Der Wind blies immer noch stark am Morgen des 11. Mai, aber der Tag war klar und schön. Jetzt oder nie würden wir den kuppelförmigen Berg besteigen. Trotz einer guten Nachtruhe kamen wir alle nur langsam auf die Beine. Es war sehr kalt, und selbst kleine Aufgaben, wie die Schuhe zuzubinden und unsere Schutzbrillen mit Anti-Beschlagmittel zu präparieren, schienen einen ungeheuren Aufwand an Zeit und Energie zu verbrauchen. Mit anderen Worten: Wir spürten die Höhe. Evelyn zog sich an und ging hinaus in die Sonne. Sie hatte rasende Kopfschmerzen, hoffte jedoch, sie würde sich besser fühlen, wenn sie sich bewegte, wie sie es schon am Vortag gemacht hatte. Ganz plötzlich überfiel sie ein heftiger Brechreiz, und sie übergab sich. Diesem Anfall folgte ein Gefühl völliger Erschöpfung, und sie erkannte, dass die Höhenkrankheit sie fest im Griff hatte. Langsam schleppte sie sich zum Zelt zurück, das sie mit Betty geteilt hatte, und rang sich nach einem inneren Kampf zu einer schweren Entscheidung durch: Sie würde die Gruppe der Gipfelstürmer nicht begleiten, aus Angst, sie zu behindern oder aufzuhalten. Als sie Betty und mir die Neuigkeiten mitteilte, bedauerten wir es sehr für sie, aber wir bewunderten ihren Mut, den Tatsachen ins Auge zu blicken. Es würde ein langer und anstrengender Aufstieg werden, sogar für fitte und gut ernährte Menschen, und Evelyn war schon seit Tagen am »Fasten«. Mingma und Ang Temba sollten die anderen Mitglieder der Gruppe bilden, sie waren um acht Uhr abmarschbereit, Betty ebenfalls. Sie sah sich nach mir um, aber ich war nirgends zu sehen. Sie behauptete später, sie hätte mich in meinem Zelt kniend gefunden, während ich einen Film in meine Kamera einlegte und dabei eine Art Singsang vor mich hin murmelte »Kamera, Kompass, Karte, Taschenlampe, Ersatzsocken, Seidenhandschuhe, Wollhandschuhe, Wind abweisende Handschuhe ...« »Los, beeil dich«, sagte Betty tadelnd, »was machst du denn da?« Ich antwortete, selbstverständlich sei ich gerade dabei, den Film zu wechseln und die Sachen zusammenzusuchen, die ich mitnehmen wollte. Ungeduldig schlug ich ihr vor, sie solle lieber gehen und sich selbst fertig machen, denn es sei wirklich höchste Zeit aufzubrechen. »Ich bin fertig«, sagte Betty lachend. »Wir warten alle nur noch auf dich.« »Ach, du bist schon fertig?« Ich war leicht erstaunt. »Also los!«
Ich packte alles Wesentliche für diesen Tag in meinen kleinen Rucksack, krabbelte aus dem Zelt, griff nach meinem Eispickel und erklärte, ich sei nun bereit. Ich bin überzeugt, es lag weder an der Kälte noch an der Höhe, dass ich an diesem Morgen zu benommen war, um mich zu konzentrieren oder einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen, bis ich in Bewegung war. Aber Betty hört seitdem nicht auf zu erklären, das alles sei nur ein Zeichen Jacksonscher Verwirrung, wie sie es schon in verschiedenen Klimata und in allen möglichen Höhenlagen, einschließlich der Meereshöhe, erlebt hätte. Unsere Gipfelstürmergruppe, die aus vier Leuten bestand, brach nun auf, arbeitete sich ihren Weg über den Gletscher und unter den Eiswasserfall, in der Hoffnung, eine Lücke in seiner Unpassierbarkeit zu finden. Auf der gegenüberliegenden Seite konnten wir tatsächlich durch etwas, das Betty als »kleine Hintertür einer Gletscherspalte« beschrieb, hindurchschlüpfen. Nichts desto trotz mussten wir sehr vorsichtig sein. Die Schneeverhältnisse schwankten zwischen schlecht und katastrophal. Manchmal hatte die Oberfläche eine Kruste, die zwar nicht bei jedem Schritt nachgab, aber doch oft genug, um gleichmäßiges Bergsteigen unmöglich zu machen. Dann wieder war der Schnee tief und weich und klebte an unseren Stiefeln wie Kleister, so dass wir unsere Sohlen bei jedem weiteren Schritt mit unseren Eispickeln abklopfen mussten, um die schweren Stollen zu entfernen. Nach einiger Zeit kamen wir zu einer weiteren Gletscherspalte, einer großen dieses Mal, die sich quer über den Gletscher erstreckte. Wir konnten sie auf der rechten Seite nicht umgehen, sahen aber, dass wir, wenn wir sie der Länge nach ihrem unteren Rand entlang überquerten, links herum gehen konnten. Wir machten uns also auf den Weg und befanden uns bald oben auf einem sanft abfallenden Eishang, auf der einen Seite die eine Gletscherspalte und auf der anderen eine weitere breitere, die grinsend wie ein Hai weit unten auf der Lauer lag. Wir mussten uns geschmeidig und gefühlvoll bewegen, wie Katzen auf dem Dach, und mit unseren Profilsohlen auf der dünnen Schneeschicht über dem Eis Halt finden. Bevor wir das Ende der Gletscherspalte erreichten, kamen wir zu einer Stelle, wo sie bis oben hin mit Schnee gefüllt war. Mingma schlug vor, dort hinüberzugehen. »Ich glaube nicht, dass es sicher ist«, zweifelte ich, da ich dem Anblick misstraute. »Doch, doch, Memsahib, so früh am Tag ist es bestimmt sicher. Sieh ...« Mingma prüfte den Schnee mit seinem Pickel. Er schien fest genug zu sein. Ang Temba unterstützte Mingma mit seinen Ansichten, und Betty war zu sehr außer Atem, um eine Meinung äußern zu können. Immer noch vor mich hin brummend, ließ ich mich überreden, und wir nahmen eine erfolgreiche, wenn auch möglicherweise riskante Abkürzung über den Schnee, der die Gletscherspalte bedeckte. Der Gletscher stieg nun steil an, und der Pass an seinem oberen Ende erschien frustrierend hoch und weit entfernt.
Stellen mit blauem Eis glänzten über uns, als wir den endlos erscheinenden Aufstieg begannen. Mingma, der bis zur ersten Gletscherspalte hinauf die Führung übernommen hatte, übergab an Ang Temba und zog sich ans Ende zurück. Wir waren übereingekommen, den Sherpas am Anfang die Führung zu überlassen, da sie aufgrund ihrer größeren Kraft auch in dem schweren Schnee spuren konnten, ohne ihre ganzen Energiereserven aufzubrauchen. Ang Temba stampfte mit seiner gewohnten schwungvollen und fröhlichen Art Tritte, und wir gewannen schnell und stetig an Höhe, auch wenn wir deswegen unter Kurzatmigkeit litten, die unseren Lungen immer mehr zu schaffen machte. Betty schrieb gefühlvoll in ihr Tagebuch: »Endlos lange Hänge führten immer höher hinauf, meist mit weichem Schnee bedeckt, durch den manchmal völlig unerwartet das Eis durchschimmerte. Monica übernahm ihren Part beim Anführen und Tritte-Schlagen, aber ich litt unter der Höhe, und alles, was ich tun konnte, war, den anderen zu folgen.
Ich versuchte alles Erdenkliche, um weitergehen zu können; ich atmete schneller als nötig; machte bei jedem Schritt zwei Atemzüge, dann drei, vier, aber alle erschöpften mich. Ich wollte weinen, aber niemand ließ mir dazu Zeit!« Wir hielten in regelmäßigen Abständen an, um auszuruhen und mit Interesse zu verfolgen, wie die Berge, die sich die ganze Zeit über uns aufgetürmt hatten, nun allmählich schrumpften. Der Ladies-Peak, den wir ursprünglich besteigen wollten, wurde zu einer schmalen gezackten Silhouette weit unter uns. Selbst die Phurbi Chyachu (wir betrachteten diesen Berg immer als weiblich) zeigte sich jetzt viel weniger eindrucksvoll; sie hatte ein ausgesprochen kaulquappenähnliches Aussehen durch ihren langen gewundenen Grat, der mit dem runden Kopf ihres Gipfels verbunden war. Wir schauten zu dem Pass hinunter, auf dem wir vor drei Tagen gestanden hatten und sahen dahinter die vielen tibetischen Berge, die sich hintereinander in der Ferne verliefen. Bei einer dieser Pausen beruhigte sich Bettys Atem so weit, dass sie uns sagen konnte, was ihr im Kopf herumging. Sie machte sich Sorgen, dass sie uns aufhielt. Ich versicherte ihr, dies sei nicht der Fall, was der Wahrheit entsprach, aber sie war noch nicht überzeugt und rang mir das Versprechen ab, dass Mingma und ich, sobald wir den Pass erreicht hatten, nicht auf sie warten, sondern zum Gipfel des Berges weitersteigen würden. In der Hoffnung, sie umzustimmen, drehte ich mich zu Mingma um und erzählte ihm, dass sie das erste Mal im Himalaya war. Sei er nicht auch der Meinung, sie würde sich wacker schlagen? Zu unserem Erstaunen schaute Mingma uns feierlich an und begann uns eine kleine Lobrede über unsere bergsteigerischen Fähigkeiten zu halten. Zuerst verglich er unsere Leistung ablehnend mit der verschiedener Sahibs, mit denen er in den Bergen unterwegs gewesen war, obgleich er gnädigerweise eingestand, dass Raymond Lambert schneller als wir war. Am Schluss erzählte er uns mit unverhohlener Schadenfreude noch ein paar skandalöse Einzelheiten von Sahibs, die auf der Strecke geblieben waren. Ich übersetzte das alles vergnügt Betty, die dankbar, aber leicht erstaunt dreinblickte. Mingmas überraschender Ausbruch hatte im Ganzen eine motivierende Wirkung auf uns, was er zweifellos auch beabsichtigt hatte.
Ich übernahm nun die Führung von Ang Temba. Mittlerweile ging es sehr steil bergauf, auch wenn der Schnee besser war. Wir stiegen höher und höher, und mir schien es, als ob ich mein Leben lang Stufen geschlagen hätte. Ganz plötzlich stürzte Betty in eine verborgene Gletscherspalte, die Ang Temba und ich in völliger Ahnungslosigkeit überquert hatten. Sie fiel jedoch nur bis zu den Hüften hinein und zog sich schnell wieder heraus. Entgegen ihrer eigenen Meinung stieg sie gleichmäßig und gut nach oben, und sie hielt uns sicher nicht ein einziges Mal auf, was sie anscheinend insgeheim vermutete. Das Einzige, woran wir ihre Anstrengung bemerkten, war ihre Unfähigkeit, auf unsere Kommentare oder Fragen zu antworten. Sie hatte buchstäblich nicht genug Luft dazu. Ich spurte weiter, keuchte und hielt an und ging wieder weiter, bis wir das Eis erreichten. Ich schlug Stufen hinein, später in den gefrorenen Schnee, dann in noch mehr Eis. Als der Schnee wieder weich wurde, wechselte Ang Temba bis zur nächsten Pause an die Spitze, bevor ich wieder vorausging. Das letzte Stück bis zum Pass bestand aus hartem Schnee, in dem ein paar Axthiebe genügten, was sehr angenehm war. Als wir oben auf dem Pass ankamen, über den ein Höhenwind losen Schnee wirbelte, fühlte ich die Erregung, die sich während des ganzen Aufstiegs in mir angestaut hatte und nun einen Höhepunkt erreichte. Unter uns lag Tibet; diesmal waren es nicht alle Berge, die wir von weiter unten gesehen hatten, aber ein weites welliges braunes Plateau mit violetten Schatten, was für das Auge nach dem tagelangen Anblick von Eis, Schnee und Fels sehr wohltuend war. Wir hatten gehofft, Gosanthan von hier aus zu sehen, wurden jedoch enttäuscht. Wahrscheinlich wurde es von einem Bergmassiv, das fast direkt im Norden von uns aufragte, verdeckt. Zu unserer Linken stieg das Grenzgebirge in einer Felsschulter nach oben, die zu dem prächtigen Gipfel nördlich des Dorje Lakpa führte.
Wir nannten ihn - etwas einfallslos den »großen weißen Gipfel«. Dahinter lag der Langtang Himal. Auf der rechten Seite befanden sich die glitzernden Hänge aus blankem Eis, die zu unserer Berg-Kuppel hinaufführten. Wie gewohnt fiel der Grat abrupt zur tibetischen Seite hin ab und wurde am Pass von einer gewaltigen Schneewechte überhangen, die uns daran hinderte, zu nah an den Rand zu gehen. Wir aßen etwas Pfefferminzkuchen, machten Fotos und zogen unsere Steigeisen an. Es war bitterkalt, und wir brauchten drei Paar Handschuhe. Zu unserer Bestürzung zogen von Süden her schnell Wolken zu uns herauf, die ungewöhnlich schwarz und bedrohlich aussahen. Wenn wir den Gipfel erreichen wollten, bevor er im Nebel verschwand, mussten wir uns beeilen. Wir hatten schon dreieinhalb Stunden benötigt, um zu dem Pass zu gelangen. Also seilten wir uns wieder an: Mingma und ich an einem Seil, Betty und Ang Temba am anderen. Mingma und ich begannen den Aufstieg im Eis, unsere Steigeisen griffen gut. Ich hatte gehofft, den ganzen Weg die Führung zu übernehmen, da ich mich fit und energiegeladen fühlte. Doch angesichts der Wolken verwarf ich diesen Wunsch zugunsten der Expedition. Wenn Mingma in seiner momentanen übermütigen Stimmung führte, würde ich mich seinem Tempo anpassen müssen und wir kämen viel schneller nach oben als in meiner langsameren Gangart. Wie sich herausstellte, war das eine weise Entscheidung, obwohl ich manchmal dachte, ich müsste sterben. Mingma rannte förmlich das Eis hinauf, mich hinter sich herziehend. Nie zuvor hatten wir uns so schnell in den Bergen bewegt, und ich befand mich jetzt höher als je zuvor - wir mussten weit über 6400 Meter sein. In diesem Tempo konnte ich nicht schnell genug Atem schöpfen und stoppte mit einem Mal, um zu keuchen, dass ich unbedingt eine Pause bräuchte. Besorgt sagte Mingma: »Die Wolken, Memsahib.« Sie waren sehr nah, und ihr Anblick spornte mich an, meine letzten Reserven zu mobilisieren. Plötzlich hielt Mingma an, deutete mit einem freudestrahlenden Lächeln voraus und sagte: »Sieh, der Gipfel!« Wir sahen den Eishang vor uns flacher werden und plötzlich in einem unerwarteten kleinen Schneegipfel enden. Dieser Anblick wirkte so belebend wie eine Dosis reinen Sauerstoffs. Ich nahm einen tiefen Atemzug und sagte: »Also gut, lass uns weitergehen.« Und wir stiegen das letzte Stück Seite an Seite zum Gipfel hinauf. Unser Berg endete abrupt wie mit einem Meißel abgehauen, und eine große Schneewechte hing auf der tibetischen Seite über. Während Mingma unsere kleine orangefarbene Markierungsflagge heraussuchte, sie an seinem Eispickel festband und in den Schnee steckte, schaute ich in die Runde, um so viel wie möglich von den Bergen zu sehen, bevor sie in den Wolken verschwanden. Da lagen die drei Gipfel des Dorje Lakpa, leicht erkennbar, aber seltsam klein und weit entfernt. Gleich daneben sah man die herrliche muschelähnliche Bogenform auf dem Grat des großen weißen Gipfels. Dann fiel mein Blick auf die Phurbi Chyachu. Konnten wir wirklich auf ihr Gipfelplateau hinunterschauen?
Ich rief aus: »Mingma, wir sind höher als die Phurbi Chyachu!«, und er erwiderte stolz: »Ja, höher, Memsahib.« Wir freuten uns riesig, vermutlich weil dieser Berg im Basislager so einschüchternd über uns aufragte. Als wenn sie es verhindern wollte, in einem so unvorteilhaften Blickwinkel gesehen zu werden, hüllte die Phurbi Chyachu sich in Wolken. Die Wolken waren schnell heraufgezogen, glücklicherweise jedoch nicht ganz so schnell wie wir. Nach ein paar eher schmerzlichen Minuten des Fotografierens setzten wir uns, um Wasser mit Zitronenlimonade zu trinken und uns kameradschaftlich zu unterhalten. Zwanzig Minuten später beschlossen wir, hinunterzugehen und nach Betty und Ang Temba zu schauen. Wir sammelten unsere Ausrüstung zusammen, banden die Flagge vom Pickel los und steckten sie mit ihrem Stab in den Schnee, dann drehten wir um und gingen. Plötzlich hielten wir beide mit demselben Gedanken inne. Es gab etwas Wesentliches, das wir vergessen hatten! An Ort und Stelle schüttelten wir uns feierlich die Hände, wohl wissend, dass es niemanden gab, der diesen Ausdruck von Konventionalität beobachtete. Wir begannen den Abstieg, sahen jedoch zu unserer Freude schon bald Betty und Ang Temba heraufkommen, nur etwa eine halbe Stunde hinter uns. Das war eine große Leistung, da Bettys Steigeisen sich wieder gelöst hatten, und Ang Temba hatte (aus irgendeinem mysteriösen und nur Sherpas verständlichen Grund) überhaupt keine mitgenommen, so dass sie den ganzen Weg bergauf Stufen ins Eis schlagen mussten. Wir gingen zum Gipfel zurück, um auf sie zu warten, und ich setzte mich mit einem selbstzufriedenen und freien Gefühl hin und dachte mir Beschriftungen für die Fotos aus, die ich gemacht hatte. Leider waren sie später mehr oder weniger unleserlich. Als die anderen beiden oben waren, schüttelten wir uns alle sicherheitshalber noch einmal die Hände (die Sherpas machten mit großer Begeisterung mit, insbesondere Ang Temba, der es als neues Spiel ansah) und schossen noch mehr Fotos. Dann feierten wir mit Pfefferminzkuchen und Schokolade. Wir hatten keinen Höhenmesser, aber unserer Lage im Verhältnis zu den uns bekannten Höhen des Dorje Lakpa, der Phurbi Chyachu und des großen weißen Gipfels nach zu schließen, befanden wir uns jetzt auf ungefähr 6700 Metern.
Mingma beteuerte, wir wären noch höher, viel höher, und als Beweis führte er wieder einmal seine »Symptome« an. Er sagte, noch nie in seinem Leben hätte er solche Atemschwierigkeiten gehabt. Ich versicherte ihm, dass Menschen, die versuchen, auf Himalaya-Gipfel zu spurten, im Allgemeinen mit kleineren Problemen dieser Art zu rechnen hätten ... Inzwischen hatten ungewöhnlich dunkle Wolken die meisten Berge verdeckt, wenn auch die tibetische Hochebene immer noch klar erkennbar war. Der Wind wurde ebenfalls stärker, und es war sehr kalt geworden. Ich verlor allmählich das Gefühl in meinen Händen und fand, es sei höchste Zeit, sich auf den Weg zu machen. Betty schnallte ihre Steigeisen wieder an, und wir begannen den Abstieg, so schnell wir konnten. Die Flagge ließen wir im Schnee auf dem Gipfel stecken, wie eine winzige Kirsche auf einem kolossalen Eisbecher. Während wir abwärts stiegen, merkten wir, dass die Wolken Vorboten eines Sturms waren. Der immer stärker und eisiger werdende Wind machte uns schwer zu schaffen, und als wir den Pass erreichten, peitschten uns wirbelnde Schneewolken ins Gesicht. Gewissenhaft bis zum Letzten hielt Betty dort an, um mit dem Kompass die Position zu bestimmen, ich hatte jedoch eine Stunde ohne Bewegung auf dem Gipfel verbracht und fror demzufolge und wollte weitergehen. Also marschierten Mingma und ich voraus und tauchten in den Nebel ein.
Der Abstieg kam uns endlos vor, doch schließlich erreichten wir die große schneegefüllte Gletscherspalte. Diesmal wollte ich sie umgehen, aber Mingma war entschieden dagegen. Er vertrat den Standpunkt, dass ein gewaltiger Sturm nahte, das \Vetter eh schon sehr schlecht war, und wir also keine Zeit zu verlieren hatten. Der Schnee war zuvor völlig fest gewesen. Er würde auch jetzt noch sicher sein. Ich fror und war müde und bereit, ihm zu glauben. Entgegen besserem Wissen redete ich mir ein, ich sei ja leicht und Mingma außergewöhnlich kräftig, und so stimmte ich zu, die Gletscherspalte zu überqueren. Ich forderte Mingma jedoch auf, mich mit seinem Eispickel gut zu sichern, bis ich die andere Seite erreicht hatte, von wo aus ich das Gleiche für ihn tun konnte. Ich betrat vorsichtig die trügerische Schneefläche, prüfte sie vor jedem Schritt mit dem Eispickel, und mein ungutes Gefühl wurde immer stärker. Als ich fühlte, wie das Seil nachgab, drehte ich mich um und sah, dass Mingma nicht gewartet hatte, sondern mir nachfolgte. Ich wollte ihm sagen, er solle umkehren, entschied dann aber, dass es besser für mich sei, einfach weiterzugehen, da ich mich nur noch wenige Meter von der gegenüberliegenden Seite entfernt befand. Ich machte einen Schritt vorwärts, der Schnee gab unter mir nach wie eine Falltür, und ich fiel durch die vereiste Schicht. Während des Fallens schnellte ich nach vorn und hieb meinen Eispickel in den verschneiten Eisrand der Gletscherspalte.
Mingma straffte das Seil sofort und hielt mich, so dass ich nicht weiterstürzte. Ich klemmte meinen rechten Arm schnell über den überhängenden Rand und stellte erleichtert fest, dass die Wand der Gletscherspalte sich auf mich zu neigte, so dass ich mit einem Fuß Halt fand. Mingma schrie: »Thik hai, Memsahib, ich kann dich hochziehen«, und ich fühlte die wachsende Seilspannung um meine Hüften. Ich wollte auf keinen Fall, dass er mich nach hinten hinaufzog. Dabei würde nur noch mehr von der Schneeschicht einbrechen, und wir würden am Ende wahrscheinlich beide zusammen in die Spalte stürzen. Also rief ich ihm zu, er solle mir mehr Seil geben. Meine Stimme war jedoch gedämpft, da ich unter den Schneemassen lag, und er hörte mich nicht. Die Schmerzen durch das Seil wurden fast unerträglich, und ich schrie noch einmal. Diesmal verstand er mich, und die Spannung ließ nach. Mit meiner linken Hand brach ich genügend von dem brüchigen Überhang ab, um auch den anderen Arm frei zu bekommen und dann den Rest meines Körpers herauszuwinden. Wieder auf festem Eis sicherte ich Mingma, so gut es ging, während er den restlichen Weg auf dem Bauch hinüberkrabbelte ... Zutiefst beschämt und im Bewusstsein, dass unsere Gruppe kein Recht hatte, auf einem so gefährlichen Gletscher in zwei Seilschaften zu gehen, warteten wir auf Betty und Ang Temba. Vier vorsichtig gewordene Menschen begannen nun die Überquerung des Eishanges auf der anderen Seite zu besprechen. Die Schneeschicht war weggeschmolzen und das Eis war jetzt sehr rutschig. Wir hatten weiter oben unsere Steigeisen abgeschnallt, da der Schnee an ihnen hängen blieb und sich Stollen bildeten. Anstatt sie nun wieder mit halb erfrorenen Fingern anzuziehen, schlug ich lieber Stufen entlang der freigelegten Eisstrecke.
Mingma, der anscheinend nichts aus dem gerade erlittenen Schrecken gelernt hatte, wandte ein, das sei unnötig. Betty unterstützte mich jedoch, und diesmal waren wir bereit, unsere Meinung energisch zu vertreten. Wäre einer von uns auf diesem Hang ausgerutscht und hingefallen, hätte er wahrscheinlich die ganze Gruppe mitgerissen, und wir wären hilflos in die Gletscherspalte weiter unten geschlittert.
Nach der überwundenen Gefahr kämpften wir uns durch den eisigen Sturm und wirbelnden Schnee hinunter zum Lager. Es sah klein und verloren aus, als wir ankamen, und zeigte keinerlei Lebenszeichen. Auf unsere Rufe ertönte jedoch eine Antwort aus Evelyns Zelt, und der gute alte Kusung kam aus seinem angelaufen, schrie bei unserem Anblick auf und begann ohne Erfolg an der Eisschicht herumzukratzen, die unsere Kapuzenmützen, Handschuhe und Socken überzog. Wir schwankten schon vor Müdigkeit, und unser einziger Wunsch bestand ehrlich gesagt darin, ihn abzuwimmeln und uns unterzustellen. Als wir das so taktvoll wie möglich taten und endlich in unsere Zelte krochen, sank Betty noch ganz verschneit auf ihren Schlafsack. Evelyn fühlte sich sehr krank, aber sie stand auf und zog Bettys Schuhe für sie aus - ein Zeichen ihres guten Willens, für das Betty sehr dankbar war. Ich begann sofort die äußeren gefrorenen Schichten meiner Kleidung auszuziehen und krabbelte dankbar in meinen Schlafsack, den ich an diesem Morgen so widerwillig verlassen hatte. Es war ein aufregender und ereignisreicher Tag gewesen. Wir entschieden, dass wir uns wahrscheinlich erst am nächsten Morgen über die gelungene Besteigung freuen und sie feiern würden, denn alles, was uns im Moment interessierte, war die Frage, ob die im Lager gebliebenen Sherpas daran gedacht hatten, Schnee zum Teekochen für unsere Rückkehr zu schmelzen.
Es gibt Zeiten, wo ein Becher mit Tee im Leben eines Bergsteigers ungeheuer an Bedeutung gewinnt.
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