I.
Ich meine, daß die Diskussion zur Frage »Wie erziehen Linke ihre Kinder?« bisher »zu weit oben«, um nicht zu sagen, »zu flach« ansetzt: Man unterhält sich hier über die richtigen emanzipatorischen Erziehungsziele und die angemessenen Weisen ihrer Realisierung innerhalb der Erziehungspraxis usw., und tut dabei so, als ob es schon klar sei, was »Erziehung« ist und welche Funktion sie innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft hat. Mit anderen Worten: Man artikuliert fortschrittliche Überzeugungen, stellt sich auf den Standpunkt der Arbeiterklasse, und übersieht, daß sich der Marxismus darin nicht erschöpft, ja, daß dies nicht einmal spezifisch für ihn ist. Marxismus in seiner Besonderheit ist ja vor allem anderen eine bestimmte Art des theoretisch-praktischen Herangehens an gesellschaftliche Erscheinungen, der Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge und Widersprüche. Seine Parteilichkeit für das Proletariat ergibt sich dabei aus seinem das bürgerliche Denken überschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnisgehalt: Nur deswegen können wir die marxistische Theorie der revolutionären Arbeiterbewegung mit Recht »wissenschaftlichen Sozialismus« nennen. Die unerläßliche Grundlage für jede konkretere Erörterung von Erziehungsfragen ist also die Analyse der Eigenart und Funktion von »Erziehung« innerhalb der bürgerlichen Klassenwirklichkeit mit marxistischen Kategorien und Methoden.
Ich will im weiteren anzudeuten versuchen, welche Gesichtspunkte sich bei einem solchen analytischen marxistischen Herangehen an das Phänomen »Erziehung« ergeben und was daraus für die Diskussion von Erziehungsproblemen folgt. Ich habe nicht die Absicht, bereits vorliegende marxistische Erziehungskonzeptionen meinen Ausführungen zugrundezulegen: Diese sind ja unter jeweils ganz konkreten gesellschaftlichen Kampfbedingungen entstanden; die Klärung der Frage, wieweit und in welcher Weise man sie auf unsere gegenwärtigen Bedingungen übertragen kann, fordert also eingehende historische Untersuchungen (die bisher nur in Ansätzen geleistet sind). Vielmehr will ich versuchen aufzuweisen, was man über Erziehung lernen kann, wenn man die Marxsche Analyse des Gesellschaftsprozesses im allgemeinen und seiner bürgerlichen Form im besonderen auf den Erziehungsprozeß hin konkretisiert.
Wenn ich dabei auf die Klärung der Frage hinsteuere, was unter unseren Verhältnissen die »Fortschrittlichkeit« von Erziehung bedeuten kann, so beziehe ich mich hier nicht auf die institutionelle Ebene des Kampfes um die Verbesserung der Bildungs-/Ausbildungsbedingungen, gegen das Bildungsprivileg, etc., sondern auf den konkreten Erziehungsprozeß als Beziehung zwischen Menschen: Mit der unbestreitbaren Notwendigkeit, bessere Bildungsmöglichkeiten etc. zu erkämpfen bzw. deren Abbau zu verhindern, ist ja die Frage nicht überflüssig oder schon geklärt, welche Art von »Erziehung« in den zu verbessernden Erziehungsinstitutionen (von der Familie über die Schule bis zur Berufsaushildung/Universität) denn nun eigentlich abläuft bzw. ablaufen sollte.
II.
Persönlichkeitsentwicklung im Kapitalismus:
Anpassung oder Kampf um Handlungsfähigkeit
Wenn man auf marxistischer Basis Psychologie, Pädagogik, o.a. betreiben will, so darf man nicht hinter das zurückfallen, was Marx - insbesondere im »Kapital« - über das Verhältnis zwischen gesamtgesellschaftlicher und individueller Reproduktion des Lehens herausgearbeitet hat: Dieses Verhältnis ist allgemein dadurch gekennzeichnet, daß aufgrund des Systemcharakters des gesellschaftlichen Prozesses die Menschen in ihrer individuellen Lebenstätigkeit immer zugleich Beiträge zur gesamtgesellschaftlichen Reproduktion leisten, und dies unter bürgerlichen Lebensbedingungen notwendigerweise so, daß mit der Reproduktion des gesamtgesellschaftlichen und individuellen Lebens immer gleichzeitig auch dessen Form als kapitalistischer Verwertungsprozeß, also der Klassenantagonismus und die darin liegende Ausbeutungsbeziehung mitreproduziert werden. In einem solchen widersprüchlichen Reproduktionsverhältnis stellen sich auf der einen Seite mit den praktischen Formen der Reproduktion/Verwertung auch die bürgerlich-ideologischen Formen immer wieder her, durch welche die kapitalitische Weise der gesellschaftlich-individuellen Lebensgewinnung als »die« menschliche Art der Lebensgewinnung überhaupt, also naturhaft und unveränderlich erscheint. Auf der anderen Seite bildet sich damit gleichzeitig in der Praxis der Arbeiterbewegung deren revolutionäre Ideologie heraus, in welcher erkannt wird, daß die Reproduktion des gesellschaftlich-individuellen Daseins nur unter den historisch bestimmten bürgerlichen Produktionsverhältnissen an die Reproduktion des Klassenantagonismus und der Ausbeutung gebunden ist. So liegt, wie Marx aufwies, in den gegenwärtigen Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise zugleich deren bestimmte Negation als historische Möglichkeit und Notwendigkeit von gesellschaftlichen Verhältnissen, in welchen die Reproduktion in der Form freier bewußter Verfügung aller über den gesellschaftlichen Prozeß, damit über ihre eigenen Lebensbedingungen, sich vollzieht. Die so charakterisierte gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz, in ihrer Widersprüchlichkeit als Einbezogenheit in den gesellschaftlichen Lebensgewinnungsprozeß und Unterworfenheit unter den kapitalistischen Verwertungsprozeß muß bei der Entwickung psychologischer oder pädagogischer Konzeptionen auf marxistischer Basis einerseits unreduziert vorausgesetzt und andererseits auf die d-arin eingeschlossenen psychischen Bestimmungen der individuellen Lebenstätigkeit hin differenziert werden.
So gingen wir in unseren kritisch-psychologischen Forschungen zunächst der Frage nach, welche allgemeinen psychischen Charakteristika beim Menschen angenommen werden müssen, damit verständlich wird, daß und wie er seine individuelle Existenz im Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Reproduktion erhalten und entfalten kann. Dazu verfolgen wir die phylogenetische Entwicklung des Psychischen bis an die Schwelle der Menschwerdung und arbeiteten sodann heraus, welche neue Qualität die bis dahin entstandenen Differenzierungen psychischer Dimensionen und Funktionen gewinnen müssen, wenn sie beim Umschlag von der bloß phylogenetischen zur gesellschaftlich-historischen Entwicklung zu Potenzen der »gesellschaftlichen Natur« des Menschen werden.
Der Schlüsselbegriff, unter dem wir die so gewonnenen vielfältigen Resultate zusammenfaßten, ist der der subjektiven Handlungsfähigkeit von Individuen. Darunter sind zum einen all jene spezifisch menschlichen Weisen der Erkenntnis, Emotionalität und Motivation gefaßt, durch welche das Individuum im bewußten »Verhalten« zur gesellschaftlichen Realität und zu sich selbst über die Realisierung gesellschaftlicher Hundlungsmög-lichkeiten Verfügung über sehte eigenen Lebensbedingungen gewinnen, also zum individuellen Subjekt werden kann. Zum anderen schließt die subjektive Handlungsfähigkeit aber auch eine spezifisch »menschliche« Bedürfnislage ein. durch welche die bewußte Verfügung über die gesellschaftlich individuellen Lebensbedingungen für das Individuum eine emotional gegründete subjektive Notwendigkeit darstellt: Ein angstfreies, befriedigendes und erfülltes Dasein ist auf »menschlichem« Niveau nicht schon erreicht, wenn die jeweils aktuellen Bedürfnisse befriedigt werden können, sondern erst, wenn das Individuum als Subjekt über seine Lebensbedingungen als Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung verfügt. Nur aul diesem Wege kann es sich deswegen der »menschlichen« Qualität seines gegenwärtigen und zukünftigen Daseins sicher sein, weil es selbst durch seine eigene A ktivitdi zur Schaltung der gesellschaftlich-verallgemeinerten Bedingungen dafür beiträgt. So verdeutlicht sich hier unter einem bestimmten Gesichtspunkt der von Marx (in der 1. Feuerbach-These) angesprochene Zusammenhang zwischen Subjektivität und Praxis. Der Mensch ist nur soweit menschliches Subjekt, also »Mensch« im eigentlichen Sinne, wie ersieh seihst in verallgemeinerter Weise als Ursprung der Schaffung und der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse gemäß seinen Lebensinteressen erfahren kann.
Aufgrund der dargestellten widersprüchlichen Doppelbestimmung des gesellschaftlichen Prozesses als Lebensgewinnungs- und Verwertungsprozeß kommen die von uns herausanalysierten allgemeinen Bestimmungen des Psychischen auf »menschlichem« Niveau als solche in der Realität nicht vor. Sie stellen vielmehr Abstraktionen von der kapitalistischen Form dar, in der sie innerhalb der bürgerlichen Klassenwirklichkeit allein konkret historisch gegeben sind. Unter kapitalistischen Bedingungen sind aber die Menschen von der bewußten gemeinsamen Verfügung über ihre eigenen Angelegenheiten ausgeschlossen und statt dessen auf verschiedenen Ebenen als isolierte »Private« miteinander in Konkurrenz gesetzt, wobei gleichzeitig die Partial-tnteressen der herrschenden Klasse an der Aufrechterhaltung dieses Zustandes ideologisch als Allgemeininteressen ausgegeben sind. Die subjektive Notwendigkeit dergemeinsamen Verfügung über die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse kann sich hier also nicht »rein« realisieren, sondern nur gebrochen durch solche objektiven Behinderungen kollektiver Selbstbestimmung samt deren ideologischer Mystifikation. Da die Individuen unter bürgerlichen Verhältnissen ihre Existenz nur in Realisierung gesellschaftlicher Lebensmöglichkeiten in ihrer kapitalistischen Form erhalten können, müssen somit einerseits die hier zur individuellen Existenzerhaltung unvermeidliche Durchsetzung eigener Interessen auf Kosten anderer, also honkurrenzförmigkeit und wechselseitige Unterdrückung, sich als subjektiv funktional in jeweils meiner Lebenspraxis wiederfinden, was die Widersprüchlichkeit des subjektiven Befindens als Leiden an den Verhältnissen einschließt. Andererseits aber eröffnet sich in der Möglichkeit, sich zu den Gebrochenheiten und Widersprüchlichkeiten der eigenen Praxis/Befindlichkeit bewußt zu »verhalten«, gleichzeitig die Perspektive darüber hinaus: Es kann so nämlich begriffen werden, daß man zwar den bestehenden Verhältnissen nicht entkommen, aber für andere Verhältnisse kämpfen kann, nämlich solche, unter denen die Fremd- und Selbstunterdrückung, Konkurrenz etc. nicht mehr zur Erlangung eines Restes von Bedingungsverfügung subjektiv funktional sind, unter denen es sich die Menschen also quasi »leisten« können, nicht mehr auf Kosten anderer zu leben, indem sie unter dem gemeinsamen Lebensinteresse der freien Verfügung aller Menschen über ihre eigenen Angelegenheiten ihr Dasein in »menschlicher« Qualität entfalten. Damit wird aber gleichzeitig auch klar, daß unter bürgerlichen Lebensverhältnissen, da es hier ja seine individuelle Existenz nicht anders denn durch die Teilhabe an gesellschaftlicher Lebensgewinnung in ihrer kapitalistischen Form erhalten kann kein Mensch den dadurch bedingten psychischen Deformationen und Leiden zu entkommen vermag: Nur deswegen ist es ja im vitalen Lebensinteresse der Menschen notwendig, diese Verhältnisse zu überwinden. Die Selbsteinschätzung, man könne schon hier, unter kapitalistischen Verhältnissen, die Unterdrückung anderer vermeiden, aus Konkurrenzbeziehungen als Leben auf Kosten anderer herausgelangen. »Gerechtigkeit« praktizieren, wirklich befriedigende und beglückende soziale Beziehungen aufbauen etc., mithin selbst eine Erscheinungsform der psychischen Deformation unter bürgerlichen Verhältnissen ist: Die darin liegende blinde Reproduktion des kapitalistischen Verwertungsstandpunktes manifestiert sich schon darin, daß so die eigene Beteiligung am Kampf um die Umwälzung der kapitalistischen Verhältnisse, unter denen Menschen nicht »menschlich« miteinander leben können, als überflüssig erscheint. Die Alternative zur blinden Weitergabe bürgerlicher Unterdrückungs- und Konkurrenzverhältnisse ist nicht die individuelle Profitierung zu persönlicher Tadellosigkeit gegen alle anderen, sondern eben das bewußte »Verhalten« zur eigenen, auch moralischen, Deformation, damit der Kampf um gesellschaftliche Lebensbedingungen, unter denen man nicht gezwungen ist, um selbst zu überleben, die Lebensinteressen der anderen zu tangieren, sondern unter denen wir gemeinsam unser Leben in menschlicher Würde führen können.
Ein solcher Kampf ist natürlich in letzter Instanz der organisierte Kampf der revolutionären Arbeiterklasse um die Überwindung der kapitalistischen Ausbeutung.
Auf dem Weg dahin bestehen aber noch unter den gegebenen Verhältnissen in verschiedensten gesellschaftlichen Teilbereichen Widerspruchssituationen, in denen das Individuum die Alternative hat, sich in restriktiver Weise den Verhältnissen anzupassen und die Geprägtheit der eigenen Praxis/Befindlichkeit durch den kapitalistischen Verwertungsstandpunkt blind zu reproduzieren oder gemeinsam mit anderen in verallgemeinerter Handlungsfähigkeit die Verfügung über seine Lebensbedingungen ein Stück weit zu erhöhen. Je nachdem, welche Alternative das Individuum dabei jeweils realisiert, bleibt es durch Fixiertheit auf sein kurzfristiges »Zurechtkommen« unter gegebenen Bedingungen, damit kurzschlüssiges Streben nach Kontrolle über andere, in den Widersprüchlichkeiten und Restriktionen seiner eigenen Befindlichkeit befangen oder vermag (innerhalb des jeweiligen Spielraums) in der Verwirklichung seiner wohlverstandenen langfristigen Lebensinteressen auch seine subjektive Lebensqualität zu verbessern.
III.
Unterstützung durch Erwachsene:
Zugleich Entwicklungshilfe und Behinderung
Von diesen Vorüberlegungen aus können wir uns nun, über die Klärung der wesentlichen Bestimmungen der Entwickung von Kindern und Jugendlichen, unserem Thema, der »Erziehung« in der bürgerlichen Gesellschaft, annähern.
Die ontogenetische Entwickung des Menschen ist nur von ihrem Resultat, der entwickelten subjektiven Handlungsfähigkeit, her, angemessen zu begreifen. Mit dieser Aussage wird die »Handlungsfähigkeit« nicht in bürgerlicher Manier zur abstrakten »Norm« für Entwicklungsund Erziehungsprozesse erhoben, sondern es wird lediglich der dargestellte Zusammenhang zwischen gesamtgesellschaftlicher und individueller Reproduktion des Lebens auf die Individualentwicklung hin expliziert: Die Tatsache der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion des Lebens schließt, wie aufgewiesen, die Handlungsfähigkeit der Individuen, die diesen Reproduktionsprozeß durch ihre Praxis tragen, notwendig ein. Mithin muß von den Menschen in ihrer ontogenetischen Entwicklung der Status der subjektiven Handlungsfähigkeit als Implikat der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion quasi immer wieder eingeholt worden sein bzw. eingeholt werden: Dies ergibt sich schlicht daraus, daß die gesellschaftliche Reproduktion wirklich stattfindet und sich fortsetzt.
Als zentrales Bewegungsmoment der ontogenetischen Entwicklung zur Handlungsfähigkeit arbeiten wir die für das Kind seihst bestehende Notwendigkeit heraus, sich selbst zum »Subjekt« im früher dargelegten Sinne zu entwickeln, also mit der Herausbildung der Handlungsfähigkeit Verfügung über seine eigenen Lebensbedingungen zu erlangen. Um diese Konzeption richtig zu verstehen, muß man sie von den gängigen Vorstellungen über spontane, »intrinsische«, etc. Wachstums-Tendenzen im Sinne der bürgerlichen »humanistischen Psychologie« oder Reformpädagogik abheben: Hier ist nicht auf »im« einzelnen Menschen liegende Tendenzen verwiesen, sondern ein subjektiver Aspekt des Umstandes herausgehoben, daß der Mensch nur durch Teilhabe an gesellschaftlicher Reproduktion seine individuelle Existenz erhalten und entfalten kann. Wenn nämlich, wie dargestellt, die angstfreie Lebensbewältigung und Daseinserfüllung in »menschlicher« Qualität gleichbedeutend ist mit der Überwindung von Abhängigkeiten durch gemeinsame bewußte Verfügung über die gesellschaftlich-individuellen Lebensbedingungen, so muß für das Kind die unabweisbare subjektive Notwendigkeit bestehen, den Ausgangszustand, in welchem es bei seiner Lebenssicherung und Bedürfnisbefriedigung total auf andere angewiesen ist, zu überwinden in Richtung auf immer weitergehende Möglichkeiten der aktiven und selbsttätigen Verfügung über seine Lebensbedingungen und die Quellen seiner Bedürfnisbefriedigung. Dies schließt die subjektive Entwickungsnotwendigkeit ein, die individuelle Isolation immer mehr auf gemeinsame Aktivitäten zur Verfügung über immer relevantere Lebensumstände hin zu überschreiten, womit die Subjektentwicklung immer auch die wachsende Klarheit über die eigenen Interessen in ihrem Verhältnis zu den Interessen anderer bedeutet, da nur in der Berücksichtigung fremder Interessen die eigenen Interessen durchgesetzt werden können.
Aus dem Umstand seiner noch unentwickelten Handlungsfähigkeit ergibt sich, daß das Kind im individuellen wie im institutionellen Rahmen auf die Unterstützung des Erwachsenen angewiesen ist, dies schon elementar bei seiner Lebenssicherung, aber auch bei seinen Entwicklungsbedingungen: Nur, wenn durch die Unterstützung die Rahmenbedingungen dafür abgesichert sind, kann das Kind ohne existentielles Risiko die unmittelbare Notdurft durch erste Schritte der sozialen und sachlichen Verfügungserweiterung überschreiten. Die Unterstützung bzw. das Sich-unterstützen-Lassen ist kein einfacher, widerspruchsfreier Lernprozeß, sondern schon generell dadurch geprägt, daß zwar einerseits der jeweilige Unterstützungsrahmen die kindliche Angst und Ausgeliefertheit »in Grenzen« hält, aber andererseits, soweit das Kind seine Verfügungsmöglichkeiten in diesem Rahmen entwickelt hat, zur Behinderung der weiteren Subjektentwicklung wird, also in der fortschreitenden Verfügungserweiterung selbst mit »ausgeweitet« werden muß. Diese Widersprüchlichkeit konkretisiert sich weiterhin darin, daß - indem das Kind in der durch die Erwachsenen unterstützten Subjektentwickung, wie gesagt, auch seine eigenen Interessen in ihrem Verhältnis zu fremden Interessen immer klarer zu fassen lernt - immer schärfer auch die unvermeidlichen Gegensätze der Interessen der Kinder und der Erwachsenen im unmittelbaren Lebenszusammenhang hervortreten müssen - ein Widerspruch, der einerseits selbst wieder im Unterstützungsrahmen aufgehoben werden muß und andererseits auf die generelle Funktion der Unterstützung, sich selbst überflüssig zu machen, verweist, etc.
Wenn wir uns auf den eingangs dargelegten widersprüchlichen Charakter des Reproduktionsprozesses der bürgerlichen Gesellschaft als Lebensgewinnungsprozeß und kapitalistischer Verwertungsprozeß und die daraus gezogenen Konsequenzen für die Bestimmung der Handlungsfähigkeit rückbesinnen, so wird klar: Unsere bisherigen Darlegungen über die ontoge-netische Entwicklung zur Handlungsfähigkeit sind, indem hier nur die gesellschaftlichen Entwicklungwiöglichkeiten berücksichtigt wurden, mit Bezug auf die bürgerliche Gesellschaft noch abstrakt. Wenn nämlich die entwickelte Handlungsfähigkeit hier konkret als Verhältnis zwischen den Möglichkeiten und Notwendigkeiten der verallgemeinerten Verfügung über die Lebensbedingungen und deren Behinderung und Mystifikation durch die Unterworfenheit unter den kapitalistischen Verwertungsprozeß zu charakterisieren ist, so muß auch die onto-genetische Entwicklung zur Handlungsunfähigkeit durch dieses widersprüchliche Verhältnis zwischen Entwicklungsmöglichkeiten und ihrer Unterdrückung samt deren bürgerlich-ideologischer Verschleierung gekennzeichnet sein. Nur so wird begreiflich, wie die Ontogenese zu solchen reduzierten, gebrochenen, beschränkten Formen der Handlungsfähigkeit führt, wie sie zur Reproduktion des gesamtgesellschaftlichen Prozesses gerade in seiner kapitalistischen Form der Ausbeutung und des Klassenantagonismus, also im Interesse der Herrschenden, notwendig sind. Daß in der Ontogenese immer wieder solche »verwertbaren« Formen der Handlungsfähigkeit reproduziert werden, ergibt sich wiederum aus der Wirklichkeit der Systemreproduktion des Kapitalismus, die anders nicht denkbar ist.
Demnach finden sich in der kindlichen Lebenswelt nicht nur Möglichkeiten zur Selbstentwicklung, sondern darin auch mannigfache Entwicklungsbehinderungen, d.h. solche Unterdrückungsverhältnisse, bei deren Bewältigung für das Kind die »restriktive« Alternative, also das Sicheinrichten in der Abhängigkeit, das Sicharrangieren mit den durch die Erwachsenen repräsentierten Herrschaftsinstanzen, subjektiv funktional ist. So bilden sich beim Kind, das dergestalt auf die fremdbestimmte Erwachsenenexistenz in der bürgerlichen Gesellschaft vorbereitet wird, mit der Entfaltung seiner Bedingungsverfügung und Lebensqualität auch all jene Formen der Fremd- und Selbstunterdrückung, Konkurrenzförmigkeit, Gebrochenheit seiner Lebenstätigkeit heraus, durch welche es später unter kapitalistischen Verhältnissen »zurechtkommen« und gleichzeitig an diesen Verhältnissen leiden wird.
Damit ist schon gesagt, daß in der bürgerlichen Gesellschaft auch die persönliche oder institutionelle Unterstützungstätigkeit nicht nur durch die genannten Entwicklungswidersprüche, sondern darüber hinaus auch durch die antagonistischen Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft geprägt ist, also in der Weitergabc der herrschenden Unterdrückungsund Konkurrenzverhältnisse an das Kind ein Moment der Entwicklungsbehindc-rung enthalten muß. Das Kind wird hier mithin zwar einerseits bei seinen Bemühungen um Erweiterung der Bedingungsverfügung unterstützt, dies aber andererseits notwendig quasi in einer derart »gebremsten« und widersprüchlichen Form, daß das Kind dabei unter kapitalistischen Verhältnissen in psychischer Reproduktion der Anforderungen an seine Brauchbarkeit für den kapitalistischen Verwertungsprozeß seine individuelle Existenz erhalten kann, also zur »Lebenstüchtigkeit« formiert wird. - Damit sind wir an dem Punkt angelangt, wo wir »Erziehung« explizit in unsere weiteren Überlegungen einbeziehen können.
IV.
Bürgerliche Erziehung - Zurichtung und Brechung des kindlichen Widerstands
»Erziehung« hat, dies ist offensichtlich, etwas mit Unterstützungstätigkeit als Moment des kindlichen Aneignungsprozesses zu tun. Ebenso offensichtlich ist aber, daß in der bürgerlichen Gesellschaft »Erziehung« nicht einfach ein anderes Wort für Unterstützung der kindlichen Entwicklung ist. Der Begriff »Erziehung«, die Praxis, die er spiegelt, und die dazugehörige »Erziehungswissenschaft« sind eindeutig durch die Erfordernisse der kapitalischen Systemreproduktion geprägt, darin ist also gerade die Formierung des Kindes auf seine Verwertbarkeit unter kapitalistischen Verhältnissen hervorgehoben und gleichzeitig als allgemeines Interesse an der kindlichen Entwicklungsförderung ideologisch mystifiziert. Dies ergibt sich schon daraus, daß die übergeordnete Instanz, von der »Erziehung« ausgeht, letztlich der bürgerliche Staat ist, dies nicht nur über die staatlichen oder staatlich kontrollierten Erziehungsinstitutionen, wie die Schule, sondern z.B. durch juristische Reglementierungen und zugehörige Ideologienproduktion bis in die Familie hinein, die als informelle Erziehungsinstitution unter dem »Schutz« und der Kontrolle des States steht, inhaltlich dokumentiert sich »Erziehung« als Formierung zur Verwertbarkeit durch die Eliminierung all jener Aspekte der Qualifikation und des Wissens, die den herrschenden Verhältnissen durch ihre Offenlegung gefährlich werden könnten, die institutionelle Reproduktion des Bildungsprivilegs, damit klassenbezogene Spezifizierung des Formierungsprozesses etc. Zu all diesen offensichtlichen Kennzeichen kommt aber ein quasi »formales« Charakteristikum von »Erziehung«, das einerseits viel schwerer zu erkennen ist, andererseits aber den Kern der Formierungsfunktion ausmacht: Die als allgemeine Untersfützungshaltung mystifizierte »Erziehungsförmigkeit« der hier implizierten Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen.
»Erziehungsförmigkeit« ist ein Verhältnis zwischen (personalem oder institutionellem) Erzieher und Zögling, in welchem der Erzieher als Erziehungssubjekt beim Kind/Jugendlichen als Erziehungsobjekt bestimmte Veränderungen bewirkt. Die Ziele des Erziehungsprozesses werden dabei primär als solche des Erziehers bzw. der gesellschaftlichen Herrschaftsinstanz, die er vertritt, aufgefaßt, und das Kind erscheint als eine Art von Werkstuck, das gemäß diesen Zielen zuzurichten und zu formen ist. In dieser Vorstellung und Praxis der »Erziehung« ist einerseits realistisch impliziert, daß die Formierung des Kindes hin auf seine Verwertbarkeit im herrschenden Interesse nicht widerspruchsfrei den Lebensnotwendigkeiten und Entwicklungsbedürfnissen des Kindes entspricht, so daß das »Ziel« der Zurichtung auf die fremd-bestimmte Erwachsenenexistenz über das Kind hinweg, tendenziell gegen das Kind, durchgesetzt werden muß. Andererseits wird dabei ideologisch unterstellt, daß dies die einzige und allgemein »menschliche« Weise der individuellen Vergesellschaftung sei, ist also die Frage ausgeklammert, warum ein Kind eigentlich dazu gezwungen werden muß, sich bei seinem Bemühen, Verfügung über seine Lebensbedingungen zu gewinnen, damit seine Angst und Abhängigkeit zu überwinden, von den Erwachsenen unterstützen zu lassen.
Die so gefaßte bürgerliche »Erziehung« betrifft nun das Kind in einer Situation, in der es - wie dargestellt - zentral seine Subjektivität entwickeln, also sich selbst als Ursprung der Schaffung und Veränderung seiner Lebensbedingungen erfahren und in diesem Prozeß die Besonderheit seiner Lebensinteressen im Verhältnis zu den Interessen anderer erkennen lernen muß. Gerade dieser entscheidende Lernprozeß wird aber durch die geschilderte »Erziehungsförmigkeit« im Kern behindert und zersetzt- Zwar werden dem Kind hier lebensnotwendige Erfahrungen und Kompetenzen vermittelt, aber so, daß es sie immer nur als »ausführendes Organ« fremdgesetzter Ziele aneignen kann. Es läuft hier also mit seinen Anstrengungen» seine Lebensbedingungen und Handlungsmöglichkeiten selbst in den Griff zu bekommen, quasi immer wieder leer: Die Erwachsenen sind in ihrem uneinholbaren Besserwissen und Mehrkönnen (wie der Igel im Wettlauf mit dem Hasen) immer schon da angelangt, wo das Kind erst hin will. Dabei ist darüber, was im Interesse des Kindes ist, je weih von den Erwachsenen schon vorentschieden. Dies richtet sich aber unmittelbar, gegen die Herausbildung der praktischen Erkenntnis, daß man selbst sich Ziele setzen kann, und so die Ausgeliefertheit an einen fremden Willen überwindbar ist: Da dem Kind die fremdgesetzten Interessen so unterschoben sind, als ob es notwendig auch die eigenen wären, ist ihm verwehrt, den Unterschied und möglichen Widerspruch zwischen den eigenen Interessen und den Interessen anderer klar zu realisieren. Der Umstand, daß es so seine Ansprüche nicht zu artikulieren lernt, schließt ein, daß es auch keine klaren »Hegriffe« und »Kategorien« entwickeln kann, mit welchen es entscheiden könnte, ob jeweils an es herangetragene Ziele und stellvertretend für es wahrgenommene Interessen mit den eigenen Zielen/Interessen übereinstimmen oder diesen widersprechen. Dies würde aber - mit der Unfähigkeit, diese auf jeweils »sich selbst« zu beziehen - eine Gleichgültigkeit des Kindes gegenüber solchen Zielen/Interessen mit sich bringen.
Durch ihre erzieherische Formierung ist die Subjektentwicklung des Kindes zwar behindert, aber die geschilderte subjektive Notwendigkeit, Verfügung über die eigenen Lebensumstände zu erlangen, nicht eliminiert: Sie realisiert sich lediglich im dem Grade und der Form, die unter solchen restriktiven Bedingungen für das Kind subjektiv »funktional« erscheinen. Eine unmittelbarste spontane Reaktion des Kindes, um seiner permanenten Nötigung und Vereinnahmung durch »Erziehung« zu entgehen, ist der kindliche Widerstand. Diese mit der »Er-/iehungsförniigkeit« gesetzte Widerstän-digkeit ist so universell, daß man den Widerstund des Zöglings gegen Erziehung geradezu als ein konstituierendes Moment der bürgerlichen Erziehung und ihrer ideologischen Spiegelung selbst betrachten kann. Hierbei wird der Umstand, daß der Widerstand durch die Unterdrückung der kindlichen Subjektentwicklung von der »Erziehung« seihst erzeugt ist, ausgeklammert, und die Widerständigkeit der Zöglinge gegen die Erziehungsmaßnahmen erscheint damit als unmittelbare Rechtfertigung der Notwendigkeit, die Kinder in der Erziehung zu formieren, zu disziplinieren, zu unterwerfen. So wird deren Widerstand den Kindern selbst als deren schädliche Neigung unterschoben, die in der Erziehung bekämpft und ausgemerkt werden muß. Diese ideologische Verkehrung manifestiert sich etwa in dem klassischen Begriff der »Frechheit« als Grundeigenschaft des Zöglings, aber auch gängigen Begriffen wie »Bockigkeit«, »Faulheit«, »Albernheit« als Stammvokabeln der Kommunikation des Erziehers mit dem Zögling. Der gesamte Erziehungsprozeß wird so zu einem latenten oder manifesten Machtkampf, in welchem der Erzieher den Zögling zu packen versucht, und dieser sich dem permanent (je nach Alter) durch Trotz, Schreien, Sich-Fallenlassen, »Abschalten«, Betrügen, Täuschen, Vorspiegelung von »Bravheit« oder Schwänzen den Erziehungszumutungen entzieht.
Wie der Widerstand dagegen konstituierendes Moment der »Erziehung« in der bürgerlichen Gesellschaft, so ist die Brechung des Widerstandes der Kinder/Jugendlichen ein zentrales Moment solcher Erziehungskonzeptionen und -praktiken. Dabei variieren in den verschiedenen bürgerlichen Erziehungsvorstellungen nur die empfohlenen Formen der erzieherischen Widerstandsbrechung: So wird innerhalb von »modernen« Erziehungskonzeptionen etwa davon abgeraten, Kinder zu schlagen, direkt zu bestrafen, manifest und offensichtlich zu unterdrücken. Statt dessen soll man die Kinder lieber »motivieren«, d.h. sie dazu bringen, die fremdgesetzten Ziele zu verinnerlichen und schließlich selbst zu »wollen«, was sie sollen. Dabei werden also lediglich die direkt repressiven durch manipulative Formen der Widerstandsbrechung ersetzt, die zudem den Vorteil größerer Effektivität haben, da man äußeren Druck und erkennbaren Strafen ausweichen kann, die »verinnerlichten« Ziele aber auch dann die kindliche Lebenstätigkeit formieren, wenn gerade keine »Erziehung« stattfindet.
Der Widerstand der Kinder/Jugendlichen hat potentiell ein emanzipatorisches Moment, da hier der ideologische Schein der Identität von »Erziehung« und Unterstützung der Kinder in deren Interesse brüchig und die durch Erziehung praktizierte Machtausübung in Weitergabe der herrschenden Unlerdrückung an die Kinder deutlich werden könnte. Diese emanzipatorische Möglichkeit realisiert sich insbesondere da, wo die Kinder/Jugendlichen zu organisiertem Widerstand vordringen, wie in der Schülerbewegung, in der teilweise die personalisierenden Fixierungen auf die Lehrer überwunden und die Schüler mit Lehrern und Eltern gemeinsam gegen die institutionellen Entwicklungsbehinderungen in den bürgerlichen Institutionen kämpften.
In diesem Zusammenhang bezog ich mich in einem kursierenden Papier« auf das schöne Lied von Pink Floyd, »We don't need no education«, in dem Kinder davon singen, daß sie keine »Erziehung« brauchen, wobei die Art der »Erziehung«, gegen die sie hier Widerstand leisten, in der folgenden Liedzeile verdeutlicht wird: »We don't need no thought control.« Dieser Bezug wurde mir groteskerweise so ausgelegt, als ob ich einen »No-education-Ansatz« vertrete, also Erziehung auch in ihrem verallgemeinerten Aspekt als Unterstützung des kindlichen Aneignungsprozesses für überflüssig halte. In der Folge wurde dann die Formel »No-education« zu einem Schlagwort verselbständigt, man tat so, als ob es eine pädagogische Konzeption der »No-education« in der Nachbarschaft der Antipädagogik, der reform-pädagogischen Ideologie des »Wachsenlassens« etc. gebe, und machte die Kritik dann im wesentlichen an der mißverstandenen Wortbedeutung von »No education« fest. Der wirkliche inhaltliche Zusammenhang, die Problematisierung der Tatsache und der Gründe kindlichen Widerstands gegen Erziehung unter bürgerlichen Verhältnissen, ging dabei total verloren (vgl. dazu besonders Voets, DE 5, 1982).
Angesichts des benannten potentiell emanzipatorischen Moments des Widerstands gegen »Erziehung« zur Verwertbarkeit darf man den zusätzlichen Formierungseffekt nicht ühersehen, der mit der Brechung des Widerstandes, besonders in ihrer manipulativen Form, erreicht wird: Angesichts der Fremdgesetztheit der Erziehungsziele und der zu deren Durchsetzung um das Kind aufgebauten institutionellen Barrieren, Sanktionen, Bestechungen, haben das Nachgeben gegenüber dem Druck, die Weitergabe der herrschenden Unterdrückung an noch Schwächere, das Aufnehmen des Konkurrenzkampfes zum individuellen Vorteil auf Kosten anderer, ja eine »restriktive Funktionalität«, durch welche, wenn auch in reduzierter und widersprüchlicher Weise, ein Rest von Verfügung und Handlungsfähigkeit bewahrt werden kann. In der Ausbildung solcher restriktiver Handlungsfähigkeit mit der Verdrängung oder Privatisierung des Widerstandes und dem Verzicht auf die Teilhabe an der gemeinsamen subjektiven Verfügung über gesellschaftliche Lebensbedingungen zugunsten des Sicheinrichtens in der Abhängigkeit in kurzschlüssiger Kontrolle über andere liegt dann sozusagen eine »maßgeschneiderte« Vorbereitung auf die »gebremst« handlungsfähige fremdbestimmte Erwachsenenexistenz. Mit der Brechung des Widerstandes gegen Erziehung wird dem Kind zudem als allgemeiner Hintergrund seiner Lebenstätigkeit die Erfahrung vermittelt, wer hier die Macht hat und was einem passiert, wenn man sich als einzelner dieser Macht entgegenstellen will: Ohnmacht als unterschwellige Zentralthematik bürgerlichen Lebensgefühls.
Wenn wir uns nun aufgrund der bisherigen Überlegungen die Konsequenzen verdeutlichen wollen, die sich daraus für eine fortschrittliche »Erziehung« ergeben, so tun wir gut daran, uns zunächst den Widerspruch zu vergegenwärtigen, der in dieser Wortverbindung liegt. Es ist nämlich (wie schon angedeutet) keineswegs vertretbar, der geschilderten »bürgerlichen« Erziehung mit den genannten Restriktionen einfach eine »demokratische«. »fortschrittliche« Erziehung entgegenzustellen, die widerspruchsfrei mit der Unterstützungstätigkeit zusammenfällt. Auch »Linke« erziehen ihre Kinder auf ihre Verwertbarkeit unter kapitalistischen Verhältnissen hin, und auch Linke reproduzieren dabei notwendig, wie in ihrer eigenen Lebenspraxis und Befindlichkeit so auch in der »Erziehung«, die Unter-drückungs- und Konkurrenzverhältnisse, deren psychische Umsetzung und die damit verbundene Beeinträchtigung der subjektiven Lebensqualität der »Preis« für das Zurechtkommen unter den bestehenden Verhältnissen ist. Der Glaube, man könne innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft als Linker, Marxist, Kommunist, eine Erziehung praktizieren, die von den gesellschaftlichen Widersprüchen nicht tangiert ist, also selbst ein bruchlos »fortschrittlicher« Erzieher sein und seine Kinder dabei zu bruchlos »fortschrittlichen« Menschen erziehen, ist nur eine Variante der bürgerlich-ideologischen Vorstellung, man könnte schon hier zu unterdrückungs- und konkurrenzfreien, befriedigenden und beglückenden Beziehungen kommen, was impliziert, daß eine Umwälzung der kapitalistischen Klassenverhältnisse eigentlich überflüssig ist.
V.
Vortschrittliche »Erziehung« behindert Identifikation mit eigenen Interessen
Von demokratischer, fortschrittlicher Erziehung kann vielmehr von vornherein nur dann die Rede sein, wenn man die Restriktionen und Widersprüchlichkeiten, denen man dabei unterliegt, nicht verleugnet, sondern sich bewußt macht, und so erst dazu kommen kann, sich den eigenen spontanen Tendenzen, die immer im Einklang mit den herrschenden Interessen stehen, nicht zu überlassen, sondern sich mit dem Kind zusammen bewußt dazu zu »verhalten«, d.h. die Möglichkeiten einer Praxis »darüber hinaus« erkennen und realisieren zu können.
So ist es zwar klar, daß sich fortschrittliche Erzieher gemäß ihren eigenen politischen Vorstellungen auch fortschrittliche Erziehungsziele setzen werden, also sich vornehmen, die Kinder zu Solidarität, zur Parteinahme für das Proletariat, zum Engagement für den Frieden etc. zu erziehen. Weniger klar ist aber offensichtlich, daß damit solche Ziele nicht auch schon realisiert sind. Vielmehr fängt die Problematik fortschrittlicher Erziehung angesichts der geschilderten Widersprüchlichkeiten individueller Existenz in der bürgerlichen Gesellschaft hier eigentlich erst an. Bewußte Erziehungsziele schließen nämJich keineswegs zwangsläufig auch ein Bewußtsein darüber ein, welche Art Realisierung von Erziehungszielen einem durch die bürgerliche Ideologie »nahegelegt« ist, und man wird deshalb, sofern dieses Bewußtsein fehlt, spontan auch seine fortschrittlichen Ziele in einer Weise bei den Kindern durchzusetzen suchen, die im Einklang mit den herrschenden Verwertungsinteressen steht.
Jeder »fortschrittliche« Erzieher wird z.B. »zunächst« bei sich die spontane Tendenz beobachten können, für seine Kinder unmittelbar »das beste« zu erwirken, d.h. er will die Garantie haben, daß das eigene Kind zum fortschrittlichen Menschen wird, und versucht, dies direkt durch seine Erziehungspraxis beim Kind durchzusetzen. Sofern diese Tendenz nicht überwunden wird, ist aber einmal die Konkurrenzförmigkeit bürgerlicher Existenzsicherung blind reproduziert, in welcher jeder auf Kosten der anderen sich zu behaupten versucht und dabei der Illusion unterliegt, selbst sich individuell von den Restriktionen und Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft ausnehmen und sich bzw. sein Kind zu persönlicher Tadellosigkeit profilieren zu können (Jugendkriminalität, Drogensucht, faschistische Tendenzen unter Jugendlichen, das alles sind ja schlimme Auswirkungen der gegenwärtigen Krise des kapitalistischen Systems, aber meinem Kind kann so etwas bei meiner fortschrittlichen Erziehung etc. natürlich nicht passieren). Darin würde man aber zum anderen gleichzeitig - indem man sich der kurzfristigen und kurzschlüssigen Funktionalität des Zurechtkommens unter den bestehenden Verhältnisse überläßt - trotz aller fortschrittlichen Zielsetzungen die geschilderte bürgerliche »Erziehungsförmigkeit« als Vorbereitung auf die fremdbestimmte Erwachsenenexistenz vom Verwertungsstandpunkt aus reproduzieren.
Diese »Erziehungsförmigkeit« liegt hier darin, daß man - um »sicherzugehen«, daß das Kind ein »fortschrittlicher« Mensch wird und damit seine eigenen kurzschlüssigen Kontrollbedürfnisse als Erzieher zu befriedigen - in bürgerlicher Manier über die Ziele und Interessen des Kindes schon vorentschieden hat, die Ziele »von außen« an das Kind heranträgt und seine Interessen »besser kennt« als das Kind, und so in der dargestellten Weise den Prozeß behindert, in dem das Kind durch Entwicklung seiner Subjektivität eigene Ziele/Interessen erst einmal von fremden Zielen/Interessen unterscheiden lernen muß, um überhaupt erkennen zu können, was jeweils im eigenen Interesse ist, wo meine Interessen verletzt werden und wo ich fremde Interessen verletze. Somit wird auch und gerade da, wo die Realisierung der fortschrittlichen Erziehungsziele objektiv im Interesse des Kindes ist, durch deren »erziehungsförmige« Durchsetzung das Kind dabei behindert, dies auch zu begreifen. Die »fortschrittlichen«Ziele unterscheiden sich (zumal wenn sie vom Erwachsenen in vollem Bewußtsein ihrer Fortschrittlichkeit dem Kind engagiert angetragen werden) so für das Kind nicht von irgendwelchen fremdgesetzten Zielen als Ziele anderer, die mit den eigenen Interessen/Bedürfnissen nichts zu tun haben. Damit hätte hier auch der »fortschrittliche« Erzieher durch die »Erzie-hungslörmigkeit« seiner Beeinflussung des Kindes jene geschilderte Gleichgültigkeit gegenüber den Inhalten von Zielen/Interessen gefördert. Damit wäre in der fortschrittlich gemeinten Erziehung gerade das Gegenteil von dem erreicht, was man beabsichtigt, nämlich statt demokratischem Engagement ein allgemeines Disengagement mit der Tendenz zur Übernahme der Ziele/Interessen dessen, von dem man abhängig ist, Soweit das Kind dadurch in der Identifizierung seiner Interessen als eigene Interessen behindert ist, wird ihm auch erschwert zu begreifen, in welchen politischen Konzepten und Organisationen seine Interessen in den kollektiven Interessen aufgehoben sind.
Aus den früheren Überlegungen ergibt sich weiterhin, daß die Kinder/Jugendlichen die Tendenz haben können, wie gegen die »Erziehungsförmigkeit« ihrer Beeinflussung überhaupt, auch gegen eine »erziehungsförmige« Durchsetzung fortschrittlicher Ziele und Interessen Widerstand zu leisten: Sie werden sich also u.U. durch unsere »fortschrittlichen« Formierungsmaßnahmen genauso unter Druck gesetzt, bedrängt, belabert, genötigt sehen wie durch alle anderen erzieherischen Formierungsmaßnahmen, werden sich entziehen, abschalten, ausweichen, täuschen, Möglichkeiten der Entwicklung ihrer Subjektivität gegen und ohne uns suchen, womit sich das, was wir hier tun, also im Effekt von der »erzie-hungsförmigen« Durchsetzung irgendwelcher reaktionärer Ziele kaum unterschei-' det. Im Gegenteil, wir würden so die Kinder/Jugendlichen, da sie im Ausweichen vor Belästigung und Nötigung durch »Erziehung« u.U. (über die bloße »Gleichgültigkeit« hinaus) unsere Erziehungsmaßnahme abstrakt negieren, eher dazu bringen, daß sie ihren Lebensraum und ihre sozialen Beziehungen ganz woanders suchen als im Umkreis der Lebenspraxis ihrer fortschrittlichen Eltern.
Dies läßt sich noch zuspitzen, wenn man bedenkt, daß die Brechung des Widerstandes ja ein konstituierendes Moment der »Erziehungsförmigkeit« ist. Das heißt, daß - sofern die »Erziehungsför-migkeit« nicht überwunden ist - auch der Widerstand gegen »fortschritliche« Erziehungsziele durch Disziplinierung und/oder Manipulation gebrochen wird. Auch dabei könnte also das Kind in der geschilderten Weise so unter Druck gesetzt und bestochen werden, daß schließlich die Übernahme der »fortschrittlichen« Ziele als das kleinste aller Übel für das Kind subjektiv funktional wird, es sich in blinder Übernahme und Verinner-lichung der fremdgesetzten Ziele/Interessen in der Abhängigkeit von Machtinstanzen einrichtet. Hier besteht mithin die Gefahr, daß der scheinbare Erziehungserfolg, daß das Kind/der Jugendliche nun »fortschrittliche« Ansichten vertreten, sich entsprechenden Organisationen zuwenden etc. quasi nur ein Pyrr-hus-Sieg der Erwachsenen ist: Das Kind mag hier lediglich in Annäherung an die fremdbestimmte Erwachsenenexistenz opportunistisch sich den Erwachsenen auf deren unmittelbaren Druck hin angepaßt haben: Wenn es dann über die fortschrittliche Enklave hinaus mit den umgreifenden bürgerlichen Machtverhältnissen konfrontiert ist, wird es sich auch diesen anpassen, und man wird es dann nicht wiedererkennen.
VI.
Nicht die eigenen Widersprüche vor den Kindern verschleiern!
Wenn man nun versuchen will, im Ansatz an den geschilderten Widersprüchlichkeiten und Schwierigkeiten zu positiven Bestimmungen fortschrittlicher Erziehung in der bürgerlichen Gesellschaft zu kommen, so sollte aufgrund des bisher Gesagten zunächst klar sein: Fortschrittliche Erziehungspraxis kann den dargestellten Widersprüchlichkeiten keineswegs dadurch entkommen, daß sie mit der Erziehungsförmigkeit des Umgangs mit den Kindern die Notwendigkeit systematischer Unterstützung der Kinder überhaupt leugnet: Alle Erziehungskonzeptionen, in denen ein »laissez faire«, ein »Wachsenlassen« etc. propagiert wird, sind ja Varianten der bürgerlichen Erziehungsideologie, in denen (auch wo sie sich selbst »fortschrittlich« verstehen) mystifiziert ist, daß sich unter bürgerlichen Verhältnissen »von alleine« immer nur das »Naheliegende«, d. h. die herrschende Ideologie, spontan reproduziert. Es ist nicht schwer nachzuweisen, wie in Vorstellungen wie denen der »antiautoritären Erziehung«, in einer Weise, die den besonderen Durchsetzungsinteressen der privilegierten Schichten angemessen ist.
Mit Hilfe der subtilen, manipulativen Ausprägungen der Erziehungsförmigkeit Strategien der Anpassung und des Zurechtkommens unter den herrschenden Verhältnissen vermittelt werden. Erziehung, die den Anspruch auf Fortschrittlichkeit erhebt, muß vielmehr durch bewußte und geplante Unterstützung den Kindern dabei helfen, im »Schwimmen gegen den Strom« herrschender Ideologie und Lebenspraxis über den vordergründigen Widerstand gegen »Erziehung« hinauszukommen und Widerständigkeit gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse zu entwickeln, die die langfristigen Lebensinteressen der Kinder wie der Erwachsenen behindern.
Daraus ergibt sich, daß »Unterstützung« der Kinder in der bürgerlichen Gesellschaft sich nicht mit der Hilfe bei der Entwicklung von Fähigkeiten und Kompetenzen erschöpfen kann, sondern darüber hinaus auf die Hilfe bei der Erkenntnis und Umsetzung der wohlverstandenen eigenen Interessen des Kindes gerichtet sein muß. Dazu sind den Kindern durch die Unterstützung eigene Erfahrungen zu ermöglichen, mit welchen im Versuch der Durchsetzung der eigenen Interessen deren Verhältnis zu den Interessen anderer, damit auch das Verhältnis zwischen gemeinsamen/allgemeinen und antagonistischen Interessen an der gesellschaftlichen Realität selbst faßbar werden. Dies schließt die Unterstützung der Kinder dabei ein. ihre eigenen Interessen auch gegen die Interessen der Erzieher selbst zu artikulieren, weil dies ein notwendiger Schritt dahin ist, hinter den auf vordergründig personalisierender Ebene aufscheinenden Interessengegensätzen die wirklichen, langfristigen Interessengegensätze und -gemeinsamkeiten zu erfassen. Indem die Kinder dabei an der fortschrittlichen Lebenspraxis der Erwachsenen beteiligt werden, darf mithin das Begreifen dieser Praxis nicht durch »erziehungsformige« Erzeugung von Widerstand dagegen erschwert werden. Vielmehr sind die Kinder dabei zu unterstützen, den Zusammenhang dieser Praxis mit ihren eigenen elementaren Lebensinteressen zu erfassen. Dazu gehört, daß die Erwachsenen ihre mit dem Versuch fortschrittlicher Lebensführung in der bürgerlichen Gesellschaft (wie dargestellt) notwendig verbundenen eigenen Widersprüche, konkurrenzförmigen Tendenzen zur individuellen Behauptung, Opportunismen, Halbheiten etc. nicht vor den Kindern verstecken. Demgemäß müssen die Hr/ieher auch ihrer spontanen Neigung widerstehen, die aus der eigenen widersprüchlichen und belasteten Situation entstandene Ungeduld, Druckausübung, Inkonsequenz gegenüber dem Kind als Erziehungsmaßnahmen zum Besten des Kindes auszugeben, um so die »Erziehungsförmigkeit« der eigenen Maßnahmen durch defensive Selbststilisierung zu einem tadelfrei-fortschrittlichen »Vorbild« zu legitimieren. Vielmehr müssen meine Schwierigkeiten, dabei auch der Druck und die Willkür, mit denen ich meine kurzschlüssigen Interessen beim Kind durchsetze, tendenziell mir dem Kind auf ihre in den Verhältnissen liegenden Gründe hin geklärt werden. Nur so können die Kinder von den Erwachsenen lernen, wie man solche problematischen Handlungsweisen nicht verdrängt und abschiebt, sondern in gemeinsame Aktivitäten zur Änderung der Verhältnisse, die sie »funktional« machen, umsetzen kann. Nur so sehen sich die Kinder auch mit ihren eigenen Schwierigkeiten etc. bei den Erwachsenen aufgehoben, können so eher über personale Schuldgefühle und Schuldzuweisungen hinaus zur Erkenntnis der gemeinsamen psychischen Misere des Zurechtkom-men-Müssens in der kapitalistischen Klassenwirklichkeit und der gemeinsamen Kampfperspektive der Verbesserung der psychischen Lebensqualität für alle kommen.
Um etwas näher zu erläutern, wie eine so verstandene fortschrittlich gerichtete Erziehungspraxis (in der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse nicht durch »erziehungsförmige« Forcierung der Herrschaft des Erziehers über den Zögling eher verdeckt werden) konkret zu fassen ist, will ich exemplarisch etwas näher auf ein (obzwar wesentliches) Spezialproblem eingehen, das Problem der Funktion des kindlichen Fragens im Erziehungs/Unterstützungsprozeß.
VII.
Vom Umgang mit Kinder-Fragen
Der fortschrittliche Akzent einer Erziehung, die um die Fragen der Kinder/Jugendlichen an die Erwachsenen zentriert ist, erhellt aus dem Negativen schon daraus, daß in der bloß formierenden bürgerlichen Erziehung das Monopol des Fragens bei den Erziehern liegt, die Fragen der Zöglinge aber bestenfalls in einem vorgegebenen Rahmen als »Nachfragen« gestattet, als offene Fragen aber verboten .sind und unterdrückt werden. In grober und mehr konservativer Form manifestiert sich dies in Maximen wie »Kinder reden nur. wenn sie gefragt sind«, in der Aussage des Lehrers, »Fragen stelle ich«, in der Ironisierung der Frage und Bloßstellung des Fragenden ob seiner »dummen« Frage. Aber auch diesbezüglich gibt es modernere, liberale, manipulative Formen der Unterdrückung. Indem man scheinbar (wie in der neueren Ratgeber-Literatur empfohlen), gewissenhaft alle Fragen des Kindes/Jugendlichen beantwortet, in Wirklichkeit aber den Frageinhalt verwässert, über die Frage hinweg, am Kind vorbei, antwortet, also das pädagogische Kunstmittel der »rhetorischen Antwort« praktiziert, insbesondere aber, indem man in die Antwort eine pädagogische Nutzanwendung, eine Moral, eine Belehrung einflicht, so den Spieß umdreht, die mit der Frage vom Kind ausgehende Initiative wieder an sich bringt. Die Zurückweisung der Fragen, ob nun direkt oder nianipu-lativ, gewöhnt tendenziell dem Kind das Fragen ab, indem es lernt, daß man sich mit Fragen Blößen gibt, »Erziehung« provoziert, etc., und so seine Fragen lieber für sich behält.
Die Gründe dafür, daß in der formierenden bürgerlichen Erziehung das Fragen beschnitten und eingeschränkt ist. sind klar: Das Stellen von Fragen bedeutet generell eine Machtausübung, das Zulassen von Fragen aber eine Delegation von Macht, Wer sich befragen läßt, betritt unsicheren Boden, weiß nicht, wohin das führen wird, etc. Im Rahmen formierender Erziehung heißt dies konkret: Wenn man den Zöglingen die Art ihres Fragens selbst überläßt, besteht permanent die Gefahr, daß die Brüchigkeit und Fadenscheinigkeit der vorgespiegelten Wahrnehmung der Interessen des Zöglings durch die Erziehungsinstanz offenbar wird, daß etwa dem Kind Zweifel daran kommen, ob die Erwachsenen tatsächlich »das Beste« für es wollen (können), daß in der Schule die »herrschende Tendenz« der Stoffauswahl und Behandlung nicht mehr zu verheimlichen ist etc., allgemein, daß die scheinbare Einheit zwischen Kapitalinteressen und individuellen Interessen (in welchen Vermittlungen auch immer) auf die darin verborgenen Interessenantagonismen hin dureliscfianbar werden und so das Erziehungsziel der Formierung zur Verwertbarkeit gefährdet sein könnte. So ist es verständlich, daß innerhalb der politischen Auseinandersetzungen aufgrund der Schüler- und Studentenbewegung das Recht des Schülers/Studenten, offen zu fragen, ein zentraler Streitpunkt war: Es sind nicht wenige Schüler von der Schule verwiesen* worden, weil die den Unterricht dadurch »störten«, daß sie sich mit ihren Fragen nicht mehr abweisen ließen. Auch heule noch bringt das Insistieren von Studenten auf ihren Fragen den Professor nicht selten dazu, unter Protest den Raum zu verlassen und anschließend gegen den Frager ein Disziplinarverfahren zu beantragen.
Aus der Beschränkung und Kanalisierung des Fragens in der bürgerlichen Erziehung ergibt sich nun aber, daß wir als Marxisten zu den Fragen der Zöglinge eine genau umgekehrte Haltung einnehmen müssen: Wir haben ja im Prinzip nichts zu verbergen, und haben letztlich auch keinen Grund zu befürchten, daß man uns durch zu weitgehende Fragen auf die Schliche kommt. Demnach können wir die Fragen des Kindes/Jugendlichen unmittelbar als das akzeptieren und fördern, was sie sind, nämlich als eine Ausdrucksform und Betätigung ihrer sich entwickelnden Subjektivität. Wenn wir also bei uns selbst die Neigung feststellen, den Fragen auszuweichen, in denen unsere eigene Problematik, die Widersprüchlichkeit unserer eigenen Existenz unter bürgerlichen Verhältnissen deutlich werden könnte, so dürfen wir dem nicht nachgeben, sondern müssen und können uns bewußt dazu verhalten. Wir haben so die Möglichkeit, uns dahin zu entwickeln, auch solche Fragen nicht abzublocken oder fehlzuleiten, sondern sie zum Anlaß zu nehmen (in der geschilderten Weise), die Gründe für die eigenen Schwierigkeiten samt der spontanen Tendenz, sie aus Konfliktscheu zu leugnen und sich als unfehlbar hinzustellen, mit dem Kind/Jugendlichen gemeinsam offenzulegen. Auf diese Weise lernen die Kinder von den Erwachsenen, wie man im eigenen wohlverstandenen Interesse mit solchen Tendenzen zur Anpassung und Widerspruchseliminierung umzugehen hat. Somit können wir uns als Marxisten von der zentralen Hinsicht leiten lassen, daß nur, wenn die Kinder/Jugendlichen es lernen, radikal genug weiterzufragen, sie den Schein der Nahrhaftigkeit und Unverän-derlichkeit bürgerlicher Lebensverhältnisse durchbrechen, ihre wirklichen Interessen erkennen und für deren Durchsetzung kämpfen können. Das Sicheinrichten in der Abhängigkeit und Sicharrangieren mit den Herrschenden isl ja gleichbedeutend damit, an allen riskanten Stellen freiwillig mit dem Weiterfragen aufzuhören und die Kinder dazu zu bringen, ist deshalb das vornehmste Ziel der formierenden bürgerlichen Erziehung.
VIII.
Fortschrittliche Erziehung ist bewußt und planmäßig
Man mag beim ersten Hinsehen einen Widerspruch darin finden, daß eine fortschrittliche Erziehung, in welcher (wie wir es am Umgang mit den Fragen der Kinder/Jugendlichen veranschaulicht haben) partiell und gezielt die Initiative an die Kinder abgegeben wird, bewußte und geplante Erziehung sein soll. Dieser Widerspruch wird jedoch schnell durchdringbar, wenn man sich vergegenwärtigt, daß ja gerade in der Erziehungsförmig-keil spontan der bürgerlichen Ideologie nachgegeben wird, der Erzieher hier also, da er das Kind auf seine fortschrittlichen Zielsetzungen hin zurechtstutzen will (und so dauernd »dazwischenfunkt« und an dem Kind »herumerzieht«), tatsächlich bewußtlos handelt, sich (indem er unmittelbar »das Beste« für sich und die Seinen will) quasi »gehen läßt«. Von da aus verdeutlichen sich dann auch die Züge einer pädagogischen Konzeption, an deren Leitlinie die gemeinsame Lebensrealitat praktisch und verbal so strukturiert werden kann, daß damit dem Kind/Jugendlichen die Widersprüche bürgerlicher Klassenrealität und darin gegebenen Möglichkeilen zur Verfügung über die eigenen/allgemeinen Lebensbedingungen immer klarer faßbar und umsetzbar werden. Einer Konzeption, gemäß welcher dann auch die revolutionären lugenden der Disziplin und Unterordnung den Kindern/Jugendlichen in einer Weise nahegebracht werden können, die weder lediglich brüchige Dressurresultate erzeugt noch das Gegenteil provoziert, sondern begreifbar macht, daß bzw. unter welchen Bedingungen Disziplin und Unterordnung, da im allgemeinen Interesse, auch in jeweils meinem ureigensten Interesse an der Oberwindung der Abhängigkeit und Fremdbestimmheit unter bürgerlichen Verhältnissen ist. Ich kann die damit benannte pädagogische Konzeption, deren Ausarbeitung intensive Forschungsarbeit marxistischer Wissenschaft und deren Realisierung eine neue Ebene der Einsicht und Selbstdisziplin der Erzieher erfordert, hier nicht näher charakterisieren. Soviel sollte aber klar geworden sein. Fortschrittliche Einziehung, in der auf diesem Wege die Entwicklung der Subjektivität der Kinder/Jugendlichen unterstützt wird, ist tatsächlich (im dialektischen Sinne, also an der Selbstbewegung des Gegenstandes orientiert) bewußte und geplante Erziehung - die »erziehungsförmige« Verplanung der Zukunft des Kindes gemäß den eigenen Vorstellungen aber als kurzschlüssiges Kontrollstreben nur eine Spielart bewußtloser Befangenheit in den bürgerlichen Formen.