Im Laufe der Nacht wurde der Sturm heftiger. Blitze zuckten unruhig zwischen den Berggipfeln, und das Heulen des Windes übertönte beinahe das antwortende Donnergrollen. Doch wir waren zu müde, um uns dadurch stören zu lassen, und schliefen wie bei einem Schlaflied ein. Als wir morgens aufwachten, befand sich das ganze Lager inmitten eines grauen tobenden Sturmes, und der gewaltige Wind wirbelte Pulverschneewolken in die Luft. Sobald wir die Reißverschlüsse an unseren Zelten öffneten, um hinauszuschauen, wehte ein eisiger Sprühnebel aus feinem Schnee hinein, der alles Im Inneren mit einer sehr unwillkommenen weiß glitzernden Schicht überzog. Das war ein echter Himalaya-Sturm, und wir erkannten, dass jegliche Touren an diesem Tag ausgeschlossen waren. Also strichen wir im Geist alle unsere Vorhaben und ließen uns genüsslich zurück in unsere Schlafsäcke sinken. Wir lagen den ganzen Tag herum und lasen, dösten vor uns hin und lauschten den Windstößen, die an den instabilen Wänden unserer Zelte rüttelten. Die armen Sherpas verbrachten im Palomine-Zelt eine schlimme Zeit. Es wurde einmal sogar umgeweht, und der brennende Primuskocher brannte ein Loch hinein. Es gelang ihnen, es wieder aufzustellen. Glücklicherweise besaß es ein Überzelt, das den Wind davon abhielt, durch das Loch zu blasen und das ganze Zelt auseinander zu reißen. Ang Temba kämpfte sich dreimal zu unseren Zelten hinüber und brachte uns einen Kessel mit Kakao und Suppe mit Trockenfleisch. Wir waren ihm zutiefst dankbar. Im Übrigen hatten wir Trockenfrüchte, Süßigkeiten, Schokolade, Kekse und fertige Hochgebirgsmahlzeiten in unseren Rucksäcken, deren Verzehr uns half, uns die Zeit zu vertreiben und außerdem Leib und Seele zusammenzuhalten. Als geistige Nahrung hatte ich Die Bekenntnisse von Rousseau dabei, ein Werk, das mich abwechselnd langweilte und wütend machte, aber ich war entschlossen, es zu Ende zu lesen. Ich fand Rousseau ein wirkungsvolles Schlafmittel - ein nicht zu unterschätzender Aspekt seines Buches, insbesondere in hohen Lagen, wo es nicht immer leicht fällt, einzuschlafen.
Irgendwann im Laufe des Nachmittags zog Betty sich alles an, was sie dabei hatte, einschließlich ihrer Windjacke, und kämpfte sich die wenigen Meter zu meinem Zelt hinüber, um mir einen Besuch abzustatten. Während wir unsere Aufzeichnungen verglichen, merkten wir beide, dass unsere Zungen und die Innenseite unserer Münder sehr wund waren. Nachdem wir eine Weile über mögliche Ursachen gerätselt und einige unerfreuliche Erklärungen, wie Skorbut und Mundfäule, verworfen hatten, dämmerte uns langsam der wahre Grund. Wir hatten am Vortag so sehr mit offenem Mund nach Atem gerungen, dass die Innenseite einen Sonnenbrand bekommen hatte! Entgegen unseren Erwartungen flaute der Wind im Laufe der Nacht nicht ab, und wir schliefen ein weiteres Mal bei seinem trübsinnigen Heulen und dem Flattern der Zeltwände ein. Wir erwachten bei Sonnenaufgang und sahen den Glanz des Sonnenlichts auf den Zeltplanen, was uns zu der Vermutung veranlasste, wir könnten an diesem Morgen den Pass über dem Dorje-Lakpa-Gletscher besteigen. Eine optimistische Schlussfolgerung, wenn man berücksichtigt, dass der Sturm heftiger denn je tobte. Er toste durch den Trichter des Passes und fiel über unser Lager her, als ob er es hassen würde. Wir öffneten die Zelteingänge, schielten hinaus und waren sofort von herumwirbelndem Schnee bedeckt. Der Himmel über uns klarte zwar zeitweise auf, aber über dem unteren Teil des Gletschers und über den tibetischen Bergen hingen hässliche Zirruswolken. Nach einem gebrüllten Gespräch kamen wir drei überein, dass der Sturm nachgelassen haben musste, da ja die Sonne schien. Wir hatten alle das Bedürfnis, uns unterhalb des Gletschers außer Sichtweite zurückzuziehen, und die leichte Flaute bot eine Gelegenheit, sich nicht zu verirren. Also zogen wir unsere Stiefel, sämtliche Pullover, Windjacken und zwei Paar Handschuhe an und gingen nach draußen. Die eisige Kälte traf uns wie ein Schlag. Es schien seltsam und fast ein wenig unheimlich, wie das Sonnenlicht blendend von der vom Wind geglätteten Schneeoberfläche reflektiert wurde und man überhaupt keine Wärme darin fand, keine Milderung des unbarmherzigen Windes. Den Gletscher hinunterzugehen war schon schlimm genug, aber während wir uns gegen den Wind den Hang wieder nach oben kämpften, halb blind von dem Pulverschnee, der in unsere schmerzenden Gesichter peitschte, begannen wir uns ernsthaft zu fragen, ob wir unsere Zelte je wieder erreichen würden.
Es war eine Erfahrung, die wahrscheinlich keine von uns vergessen wird. Ich war länger als die anderen unterwegs, und bis ich bei meinem Zelt ankam, hatte meine rechte Hand jegliches Gefühl verloren und war nicht mehr zu gebrauchen. Der Reißverschluss am Eingang war steif gefroren (ein Reißverschluss an einem Hochgebirgszelt ist niemals eine gute Idee), und ich kämpfte mit meiner linken Hand eine halbe Ewigkeit, um ihn zu öffnen. Schließlich gab er nach, doch meiner linken Hand ging es jetzt wie der rechten, und ich konnte den Reißverschluss nicht wieder zuziehen. Unterdessen blies der Wind immer mehr Schnee in das Zelt.
Endlich bekam ich den Eingang zu. Ich saß da, atemlos und von Kopf bis Fuß mit einer Schneeschicht bedeckt, wie alles andere im Zelt auch. Meine Hände erwachten langsam wieder zum Leben, und ich rollte mich unter Qualen auf meinen Schlafsack. Der Schmerz war so groß, dass ich dachte, ich würde verrückt werden. Nach einer Weile ließ er jedoch nach, und ich begann mich besser zu fühlen. Später, ungefähr um acht Uhr, kam Mingma in unsere Zelte gestürzt und verkündete, es gäbe nicht mehr viel zu essen. Er war der Meinung, wir sollten absteigen, solange es noch ging. Wir teilten diese Ansicht, obschon wir bedauerten, nicht auf den westlichen Pass gestiegen zu sein. Wir beschlossen, bis um neun Uhr zu warten, bevor wir das Lager abbrachen, in der Hoffnung, dass die Sonne bis dahin etwas mehr Wärme spendete. Um neun Uhr zogen wir wieder unsere Windjacken über sämtliche Schichten von Kleidern und zogen unsere Kapuzen so weit wie möglich ins Gesicht, um uns zu schützen. Sherpas wie Memsahibs stürzten sich gemeinsam in hektische Betriebsamkeit, um die Ausrüstung zusammenzupacken und die Zelte abzubrechen, bevor die Kälte sie unbeweglich machen würde. Das war keine leichte Aufgabe. Zeltschnüre und Heringe waren am Schnee, die Zeltstangen aneinander festgefroren. Wir gruben wie wild mit unseren Eispickeln, um die vergrabenen Heringe zu finden und zu lockern, und legten die Zelte einfach irgendwie zusammen, eines nach dem anderen, die Zeltstangen in alle Richtungen herausstehend. Noch bevor wir fertig waren, hüllten die Wolken uns ein und löschten alles außer uns selbst aus, einer kleinen Gruppe aus hin- und her eilenden Figuren in einer grauen und abweisenden Welt aus Wind, Nebel und eisiger Kälte.
Mingma drängte mich dazu, mit den anderen beiden Memsahibs und den langsameren Sherpas vorauszugehen, während er und Ang Temba das letzte Zelt abbrachen. Ich war darüber sehr froh, denn meine Hände und Füße waren mittlerweile völlig gefühllos. Wir nahmen das längste Seil und stiegen den Gletscher nach unten, in dem Versuch, den Fußspuren zu folgen, die wir beim Aufstieg hinterlassen hatten. Das war jedoch nicht leicht. Schneeverwehungen hatten unsere Spuren an manchen Stellen vollständig ausgelöscht, und da wir in dem dichten Nebel nicht weiter als ein paar Meter sehen konnten, fiel es schwer, sie wiederzufinden, wenn man sie ein mal verloren hatte. Ich hatte unser Starttempo bestimmt, da mein Instinkt mir sagte, ich müsse nach unten und aus diesem fürchterlichen Wind herauskommen, bevor das Blut in meinen Adern gefror.
Doch drei Tage Fasten und die Höhenkrankheit hatten Evelyn so geschwächt, dass sie nicht schnell gehen konnte. Das Gleiche galt für Kusung. Betty musste andauernd schreien: »Langsamer, bitte! Sie wollen, dass du langsamer gehst.« An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass ich interessanterweise mehr unter der Kälte litt als meine Kameradinnen, auch wenn es beim Klettern von Vorteil war, so klein und leicht zu sein. Evelyn spürte sie am wenigsten von allen (vielleicht weil sie von uns dreien am besten »gepolstert« war, obwohl wir alle eher schlank waren). Sogar während des Sturms in Lager V, wo es ihr schlecht ging, trug sie nur ein Netzhemd und ein Paar Baumwollhosen in ihrem Schlafsack. Betty fror mehr als Evelyn, aber nicht so stark wie ich. Es scheint mir daher empfehlenswert, falls möglich vor einer Himalaya-Expedition zuzunehmen.
Kurz bevor wir die Séracs erreichten, stiegen Mingma und Ang Temba zu uns. Nach einigem Herumsuchen fanden wir unsere Spuren wieder und folgten ihnen zu der schmalen Eisbrücke über die oberste Gletscherspalte. Ich ging los, um die anderen hinüberzuführen. Die alten Tritte waren mit Schnee gefüllt, und ich musste neue hauen. Alles ging gut, bis ich ungefähr zwei Drittel des Weges hinter mir hatte und Betty hinter mir losging. Dann stoppte ich zum allgemeinen Entsetzen, einschließlich meinem eigenen, schwankte gefährlich und sagte: »Entschuldigt, aber ich sehe nichts mehr. Meine Brille ist beschlagen.« Schneebrillen sind normalerweise mit einem breiten verstellbaren Gummiband um den Kopf befestigt. Dieses Band war heruntergerutscht, wodurch die Gläser fest gegen meine Augen gepresst wurden, was mir völlig die Sicht nahm. In meiner prekären Position war es mir unmöglich, dies in Ordnung zu bringen, da die Kapuze meines Anoraks einen Reißverschluss besaß und zugebunden war und ich windundurchlässige fingerlose Fausthandschuhe über zwei weiteren Paaren von Handschuhen trug. Die Eiskante war in Ordnung, um auf ihr entlangzugehen, es gab jedoch keinen Platz zum Stehenbleiben. Sie war so schmal, dass man jeweils nur einen Fuß aufsetzen konnte. Ich begann langsam weiterzugehen, indem ich auf einem Fuß stand und mit dem anderen blind nach dem nächsten Tritt tastete. Betty ließ mich nicht aus den Augen, um sofort zu sehen, wohin ich fallen würde, und war bereit, sich selbst auf der anderen Seite in die Gletscherspalte zu stürzen die einzige Möglichkeit, mich zu halten. Glücklicherweise war das nicht nötig, obwohl es um ein Haar passiert wäre, genau in dem Moment nämlich, als ich fragte: »Bin ich schon drüben?«, und Betty antwortete: »Ja, aber halte dich rechts.«
Woraufhin ich dummerweise einen Schritt nach links machte und so fast doch noch in die Gletscherspalte lief. Ein Warnschrei ertönte von den gebannten Zuschauern, und eine Katastrophe war abgewendet. Die Überquerung der großen Gletscherspalte über die Trümmer der Lawine, vor der wir alle ein wenig Angst gehabt hatten, verlief überraschend problemlos. Als wir jedoch auf der anderen Seite angelangt waren, verloren wir unsere alten Spuren vollkommen. Der Nebel war in den unteren Lagen dichter denn je, wir bemerkten jedoch, dass er sich gerade ausreichend hob, damit wir einige Blicke auf den Schneekorridor erhaschen konnten. Er wurde von unserem Standort durch einen Abschnitt des Eiswasserfalls getrennt, der wie ein riesiger weißer Schwamm aussah, so übersät war er mit Gletscherspalten, die unregelmäßig in alle Richtungen verliefen. Wir begannen uns vorsichtig einen Weg darüber zu suchen, in Richtung des Korridors. Wir kamen langsam voran. Der Nebel und die Gletscherspalten verhinderten einen direkten Weg; Evelyn, der übel war, musste immer wieder anhalten und sich übergeben; und Kusung sah sehr schwach aus. Einmal rutschte er aus und fiel hin, als wir den Abstieg von einem Sérac besprachen, und obwohl Betty das Seil um ihren Eispickel schlang, den sie fest in den Schnee hieb, und ihn hielt, ließ er seine Last fallen. Sein Gepäck rollte den Hang hinunter und außer Sichtweite. Diese Katastrophe nahm uns sehr mit, da Kusung die Schlafsäcke und Luftmatratzen getragen hatte. Ihr Verlust könnte ein ernstes Problem werden. Man kann sich unsere Erleichterung vorstellen, als wir am Fuß des Hanges um eine Ecke bogen und die Last sicher am Rand einer Gletscherspalte liegen sahen.
Zur Überquerung des »Schwamms« mussten wir einen seltsamen Tanz in die Gletscherspalten, aus ihnen heraus und um sie herum aufführen, alles bei dichtem Nebel. Als dieser sich einen kurzen Moment lichtete, konnten wir auf den Platz des Lagers IV hinunterschauen. Dann senkte er sich wieder, und wir tasteten uns durch die rechts und links auftauchenden Gletscherspalten vorwärts. Endlich stellten wir erleichtert fest, dass wir uns im Korridor befanden. In Lager IV holten wir eine Kiste mit Ersatzausrüstung, banden uns los und verteilten die Plätze in den Seilschaften neu; Mingma, Ang Temba, Bahu und ich sollten an einem Seil vorausgehen und einen Weg ausfindig machen, Betty, Evelyn, Chhepala und Kusung sollten am anderen nachfolgen. Wie sich jedoch herausstellte, war es unnötig, einen Weg zu suchen. Die Linie der Stufen, die wir beim Aufstieg gemacht hatten, war immer noch schwach erkennbar und zeigte die Route über die Hindernisse des Eiswasserfalls. Außerdem befanden wir uns jetzt unterhalb der Wolken und konnten auf einmal wieder zum Hauptgletscher hinunterschauen. Der Himmel war immer noch dunkel und stürmisch, der Sturm hatte jedoch deutlich nachgelassen, und es schneite nicht einmal, wie sonst üblich am Nachmittag. Nachdem wir uns vergewissert hatten, dass Bettys Seilschaft den Eisfall ebenfalls hinter sich gelassen hatte, ging unsere Gruppe weiter. Wir trotteten langsam den Hauptgletscher hinunter auf die beiden großen Felsen von Lager II A zu. Als wir uns der Ostseite des Gletschers näherten, sahen wir, dass der Schnee mit großen Eisbrocken übersät war, die von den Gletscherhängen der Phurbi Chyachu heruntergefallen waren. Während in Lager V der Sturm wütete, hatte es weiter unten offensichtlich stark zu tauen angefangen. Wir erreichten Lager II A, wo wir zufälligerweise eine Kiste mit extra Lebensmitteln zurückgelassen hatten, und begannen die Zelte aufzubauen. Die anderen kamen ungefähr eine halbe Stunde später an, Evelyn ging nun viel schneller und hatte eine gesündere Gesichtsfarbe bekommen. Wir genossen alle die vergleichsweise warme Augentemperatur und das angenehme Gefühl, etwa 800 Meter tiefer und aus dem unerbittlichen Wind heraus zu sein. An diesem Abend konnte Evelyn zum ersten Mal seit Tagen wieder richtig essen.
Der Sturm hatte uns glimpflich davonkommen lassen. Evelyn und ich hatten leichte Erfrierungen an den Zehen, was ein paar Tage lang ziemliche Schmerzen verursachte. Doch sie ließen bald nach. Zwei oder drei von Evelyns Fußnägeln waren schwarz geworden, und ich verlor einen Nagel ganz und konnte meine Zehenspitzen wochenlang nicht spüren. Betty und die Sherpas hatten die Kälte unbeschadet überstanden. Wir hatten großes Glück gehabt. Am Morgen waren alle Anzeichen der Sturmwolken verschwunden, wenn auch um jeden Berg noch eine Wolke aus verwehtem Schnee stob. Wir konnten sehen, dass der Sturm immer noch über den Platz des Lagers V fegte und waren sehr froh, nicht mehr dort zu sein. Eigentlich hatten wir vorgehabt, einen letzten Aufstieg den Gletscher hinauf zu unternehmen, um den niedrigen Pass über dem Eiswasserfall zu erreichen. Wir vermuteten, er könnte vielleicht ein Übergang nach Tibet sein (wenn auch ein schwieriger und gefährlicher). Als ich jedoch zum Küchenzelt hinüberging, um diesen Plan mit Mingma zu besprechen, fand ich die Sherpas in bedrückter Stimmung. Trotz mehrfacher Warnungen hatten Ang Temba und Bahu am Vortag ihre Sonnenbrillen abgenommen, um im Nebel besser zu sehen - mit dem Ergebnis, dass sie nun beide schneeblind waren. Zusammen mit Kusung lagen sie in ihren Zelten und wollten nichts essen. Chhepala ging es gut, er schien jedoch von der allgemeinen pessimistischen Atmosphäre angesteckt worden zu sein. Mingma war recht fit, aber auch unglücklich. Seine Stiefel fielen auseinander, und er hatte sein Ersatzpaar im Basislager gelassen. Außerdem war das restliche Essen nicht unbedingt dazu geeignet, den Appetit eines hungrigen Sherpas zu befriedigen. Das Einzige, was die Sherpas wollten, war zum Basislager heimzukehren - Mingma ebenso wie die anderen. Er gab das natürlich nicht zu, sondern wies darauf hin, dass unsere Lebensmittel knapp würden und die anderen Sherpas fürs Erste genug durchgemacht hätten. Am Ende gaben wir nach und stimmten zu, dass alle zusammen zurückgehen sollten. Das war gut so, wie sich herausstellte. Wir packten zusammen, nicht so schnell wie üblich, da Ang Temba und Bahu niedergeschlagen auf Lebensmittelkisten herumsagen und ihre schmerzenden Augen rieben, und marschierten dann langsam den Gletscher hinunter, die zwei blinden Burschen führend. Wir merkten sofort, dass das durch die zunehmende Monsunströmung verursachte Tauwetter während der letzten Wochen ständig fortgeschritten war.
Der Gletscher war nun vergleichsweise schneefrei, was die Angelegenheit allerdings nicht verbesserte. Die größeren Gletscherspalten waren zwar leichter zu erkennen, da ihre Schneedecke ein bisschen niedriger geworden war und ihr Verlauf daher darunter zum Vorschein kam. Doch was die kleineren Gletscherspalten anging, so waren sie obenauf immer noch mit einer gefrorenen Schneeschicht bedeckt, die sie verbarg, während der Schnee darunter schon weich geworden war. Die erste Entdeckung dieser Art machten wir, als Betty ohne Vorwarnung durch die feste Oberfläche in eine Spalte einbrach, die vier von uns schon problemlos überquert hatten. Glücklicherweise (da sie die zweite Seilschaft anführte, gefolgt von dem blinden Ang Temba, der nicht in der Lage war, ihr zu helfen) warf sie sich nach hinten, als sie den Schnee unter sich einbrechen fühlte, und ihr Rucksack verfing sich am Rand und hielt sie. Ang Temba und Chhepala schafften es ohne große Schwierigkeiten, sie herauszuziehen, aber durch diesen Vorfall wurden wir zum ersten Mal darauf aufmerksam, wie sehr der Gletscher sich verändert hatte. Es dauerte allerdings bis zum oberen Ende des Eiswasserfalls, bevor wir diese Tatsache wirklich begriffen. Der Eisfall war nicht länger ein vertrauter Freund, sondern ein potentieller Gegner. Gegen Ende wurde er besonders gefährlich. Wo vorher fester Schnee gewesen war, befand sich nun eine Wildnis aus gewundenen Gletscherspalten, bedeckt mit einer matschigen Schneeschicht. Auf dieser unheilvollen Passage kamen wir heftig ins Schwitzen. Wir mussten Gletscherspalten überspringen und landeten dabei auf Untergrund, der unter unseren Füßen nachzugeben begann. Wir rammten unsere Eispickel in den Schnee, um den Hintermann bzw. die Hinterfrau zu sichern, nur um festzustellen, dass der Pickel in die leere Luft stieg. Es schien keinen Augenblick zu geben, in dem einer oder mehrere von uns sich nicht bewusst waren, auf einer dünnen Schicht aus schmelzendem Schnee zu gehen, unter welcher der nächste offensichtlich bodenlose Abgrund lag. Was die Sache noch erschwerte, war die Anwesenheit eines blinden Mannes in jeder Seilschaft, der über die Hindernisse geleitet werden musste. Der Einzige unter uns, der in dieser Situation vergleichsweise gelassen blieb, war Bahu, der auf demselben Weg den Eisfall hinauf so nervös gewesen war. Jetzt konnte er die Gefahren nicht sehen. Wahrscheinlich war es gut so, dass er dieses Mal blind war, sonst hätten wir vermutlich noch mehr Schwierigkeiten gehabt, ihn hinunterzubringen.
Unsere Stufen waren verschwunden, und an ihrer Stelle befanden sich nun weiche Wände aus schmelzendem Eis. Bequeme schneebedeckte Brücken waren zu unsicheren schmalen Eiskanten geworden. Séracs waren eingebrochen, und auch die wunderschönen Verzierungen der Eiszapfen waren verschwunden.
Die Schneeschmelze hatte einen Haufen von unschönem Geröll freigelegt, das wie Pilzbefall auf der narbigen Eisoberfläche klebte. Aber wir schafften es, eine kleine Krise nach der anderen abzuwenden, indem wir die Lasten getrennt abseilten und unzählige Stufen schlugen, auf die man allerdings nicht immer vertrauen konnte. Es gab eine besonders gefährliche Stelle, die uns schon intensiv beschäftigte, während wir uns ihr näherten. Es handelte sich um eine große Gletscherspalte, die wir bisher über eine Eisbrücke überquert hatten. Wir hatten uns niemals lange darauf aufgehalten, da ihr zerbrechliches Aussehen nicht sehr Vertrauen erweckend war. Jetzt waren wir sicher, dass die Brücke nicht mehr existierte, und wir hatten Recht. Als wir bei der Gletscherspalte ankamen, war nichts von ihr zu sehen. Trotz seines regelmäßigen Gebrummels »Das gefällt mir gar nicht«, war Mingma dieser Notlage gewachsen. Während Evelyn und ich in Erwägung zogen, eine völlig andere Route zu suchen, um der Spalte zu entgehen - was bedeutet hätte, dass wir endlos viele Stufen hätten schlagen müssen und vielleicht sogar herabfallenden Stein- und Eisbrocken ausgesetzt gewesen wären -, schlug Mingma eine Lösung vor, die sicher weit schneller, wenn auch nicht unbedingt sicherer war. Dazu mussten wir in die Gletscherspalte hinabsteigen, einen etwas labil aussehenden Schneehügel, der sie an dieser Stelle blockierte, überqueren und dann auf der gegenüberliegenden Seite eine Trittleiter in die Eiswand schlagen. Auch wenn diese Route recht haarsträubend war, erwies sie sich als ausreichend, trotz der Tatsache, dass der Zustand des »Schnee-Eises«, in das Mingma die Stufen schlug, einiges zu wünschen übrig ließ.
Nach dieser Gletscherspalte verlief der restliche Abstieg über den Eiswasserfall relativ problemlos, obwohl wir langsam gehen mussten. Doch schließlich kamen beide Gruppen sicher unten an und kletterten durch den engen und mit Felsbrocken übersäten Schneekorridor, der zum Lager I führte. Dieser Korridor war eine Rutschbahn für herabfallende Felsen und Eisblöcke. Mingma, der Steinfall mehr fürchtete als alles andere, drängte uns, fast unter Tränen, zur Eile. Als wir alle sicher Lager I erreicht hatten, äußerte er seine Meinung. »Memsahib«, sagte er fest, »der Eiswasserfall ist bis nach der Monsunzeit nicht mehr begehbar. Ich für meinen Teil werde jedenfalls nicht mehr da hinaufsteigen. Es ist sehr gefährlich.« Wir stimmten ihm vollkommen zu. Pass hin oder her, es würde keinen weiteren Wettbewerb unter uns geben, noch weitere abschließende Versuche auf dem Eiswasserfall in seinem jetzigen Zustand zu unternehmen. Während wir Marmelade mit Schnee aßen und uns über die durch das Tauwetter hervorgerufenen Veränderungen wunderten, hörten wir einen weit entfernten Schrei und sahen einen schwarzen Fleck, der sich über den Schnee zwischen uns und dem Basislager bewegte. Es war Lakpa, der Sherpa-Junge aus Tempathang, der in den letzten ein, zwei Tagen immer wieder von dem felsigen Vorsprung zwischen dem Basislager und den Schneehängen nach uns Ausschau gehalten hatte. Nun kam er zu uns herauf, einen Stock als Eispickel verwendend, um uns beim Tragen zu helfen. Wir freuten uns alle sehr, sein fröhliches Gesicht zu sehen, und Ang Temba und Bahu, die allmählich wieder sehen konnten, waren sogar fähig, sein Lächeln zu erwidern.
Der letzte lange und mühselige Marsch zurück war nicht so schlimm wie gewohnt. Zwar waren die Schneerinnen genauso unzuverlässig wie immer und der Schnee so weich, dass wir bis über die Knie darin versanken, sobald wir jedoch den Felsvorsprung hinter uns gelassen hatten, fanden wir uns in einer neuen Welt wieder. Der Schnee war verschwunden, und darunter kamen Gras und Wacholderbüsche zum Vorschein, die in der Sonne einen süßen Duft verströmten. An diesem Nachmittag schneite es nicht. Die Sonne schien, überall blühten Blumen, und die Vögel sangen. Wir marschierten vom Winter direkt in den Sommer und unterdrückten nur schwer das Bedürfnis, uns auf den Boden zu werfen und die warme lebendige Erde zu umarmen, die uns so freundlich wieder willkommen hieß.
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