namentlich das Gesicht stärken. 
  8. Die einfachsten Handarbeiten und einige Anweisungen in Feldarbeiten nach den Erfordernissen der Landes-Industrie.« (In: Schöler 1970, 180)

Der 1842 von Sluymer vorgelegte und bald u.a. in der Provinz Preußen offiziell eingeführte »Lehrplan für Volks-Schulen« proklamierte den Anspruch eines jeden auf eine »abgerundete, allgemeine Bildung« und erklärte: »Ein jeder Mensch steht nemlich im Verhältnis zu Goff, zu anderen Menschen und zu der ihn umgebenden Natur; in dieser dreifachen Beziehung will und muß er orientiert d.h. zu klarer Anschauung seiner Lebensstellung gelangt sein.« (Zit. nach Schöler 1970, 181) Diese »Orientierung«, zumal die auf die »Natur« und die »anderen Menschen« bezogene, setzte sich so in Unterricht um:
»Der Unterricht sei I. Die äußere Welt erschließend, 1. das Concrete (die Welt an sich) darstellend: Weltkunde. Sie faßt a) als Naturgeschichte die Einzelwesen nach gemeinsamen Merkmalen in Arten, Gattungen ec. zusammen; - betrachtet b) als Naturlehre sie in ihrem Causalitäts-Verhältnisse; schildert c) als Erdkunde den Schauplatz des Werdenden; und d) als Geschichte den Entwicklungsgang des letztern, ins Besondere der Menschheit. 2. Vom Stoff der Dinge absehend, betrachtet der Unterricht diese nur in der formalen Beziehung a) der Raumausdehnung: Formen- (und Größen-)lehre nebst Zeichnen (Darstellen der Formen), b) der Zahl: Zahlenlehre (Rechnen). II. Die innere Welt erschließend, bezieht der Unterricht sich 1. auf die nothwendige und allgemeine Form, in welcher das menschliche Denken zum Ausdruck kommt: Sprachkunde (hierher aus Lesen und Schreiben). 2. auf den Ausdruck der Gefühle: Gesanglehre. 3. auf die Verbindung mit dem Göttlichen: Religionslehre (Christenthum). III. Zur Beherrschung der äußeren Welt äußerlich befähigend: das Turnen.« (A.a.O., 182)
Es bedarf weder umfangreicher historischer Kenntnisse noch einer besonderen historischen Sensibilität, um beim Vergleich der von uns ausgewählten Zitate zu erkennen, daß es sich hier um durch Schule vermittelte Kompetenzerweiterungen (bzw., um Begriffe aus den Kontroversen der letzten 10 Jahre zu gebrauchen, nicht um Anders-, sondern um Höherqualifizierung) handelt. Mit Händen zu greifen ist auch, wohin diese Entwicklung tendiert: nämlich hin zu dem, was Max Weber als die »Entzauberung« der Welt bzw. als das spezifisch moderne Phänomen der »Rationalität« bezeichnet hat. Die religiös-konfessionellen Inhalte und Wertorientierungen fallen zwar nicht fort, aber sie treten zurück. Ihr Anteil am Unterricht sinkt von ehemals ca. 80% auf 10 bis 20%. Den geräumten Platz nehmen sachbezogene, weltliche, nach rationaler Verarbeitung, Aneignung und Nutzung verlangende Inhalte ein. Dahinter steht das neue, bis in die Elementarbildung hineinwirkende Wissenschafts-, Lern- und Subjektkonzept des deutschen Idealismus und der klassischen bürgerlichen Pädagogen (u.a. Rousseau, Pestalozzi, Humboldt, Schleiermacher und Herbart). Es verdankt sich - teils vorwegnehmend, teils auf bereits erfolgte Entwicklungen reagierend - den Umwälzungen und Veränderungen, die sowohl in ökonomischer als auch in kultureller, sozialer und politischer Hinsicht mit dem Heraufkommen des Bürgertums einhergingen. Der Begriff der Wissenschaft, enthalten bereits im Titel einer der wichtigsten Schriften des Altdeutschen Idealismus (Fichtes Wissenschaftslehre), verweist zugleich auf die historische Tendenz, der fortan - wie gebrochen und rudimentär auch immer - die Schule zu folgen genötigt ist. Diese Tendenz schlicht als gelungene Verwissenschaftlichung zu bezeichnen, wäre freilich - zumal im Hinblick auf die Elementar- bzw. Volksschulen - eine durchaus unhistorische Schönfärberei. Sieht man jedoch genau auf die Entwickungsrichtung, die einzuschlagen zunächst die Universitäten und Gymnasien, dann auch die Real- und Volksschulen von den Verhältnissen selber und vom Drängen interessierter Menschen mehr oder weniger gewzungen worden sind, dann ist das Eindringen wissenschaftlicher Erkenntnisse und wissenschaftlicher (Vor-)Orientierungen in die Schule ein Faktum und nicht bloß ein realitätsfremder Fortschrittswunsch. Eben dieses Faktum führt uns zu einer weiteren, vielleicht für ideologiekritische Leser provokativen These: Die bürgerliche Schule als allgemeinbildende und als wissenschaftsorientierte Schule trägt tendenziell nicht so sehr zur Ideologisierung als vielmehr zur Ent-ideologisierung bei. Vorsichtiger formuliert: Sie ist als allgemeinbildende und wissenschaftsorientierte Schule nicht jener primäre Ideologie-träger und -vermittler, als der sie heute von Althusser, Bourdieu und vielen anderen angesehen wird.
Die Begründung dieser Auffassung ist in dem bisher von uns Entwickelten bereits enthalten. Hinausgehend über unsere Hinweise auf die historischen Tendenzen der Entprivilegisierung (Demokratisierung, Universalisierung) und der Wissenschaftsorientierung, verweisen wir nur noch darauf, daß Gramsci der allgemeinbildenden öffentlichen Schule (»common school«) mit Recht eine politisch und kulturell ungemein wichtige Funktion zuschrieb: die Aufgabe der systematischen Korrektur jenes »bizarren« Konglomerats, das er »Alltagsbewußtsein« nannte. Die Erfüllung dieser Aufgabe mag in der Schulrealität nur annäherungsweise erreichbar, die Schulen und Lehrer mögen den hegemo-nialen Interessen und Zwecken der herrschenden Klassen verpflichtet sein - korrigierende Einwirkungen zumindest auf die unstimmigen und anachronistischen Seiten des Alltagsbewußtseins von Kindern und Jugendlichen gehören für Gramsci zur immanenten Substanz und Zielsetzung der modernen, d.h. für ihn: der bürgerlichen Schule.
Trotz der Möglichkeit, ja der Wahrscheinlichkeit, daß diese korrigierenden Einwirkungsversuche ihrerseits von ideologischen Anlagerungen begleitet und belastet werden, bleibt das ein sekundärer Effekt. An der substantiellen Stoßrichtung wissenschaftsorientierter bürgerlicher Allgemeinbildung vermag er nichts Wesentliches zu verändern. Sie ist nicht primär auf Ideologisierung, sondern darauf gerichtet, rückständige und ideologische Elemente des Alltagsbewußtseins aufzulösen und an deren Stelle das zu entwickeln, was Gramsci »ein neues«, von »folkloristischen« Konzepten bewußt unterschiedenes »Weltkonzept« nannte. Was Gramsci damit thematisiert, das ist die Qualifikationsfunktion oder, emphatischer gesagt, die Aufklärungsfunktion von Schule. Den kommunistischen Parteiführer und Intellektuellen haben seine Lebenserfahrungen und historischen Kenntnisse, hat sein eigenes dialektischmaterialistisches »Weltkonzept« ebenso vor der moralischen wie vor der politizistischen Sichtweise bewahrt, die bürgerliche Schule in erster Linie als eine »ideologische Macht« zu begreifen. Schule galt ihm als tendenziell aufklärende Macht, sofern sie den »Aberglauben« des Alltagsbewußtseins ausräumt, »magischem« Welt- und Naturverständnis ein Ende setzt und »individualistischen und lokalistischen Barbarismus« bekämpft. Das war für ihn nicht nur die Aufgabe einer Schule der Zukunft, sondern bereits die »reale Basis« der alten italienischen Primarschule (d.h. der Primarschule vor der faschistischen Schulreform der 20er Jahre): »The scientific ideas the children learnt conflicted with the magical concept of the world and nature which they absorbed from an environment steeped in tolklore; while the idea of civic rights and duties conflicted with tendencies towards individualistic and localistic barba-rism - another dimension of tolklore. The school combated tolklore, indeed every residue of traditional conceptions of the world. It taught a more modern outlook based essentially on an awareness of the simple and fundamental fact that there exist objective, intractable natural laws to which man must adapt himself if he is to master them in his turn - and that there exist social and State laws which are the product of human activity, which are established by men and can be altered by men in the interests of their collective development.« (Gramsci 1971, 34)
Was für Gramsci im katholisch-faschistischen Italien der 20er Jahre noch ein ganz aktuelles, konkret erfahrbares Problem war, ist bei uns aus dem Bewußtsein der meisten verschwunden oder wird gerade erst von einigen Intellektuellen wiederentdeckt (vgl. u.a. das Interesse an den Schriften Gramscis einerseits, an den Arbeiten von Alfred Schütz andererseits). Wie unübersehbar groß die Differenz zwischen Alltagsbewußtsein bzw. Jedermannsphilosophie auf der einen und einem modernen Weltkonzept auf der anderen Seite auch bei uns gewesen ist und welche fortschrittsbefördernde, kompetenzerweiternde und aufklärende Funktion die Schule in diesem Zusammenhang übernahm und zum Teil auch erfüllte, - darauf verweisen wir hier nur an wenigen ausgewählten Beispielen. Das Problem der bürgerlichen Emanzipa-tions- und Aufklärungsbestrebungen bestand in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert keineswegs nur darin, daß über Volksbildung falsche durch richtige (bzw. richtigere) Vorstellungen hätten korrigiert und ersetzt werden müssen. Das Problem war fundamentaler. Bevor überhaupt daran gedacht werden konnte, neue Kenntnisse und Einsichten zu vermitteln, mußte zunächst einmal jene eigentümliche Sprachlosigkeit aufgehoben werden, in der sich große Teile der Bevölkerung befanden. Zugleich mit dem Eindringen von Bürgern in den Verwal-tungs- und Machtapparat des bürgerlichen Staates (vgl. Koselleck 1959) hat sich die Bourgeoisie - lange vor ihrer Machtergreifung - sprachmächtig gemacht. Eben dies ist ein wichtiges Moment des sozialgeschichtlichen Hintergrunds für die bereits im 17. Jahrhundert einsetzenden pädagogischen Bemühungen um eine Verstärkung des muttersprachlichen Unterrichts (vgl. u.a. das Konzept der »Muttersprachschule« des Comenius). Das Interesse an Sprache, in der Philosophie u.a. bei Leibniz, Hamann, Herder und Humboldt artikuliert, führte in den Elementarschulen zu Formen der sprachlichen Bildung, die zunächst einmal beim schlichten Wahrnehmen und Benennen konkreter Gegenstände (Dinge, Pflanzen, Tiere) einsetzten. Menschenbildung war insofern Sprachbildung. »Er ist stumm, er ist ein Vieh. Er redet, er ist ein Mensch geworden.« (Pestalozzi Sämtliche Werke XII, 45) Die pädagogische Elementaraufgabe bestand demzufolge darin, »Anschauung zur geistigen zu erheben; das Kind bemerken und reden zu lehren, damit es zu denken lerne.« (Rang 1967, 174). Dabei handelte es sich nicht um überflüssige Schulmeisteret die den schon vorhandenen konkreten Alltagserfahrungen und -kenntnissen des Volkes nichts Wesentliches hätte hinzufügen können, sondern um die Ermöglichung erweiterter Kommunikation (und damit um ein wichtiges Element von Vergesellschaftung) und um die elementare Anbahnung von Rationalität. Was das für die bürgerliche Entwicklung - zumal in ökonomischer Hinsicht - bedeutete, läßt sich weiter konkretisieren. Als in Frankreich die Enzyklopädisten auch genaue Beschreibungen von Werkzeugen und Maschinen (Vorläufern) in die Enzyklopädie hineinbrachten, hatten sie die größten Schwierigkeiten, exakte Auskünfte von den befragten Handwerkern zu erhalten. Diese Meister(!) ihres Fachs waren in der Regel außerstande, ihre auf Erfahrung basierenden Kenntnisse angemessen zu verbalisieren (vgl. Paul 1980). Dem entspricht, was 40 Jahre später K.F. Klöden in seiner Lehrzeit als Goldarbeiter erfuhr: »Obgleich mein Oheim mir noch als einer der am meisten denkenden Arbeiter seines Faches erschien, so war doch über den Grund so vieler Vorschriften von ihm nichts zu erfahren. Was die Pottasche beim Schmelzen, der Borax beim Hartlöten, Kolophonium beim Weichlöten, Salpeter und Kochsalz beim Färben, Weinstein und Salz beim Sieden, Glühwachs beim Vergolden etc. bewirkten, das war ihm ganz unbekannt. Es geht sonst nicht, war die einzige Erklärung und ist es noch jetzt bei den meisten.« (Klöden 1976, 241)
Klödens Erinnerungen enthalten ein für den Übergang zur industriellen Produktion entscheidendes Stichwort: Im Unterschied zur erfahrungsorientierten handwerksmäßigen Produktion begann man, nach dem »Grund« der Arbeitsvorgänge und -verfahren, nach Ursache und Wirkung im Sinne naturwissenschaftlich-technischen Denkens zu fragen. Das tradierte Alltagsbewußtsein reichte zur Beantwortung solcher Fragen nicht aus. Es war zwar erfahrungsgesättigt, aber zugleich borniert und stationär. Wer darin verharrte, trat auf der Stelle und blieb hilflos angesichts der Dynamik der nun vordringenden Formen einer historisch neuen Rationalität. Um diesem Dilemma, dessen sich viele Bürger bewußt waren, entgegenzuwirken, hat man im 18. und 19. Jahrhundert nicht nur die Sprachbildung und Alphabetisierung voranzutreiben versucht, sondern auch begonnen, die Anzahl der für das Volk bestimmten Schulen zu erhöhen, an Lehrer und Lehrerausbildung höhere Anforderungen zu stellen, vor allem aber: die Lernziele nach der Seite der zu vermittelnden Kenntnisse erheblich zu erweitern (vgl. oben) und sie nach der Seite der zu fördernden Einstellungen und Verhaltensweisen neu zu orientieren (vgl. Leschinsky/Roeder 1976). Beides erfolgte (ohne daß es die Begriffe dafür schon gegeben hätte) gemäß dem unausgesprochenen, vielen nur halb bewußten Grundsatz, daß anstelle des vorherrschenden Alltagsbewußtseins ein neues, rationaleres Weltkonzept zu entwickeln sei. Die Hoffnung, daß man durch Unterricht und Erziehung den Konservativismus der Bauern und Handwerker aufbrechen, Vorurteile und Aberglauben abbauen könne, zieht sich durch fast alle Schulordnungen, Lehrpläne und Pädagogenäußerungen schon des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts. Dabei wurden kognitive (auf den Erwerb von Kenntnissen gerichtete) und soziale (auf Einstellungen und Verhalten bezogene) Lernziele nicht voneinander getrennt, sondern als vermittelt und verschränkt angesehen. Von den Industrieschulen, in denen man vor der Industrialisierung Unterricht und produktive Arbeit miteinander zu verknüpfen suchte, hieß es: »es soll durch sie der herkömmliche Handwerks- und Zunftschlendrian ausgerottet und den künftigen Arbeitern eine solche Bildung gegeben werden, daß sie beim Uebergang ins bürgerliche Leben ihr Geschäft nicht mit der gewöhnlichen Beschränktheit und Unwissenheit, sondern mit Verstand und Einsicht treiben. Neue Entdeckungen und Erfindungen, von denen sie hören, sollen sie nicht nur gerne benutzen, sondern auch darauf ausgehen, selbst dergleichen zu machen ». Sie sollen die Theorie geschickt mit der Praxis verbinden, auf die ersten Gründe ihrer Arbeit zurückgehen, sich mit allen Kenntnissen, die zur glücklichen Betreibung ihres Fachs gehören, bereichern und die Vorurteile ablegen, die man sonst gegen alles Neue, von der gewöhnlichen Handthie-rungsweise abweichende gefaßt hatte.« (Sauer 1812, 39f.) Jahrzehnte vorher hatte Diderot in ähnlichem Sinne die pädagogisch-politischen Erwartungen und Bestrebungen des Bürgertums in einem einzigen Satz zusammengefaßt: »Ist ein Volk unwissend und abergläubisch, so lehrt die Kinder Geometrie und ihre werdet mit der Zeit die Wirkung dieser Wissenschaft spüren.« (Diderot 1908, 454)

4. Schule und Ideologie
Oder: Ideologische Praxis als Praxis des Vorenthaltens

Leser dieses Aufsatzes, welche die reale Schulentwicklung kennen, werden inzwischen irritiert und ungeduldig geworden sein und zahlreiche Fragen haben. Verwechseln wir nicht Programmatik und Realität? Sind nicht die Volksschullehrer bis weit ins 20. Jahrhundert hinein so unzulänglich ausgebildet worden, daß ein das Alltagsbewußtsein korrigierender wissenschaftsorientierter Unterricht von ihnen wohl kaum erteilt werden konnte? Haben Harkort, Dittes und Sack, Bebel, Liebknecht und Clara Zetkin den erbärmlichen Zustand der Volksschulen zu Unrecht kritisiert? Haben nicht die Stiehlschen Regulative von 1854 erhebliche Kompetenzbescrj/ie/dungen sowohl für die Volksschüler als auch für die Volksschullehrer mit sich gebracht? Ist nicht das zunächst fortschrittliche Prinzip der volkstümlichen Bildung im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem bornierten und bornierenden, Alltagsbewußtsein nicht auflösenden, sondern festhaltenden Prinzip geworden, das machtvoll und ideologisch bis in die Adenauerzeit hineinwirkte und erst in den 60er Jahren unseres Jahrhunderts aus den Lehrplänen der Volksschulen entfernt wurde (vgl. Glöckel 1964)? Sind nicht Generationen von Schulkindern im Religionsunterricht zu Demut und Pflichterfüllung angehalten, im Deutsch- und Geschichtsunterricht mit Hohenzol-lernlegenden traktiert worden? Hat es eine faschistische Schule nie gegeben?
Es liegt uns fern, solche Fragen nicht ernstzunehmen und die wirklichen Verhältnisse, die wirkliche Entwicklung von oben her glätten und beschönigen zu wollen. Wenn der Anschein entstünde, die Entwicklung der bürgerlichen Schule sei bruchlos als fortschrittliche verlaufen und ebenso durchgehend wie konsequent von den Grundsätzen der Demokratisierung (Entprivilegisierung/Universalisierung/Egalisierung), der Wissenschaftsorientierung (als Korrektur des Alltagsbewußtseins) und der Entideologisierung gesteuert gewesen, - dann wäre die ideologiekritische Funktionsbestimmung der Schule, die wir hier zu skizzieren versuchen, kaum mehr als ein unwissenschaftlich-unhistorisches, seinerseits ideologisches Konstrukt. Bewußt ist uns auch, daß die kritischen Gegenfragen, mit denen wir diesen Abschnitt eingeleitet haben, um weitere Fragen - und darunter hochaktuelle - ergänzt werden könnten: Trägt die Schule, wie sie wirklich ist, nicht eher zur Bekräftigung als zum Abbau problematischen Alltagsbewußtseins und ideologischer Praxis bei? Sind die Kompetenzerweiterungen, die nach unserer Auffassung durch Schule bewirkt werden, nicht äußerst ungleich auf vier Schularten verteilt? Sind die Unterschiede zwischen dem Anspruchsniveau eines Hauptschulabschlusses und dem des Abiturs nicht wohlkalkuliert? Werden sie nicht geradezu systematisch hergestellt und festgehalten? Haben sich Wissenschaftsorientierung und Entideologisierung tatsächlich und definitiv durchgesetzt? Ist Wissenschaft nicht oft selbst von Ideologie bestimmt? Befinden wir uns nicht gerade eben inmitten einer Tendenzwende? Werden nicht inzwischen die mühsam eingeleiteten Wissenschaftsorientierungen von beinahe allen Seiten her angefeindet? Tönt uns nicht aus beinahe allen Ecken von Teilen der Alternativschulbewegung bis hin zum Bayernkurier die Warnung vor der Verkopfung und Intellektualisierung der Schule entgegen? Sind nicht alle diese Warnungen durch den Ruf nach Wertorientierungen und durch die Parole »Mut zur Erziehung« (trotz unterschiedlicher Auffassungen darüber, was jene Orientierungen und dieser Mut jeweils inhaltlich bedeuten) miteinander verbunden? Und belegen nicht alle diese Fragen, daß Althusser durchaus Recht hat, wenn er die heutige Schule den dominierenden ideologischen Staatsapparat nennt?
Das Paket all dieser (und vieler anderer, ebenfalls hier einbringbarer) Fragen gleicht dem gordischen Knoten. Wir wollen und können ihn nicht, wie seinerzeit Alexander, mit einem einzigen Schlag auflösen, wohl aber uns an Lösungsmöglichkeiten herantasten und andere Wissenschaftler um Kritik und Hilfe bitten. Vielleicht liegt nicht der, aber doch ein Schlüssel zur Klärung des Problems in der zu überprüfenden Frage, ob nicht möglicherweise Schule primär durch das, was sie vorenthält, ideologisch wirkt - und nicht so sehr durch das, was sie an Kenntnissen und Fähigkeiten - wie unzulänglich auch immer - positiv vermittelt. Eine solche Vermutung bedeutet nicht, daß es im positiv Vermittelten keinerlei ideologische Gehalte gäbe. Nicht umsonst sind in den beiden letzten Jahrzehnten Lehrpläne und Schulbücher nicht nur aus der Periode des deutschen Faschismus, sondern auch aus der BRD, der Weimarer Republik und der Wilheminischen Ära einer dezi-dierten, in vielen Fällen ideologiekritisch gerichteten Kritik unterzogen worden. Allen vertraut ist-auch der Unterschied, der häufig gemacht wird zwischen ideologieträchtigen Schulfächern einerseits (insbesondere Deutsch und Geschichte), ideologieferneren Fächern andererseits (insbesondere Mathematik und Naturwissenschaften) - eine Unterscheidung, die seinerzeit Marx mit dazu veranlaßte, sich Mathematik und Naturwissenschaften als die einzig wünschbaren Hauptfächer der bürgerlichen Schule vorzustellen (Marx 1976 (1869), 174). Hinzu kommt der heimliche Lehrplan und außerdem das, was die Sozialisa-tionsforschung immer deutlicher herausgearbeitet hat: der massive Block des von Schülern und Lehrern jeweils mitgeschleppten Alltagsbewußtseins und -Verhaltens. Er enthält nicht nur, aber auch die unterschiedlichsten ideologischen Elemente und wirkt sich in vielen Fällen blockierend auf die Lehrfähigkeit der Lehrer und auf die Lernfähigkeit der Schüler aus. Aber das sind bereits Wirkungen, die nicht so sehr gezielt und systematisch aus der Schule als solcher hervorgehen als vielmehr von ihren Rändern her oder von jenseits der Schule in sie eindringen. Man wird daher, bezogen auf Schule, unmittelbare und mittelbare ideologische Effekte unterscheiden müssen. Zu jenen zählen die ideologischen Gehalte des offiziellen Unterrichts (vgl. Lehrpläne und -bücher) und Elemente des offiziellen Verständnisses von Erziehung, zu diesen die »Nebenwirkungen«, von denen Spranger vor Jahrzehnten - im Unterschied zu vielen Entlarvern des heimlichen Lehrplans - noch meinte, es handele sich um »unbeabsichtigte«.
So wichtig es ist, sich der hier nicht untersuchten, sondern bloß aufgezählten ideologischen Wirkungen von Schule bewußt zu sein, so wichtig ist es zugleich, sich vor der verbreiteten Überschätzung dieser Wirkungen zu hüten. Mit Recht hat schon Diesterweg den Verfechtern der restaurativen Schulpolitik nach 1854 entgegengehalten, daß die von oben forcierte Rückkehr zur christlichen Gesinnungsschule die erhoffte Wirkung verfehlen und eher Gottlosigkeit als Frömmigkeit produzieren werde. Haben sich 50 Jahre später die Arbeiterkinder des Wilhelminischen Deutschlands von der »ideologischen Praxis« der für sie bestimmten Schulen beindrucken lassen? Sind sie als disziplinierte Treudeutsche, als unterwerfungsfreudige Kaiseranhänger, als aggressive Nationalisten aus diesen Schulen hinausgegangen? Nein. Als Erwachsene haben sie vielmehr - trotz der jährlichen Sedanfeiern, trotz des national orientierten Geschichtsunterrichts, trotz des zu Demut und Pflichterfüllung anhaltenden Religionsunterrichts - in stets wachsendem Maße Sozialdemokraten in den Reichstag gewählt und mithin genau das Gegenteil von dem getan, was die Schule politischideologisch bei ihnen zu erreichen versucht hatte. Daß die ideologischen Wirkungen dessen, was in der Schule, sei es auf der Ebene des offiziellen, sei es auf der des heimlichen Lehrplans, positiv geschieht und vermittelt wird, vergleichsweise gering sind, wußten auch die in dieser Hinsicht äußerst realistischen Nationalsozialisten: Sie vertrauten die von ihnen systematisch geforderte und geförderte Ideologisie-rung der Jugend nicht primär der Schule, sondern den Jugendorganisationen, den sorgfältig inszenierten Schaustellungen des Machtapparats und der propagandistischen Wirkung der Massenmedien an (vgl. AS 60). Ihr ideologiepraktischer Realismus verließ sich mit Recht darauf, daß die an den humanistischen Gymnasien ungebrochen fortgesetzte Goethe- und Schiller-, Piaton- und Sophokleslektüre gegen die außerschulische ideologische Praxis nicht aufkommen würde.
Daß die Schule trotz dieser bekannten, hier an wenigen Beispielen vorgeführten historischen Erfahrungen zu dem heute dominierenden ideologischen Staatsapparat ernannt worden ist, verlangt umso mehr nach einer Erklärung. Wir schlagen vor, sie auch auf der Ebene einer materialistisch orientierten Soziologie und Sozialpsychologie zu suchen: Die Überschätzung der ideologischen Wirkungen der Schule stammt in der Regel von Intellektuellen, die mit der gesellschaftlichen Praxis und deren Schalthebeln - sei es an der Basis, sei es oben - nur vermittelt verbunden und insofern weithin davon abgeschnitten sind. Ihre eigene Bedeutung und Macht entfalten sie fast ausschließlich im gesprochenen (Diskussionen) und im geschriebenen Wort (Texte), - mithin in eben dem Medium, das auch für Schule mit konstitutiv ist. Und da sie sich selbst für wichtig halten, halten sie auch die ideologische Praxis der Schule für wichtig und überschätzen deren Bedeutung und Wirkung, ohne sich auf die historische oder empirische Überprüfung dieser Überschätzung je einzulassen. Für den apodiktisch urteilenden Althusser (vgl. oben) hat sich denn auch niemals die doch so naheliegende Frage gestellt, ob und unter welchen Bedingungen Schule das aus der primären Sozialisation hervorgegangene und mitgebrachte Alltagsbewußtsein mitsamt seinen ideologischen Elementen zu reduzieren oder zu potenzieren in der Lage ist. Die von uns angeführten Beispiele scheinen jedenfalls zu der vorläufigen Annahme zu berechtigen, daß sich die Schule durch das, was sie macht, ideologisch verstärkend allenfalls dann auswirkt, wenn verstärkbare ideologische Voraussetzungen von der primären und überhaupt von der außerschulischen Sozialisation her bereits vorhanden sind. (Als historische Belegpopulation für diese Annahme könne man sehr wahrscheinlich den konservativ-national orientierten (Groß-)Teil des deutschen Bürgertums in der Zeit von 1848 bis 1933 [und darüber hinaus] heranziehen.) Umgekehrt: Falls primäre, schulische und berufliche Sozialisation auseinanderfallen, setzt sich die schulische am wenigsten durch. In solchen Fällen gibt es, vereinfacht gesagt, gleichsam drei Kraftfelder: das des teilweise ideologischen Alltagsbewußtseins, das der in der Schule möglichen ideologischen Anlagerungen und außerdem eben jene Wissenschaftsorientierung, von der wir meinen, daß sie grundsätzlich eine Entideologisierungstendenz in sich enthalte. Daß letztere sich gegen die Doppelmacht der beiden zuerst genannten Kraftfelder auf der ganzen Linie durchsetzt, ist zwar möglich, aber zumindest dann wenig wahrscheinlich, wenn im Alltagsbewußtsein der Anteil ideologischer Elemente außerordentlich groß ist, rationales, tendenziell wissenschaftliches Denken und Verhalten hier noch fast gar keine Rolle spielt.
Unsere bisherigen Überlegungen müssen nach wie vor den Anschein erwecken, als ginge es uns darum, für den Schulbereich die Bedeutung ideologischer Praxis und ihrer Auswirkungen herunterzuspielen. Denn auf die historisch konstatierbare Abnahme ideologischer Elemente m dem, was in Schulen aktiv an Wissen vermittelt wird, haben wir bereits mehrfach hingewiesen. Unter dieser Perspektive scheint sich als historische Tendenz eine Minimierung ideologischer Praxis und Gehalte im Verlauf schulischer Entwicklung abzuzeichnen. Daß damit jedoch keineswegs die entscheidenden ideologischen Praxisformen und -Wirkungen der Schule schon in den Blick genommen sind, haben wir bereits angedeutet (vgl, S.31). Was aber bedeutet es konkret-historisch, wenn wir davon sprechen, daß in Schulen die entscheidende ideologische Praxis nicht primär in den aktiven Vermittlungs- und Erziehungsprozessen zu suchen sei, sondern primär in dem, was jeweils historisch vorenthalten woiden ist bzw. in der Praxis des Vorenthaltens selbst?
»Dem gemeinen Land- und Bauernvolk sollte man das Studieren und viel in die Schule gehen verbieten«, hatte es 1670 in einem Gutachten über das bayrische Schulwesen geheißen (vgl. Alt 1978, 147). Anderthalb Jahrhunderte später gab es zwar in den meisten deutschen Ländern die gesetzliche Schulpflicht, aber sie wurde im niederen Schulwesen in einer Weise realisiert, die der 1670 frei heraus geäußerten Absicht grundsätzlich nicht entgegentrat. Es ging angesichts des aufscheinenden historischen Zwangs, über das Erfahrungs- und Alltagswissen hinausgehende Kenntnisse vermitteln zu müssen, politisch zugleich um die Frage, welches »Minimum von Wissen den unteren Schichten der Gesellschaft ohne Schaden und Unbequemlichkeit für die höchsten gestattet werden könne.« (Raabe 1964, 33) Noch zu Ende des 19. Jahrhunderts trugen Vertreter der Arbeiterbewegung vor, was auch schon die bürgerlich-demokratischen Pädagogen insbesondere nach der 48er-Revolution den Regierenden entgegengehalten hatten: daß nämlich in den Armen, Elementar-, Gemeinde- und Volksschulen nur das »Notdürftigste« (Liebknecht 1916 (1966), 332) vermittelt werde. Ungleichheit der Bildung - das wußten die Sprecher der Arbeiterbewegung - bedeutete nicht: viel ideologische Bildung auf der einen (nämlich auf der Seite der Volksschüler) und viel wissenschaftliche Qualifizierung auf der anderen Seite (nämlich auf derjenigen der Gymnasialschüler). Ungleichheit der Bildung meinte vielmehr sehr konkret: Wenig Bildung auf der einen, viel (bzw. bedeutend mehr) auf der anderen Seite. Und so bezogen sich die Forderungen der Arbeiterbewegung in der Regel auch und vor allem auf die Erweiterung der Wissensvermittlung in quantitativer und qualitativer Hinsicht.
Um die quantitativen Benachteiligungen der Volksschüler zu sehen, braucht man nur die Länge der Ausbildung, die Stundenzahlen und die Anzahl der Lehr- und Lerngebiete an Gymnasien und an niederen Schulen miteinander zu vergleichen. Einer im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf maximal 8 Jahre anwachsenden Schulzeit der Volksschüler stand seit den preußischen Reformen - also fast seit Jahrhundertbeginn - die 12-13jährige Schulzeit der Gymnasiasten gegenüber. Während diese wöchentlich mindestens 30 Stunden lang unterrichtet wurden, waren jene nur für 16 bis 25 Stunden zum Lernen zugelassen. Massive Klagen über zu viel und zu intensives Lernen, wie sie für das Gymnasium vehement in den 30er Jahren und nicht minder laut seit der Mitte der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts vorgetragen worden sind (vgl. B. Rang 1981), hat es folglich für die Volksschule gar nicht geben können. Sie blieb auch hinsichtlich der Anzahl der Schulfächer und damit der Lernbereiche in einem kläglichen Rückstand gegenüber dem Gymnasium. Die hier angedeuteten quantitativen Unterschiede kehrten auf der Ebene des niederen Schulwesens selbst noch einmal wieder. Wir verweisen nur auf das Gefälle zwischen Landschulen und städtischen Volksschulen und außerdem darauf, daß diese so unterschiedlichen Schulen sich ihrerseits noch vorteilhaft von den Abend-und Fabrikschulen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterschieden. Hatten schon die Schüler der kaum ausgebauten und schlecht ausgestatteten Landschulen u.a. wegen der Ernteferien und des Lehrermangels niedrigere Stundenzahlen und mithin erheblich weniger Unterricht als die in 4 bis 8 Klassen eingeteilten städtischen Gemeindeschüler, so wurden jene Kinder, die Fabrikarbeit leisteten, mit kaum mehr als 1 bis 2 Schulstunden täglich (wenn überhaupt) abgespeist.
Aber das Vorenthalten ging und geht über diese Formen der quantitativ unterschiedlichen Zuweisung von Wissen hinaus. Es bestand primär - und zwar bis in die 60er Jahre unseres Jahrhunderts hinein - im Vorenthalten von wissenschaftlichem Wissen, insbesondere von naturwissenschaftlicher (aber auch sozialwissenschaftlicher) Bildung. »Die Volksschule darf aus den verschiedenen Gebieten nur das Elementare behandeln und muß sich ernstlich davor hüten, diesem Unterricht eine Ausdehnung zu geben, wie sie sich nur für höhere Schulen geziemt.« (Giebe 1884, 163; zit. nach Alt 1978, 186) Wo es zu unziemlichen Ausdehnungen dennoch kam, wurde die Überschreitung der »der Volksschule gesteckten Grenzen« (a.a.O.) von amtswegen beklagt. Die Versuche, die Praxis des Vorenthaltens wissenschaftlicher Kenntnisse zu begründen, gerieten freilich im Verlauf der Entwicklung zunehmend in Schwierigkeiten. Im 20. Jahrhundert treten die vorher noch offen ausgesprochenen sozialen und politischen Argumente zurück. Sie werden ersetzt durch pädagogische, psychologische und anthropologische Rechtfertigungsbemühungen. Exemplarisch dafür ist, daß der Reformpädagoge Kerschensteiner mit Blick auf die Volksschulen von der »gennge(n) Reife ihres Schülermaterials« sprach (Kerschensteiner 1899, 5) und daß man noch in den Volksschullehrplänen der Adenauerära auf die mangelnde Abstraktionsfähigkeit der Schüler verwies.
Welche wissenschaftlichen Kenntnisse aber wurden insbesondere vorenthalten? Es sind vor allem die naturwissenschaftlich-mathematischen Kenntnisse gewesen, die in die Volksschule zunächst keinen, dann nur rudimentären Eingang fanden - und zwar als man sie in der Form der volkstümlichen Kunde aufzunehmen begann. Dieser Prozeß war jedoch kein geradliniger. Es hat phasenweise erkämpfte Zugeständnisse und dann auch wieder Zurücknahmen gegeben. Das gilt nicht nur für das 19. Jahrhundert, sondern auch für bestimmte Phasen der jüngsten Entwicklung. In den ersten Jahren nach 1945 hat es z.B. durchaus anspruchsvolle Lehrpläne auch für den naturwissenschaftlichen Bereich der Volksschule gegeben, aber schon in den 50er Jahren erfolgten die Zurücknahmen. Volksschüler sollten nun allenfalls punktuelle, jenseits der Wissenschaften und ihrer Systematiken angesiedelte Kenntnisse erwerben. In Berlin reduzierte man den Chemieunterricht im Sinne der bornierten Seite des reformpädagogischen Prinzips der Lebensnähe auf alltagspraktische Fragen: »Wie entferne ich einen Tintenfleck?« »Salzsäure ist gefährlich.« (Vgl. Trübe 1979) Gemessen an dem, was hundert Jahre zuvor die Volksschulen vermittelt hatten, läßt sich selbst dies noch als Entwicklungsschritt begreifen; gemessen jedoch am Stand der wissenschaftlichen Entwicklung und deren Entfaltung als Produktivkraft wurden die Schüler nicht minder Ignorant belassen. Die Praxis des Vorenthaltens betraf also primär die Zugangsmöglichkeiten zu jenem Wissen, das ein aktives Sichauseinandersetzen mit den (und ein beherrschendes Nutzen der) entwickeltsten Produktivkräfte(n) erlaubt haben würde. Den für die Prozesse der Selbstvergesellschaftung erforderlichen sachlichen Kompetenzen war damit für einen großen Teil der Bevölkerung der Boden entzogen. Die Rolle, die der Staat in diesem Prozeß des Vorenthaltens übernahm, läßt sich nicht ohne Schwierigkeiten beschreiben; jedenfalls nicht in dem Sinne, daß dort, wo die Praxis des Vorenthaltens am stärksten sich auswirkte, auch der Staat am direktesten präsent gewesen wäre.
Die staatliche Organisation des Schulwesens verlief historisch von oben nach unten, von den höheren zu den niederen Schulen. Während das gymnasiale Schulwesen in Preußen seit dem Ende der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts zunehmend und in relativ raschen Schritten staatlich reorganisiert wurde, - und zwar von der Schulstruktur über die Lehrpläne, Lehrbücher, Stundentafeln, Prüfungsordnungen bis zur Organisation der Professionalisierung der Lehrer im Sinne eines qualifizierten, nicht klerikalen Lehrerstandes, blieben die Schulen des Volkes
der Organisierung von unten überlassen. Die Armseligkeit der Gemeinden, die Schulunlust der ärmsten Bevölkerungsschichten, die Finan-zierungsunwilligkeit des lokalen Adels ließen zwar einerseits Spielräume für schulpolitische Initiativen einzelner Gruppen offen, andererseits aber blieb als vereinendes Band dieser Zufälligkeiten entwicklungsbe-hindernder Mangel das Durchschlagende (Roeder 1966, vgl. insbes. S.547ff).
So verwundert es denn auch nicht, daß in der Revolution von 1848 die Forderung nach der Staatlichkeit des niederen Schulwesens eine prominente Rolle spielte. Die Forderung nach der Schule als Staatsanstalt als einer materiell gesicherten Institution verband sich dabei insbesondere mit der Vorstellung, hierdurch zugleich die Trennung von Kirche und Schule zu erreichen: »§1. Die Schule ist Staatsanstalt und wird als solche von der Kirche getrennt.« (Beschlüsse des Arbeiterkongresses ». 1948, S.245; vgl. auch Programme ». 1948/49 [1971]). Der Staat - wobei sicherlich zunächst einmal der jeweils konkrete (und nicht ein überhistorisch abstrakter) zu beschreiben wäre - hat, soviel läßt sich für den Gesamtentwicklungsprozeß der Herausbildung und frühen Etablierung des niederen Schulwesens sagen, seine Vergesellschaftungskompetenz eher punktuell wahrgenommen. Dort, wo er in naturwüchsige spätfeudale oder frühkapitalistische Verhältnisse eingriff, hatte dies in der Regel vorwärtsweisenden Charakter. In seinen Briefen aus dem Wuppertal von 1839 berichtet in diesem Sinne Friedrich Engels: »Die Schulen (gemeint sind die staatlichen Elementarschulen; d.V.) sind in einem starken Fortschreiten begriffen und haben seit dem Eintritte des preußischen Gouvernements die kirchlichen, hinter denen sie damals sehr zurückstanden, weit überholt. Die kirchlichen Schulen werden aber viel stärker besucht, da sie weit weniger Kosten machen und viele Eltern ihre Kinder teils aus Anhänglichkeit, teils weil sie in dem Fortsc ireiten der Kinder ein Überhandnehmen des weltlichen Sinnes sehen, immer noch dahin schicken.« (Engels 1971 [1839], S.53I.).
Daß die Verweltlichung des niederen Schulwesens vom Staat nicht konsequent verfolgt worden ist, sondern, wie die nach der 48er Revolution erlassenen Regulative zeigen, zeitweise gezielt vernachlässigt wurde, läßt die Widersprüchlichkeit staatlichen Einwirkens auf Schule an einem Entwicklungsmoment sichtbar werden. Weil insbesondere ein über die nationalen Grenzen hinaus angestellter Vergleich der Rolle des Staates bei der Durchsetzung eines allgemeinbildenden Schulwesens beträchtliche Unterschiede erkennen läßt und mitnichten die Konsequenzen staatlicher Organisationstätigkeit in einem einheitlichen Sinne zu beschreiben sind (wie aber auch die Organisation der Schulen durch Gemeinden oder private Trägergruppen nicht kontrapunktisch zu dieser staatlichen Orqanisationstätigkeit verlauft), halten wir es ohne entsprechende Forschungsprozesse füi verfrüht, hier eindeutige Antworten zu geben. Wie die Verschränkung von zivilisierenden und bor-nierenden Absichten, wie die Integration von Forderungen, sei es der Arbeiterklasse, sei es des Bürgertums jeweils von staatlichen Instanzen zu leisten versucht wurde und zugleich in welchem Umfang eigendynamische Prozesse und alltägliche Schulpraxis sich mit diesen Vorgängen verschränkten, läßt sich im Rahmen dieses Aufsatzes nicht zureichend klarstellen. Unser Versuch, ideologische Praxis in Schulen zu identifizieren, hat mithin vorläufigen und, wie wir eingangs sagten, vor allem auch diskussionsbedürftigen Charakter. Wir verfolgen in diesem Sinne die Tendenzen, die uns im deutlichsten hervorzutreten scheinen. Unter diesem Gesichtspunkt ist uns die Frage nach den durch Schule vermittelten Produktivkraftkompetenzen, dem Grad ihrer jeweiligen Verallgemeinerung eine entscheidende, wenn nicht die zentrale Frage für die Klärung des Beitrags der Schule zur Selbstvergesellschaftung der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft. Kehren wir unter diesem Aspekt zur Praxis des Vorenthaltens zurück.
Die im niederen Schulwesen durch Vorenthaltungen hergestellte Ignoranz betraf nicht nur die Schüler. Auch deren Lehrer beließ man weitgehend im Vorwissenschaftlichen. Grundlage ihrer beruflichen Qualifikation war der Volksschulabschluß, auf ihn folgte - allgemein durchgesetzt erst seit dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts - der jeweils dreijährige Besuch einer Präparandenanstalt und eines Lehrerseminars. Die auf beiden Ausbildungsstufen vorgenommene Beschränkung der Kenntnisse war orientiert an den auf das Elementare begrenzten Aufgaben der Volksschule. Beiden, den Seminaristen und den Volksschülern, wurde in den naturkundlichen Lernbereichen nichts Falsches beigebracht, aber was sie lernten, war elementar im Sinne des Beschränktseins. Das ihnen Vorenthaltene wurde freilich, weil man es letztlich doch brauchte, auserlesenen anderen zugebilligt: auf dem Stundenplan der Gymnasiasten standen nicht Naturkunde usw., sondern Biologie, Physik, Chemie und Mathematik - und zwar in wissenschaftlichem, zumindest aber wissenschaftspropädeutischem Sinne, d.h. mit deutlichem Bezug auf die nachfolgende Stufe universitärer Ausbildung. Dem entsprach der Studienplan der Gymnasiallehrer: Sie hatten nicht die Volksschule, sondern das Gymnasium durchlaufen, studierten nach dem Abitur drei oder mehr wissenschaftliche Fächer auf dem historisch jeweils erreichten Erkenntnis- und Anspruchsniveau der an den Universitäten gelehrten Wissenschaften und traten anschließend in die Gymnasien als Fachlehrer ein, d.h. sie übten ihre Lehr- und Vermittlungstätigkeit wenn nicht als pädagogisch, so doch als wissenschaftlich qualifizierte Spezialisten aus. Die Volksschullehrer hingegen, im Zustand der Halbbildung belassen, arbeiteten als unwissenschaftliche Universalisten: sie waren in der Regel nicht nur in den ein- oder zweiklassigen Landschulen, sondern auch in den ausgebauteren Volksschulen der Städte für den gesamten Fächerkanon zuständig. Wo ihr eigener Anspruch ein höherer war, blieben sie auf autodidaktische Bemühungen und auf die Weiterbildungsinitiativen ihrer Organisationen und Verbände angewiesen (Fischer 1892).
Die Gegenüberstellung von Spezialisten (Gymnasiallehrer) und Universalisten (Volksschullehrer) hat mit den Problemen ideologischer Praxis nicht nur deshalb zu tun, weil es hier um den Gegensatz von Wissenschaft (als einer tendenziell enrideologisierenden Wirkungsmacht) und ideologieanfälliger, vom Alltagsbewußtsein kaum schon unterschiedener Halbbildung geht. Die Stichworte Spezialisierung und Universalisierung verweisen zugleich auf eine andere Dimension ideologischer Praxis und Wirkung: nämlich auf die Frage, ob nicht ideologische Praxis auch darin besteht, daß im gesamten Biidungssystem - wenn auch in unterschiedlichem Grade - solche Einsichten und Erkenntnisse vorenthalten werden, die sich auf das Ganze der gesellschaftlichen Praxis und des in ihr in Auseinandersetzungen entwickelten gesellschaftlichen Wissens beziehen. Das Wissen vom komplexen Zusammenhang dieses Ganzen wird nicht etwa in falscher oder verfälschender Weise vermittelt; es wird vielmehr von denen, die es erwerben müßten, ferngehalten, bleibt auf allen Ebenen des Ausbildungssystems ausgespart. Diese Aussparung bzw. Vorenthaltung aber läßt sich mit Kategorien wie ideelle Vergesellschaftung von oben, Kompetenz/Inkompetenzstrukturen, Auslagerung bestimmter Kompetenzen usw. nur unzulänglich erfassen. Weder der Staatsapparat noch die staatlich eingesetzten Studienreformkommissionen noch die für die Entwicklung neuer Rahmenrichtlinien und -plane zuständig gemachten Gremien haben das Wissen vom Ganzen und seinen komplexen Zusammenhängen als monopolisiertes und geheimgehaltenes Wissen gleichsam in der Tasche. Und selbst daran wird man zweifeln dürfen, ob sich wenigstens die Mehrzahl der Wissenschaftler im Besitze dieses Wissens befindet oder danach strebt. Der gegenwärtige Zustand ist insofern ein beinahe paradoxer: Das Bewußtsein davon, daß kritische Wissenschaft und Bildung über die historisch erforderliche Arbeitsteilung hinaus auf die Zusammenhänge des Ganzen gerichtet sein müßten, ist vorhanden, - aber das Wissen davon, worin diese Zusammenhänge bestehen, ist in der Regel nur bruchstückhaft entwickelt und außerdem bei den relativ wenigen, die noch über Theorien mittlerer Reichweite hinauszudenken wagen, umstritten.
Immerhin gibt es Ansätze dazu, wissenschaftliches Bewußtsein über die erreichte Stufe der durch extreme Arbeitsteilung gekennzeichneten Entwicklung hinauszutreiben und den Blick erneut auf Entwicklungszusammenhänge und insofern auf das Ganze zu richten. Darin kommt nicht nur jenes gesellschaftlich vermittelte subjektive »Bedürfnis« zum Ausdruck, von dem Aitmatow sprach, als er meinte, daß die Menschen »die Welt » als Ganzes und nicht nur in ihren Teilen zu sehen« wünschten und daß sie sich eben deshalb nicht der spezialisierten Wissenschaft, sondern der Literatur zuwendeten (vgl. AS 40, 82). Darin zeigt sich vielmehr auch, daß die in der sozialen Realität entstandenen Zusammenhänge und Wechselwirkungen zu einem Ganzen zu werden beginnen, dessen Totalität uns zunehmend nötigt, von ihr auch zu wissen, d.h. Bewußtsein als bewußtes Sein zu entwickeln und uns nicht länger mehr den Dosierungen, Zerstückelungen und Vorenthaltungen des Wissens zu fügen. Diese Möglichkeit ist insofern keine abstrakt geforderte, sondern sie hat eine reale Basis in unseren Lebensverhältnissen selber. Kritische Wissenschaft und Schule, d.h. Wissenschaftler, Studierende, Lehrer und Schüler, kommen diesem möglich Gewordenen - trotz vieler Widerstände, Widersprüche und Widerwärtigkeiten - bereits heute überall dort entgegen, wo sie, diese Tendenzen aufnehmend, bewußt die Anstrengung auf sich nehmen, die durch Arbeitsteilung entstandene Spezialisierung zwar nicht rückgängig zu machen, aber aufzubrechen: und zwar durch arbeitsteilige Kooperation in der Absicht, die Fragmentierung des gesellschaftlich vorhandenen Wissens aufzuheben und aus bloßen Bruchstücken ein Ganzes zu machen, das sich die individuellen gesellschaftlichen Subjekte der jeweils neu heranwachsenden Generation in unterschiedlichen Schul-und Studienfächern dennoch als Ganzes anzueignen vermögen.
Sich das Ganze - und zwar in seiner Widersprüchlickeit und Konflikthaftigkeit - aneignen zu können, um ein Alltagsbewußtsein korrigierendes Weltkonzept (Gramsci) zu entwickeln, - das verlangt freilich auch, daß nicht nur die Fragmentierung des gesellschaftlich erreichten Wissens, sondern auch die mit seiner schulischen Vermittlung einhergehende Enthistorisierung des Wissens thematisiert, kritisiert und - so weit wie möglich - korrigiert wird. In beidem, der Fragmentierung und der Enthistorisierung, ist die ideologische Praxis des Vor-enthaltens wirksam. Die in unserer Gesellschaft u.a. auch von der Schule vorgenommene Enthistorisierung des über viele Stufen menschlicher Entwicklung erworbenen und erkämpften Wissens betrifft keineswegs nur den Geschichtsunterricht. Es handelt sich vielmehr um einen Vorgang, der ausnahmslos alle Wissensinhalte höherer und niederer Schulen tangiert. Kenntnisse zu erwerben über die Entstehung bestimmten menschlichen Wissens (z.B. des mathematischen, des physikalischen, des chemischen, des philosophischen, des technischen, des historischen Wisens), über seine jeweiligen Voraussetzungen, das es Vorantreibende, das es Verändernde, aber auch über die mit diesen Prozessen sich entwickelnde Struktur und Begrifflichkeit des jeweiligen Wissensbereiches, - das bedeutet, sich bewußt an die Rekonstruktion der Geschichte gesellschaftlicher Praxisfelder zu machen. Denn mit einer solchen Rekonstruktion wird zugleich die Anwendung des Wissens, seine Einbindung in die Klassenverhältnisse, seine Bedeutung als gesellschaftliche Produktivkraft zum Gegenstand gemacht.
Der Zusammenhang des Ganzen als das, wovon zu wissen für die Entwicklung eines in sich stimmigen Weltkonzepts entscheidend ist, hat also mehrere Dimensionen: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Er läßt sich als ganzer nur dann erfassen, wenn er zugleich genetisch als Entstehungszusammenhang, funktional als Verwendungszusammenhang und perspektivisch als Tendenz- bzw. Entwicklungszusammenhang nach vorn bestimmt und gewußt wird. Das gilt für die einzelnen Schul- und Studienfächer (in denen heute, trotz Wagenschein [1976] und Pukies [1979], genetisches Lernen, d.h. die exemplarische historische Rekonstruktion der Entwicklungsprozesse, die zum gegenwärtigen Wissens- und Erkenntnisstand geführt haben und zugleich darüber hinausdrängen, kaum eine Rolle spielt) ebenso wie für die individuellen und gesellschaftlichen Lebensperspektiven der Menschen. Die Perspektiven, die Auernheimer in diesem Band an die Stelle der Werte oder Wertorientierungen zu setzen empfiehlt, können allenfalls dann wirksam in die Zukunft weisen, wenn sie durch ein entfaltetes historisches Bewußtsein vermittelt sind. Dieses Bewußtsein ginge über die hier thematisierten, vorwiegend kognitiven Dimensionen weit hinaus. Es schlösse ein Verhalten zur Vergangenheit ein, das als neue Qualität eines sozialistischen Traditions- und Erbeverständisses auch etwas von jener historischen Solidarität enthielte, die wir denen, die vor uns gelebt und für die Vermenschlichung der Verhältnisse gearbeitet, gekämpft und gelitten haben, auch und gerade dann schuldig sind, wenn es sich für uns um Namenlose handelt. Vielleicht nicht schon von dieser Solidarität, wohl aber von dem substantiellen Zusammenhang des Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen haben bereits vor beinahe 200 Jahren der deutsche Idealismus und der mit ihm eng verbundene Neuhumanismus gewußt. Das damals entwickelte humanistische Bildungskonzept enthielt in dialektischer Verknüpfung sowohl die Dimension historischen Bewußtseins als auch den geschichtsphilosophisch begründeten politisch-pädagogischen Impuls entschiedener Zukunftsorientierung (vgl. Heydorn, 1973).
An dieses von großen Teilen des Bürgertums im Verlauf der Entwicklung verdrängte humanistische Bildungskonzept (vgl. dazu die Schriften Heydorns und in diesem Band den Aufsatz Koneffkes) haben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Sprecher der Arbeiterbewegung angeknüpft. Ihre Kritik galt weniger dem, was positiv in den Schulen vermittelt wurde, als vielmehr dem, was ausgespart blieb - mithin der ideologischen Praxis der Vorenthaltungen Daß diese Praxis heute nicht mehr darin besteht, dem größten Teil der Bevölkerung die Vermittlung produktions- und kulturbezogener Kompetenzen beinahe völlig zu verweigern, sondern darin, das erforderlich gewordene Wissen zu fragmentieren und aus seinem historisch-gesellschaftlichen Zusammenhang herauszulösen, - diese Entwicklung haben Marx und Engels allenfalls antizipieren, nicht schon konkret beobachten und analysieren können. Eine gegenwarts- und zukunftsbezogene materialistische Geschichte der Erziehung wird sich daher aus eigener Anstrengung mit der Analyse dieses Prozesses beschäftigen und dessen spezifische Dialektik aufzeigen müssen. Das geschieht hier nur ansatzweise und nicht einmal mit dem Anspruch, das auf den Zusammenhang von Schule und Ideologie eingegrenzte Problemfeld nach allen Seiten hin zu durchmessen.
Es scheint uns am Ende dieses Aufsatzes wichtig, die - sei es hergestellte, sei es sich herstellende - Inkompetenz fürs Ganze nicht von jener anderen Tendenz zu isolieren, die durch in der Schule vermittelte beträchtliche Kompetenzerweiterungen bestimmt ist und auf die wir bereits verwiesen haben (vgl. Abschnitt 3). Daß hier gerade in den letzten anderthalb Jahrzehnten ein außerordentlicher Fortschritt stattgefunden hat (m.a.W.: daß nicht nur mehr Wissen vermittelt wird, sondern daß es auch mehr Wissende gibt), - das kann nur der zurückweisen, der außeracht läßt, daß sich noch zu Beginn dieses Jahrhunderts die Zahl der Arbeiterkinder an Universitäten nur absolut, nicht prozentual benennen ließ; daß damals der Anteil der 13jährigen Gymnasiasten an ihrem Altersjahrgang knapp über 3% lag; daß Gymnasien und Universitäten für Mädchen noch geschlossen waren; daß 90% aller Kinder nur die Volksschule besuchten und daß sich der Volksschulunterricht »auf die notwendigsten und unentbehrlichsten Kenntnisse und Fähigkeiten beschränken« sollte (Hollack und Tromnau 1899, 493). Im Unterschied dazu zeigen die gegenwärtigen Entwicklungen u.a.

  • die außerordentliche Vergrößerung des Anteils derer, die weiterführende Schulen besuchen;
  • die Reduktion der Haupt- in eine Restschule (im schlimmen und zugleich positiven Sinne);
  • die materielle Verbesserung der Lehr- und Lernbedingungen (trotz aller verbliebenen Beschränkungen);
  • die Ausbildung aller Lehrer an Universitäten und wissenschaftlichen Hochschulen.

Diese Entwicklungen verweisen darauf, daß angesichts grundlegend sich verändernder Produktivkraftentwicklungen (sowohl auf der Seite der menschlichen Arbeitskraft als auch auf der Seite der Maschinen) und angesichts komplizierter werdender gesellschaftlicher Orga-nisations- und Legitmationsprobleme die traditionellen Formen der Praxis Vorenthaltens auf Grenzen stießen und stoßen. Das in der Schule vermittelte wissenschaftsorientierte Wissen mußte und muß auf viele ausgedehnt und zugleich in seinem Umfang erweitert werden. Jene bereits von den Neuhumanisten erhobene Forderung, in der Schule das Lernen des Lernens (Humboldt) zu vermitteln, wird deshalb heute zu einer nicht länger aufschiebbaren Notwendigkeit. Damit aber scheint tendenziell die Möglichkeit auf, daß Wissensvermittlung klassenspezifische Grenzen zu durchbrechen beginnt, Wissen von allen angewendet und zur selbstbewußten Beherrschung gesellschaftlicher Praxis genutzt werden kann. Insofern ist historisch ein Stadium erreicht, in welchem Voraussetzungen und Bedingungen der Selbstvergesellschaftung in neuer Weise auch durch Schule mit hergestellt werden können.
Eben diese Möglichkeit bleibt jedoch in einer entscheidenden Dimension durch die Praxis des Vorenthaltens auch weiterhin blockiert. Zwar geht es nicht länger mehr vorrangig darum, große Teile der Bevölkerung vom Erwerb wichtiger produktions- und kulturbezogener Kompetenzen einfach abzuschneiden; aber man hält an der Partialisie-rung (Fragmentierung) und Enthistorisierung des Wissens fest. Weder über die Lehrpläne noch über die Lehrerqualifikationen wird ermöglicht, daß in differenzierter Weise je das Ganze zum Gegenstand des Lernens und Wissens werden könnte. Ausgespart bleibt die historischkritisch rekonstruierbare Entstehung der einzelnen Wissensbereiche, deren in der Regel konflikthaft stattfindende aktuelle Umsetzung und Verwendung und deren Zukunftsbedeutung. Daß der Charakter des erworbenen Wissens davon nicht unberührt bleibt, Ideologisches sich auch und gerade dem zerstückelten Wissen anlagern kann, - darauf haben wir mehrfach hingewiesen. Während jedoch diese Anlagerungen auf Anhieb erkennbar sind und auch die ideologischen Auswirkungen des heimlichen Lehrplans inzwischen nur noch für Blinde unsichtbar bleiben, hat man es mit der Aufdeckung des eigentlichen Kerns gegenwärtiger ideologischer Praxis sehr viel schwerer. Von der Struktur der in der heutigen Schule weitergegebenen naturwissenschaftlichen und mathematischen Kenntnisse läßt sich nicht mehr ohne weiteres auf das jeweils Ausgesparte/Vorenthaltene zurückschließen. Weder liegen die historischen Ursprünge und Entwicklungsstadien dieser Wissensbereiche in deren gegenwärtigen Problemstellungen, Theorien und Resultaten offen zutage, noch verlangen die modernen Formen und Inhalte des Wissens von sich aus zwingend nach der genauen Diskussion ihrer Genesis und ihrer aktuellen und zukünftigen gesellschaftlichen Verwendung. Auch der Umstand, daß die ideologische Praxis der den Blick aufs Ganze aussparenden Vorenthaltungen nicht mehr durchgängig für den gesamten Fächerkanon gilt, ja daß teil- und zeitweise, bedingt durch Konflikte und die Dringlichkeit bestimmter gesellschaftlicher Problemlösungszwänge, zumindest etwas von dem Vorenthaltenen - sei es über Schüler, Lehrer oder neue Lehrpläne - in Schulen einzudringen vermag (z.B. die Ökologiediskussion), - auch diese Entwicklung vermag die gegenwärtig vorherrschende, sich der konsequenten Sichtbarmachung von Zusammenhängen verweigernde Organisation der Wissensvermittlung nicht schon zu sprengen. Umso näher liegt es angesichts dieser Desorientierungen, welche die Gesamtsituation durchaus perspektivlos erscheinen lassen, der Ratlosigkeit vieler Lehrer und der Verunsicherung und Lustlosigkeit vieler Schüler als Rettungsanker den Mut zur Erziehung hinzuwerfen und die durch das ausgeklammerte Wissen vom Ganzen und seinen Zusammenhängen entstandenen Lücken durch Werte bzw. Wertorientierungen füllen zu wollen.
Das Bildungs- und Ausbildungssystem scheint insofern auf der in diesem Aufsatz allein thematisierten Ebene der Wissensvermittlung (kognitive, aber zugleich handlungsrelevante Dimension) in einem kaum auflösbaren Widerspruch befangen. Einerseits gab und gibt es die langfristige historische Tendenz, die Aneignung von Wissen zu verallgemeinern (Entprivilegisierung/Universalisierung/Demokratisierung) und zugleich mit der Erweiterung des Wissens die Zahl der Wissenden zu vergrößern (Wissensexpansion/Kompetenzerweiterungen). Andererseits gibt es jene ideologische Praxis des Vorenthaltens, die wir in diesem Abschnitt zu charakterisieren versuchten. Sie besteht immer noch auch darin, die für die Subjekte und für die Gesellschaft erforderlichen Kenntnisse nach Schularten zu dosieren; folgenreicher sowohl für die gesellschaftliche Praxis als auch für die Lebensperspektiven der gesellschaftlichen Subjekte ist jedoch jene Seite der bei uns in allen Schularten und Ausbildungstätten durchschlagenden Ideologie, die wir als Fragmentierung und Enthistorisierung des Wissens und damit als die Praxis der Vorenthaltung des Wissens vom Ganzen und seinem Zusammenhang zu bestimmen versucht haben. Wesentliche Kompetenz-erweiterungen gehen insofern mit einschneidenden Kompetenzöe-schränkungen einher. Eben darin besteht einer der fundamentalen Widersprüche, in welchen sich die Schule heute befindet. Es ist, als gäbe sie mit der einen, als nähme sie mit der anderen Hand.
Geschieht beides unabhängig voneinander? Wohl kaum. Die schwierige, nur durch bewußtes und aktives Zutun erreichbare Auflösung des Widerspruchs wird objektiv erleichtert dadurch, daß es zwischen Kompetenzerweiterung und Kompetenzbeschränkung Zusammenhänge gibt. Das Bedürfnis, über unsere gesellschaftliche Lebenspraxis mehr zu erfahren als das, was spezialisierte und fragmentierte Einzelkenntnisse dazu beizutragen vermögen, - dieses auf den Zusammenhang des Ganzen gerichtete Bedürfnis ist gleichwohl auf spezialisiertes Detailwissen angewiesen. Historisch geht dieses jenem voraus, bildet dessen Basis und Ausgangspunkt. Auch die Vorstellung, daß es so etwas wie Ideologie und ideologische Praxis gebe, ist ein geschichtlich spätes Resultat, wird als eine Form kritischen Denkens überhaupt erst mit der bürgerlichen Entwicklung möglich. Hinzu kommt, daß zwar die eine Art des Wissens eine andere Wissensart zur Voraussetzung haben kann, daß jedoch Wissen - welcher Art auch immer - seinerseits nicht in der Luft hängt, sondern seine Basis in der gesellschaftlichen Realität, in der sozialen Praxis der Menschen selber hat. Diese Realität aber ist heute - sei es auf der Ebene der Produktionsverfahren, des Weltmarkts, der Wissenschaftsentwicklung oder der Systemkonkurrenz der Weltmächte und ihrer Machtblöcke - dadurch bestimmt, daß Zusammenhänge und Interdependenzen sich herstellen und erkennbar werden und daß insofern, deutlicher als je zuvor, das Ganze der menschlichen Lebenspraxis sowohl in seiner bedrohlichen Konflikthaftigkeit und Destruktivität als auch in seinen ent-wickel- und erkämpfbaren humanen Möglichkeiten in den Blick zu kommen beginnt.
Die von uns beschriebenen historischen Kompetenzerweiterungen hatten ihre Ermöglichungsgrundlage in der von Menschen veränderten, neue Anforderungen stellenden gesellschaftlichen Wirklichkeit, welche die traditionellen, starren Begrenzungen des Wissens nicht länger mehr zuließ. Die Zurücknahme der modernen, im gegenwärtigen Bildungssystem vorherrschenden, die Fragmentierung und Enthistori-sierung des Wissens bewirkenden ideologischen Praxis hat ebenfalls Ermöglichungsgrundlagen in der gesellschaftlichen Realität selber (vgl. oben). Daher scheint uns die These berechtigt, daß das Bildungssystem heute ein Feld der Auseinandersetzungen ist, auf dem sich die Tendenz der Entideologisierung durch bewußte Anstrengungen beschleunigen und verstärken läßt.