Am Morgen nach unserer Rückkehr zum Basislager, dem 30. April, eilte Mingma geschäftig hin und her, um unsere »Einrichtung« zu verbessern. Er sandte zwei Träger zu den verlassenen Schutzhütten oberhalb des Lagers, damit sie eine lange kräftige Gebetsfahnenstange und Material von den halb verrotteten Bambusdächern besorgten. Die Stange befestigte er der Länge nach als elementaren Dachfirst zwischen den Zelten und drapierte die Bambusmatten und unsere Plane darüber. So entstand ein geweihter, einigermaßen wetterfester Platz für die Vorräte und die Küche. Die Freiluftküche war während unserer Abwesenheit mit Steinen gefliest und mit einem Abfluss und Regalen versehen worden. Auf der dem Wind zugekehrten Seite wurde sie durch einen großen Halbkreis aus Feuerholz begrenzt, der mit Wacholder abgedeckt war, und unter einem überhängenden Felsen lag ein Stapel Anzündholz im Trockenen. Unsere Lebensgeister waren wieder so weit erwacht, dass wir ein Bad nehmen wollten, und wir holten unsere viereckige Segeltuchwanne hervor. Die Sherpas waren nicht mehr zu bremsen bei dieser Idee und stellten sofort ein Überzelt als Badezimmer auf, damit unsere Privatsphäre gewahrt blieb, gruben innen eine Vertiefung für die »Badewanne« und eine Rinne als Abfluss. Dann stellten sie noch zwei Kannen - eine mit heißem, eine mit kaltem Wasser - neben das Bad und einen Tragekorb aus Bambus für unsere schmutzigen Kleider. All das dachten sie sich vollkommen selbstständig und ohne unser Zutun aus. Sie hatten mächtigen Spaß daran, solche »Tricks« zu unserer Freude zu erfinden, und sie merkten sich diejenigen, die gut funktioniert hatten, zum späteren Gebrauch.
Bei diesem speziellen Anlass hatten sie allerdings mehr Vergnügen als wir, da wir nun regelrecht verpflichtet waren, ein Bad zu nehmen, ob wir wollten oder nicht. Zu meiner eigenen Unterhaltung machte ich Fotos von meinen Freundinnen in der Wanne, auf denen man die Schneewechten rund um das Badezimmer und ihren gequälten Gesichtsausdruck erkennen konnte. Unglücklicherweise vergaß ich, diesen Film aus einem Päckchen herauszunehmen, das wir zum Entwickeln nach Amerika an eine bekannte Zeitschrift sandten, die eine Option auf unser Material hatte. Meine Freundinnen gerieten völlig in Panik und sahen sich schon im Evaskostüm auf der Titelseite dieser Zeitschrift. Telegramme wurden versandt und Nachrichten übermittelt, in dem Versuch, den Anstoß erregenden Film zurückzubekommen. Doch schließlich stellte sich heraus, dass der Behälter mit den Filmrollen nicht ordnungsgemäß befördert, sondern in Delhi gelandet war. Der Film wurde schnell herausgenommen, er war mit der passenden Aufschrift »Nackt 19« versehen. Wir behandelten die durch Sonne und Schnee entstandenen Verbrennungen in unseren Gesichtern. Gott sei Dank waren unsere Metallspiegel jedoch so verkratzt, dass sie kein genaues Spiegelbild mehr erkennen ließen. Wir realisierten erst, wie rau unsere Gesichtshaut war, als wir bei einem Treffen der British Women's Association (Gemeinschaft britischer Frauen) in Bombay von einer Fremden angesprochen wurden: Sie stellte sich als Schönheitsspezialistin vor und fragte mitfühlend, ob sie jeder von uns eine kostenlose Gesichtsbehandlung anbieten dürfe. Ang Droma nahm all unsere Kleider und wusch sie gründlich. Sie schlug die eingeseiften Kleidungsstücke so lange auf Steine, bis nicht mehr viel Seife übrig war - und, wie wir vermuteten, auch nicht mehr viel von der Kleidung. Ich entwendete ihr sehr diskret etwas Unterwäsche, entdeckte jedoch wenig später Bahu, der ihr helfen sollte, wie er lustlos daran herumschrubbte. Die Farbe eines Sherpa-Hemdes verteilte sich auf unseren Netzhemden, die nun in leuchtendem Violett erstrahlten. Wir nahmen den Vorfall eher lustig auf, beziehungsweise ich tat das, da mein Netzhemd nicht gewaschen worden war, aber Kusungs Würde war verletzt.
Er schimpfte laut mit Ang Droma und wusch die Hemden noch einmal, um die violette Färbung wieder in Ordnung zu bringen. »Schaut her! Alles muss man selber machen«, schien er sagen zu wollen. Auch die Sherpas wuschen sich selbst gründlich und regelmäßig. Wir waren der Meinung gewesen, Sauberkeit würde bei ihnen erst an zweiter Stelle, nach der Gottesfürchtigkeit kommen, was jedoch weit gefehlt war. Alle besaßen Seife und Spiegel und benutzten heimlich unsere Nagelfeilen. Sie rasierten sich nicht, da die meisten Sherpas einen spärlichen Bartwuchs hatten, aber sie zupften sich einzelne Haare von ihrem Kinn, mit großen Pinzetten, die wie Zangen aussahen. Dabei wollten sie nicht gern beobachtet werden und drehten uns oft den Rücken zu, bis die Operation beendet war. Sie wuschen auch ihre Kleider - häufig in unseren dekshis, die wir zum Kochen verwendeten - und flickten sie. Kusung hatte ein Hemd, aus dem schon so oft Flicken herausgeschnitten worden waren, dass kein Zipfel oder Ärmel mehr übrig war. Dadurch wurde die Kleidung auf löbliche Weise erhalten. Die Sherpas aus Tempathang waren diesbezüglich etwas verwilderter und sahen solche Dinge als verweichlicht an. Vielleicht war meine Nase schon zu sehr dem Land angepasst, jedenfalls nahm ich nur ihren Geruch nach Holzrauch und Bergen wahr. Am nächsten Morgen brannte ich darauf, einen weiteren Versuch zu unternehmen, um einen Weg über den Bergrücken oberhalb des Basislagers zu finden, obwohl wir nicht länger der Meinung waren, er würde uns von dem großen Hauptgletscher trennen. Da wir zu dem Schluss gekommen waren, einen solchen gäbe es gar nicht, erwarteten wir nur eine Reihe kleinerer Gletscher auf der anderen Seite. Monica sollte zurückbleiben, um ihr Knie zu schonen, das Evelyn noch einmal neu einbandagierte, und genug Lebensmittel für den bevorstehenden Gletschertrip zusammenpacken, während Evelyn und ich das Gelände oberhalb des Lagers auskundschafteten.
Wir umrundeten den äußeren Rand des Kars, wobei wir die Rinne, die Monica und ich an unserem Ankunftstag ausprobiert hatten, außer Acht ließen, da wir sahen, dass der Schnee dort sogar noch weicher und lockerer als vorher war. Wir hofften, einen Weg durch eine andere Rinne oder durch leichte Felsenkletterei hinauf zum Höhepunkt des Bergrückens über dem Lager zu finden, und zwar ganz auf der linken Seite, wo es weniger steil war. Wir kamen gut voran, bis unser Weg plötzlich und unerwartet ein Ende fand: Eine riesige Felswand fiel zu unseren Füßen steil ab, und wir sahen schwindelnd in ein tiefes Tal hinunter. Es dauerte einen Moment, bis wir unseren rasenden Verstand beruhigt hatten und erkannten, dass unter uns das Pulmutang-Tal lag, durch das wir hergekommen waren. Wir konnten sogar bis zu dem kleinen grünen Flecken mit der Gompa weit unter uns sehen. Unser Basislager lag in einer kleinen Mulde, die so hübsch und sauber in den Steilhang eingebettet war, dass es aussah, als wenn sie mit einem Löffel herausgeschält worden wäre. Offensichtlich konnten wir nun also nicht weiter nach links vorrücken, sondern mussten uns den Felsen direkt über uns zuwenden. Leider waren sie sehr steil, bedrohlich, moosig und nass. Zweifellos hätten Evelyn und ich mit großer Anstrengung hinaufklettern können, aber wir entdeckten keine leichtere Route, die für beladene Menschen in Frage kommen würde. Eine schwache Möglichkeit jedoch bot eine Kluft, deren Innenwand wir nicht sehen konnten. Bevor wir die Felswand abschrieben, mussten wir hineinschauen, da diese Felskluft möglicherweise die »einfache Route« war, die wir gesucht hatten. Eine schwarze Wolkenwand türmte sich jenseits des Tals auf und verstärkte den Eindruck seiner großen Tiefe. Die Wolken näherten sich langsam, aber unaufhaltsam, obwohl es erst elf Uhr vormittags war. Wir durften keine Zeit verlieren. Schnell hasteten wir schneeverkrustete Hänge hinauf, bis wir zu einem steilen Geröllfeld kamen, wo wir unser Tempo verlangsamen mussten. Felsbrocken türmten sich aufeinander bis zu der Größe einer altmodischen Anrichte, und zwischen ihnen lagen breite trügerische Schneefelder, die wir mit unseren Pickeln auf Trittfestigkeit untersuchen mussten, da sie große Löcher und Fallen enthielten. Am Fuß der Felsen angekommen sahen wir, dass die Kluft in Wirklichkeit nur eine Vertiefung im Fels war, deren Wand auf der uns am nächsten liegenden Seite aus einer steilen Steinplatte bestand.
Diese Felsplatte war so glatt, dass sie nur einigen Schneeflocken in winzigen Rillen Halt bot. Kaum hatten wir uns ein ungefähres Bild von der wahren Beschaffenheit dieser Kluft gemacht, verschwand sie auch schon wieder. Die Wolken hatten uns eingeholt. Wie so oft erschienen sie uns zunächst weniger dunkel und bedrohlich, sobald sie uns tatsächlich verschlungen hatten. Aber trotz allem waren es Gewitterwolken. Wind kam auf, und der Schnee peitschte hart in unsere Gesichter, die riesigen Schneeflocken erzitterten von Zeit zu Zeit durch den Donnerschlag. Keine von uns legte gesteigerten Wert darauf, durch die großen Felsbrocken unseren Rückweg nach unten anzutreten, die nun so rutschig waren, als ob man sie gerade eingeseift hätte. Wir hielten uns also weiter oben und kämpften uns einen Weg in Richtung Lager über ein Geröllfeld mit kleineren Gesteinsbrocken. Der Rückweg dauerte zweimal so lang wieder Hinweg. Als wir die Zelte erreichten, hatte Monica schlechte Nachrichten für uns. Mingma, beunruhigt durch ihre Vorbereitungen für eine weitere Tour, hatte erklärt, der Neuschnee und auch der Schnee, der noch zu erwarten war, bilde eine tiefe weiche Schicht, was einen Aufstieg sehr schwierig und anstrengend machen würde. Die beladenen Sherpas würden bis zu den Hüften versinken, was in einem Gebiet mit Gletscherspalten ihren Tod bedeuten könnte. Er war der Ansicht, wir sollten auf eine Wetterbesserung warten, die er in vier oder fünf Tagen erwartete, bevor wir zum Phurbi-Chyachumbu-Gletscher zurückkehrten. Ich war bestürzt. Fünf Tage! Das schien endlos zu sein, brannten wir doch so darauf, vorwärts zu kommen. Ich suchte in meinem Gedächtnis in all dem, was ich über das Bergsteigen im Himalaya gelesen hatte, nach einem Hinweis, wie wir uns nun entscheiden könnten. Es war nicht zu leugnen, dass Mingma mehr Erfahrung in Bezug auf das Wetter und die Schneeverhältnisse hatte als jede Einzelne von uns.
Würden wir uns in Lawinengefahr begeben oder unser Leben riskieren, wenn wir weitergingen? Würden wir unsere Zeit verschwenden, wenig vorankommen und durch die schlechten Bedingungen den Mut verlieren? Monica fühlte, dass Mingma Recht hatte, und Evelyn neigte auch zu dieser Meinung. Ich wollte keine Entscheidung erzwingen, die sich später vielleicht als tollkühn herausstellte. Wir mussten abwarten und die Dinge auf uns zukommen lassen. Ich verbrachte den ganzen Nachmittag damit, niedergeschlagen in den Nebel und die fallenden Schneeflocken zu starren, und machte mich schließlich auf die Suche nach einem guten Buch. Ich dachte, ich hätte es in Moravias Die Römerin gefunden, und freute mich darauf, alle Zweifel in den fröhlichen Passagen zu vergessen, doch schon am frühen Abend war ich bei den gemeinen und düsteren Kapiteln angelangt. Einige ram chikor - Vögel, die die Sherpas tilling nannten flogen über unsere Köpfe und stiegen ihren seltsamen wohlklingenden Schrei, »tilling, tilling«, aus. Wie der Ruf des Brachvogels gehörte er zu verlassenen Moor- und Berggebieten Schließlich brach Muraris Zelt unter dem Gewicht des Neuschnees zusammen, und er musste im Biwakzelt übernachten, was er jedoch brav hinnahm. Er hatte seine anfängliche Befangenheit mittlerweile verloren und sich den anderen Jungs angeschlossen. Dem armen Kerl ging es nicht besonders gut, und wir bemerkten, dass er sich mit horlicks tröstete, einer Art Brei, den man Patienten in den Krankenhäusern von Kathmandu gab. Als wir am nächsten Morgen erwachten, fanden wir alle Zelte halb begraben vor. Die Sherpas waren beim Schneeräumen. Sie schüttelten den Schnee von den Zeltwänden, als bestünde er aus großen Zuckerstücken. Alles im Lager erschien im Vergleich zu dem grellen Schnee farblos, und wir ärgerten uns sehr darüber, Schneebrillen tragen und uns mit Schutzcreme einreiben zu müssen - die in den Tuben ganz steif gefroren war -, wenn es kein Abenteuer und nichts Erhebendes zum Ausgleich dafür gab. Bahu kümmerte sich nicht darum und wurde später am Tag schneeblind.
Ein Blick in den Himmel zeigte uns, dass es noch mehr schneien würde und wir noch keinen zweiten Aufstieg zum Phurbi-Chyachumbu-Gletscher wagen konnten. Wir konnten jedoch einen weiteren Versuch unternehmen, einen Pass über den Kamm oberhalb des Basislagers zu entdecken. Wir wandten unsere Aufmerksamkeit wieder der Rinne zu, die Monica und ich an unserem Ankunftstag untersucht hatten, und brachen frühmorgens auf, in der Hoffnung, eine feste Schneeunterlage unter der Neuschneeschicht zu finden. Als wir eine Pause machten, um Mingma von unserem Plan zu berichten, merkten wir, dass er es als Zurückweisung ansähe, wenn wir ihn ausschließen würden. Er war genauso interessiert wie wir daran, auf die andere Seite des Bergrückens blicken zu können. Wir waren gnädigerweise damit einverstanden, unsere gesamten Lebensmittel und die Ersatzkleidung in seinem Reisesack zu verstauen. Der überraschte Ang Temba wurde dazu abkommandiert, ihn zu tragen, während Mingma seelenruhig zu seinem Haferbrei zurückkehrte, in der Gewissheit, uns bald einzuholen, indem er unseren Spuren folgte.
Ang Temba war mit dem Spuren an der Reihe - wenn der Schnee besonders nass wurde, »schwamm« er regelrecht nach oben. Er war jedes Mal genauso erleichtert wie wir, wenn er abgelöst wurde. Der Schnee war so weich und matschig, dass er aussah wie ein hoher Haufen Reis und auch dessen Eigenschaften besaß. Bei jedem Schritt sanken wir ein, manchmal mitsamt unseren Skistöcken. Je höher wir kamen, desto steiler und weicher wurde der Untergrund. Kleine Schneebälle, die süßen Streuselschnecken ähnelten, kamen den Abhang heruntergerollt, getupfte Spuren hinterlassend. Hätten diese die Schneefläche gekreuzt, anstatt abwärts zu rollen, so wären sie nach meiner Vorstellung am besten mit der Aufschrift versehen gewesen »An der gestrichelten Linie abtrennen«, da der Schnee so aussah, als ob er jeden Moment abreißen und eine Lawine bilden würde. Schließlich sprach Monica aus, was wir alle insgeheim befürchteten. »Glaubt Ihr, dieser Hang ist sicher?« Natürlich war er es nicht. Mittlerweile hatten wir den Felsen erreicht, wo Monica und ich beim letzten Mal umgekehrt waren. Er war frisch verschneit, und wir konnten wieder in die nach links führende Nebenrinne hineinschauen. Doch jetzt waren die vorher nicht sichtbaren horizontalen Vorsprünge und Tritte in der Felswand, die den Ausgang bildete, durch den Schnee deutlich zu erkennen. Es würde mit Sicherheit einen Weg geben! Was noch wichtiger war: Die Nebenrinne war nicht so steil und der Schnee dort war wesentlich weniger tief, was die Lawinengefahr verringerte. Wir querten die Rinne so schnell wir konnten, und als wir die Felsen erreichten, seilten wir uns an, obwohl sich die Passage als einfach erwies. Ang Temba ging hinter Monica, die führte. Aber anstatt zu sichern, kletterte er ihr dicht auf den Fersen hinterher und war ihr im Weg. Wir schrieen ihm zu, er solle herunterkommen. »Wie bitte?«, rief er zurück, während er so tat, als ob er völlig von der Kletterei in Anspruch genommen wäre, und fuhr einfach fort mit seiner Verrücktheit. Als er oben war, drehte er sich mit einem gewinnenden Lächeln zu uns um und fragte: »Was habt ihr gesagt?« Das gleiche Spiel versuchte er auch oft mit Mingma. Unterdessen brachte Monica ihre Verwunderung zum Ausdruck und stieg begeisterte Triumphschreie aus. An den genauen Wortlaut konnten wir uns später nicht mehr erinnern. Wir brüllten zurück: »Deine Kommentare interessieren uns nicht. Nimm das verdammte Seil und lass es uns selber sehen!« Das Erste, was ich bemerkte, als ich oben angelangt war, waren sanft abfallende Schneehänge auf der anderen Seite des Höhenzuges, über die wir zu späterer Zeit wieder absteigen konnten. Also hatten wir einen echten Pass entdeckt! Als wir später von dort aus zurückschauten, erkannten wir, dass wir die einzige Stelle der Bergkette getroffen hatten, an der ein Übergang möglich war. Wären wir weiterhin dem rechten Arm der Rinne gefolgt, so wären wir oberhalb von gefährlichen schneebedeckten Felsplatten und wackeligen Zinnen herausgekommen und der Abstieg wäre dementsprechend unsicher, wenn nicht unmöglich gewesen. Ich hatte keine Zeit, mich diesen Überlegungen hinzugeben, da meine Aufmerksamkeit plötzlich durch drei elegante weiße Bergspitzen gefesselt wurde, die hell in den blauen Himmel aufragten.
Vor uns lag ein atemberaubend schöner, schwieriger Bergriese, dessen Erscheinen wir nicht erwartet hatten. Er hatte nichts Trügerisches an sich, das heißt er erweckte keinen Anschein von Zugänglichkeit. Seine drei turmähnlichen Gipfel ragten schroff, eisig und blitzend empor, im völligen Bewusstsein ihrer eigenen Unbezwingbarkeit. Sie erzeugten in uns keinerlei Verlangen, ihre Herausforderung anzunehmen. Wir saßen nur da und betrachteten sie. Welcher Berg, um alles in der Welt, lag hier vor uns? Wir hatten das ungute Gefühl, es müsste der Dorje Lakpa sein, und einen Moment lang kämpfte die Wahrheit mit unserem Wunsch, leicht erklärbare Theorien aufrechtzuerhalten. Es handelte sich tatsächlich um den Dorje Lakpa! Die Furcht erregenden Doppelgipfel, die den Phurbi-Chyachumbu-Gletscher begrenzten und die wir für den Dorje Lakpa gehalten hatten, waren etwas anderes, namenlose Gipfel, die in unserer Karte einfach nicht verzeichnet waren. Der Hauptgletscher des Dorje Lakpa unter uns demonstrierte umgehend seine Existenz mit einem entsetzlichen Spektakel und Donnergrollen.
Es erwartete uns auch noch eine weitere Überraschung, denn dieser Gletscher hatte keinen einfachen Neigungswinkel. Er war sehr steil, schwierig und gefährlich und bot einen entmutigenden Anblick. Wir konnten von Glück sagen, dass wir ihn nicht als Erstes erreicht hatten. Er bestand aus einer Ansammlung von hoch aufgetürmten Eisbrocken, zertrümmerten Sracs und leicht verschneiten Eisspitzen. Nie zuvor hatte ich einen Gletscher in einem so völlig zerrissenen Zustand gesehen. Er sah aus wie ein riesiger Topf mit Kartoffelbrei und brach unaufhörlich mit einem gewaltigen Getöse auseinander. Bei dem Versuch, in unserer Fantasie zwei Gletscher zu einem zusammenzuschieben, hatten wir die Größenverhältnisse des Himalaya-Gebirges vollkommen falsch eingeschätzt, was uns nun deutlich bewusst wurde. Wir gingen ein Stück den Grat entlang, da er interessante Kletterstellen aufwies, mit unterschiedlichen Felsen und unterhaltsamen Schneehängen, und wir immer noch auf einer Höhe waren, wo man solche Dinge genießen kann. Wir sahen, dass die dritte Spitze des Dorje Lakpa von den anderen beiden entfernt und viel weiter nördlich von ihnen lag. Man konnte sie gut als getrennten Berg ansehen, der auf der Karte nicht eingezeichnet war. Es ist auch möglich, dass er sich als zugänglich erweisen könnte, aber er war ein unerreichbarer Gipfel, und wir sahen ihn nie mehr so deutlich. Dahinter befand sich der gro-Re weiße Berg, der auf dem Marsch unser Interesse geweckt hatte. Von unserem Pass aus konnten wir jedoch nur den unteren Teil seiner Westflanke sehen. Pünktlich wie immer zogen Wolken auf, und der Jugal Himal schloss für diesen Tag seine Pforten. Gelassen traten wir den Abstieg an. Monica hatte sich abgeseilt, um ihren Anorak auszuziehen, und vergaß, sich wieder anzuseilen. Mingma stieg Ang Temba mit einem kaum verhohlenen Lachen an. Der Anblick dieser Memsahib, die sonst immer aufs Strengste auf das Anseilen bedacht war und nun gedankenverloren ohne Seil auf den einzigen prekären Hang an diesem Tag zusteuerte, war zu viel für ihn. Man muss jedoch gerechterweise erwähnen, dass Monica, abgesehen von diesem Fehltritt, sonst sehr wachsam und geistesgegenwärtig beim Bergsteigen war. in London allerdings habe ich schon erlebt, dass sie an ihrem eigenen Haus vorbeilief, als sie mich zum Essen mitnahm, und mehr als einmal fiel ihr erst viel zu spät, oben auf einem Berg, ein, dass sie Freunde zum Mittagessen eingeladen hatte.
Bei unserer Rückkehr ins Lager begrüßte Kusung uns mit freudigen Salems und fügte dann ganz spontan mit übertriebenem Respekt hinzu: »Salaam, Ang Temba!« Dabei verbeugte er sich tief und überrumpelte diesen Spaßvogel, dem darauf so schnell keine Antwort einfiel. Ang Temba neckte Kusung die ganze Zeit, und es gefiel uns, dass dieses Mal der alte Mann einen Treffer gelandet hatte.
In den nächsten Tagen schneite es heftig. Monica behauptete, die Monsunströmung hätte schon eingesetzt, und wir könnten keine Wetterbesserung erwarten, aber Mingma bestand auf einer baldigen Schönwetterperiode. In der Zwischenzeit mussten wir im Lager ausharren. Trotzdem hatten wir viel zu tun: Filme beschriften, Tagebuch schreiben und Wetteranzeichen optimistisch deuten. Wir konnten die späteren Titel für unsere Fotos nicht immer gleich an Ort und Stelle festhalten und verließen uns eher auf unsere Erfindungsgabe, als die eigentlich erforderliche Nummerierung vorzunehmen. So konnte beispielsweise ein Bild von Kusung bei dem Versuch eine Luftmatratze aufzublasen, die er wie einen Dudelsack unter seinem Arm geklemmt hielt, mit den folgenden Worten versehen sein: »Wir erlebten etwas, das keine von uns je gesehen hatte. Der Anblick war atemberaubend, und wir lachten Tränen.« Eine konstante Tagebuchführung bedeutete eine große Herausforderung für mich, da ich das Schreiben gern schleifen ließ. Monica hingegen machte minutengenaue Aufzeichnungen und hinterließ beim Klettern große Flecken aus einer undichten Tintenflasche im Schnee - ein Beweis ihres Eifers. Wäre sie nicht gewesen, wüssten wir jetzt niemals den Tag oder das Datum einer Begebenheit - und das mit einer Genauigkeit, die selten ist. Die Zeit verging mit zwanglosen Unterhaltungen. Das spannendste Thema hier und in den Hochlagern waren Menschen: Wir philosophierten über spezielle Eigenschaften unserer Freunde und wetteiferten darin, Geschichten über andere zu erzählen. Monica schien einen endlosen Vorrat an unterhaltsamen und exzentrischen Verwandten zu haben. Die Sherpas beschäftigten sich zufrieden mit ihren Spielen. Sie hatten ein kompliziertes Spiel, ähnlich wie Monopoly, das mit Steinen, Nägeln und kleinen Holzstückchen gespielt wurde. Den ganzen Nachmittag über ordneten sie diese immer wieder neu an - je nachdem, wie der Würfel fiel. Jeder Wurf wurde von wilden Ausrufen begleitet, einer Art vertrauensvoller Beschwörung, die niemals wiederholt wurde und immer in einem Triumph- oder-Verzweiflungsschrei gipfelte. Chhepala und Bahu waren die verbissensten Spieler, Mingma hingegen nahm das Spiel überhaupt nicht ernst.
Die Sherpas hatten auch ein Wortspiel, bei dem Zahlen, Namen, manchmal auch nur Vokale mal von einem Einzelnen, mal im Chor intoniert wurden. Wir haben die Regeln dieses Spiels nicht herausgefunden, aber sie spielten es stundenlang. Sie sangen immer, und die Melodien klangen in unseren Ohren alle ziemlich gleich, obwohl es sich bei einigen um Gebetsgesänge handelte, die bei Tagesanbruch gesungen wurden, bei anderen um Wanderlieder oder auch um Ang Tembas lustige Balladen. Dem schallenden Gelächter an jedem Versende nach zu urteilen, hatten diese Balladen nichts Einengendes oder gar Prüdes an sich. Wir stellten fest, dass die Sherpas genauso viel Spaß daran fanden, unsere Eigenheiten zu beobachten, wie wir im umgekehrten Fall. Das sprudelnde Limonadenpulver nannten sie »ups«, und wenn sie sich unbeobachtet fühlten, ahmten sie unseren begeisterten Gesichtsausdruck beim Anblick eines Topfes mit Tee in allen Einzelheiten nach.
Am Abend des 4. Mai holte Lakpa seine Mundharmonika hervor, und die Sherpas tanzten zu seinem Spiel einen eigenartigen schleppenden Tanz vor dem Feuer mit überraschend wenig Bewegung. Der Rhythmus dagegen war lebhaft, wie bei schottischen Volkstänzen. Sherpa-Musik hat in Wirklichkeit wenig mit indischer Musik gemein. In Kathmandu machten sich die Sherpas über die Klänge von Radio Delhi lustig, wie freche Teenager es manchmal zu Hause tun. Nima Lama erzählte uns, es gäbe einen Pass hinüber nach Tibet am Ursprung des Nosem Khola. Zu bestimmten Zeiten im Jahr wurde er als Handelsroute benutzt. Lakpa versicherte, er sei auf diesem Weg nach Lhasa gelangt, aber unsere Sherpas kannten ihn gut genug, um das zu bezweifeln. Nach einem eingehenden Kreuzverhör änderte er seine Aussage in »irgendwo in Tibet« um.
Zum ersten Mal war der Himmel vollkommen klar, als es dämmerte. Die Sterne funkelten in der frostklaren Nacht, und wir wussten, dass der nächste Tag schön werden würde. Auch Sherpas sind keine unfehlbaren Wetterpropheten, aber in diesem Fall hatte Mingma völlig Recht behalten. Die Phurbi Chyachu erhob sich zu ihrer vollen Größe und überragte in ihrer majestätischen Pracht den leichten Wolkenkranz um ihren Gipfel. Im Hintergrund wechselte der Himmel unmerklich von einem blassen Blau, durchbrochen von einzelnen Farbschattierungen der untergehenden Sonne, in ein dunkles Nachtblau über. Der Mond kam hinter den niedrigeren Bergen hervor, und sein Licht, das den ganzen Himmel erleuchtete, spiegelte sich im glatten Eispanzer der Phurbi Chyachu wider. Im Vordergrund tanzten unsere eigenen behaglichen Funken in unbeachteter Ehrerbietung. Es war ein großartiges Schauspiel.
Unsere Gespräche wurden immer wieder von langem Schweigen gegenseitigen Verstehens unterbrochen. Wir waren alle in ausgelassener Stimmung, da wir mit großer Sicherheit am kommenden Tag endlich wieder aufbrechen konnten. Nur eine einzige Sache machte uns Sorgen: Würde Kusung in der Lage sein mitzukommen? Evelyn hatte am Nachmittag seine Brust mit ihrem Stethoskop abgehört (was sein Ansehen enorm gesteigert hatte) und eine chronische Bronchitis diagnostiziert. »Er wird sich besser fühlen, wenn er erst wieder oben in den Bergen ist«, sagte Mingma. Er sprach uns aus der Seele.
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