- (* Vortrag auf dem Kongreß »Entwicklung und Gesundheitsgefährdungen von Kindern und Jugendlichen in Familie, Kindergarten und Schule — Möglichkeiten der Prävention«, 20.-21.6.1980 in Berlin (Veranstalter: Planungsgruppe Gesundheitsforschung Berlin und Fachbereich Erziehungswissenschaften an der FU Berlin).
I.
Als »normal* gilt ein Kind gemeinhin dann, wenn es den durchschnittlichen Anforderungen und Standards seiner Altersstufe genügen kann, also z.B. »altersgemäß« Greifen, Laufen, Sprechen lernt, »sauber« wird, Sozialkontakte mit anderen Kindern eingeht, schulreif wird, etc. Daran, ob ihr Kind in diesem Sinne »normal« entwickelt ist, sind die Eltern meist sehr interessiert, sie vergleichen besorgt den Entwicklungsstand ihres Kindes mit dem anderer Kinder. Die Psychologie kommt ihnen dabei zu Hilfe, indem sie die Vergleichsmaßstäbe standardisiert, etwa aufgrund empirischer Erhebungen differenzierte Inventare darüber aufstellt, was ein Kind in einem bestimmten Alter alles »können« muß, Tests bereitstellt, mit denen der altersgemäß »normale« Leistungsstand präziser und objektiver faßbar sein soll als durch die bloße Beobachtung. Und »gesund' ist die Entwicklung des Kindes, wenn es eben nicht »krank« ist, also weder »angeborene« oder erworbene organische Behinderungen und Störungen aufweist noch psychisch in besonders »auffälliger« oder abartiger Weise von der Norm abweicht.
Die pädagogische Nutzanwendung dieser Vorstellung von »normaler« und »gesunder« kindlicher Entwicklung liegt auf der Hand: Man darf von einem Kind einerseits nicht weniger verlangen, als es altersgemäß leisten kann, da eine derartige »Unterforderung die »normale« Entwicklung behindert. Man darf aber auch nicht mehr von dem Kind erwarten und verlangen, als seiner Altersstufe gemäß ist, also das Kind nicht überfordern, weil es auch dadurch in seiner normalen Leistungsfähigkeit behindert wird und sogar streßbedingte organische oder psychische Schäden davontragen kann. Wenn das Kind eindeutig hinter der jeweiligen Altersnorm zurückbleibt, also entwicklungsbehindert ist, so muß man zunächst feststellen, wieweit diese Behinderung konstitutionell bedingt ist oder im Prinzip behoben werden kann, im ersten Fall sodann u.U. bestimmte Schutz- oder Bewahrungsmaßnahmen ergreifen, im zweiten Falle besondere Förderungsmaßnahmen einleiten,, spezifisch geplante pädagogische Beeinflussung oder psychologische Therapie, um so das Kind auf den 'normalen', d.h. »durchschntttlichen« Leistungsstand und Vcrhaltensstandard seiner Altersstufe zu bringen.
Ich nehme an, daß viele Zuhörer diese allgemeinen Darlegungen so vernünftig wie trivial finden werden, und nun von mir erwarten, daß ich auf dieser Grundlage Genaueres ausführe, etwa neuere Befunde referiere und zu präziseren Bestimmungen komme. Ich werde diese Erwartungen jedoch nicht erfüllen. Ich halte die geschilderten Vorstellungen nämlich keineswegs für eine tragfähige Grundlage weiterer Analysen, sondern für äußerst flach und einseitig, und deswegen für ungeeignet, daraus relevante und fruchtbare Fragestellungen für die anstehenden Probleme zu gewinnen. Der Grund hierfür liegt darin, daß in der dargestellten gängigen Sichrweise die »Normalität« und »Gesundheit« der kindlichen Entwicklung nur als Problem der Erfüllung gesellschaftlicher Anforderungen und Standards, nicht aber auch als Problem der subjektiven Befindlichkeit des je betroffenen Kindes betrachtet wird. Wenn jeder von uns sich selbst fragt, ist bei mir alles normal und in Ordnung, bin ich gesund, so stößt er unmittelbar aufsein eigenes Befinden: Geht es mir gut oder fühle ich mich schlecht, bin ich zufrieden, stark, hoffnungsvoll, erfüllt, oder angekränkelt, schwächlich, resigniert, leer? Äußere Normen und Anforderungen treten dabei von vornherein innerhalb dieses Erfahrungszusammenhangs in den Blick, als Bedingungen für meine subjektive Befindlichkeit und deren Änderung. Geht es hingegen darum, ob unsere Kinder normal und gesund sind, so neigt man vom Standort des Alltags wie der traditionellen Psychologie und Pädagogik dazu, primär nach der Anforderungsgemäßheit und Normgerechtigkeit des kindlichen Verhaltens zu fragen; das unmittelbare Befinden der Kinder wird dabei, wenn überhaupt, nur als zweitrangiges Problem betrachtet.
Man mag versucht sein, die damit angesprochene Problematik schnell wieder los zu werden, indem man einwendet: die subjektive Befindlichkeit ist doch mehr oder weniger eine abhängige Größe der Normgerechtigkeit des kindlichen Verhaltens. Allein, dieser Einwand hat zwar eine gewisse Berechtigung, wenn man nur die Situation der Überforderung oder Unterforderung betrachtet, obwohl man sich mindestens für eine gewisse Zeit ja auch in Unterforderungs- bzw. Überforderungssituationen relativ wohl befinden kann. Falsch ist jedoch die Behauptung, die Fälligkeit zu »durchschnittlichem«, also »normgerechtem« Verhalten bedeute auch schon subjektives Wohlbefinden. Jeder von uns weiß, daß dies zwar so sein kann, aber keineswegs muß. Vielmehr kann jemand, der in »normaler« Weise Anforderungen und Erwartungen nachkommt, dennoch in ausgeprägtem Maße unerfüllt, resignativ, perspektivlos, geängstigt sein — wobei dies unter unseren gesellschaftlichen Bedingungen ja für sehr viele Menschen auch tatsächlich so ist.
Das Problem der subjektiven Befindlichkeit des Kindes ist also ein selbständiger, nicht auf die Normebene reduzierbarer Aspekt der Frage, was unter normaler, gesunder Entwicklung zu verstehen ist. Dies bedeutet, daß ein lediglich statistischer, am 'Durchschnitt' orientierter Normbegriff für unsere Fragestellung generell unzulänglich ist. Man benötigt vielmehr Bestimmungen, mit denen beurteilt werden kann, wann die kindliche Entwicklung nicht bloß in den Augen andrer »normal«, sondern für das betroffene Kind eine tatsächlich gelungene, positive, befriedigende und erfüllende Entwicklung ist. Dazu muß das Verhältnis, in dem die normative und die »subjektive« Seite der kindlichen Entwicklung stehen, genauer geklärt werden.
II.
Bei erstem Hinsehen mag man den Eindruck haben, daß dabei sehr verschiedene, ja unvergleichbare Ebenen ins Verhältnis gesetzt werden. Die Kriterien für »Normalität« der Entwicklung sind offensichtlich aus gesellschaftlichen Notwendigkeiten, ethischen Standards o.a. abgeleitet, und auch die Frage, wieweit die Individuen in ihrem Verhalten diesen Normen entsprechen, ist von öffentlichem Interesse. Das Problem, wie der Einzelne sich bei der Erfüllung der Normen subjektiv befindet, ist hingegen, so könnte es scheinen, genau genommen seine Privatangelegenheit. Im methodologischen Beha-viorismus ist, wie bekannt, aus dieser Annahme die Konsequenz gezogen worden, die subjektive Befindlichkeit, da sie Privatsache der Individuen, also nicht intersubjektiv kontrollierbar sei, als wissenschaftlich unerforschbar aus der Psychologie auszuschließen. Aber selbst, wenn man eine derartige Konsequenz in ihrer Radikalität nicht akzeptiert, scheint es doch evident, daß die subjektive Befindlichkeit ein gegenüber den harten Fakten der Normen und des Verhaltens sozusagen tweicherert Tatbestand ist, eine dezidiert ninnerpsychischei, bloß individuelle Gegebenheit, womit es wesentlich vom einzelnen abhängt, wie er mit den an ihn gestellten Forderungen subjektiv zurechtkommt.
Gemäß dieser Sichrweise haben die Standards für die Normalität des Verhaltens und der Entwicklung sowie die zu ihrer Erfüllung erworbenen Fähigkeiten mit der subjektiven Befindlichkeit des Individuums primär nichts zu tun, der einzelne muß lediglich sehen, wie er mit den Anforderungen, wie sie nun einmal an ihn gestellt werden, quasi nachträglich sich subjektiv arrangiert. Bei genauerer Betrachtung wird sogar deutlich, daß hier darüber hinaus eigentlich ein Gegensatz zwischen äußeren Normen und der inneren Befindlichkeit impliziert ist, da mein Befinden gegenüber Anforderungen, die mit mir nichts zu tun haben, letztlich nichts anderes als ein Sich-AMinden heißen kann. Damit scheint hier eine Grundvorstellung der bürgerlichen Ideologie über das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft überhaupt durch, wie sie etwa in der Psychoanalyse verallgemeinert und auf den Begriff gebracht ist, nämlich die Auffassung, es bestehe ein prinzipieller und unaufhebbarer Widerspruch zwischen den gesellschaftlichen Normen und Anforderungen auf der einen Seite und der vollen Befriedigung und dem wirklichen Glück der Individuen auf der anderen Seite. Die »Gesellschaft« wäre so, in der Sprache der Psychoanalyse ausgedrückt, als solche eine »versagende' Instanz, die das Individuum an der unmittelbaren und totalen »Triebbefriedigung« hindert.
In dieser Sichrweise ist, wie innerhalb der psychoanalytischen Literatur immer wieder und deutlich ausgesprochen, jede individuelle Entwicklung das Lernen von Triebverzicht, also der Erwerb der Fähigkeit, seine eigenen Lebensbedürfnisse aufgrund der gesellschaftlichen Anforderungen aufzuschieben, abzuschwächen, umzuformen, aufzugeben. Ob die Entwicklung abnormal und krankhaft oder normal und gesund ist, bemißt sich lediglich nach der Art, wie das Individuum mit dem ihm auferlegten Verzicht auf volle Befriedigung seiner Bedürfnisse, damit auf ein wirklich glückliches Leben, persönlich fertig wird.
tNormalf und (vergleichsweise) gesund ist die individuelle Entwicklung in dieser Sichtweise dann, wenn das Individuum die ihm auferlegten Versagungen einerseits so verarbeitet, daß es sie ertragen und aushalten kann, sich also mit dem notwendigen Triebverzicht abzufinden gelernt hat, wenn es aber andererseits trotz der versagenden gesellschaftlichen Anforderungen und an ihnen vorbei eine gewisse, wenn auch abgeschwächte Befriedigung findet, also sich in den Schranken der Verhältnisse so gut es geht einrichtet, nicht mehr will, als zu kriegen ist, aber das, was übrigbleibt, mitnimmt und genießt. Unnormal ist dieser Auffassung nach ein Mensch hingegen in dem Grade, wie er sich mit den gesellschaftlichen Versagungen nicht bewußt arrangieren, sondern dice nur unter Realitätsabwehr und Wirklichkettsverlust ertragen kann, und so allerlei Abwehrmechanismen und u.U. auch neurotische Symptome entwickelt. Es leuchtet ein, daß bei einer solchen Betrachtensweise gesellschaftsveränderndc politische Aktivitäten leicht in die Nähe »unnormalen« Verhaltens gerückt werden, da man sich ja auch hier mit den gesellschaftlichen Versagungen und Entwicklungsbeschränkungen nicht abfinden kann, wobei der damit vorgeblich verbundene Realitätsverlust sich in dieser Sicht hier allerdings nicht in bloß inncrpsychischcn Mechanismen äußert, sondern zum Ausagicren der abgewehrten Impulse in äußeren Handlungen, damit zu politischer Protestaktion als kollektive Neurosen führt.
Die pädagogischen Implikationen einer solchen Vorstellung von »normaler«, gesunder Entwicklung sind klar: Es müssen in der kindlichen Umwelt Bedingungen geschaffen und Erziehungsmaßnahmen ergriffen werden, durch welche das Kind seine Bedürfnisse zu beherrschen, seine »Triebe* zu kanalisieren und zu unterdrücken lernt, ohne dabei die Realität abzuwehren oder zu verfälschen, also unter realistischer Anerkennung der Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit des Sich-Abfindens und Verzichtens. Die Erziehung besteht so gesehen also wesentlich darin, dem Kind Versagungen aufzuerlegen und seine Bedürfnisse einzuschränken, aber in dosierter Form, so, daß das Kind die Versagungen noch verarbeiten kann und dabei immer mehr die Fähigkeit erwirbt, Versagungen generell zu ertragen und realistisch psychisch zu verarbeiten, also, wie ein gängiger Ausdruck lautet, »Frustrationstoleranz' zu gewinnen. Das Resultat einer so gefaßten »normalen' Entwickjung ist dann ein Mensch, der auf der einen Seite fähig geworden ist, die gesellschaftlichen Anforderungen zu erfüllen und sich »normgerecht' zu verhalten, dessen subjektive Befindlichkeit aber dadurch nicht mehr beeinträchtigt ist, als nötig und unvermeidlich, der es verstanden hat, den frustrierenden Verhältnissen dennoch einen Rest von Daseinserfüllung, quasi »gebremster Glückseligkeit« abzugewinnen.
Niemand wird leugnen können, daß mit dieser Betrachtungsweise wirkliche Aspekte von Entwicklungsmöglichkeiten und -behinderungen in unserer Gesellschaft erfaßt werden. Man muß sicherlich auch einräumen, daß Individuen, die sich mit Beschränkungen ihrer Lebenserfüllung und Bedürfnisbefriedigung realistisch »abgefunden« haben und dennoch den an sie gestellten Anforderungen nachkommen, in gewissem Sinne »gesünder« und »normaler« sind als solche, die über die subjektive Notwendigkeit der Abwehr von Frustrationen durch Realitätsverlust in ihrer Lebenstüchtigkeit eingeschränkt sind. — Was man sich allerdings fragen muß, ist, ob der realistische Verzicht und das dabei verbliebene »kleine Glück« tatsächlich alles ist, was ein Mensch von positiver, gelungener und erfüllter Entwicklung seiner Persönlichkeit erwarten darf, ob also gesellschaftliche Verhältnisse, deren Anforderungen grundsätzlich mit den individuellen Lebens- und Glücksansprüchen unvereinbar sind, tatsächlich so »allgemein menschlich' und unveränderbar sind, wie dies hier vorausgesetzt ist. Diese Frage ist gleichbedeutend mit dem Problem, ob es nicht noch eine höhere, entfaltetere Form gelungener, »gesunden Entwicklung gibt, als die des bloßen Sich-Abfindens mit gegebenen Anforderungen und Einschränkungen, ob mithin ein Begriff von »gesellschaftlichen Verhältnissen' gewonnen und begründet werden kann, der nicht nur den Widerspruch, sondern auch die Übereinstimmung zwischen Anforderungserfüllung und der Realisierung subjektiver Lebens- und Glücksansprüche denkbar und wissenschaftlich faßbar macht?
III.
Wenn man sich als einzelner der Forderung konfrontiert sieht, um gesellschaftlicher Notwendigkeiten willen seine eigenen Bedürfnisse zurückzustecken, so mag man das noch hinnehmen. Wenn man dies aber verallgemeinert sieht, sich also vorstellt, daß diese Forderung an alle einzelnen in der Gesellschaft gerichtet wird, so kommt die Frage auf, was das denn für eine Gesellschaft ist, deren vorgebliche Notwendigkeiten zwangsläufig nur auf Kosten der Lebens- und Glücksansprüche ihrer Mitglieder realisierbar sein sollen. Diese Frage spitzt sich noch zu, wenn man sich klar macht, daß im Prozeß der Menschheitsentstehung, der tAnthropogenesen, die Entwicklung von menschlichen Bedürfnissen und Interessen und die Schaffung von gesellschaftlichen Lebensbedingungen, die diesen Bedürfnissen und Interessen entsprechen, doch zwei Aspekte des gleichen Vorgangs waren. So gesehen ist es völlig unbegreiflich, in&gesell-schaftliche Notwendigkeiten prinzipiell und allgemein mit den subjektiven Bedürfnissen und Interessen der einzelnen in Widerspruch stehen sollen. Es ist widersinnig anzunehmen, daß eine gesellschaftliche Lehenswelt, die die Menschen sich nach ihren Bedürfnissen und Interessen schaffen, zur Befriedigung eben dieser Bedürfnisse und Interessen grundsätzlich und ein für allemal ungeeignet sein soll. Vielmehr drängt sich die Konsequenz auf, daß — wo solche Widersprüche tatsächlich auftreten — dies kein generelles Charaktetistikum des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft ist, sondern speziellen gesellschaftlichen Lebensbedingungen geschuldet, die damit als historisch bestimmte Unterdrückungs- bzw. Abhängigkeitsverhältnisse, durch welche die Lebens- und Erfüllungsmöglichkelten der Masse der Menschen formations- bzw. klassenspezifisch eingeschränkt sind, sich verdeutlichen. Man hätte demnach gesellschaftliche Anforderungen nicht pnnztpiell als bedürfniseinschränkend zu verstehen, sondern hätte sie jeweils konkret daraufhin zu analysieren, wieweit in ihnen allgemeine Möglichkeiten zur Realisierung subjektiver Bedürfnisse und Lebensansprüche gegeben sind bzw. formations- und klassenspezifische Einschränkungen dieser Bedürfnisse und Ansprüche durchschlagen.
Aus diesen Überlegungen müssen sich nun auch Konsequenzen hinsichtlich der Eigenart der menschlichen Bedürfnisse und Lebensansprüche selbst ergeben: Der Mensch hätte demnach nicht bloß individuelle Bedürfnisse, die mit gesellschaftlichen Anforderungen nichts zu tun haben und nur unabhängig von diesen Anforderungen zu befriedigen sind, sondern auch solche Bedürfnisse, die gerade in der Realisierung gesellschaftlicher Anforderungen ihre Befriedigung finden — dies allerdings nicht bei jeder Art von Anforderungen, sondern nur bei solchen, in denen sich allgemeine Notwendigkeiten menschlicher Lebensgewinnung verkörpern. Derartige Bedürfnisse sind einerseits Charaktetistika der menschlichen Natur, aber andererseits in der Phylogenese im Zusammenhang der Herausbildung der gesellschaftlichen Form der Lebensgewinnung entstanden, also Grundmerkmale der 'gesellschaftlichen Naturt des Menschen. Die inhaltliche Konkretisierung solcher Bedürfnisse ergibt sich, wie unsere Forschungen zur Anthropogenese des Psychischen erbracht haben, aus der Besonderheit der gesellschaftlichen Lebensgewinnung als Arbeit, d.h. bewußt geplante, eingreifende Naturveränderung in gemeinschaftlicher Vorsorge zur allgemeinen, damit je individuellen Existenzsicherung: Mit der phylogenetischen Entstehung der gesellschaftlichen Arbeit haben sich als deren »subjektive« Seite auch die menschlichen Bedürfnisse so weiterentwickelt, daß sie nicht mehr nur auf die unmittelbare Existenzsicherung bezogen sind. Der Mensch hat vielmehr, vereinfacht ausgedrückt', seiner gesellschaftlichen »Natur« nach ein Grundbedürfnis nach vorsorgender Verfügung über die eigenen Existenzbedingungen. Da aber die relevanten eigenen Lebensbedingungen stets individuell relevante gesellschaftliche Lebensbedingungen sind, ist dieses Grundbedürfnis nicht nur individueller Art, sondern auf die Etnbezogenheit des Individuums in die kollektive Verfügung über derartige Lebensumstände, also — wie wir es ausdrücken — »kooperative Integration« gerichtet. Nur in der kooperativen Selbstbestimmung seiner Daseinsverhältnisse kann der Mensch seine Fähigkeiten und Bedürfnisse auf tmenschlichemi Niveau entwickeln, und zu einem viirklich befriedigenden und erfüllten heben gelangen; die Ausgeliefertheit an aktuelle Bedingungen, Ausgeschlossenheit und Isolation von der gemeinschaftlichen Verfügung über relevante eigene Daseinsumstände bedeutet dagegen für den einzelnen existentielle Angst, Entwicklungslosigkeit, Verkümmerung der eigenen Lebens- und Erlebnismöglichkeiten. Nur in dem Grade, wie in kooperativer Integration die auf Teilhabe an kollektiver Selbstbestimmung bezogenen Bedürfnisse entfaltet werden können, ist dem Individuum auch eine menschenwürdige Befriedigung seiner bloß individuellen, auf sinnliches bzw. vitales Wohlbefinden gerichteten Bedürfnisse möglich: Wohlbefinden und elementarer Lebensgenuß sind nämlich mit Existenzangst unvereinbar.
Der Mensch kann also auch dann in seiner subjektiven Befindlichkeit schwerwiegend beeinträchtigt sein, wenn seine unmittelbaren vitalen Lebensbedürfnisse befriedigt sind, nämlich dann, wenn diese Befriedigung nicht in der Teilhabe an gemeinschaftlicher Verfügung über die eigenen Lebensumstände vorsorgend abgesichert ist. Der damit vorliegende Zustand des Von-der-Hand-in-den-Mund-Lebens, der Ausgeliefertheit an den Gegebenheitszufall, der permanenten Bedrohtheit der eigenen Existenzgrundlagen durch Mächte, über die man keine Verfügung hat, im Extremfall des Verwiesenseins auf schnelle und rohe Befriedigung, ist nicht nur am Maßstab menschlicher Entwicklungsmöglichkeiten, sondern in seiner unmittelbaren subjektiven Erlebnisqualität ein menschenunwürdiger Zustand.
IV.
Aus diesen Überlegungen ergibt sich, daß keineswegs notwendig ein Widerspruch zwischen der subjektiven Befindlichkeit und den an das Individuum gestellten Anforderungen besteht, so daß ein befriedigender subjektiver Zustand nur durch Erlangung von Frustrationstoleranz, verbunden mit der Fähigkeit, gegen die Anforderungen oder außerhalb von ihnen ein gewisses Glück zu finden, zu erreichen wäre. Vielmehr kann eine Verbesserung der subjektiven Lage auch in der Erfüllung von Anforderungen liegen, nämlich dann, wenn damit gleichzeitig eine Veränderung in Richtung auf Überwindung von Abhängigkeit und Angst, d.h. Erweiterung der Teilhabe an gemeinsamer Verfügung über die eigenen Lebensumstände möglich ist. Ob diese Möglichkeit tatsächlich besteht, dies ist allerdings kein lediglich innerpsychisches Problem, sondern hängt vom Charakter der dem Individuum sich stellenden gesellschaftlichen Anforderungen selbst ab. Damit wird deutlich, daß die Auffassung, die psychische Befindlichkeit der Individuen angesichts äußerer Anforderungen sei deren Privatangelegenheit, eine ideologische Mystifikation darstellt. Tatsächlich hängt es primär von den gesellschaftlichen Lebensbedingungen ab, nämlich davon, wieweit diese Verhältnisse eine Beteiligung der Betroffenen an der Verfügung über ihre eigenen Angelegenheiten erlauben, ob in und mit der Anforderungserfüllung eine Entfaltung der eigenen Lebensund Erlebnismöglichkeitcn, also subjektiven Wohlbefindens erfolgt. Die Subjektivität des einzelnen ist damit tatsächlich eine öffentliche Angelegenheit erster Ordnung; es ist auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens das zentrale Indiz für die Menschlichkeit eines Gesellschaftssystems, wieweit den Individuen die Möglichkeit gegeben ist, in der Beteiligung an der gemeinschaftlichen Vorsorge für adäquate Existenzbedingungen gleichzeitig ein angstfreies und erfülltes Leben zu führen. Eine Gesellschaft kann niemals irgendwelche Normen oder Werte legitimieren, die gegen das, oder unabhängig vom Wohlbefinden ihrer Mitglieder zu verwirklichen wären. Aus diesen Überlegungen scheint für unser Thema zu folgen: Zur Förderung einer »normalen«, »gesunden« Entwicklung sind die gestellten Anforderungen so auszuwählen bzw. zu vermitteln, daß für die Kinder und Jugendlichen der Zusammenhang zwischen der Anforderungserfüllung und ihren eigenen Interessen in Richtung auf angstfreie, selbstbestimmte Lebensführung einsichtig und realisierbar wird. Diese Konsequenz ist indessen zwar nicht falsch, aber sie greift zu kurz und ist genau besehen in sich widersprüchlich. Hier ist nämlich eine Instanz mitgedacht, die die Anforderungen auswählt bzw. vermittelt, die also damit eben det Verfügung durch die Betroffenen entzogen ist, deren Erweiterung durch die Anforderungserfüllung doch gerade ermöglicht werden soll. Diese Widersprüchlichkeit ist nur aufzulösen, wenn man sich klar macht, daß gesellschaftliche Normen und Anforderungen nicht etwas sind, das außerhalb der gemeinsamen Selbstbestimmung bleiben kann, sondern daß diese Normen wesentliche Bestimmungsmomente eben jener individuell relevanten gesellschaftlichen Lebensbedingungen sind, über die die Individuen zur Entfaltung eines angstfreien, erfüllten Daseins gemeinsam verfügen müssen; die Normen und Werte sind keine hinzunehmenden Letztheiten, sondern müssen selbst daraufhin hinterfragt werden, ob sie im allgemeinen Interesse an der vorsorgenden Sicherung und Verbesserung der Lebensbedingungen aller, damit auch im eigenen Interesse sind, oder ob in ihnen Partialinteressen an Herrschaftssicherung gegen das Interesse der Allgemeinheit sich ausdrücken. Im letzten Falle muß die Änderung derartiger Normen und Anforderungen bzw. der gesellschaftlichen Verhältnisse, die sie hervorbringen, wesentliches langfristiges Ziel der Verfügungserweiterung sein — und zwar nicht nur perspektivische Änderungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, sondern auch gegenwärtig direkt realisierbare Änderungen von Anforderungen und Normen in gesellschaftlichen Teilbereichen verschiedener Größenordnung bis hin zur kindlichen Entwicklungs- und Erziehungsumwelt.
An dieser Stelle verdeutlicht sich der schon aufgewiesene mögliche Widerspruch zwischen anormalen im Sinne von »durchschnittlichen Entwicklung und wirklich für die Betroffenen positiver, gelungener Entwicklung in seiner ganzen Schärfe. Eine in diesem Sinne »normale« Entwicklung kann gleichzeitig eine subjektive Fehlentwicklung sein, nämlich dann, wenn dabei »durchschnittliche* Anforderungen erfüllt und hingenommen werden, die eine gemeinsame Verfügung über die eigenen Angelegenheiten behindern oder sogar aktiv einschränken, damit dem je eigenen Lebens- und Entwicklungsinteresse widersprechen. In solchen Fällen ist die Entwicklung derjenigen Individuen gesund und in einem höheren Sinne »normal*, die sich als Minderheit gegen die herrschenden Durchschnittsnormen mit dem Ziele ihrer Veränderung zusammenschließen. »Abweichendes Verhalte, Verhaltensauffälligkeit: >Devianz< etc. können also zwar Ausdruck der Unfähigkeit zur Verarbeitung von Widersprüchen und Erfüllung gestellter Anforderungen sein, damit (u.U. therapeutisch zu korrigierende) Entwicklungsbehinderungen signalisieren. Bestimmte »Abweichungen« können aber auch dadurch Zustandekommen, daß die Betroffenen sich mit bestehenden Abhängigkeiten, Einschränkungen, Unterdrückungsverhältnissen, anders als die Mehrheit, nicht abfinden, sondern gemeinsam für deren Überwindung im allgemeinen Interesse kämpfen. Damit wäre gerade die Entwicklung von Menschen in solchen Minderheitspositionen wirklich positiv und »gesund« nicht nur im Sinne der Abwesenheit von Krankheit, sonder im Sinne eines erfüllten, kraftvollen, perspektivenreichen subjektiven Daseins. — Derartige »Abweichungen« tragen allerdings notwendig die Tendenz zu ihrer Selbstauf hebung in sich, und dies in zweifacher Hinsicht: Einmal dadurch, daß die hier gesteckten Ziele der Erweiterung der Verfügung aller über ihre eigenen Angelegenheiten nur in dem Grade erreichbar sind, wie sie wirklich zu einer gemeinsamen Sache aller Betroffenen werden, wie also die jetzige Minderheit zur Mehrheit wird; zum anderen dadurch, daß die Verhältnisse, für die dabei gekämpft wird, solche sind, in denen die »durchschnittlichen« Normen und Anforderungen mit den Normen und Anforderungen im Interesse der Allgemeinheit tendenziell zusammenfallen.