Wir machten einen Tag Pause, waren jedoch, wie gewöhnlich, beschäftigter als an vielen unserer Marschtage. Alle Tempathang-Männer zahlten wir bis auf Nima Lama und den aufgeweckten jungen Lakpa aus. Die beiden blieben, um uns zu helfen, Lasten zum Beginn des Gletschers zu tragen, und um einige ihrer Landsleute für unsere spätere Rückkehr nach Kathmandu zu holen. Mingma hatte Schwierigkeiten, überhaupt jemanden zum Dableiben zu überreden, und bot ihnen schließlich, ohne uns zu fragen, die volle Bezahlung für die Zeit im Basislager. Wir machten viel Aufhebens um diese Sache, obwohl wir seine Versprechungen einlösten. Es ging uns darum, das heute so weit verbreitete Missverständnis auszuräumen, Expeditionen verfügten über Geld wie Heu. Die Sherpas waren absolut aufrichtig, was sie aber nicht daran hinderte, uns bei jeder sich bietenden Gelegenheit den letzten Pfennig aus der Tasche zu ziehen. Sie schienen generell den Eindruck zu haben, das würde uns nicht wehtun. Monica überredete die Männer zu einem Gruppenfoto, bevor sie gingen. Sie verloren ihre ganze Lebhaftigkeit und standen so steif und formell da wie eine viktorianische Großfamilie. »Könnt Ihr nicht lachen?«, fragte sie. Die Frage kam ihnen so komisch und absurd vor, dass sie in ein herzliches schallendes Gelächter ausbrachen, sich auf dem Boden wälzten vor Vergnügen, und es dauerte lange, bevor wir sie zum Aufhören bewegen konnten.
Anschließend mussten Evelyn und ich für uns selbst und die Sherpas der Höhe entsprechende Lebensmittelrationen aussuchen, um ausreichend für einen fünf- oder sechstägigen Erkundungsgang zum Phurbi-Chyachumbu-Gletscher versorgt zu sein. Meine Methode bestand darin, alles zu meinen Füßen anzusammeln, bis es mir genug erschien. Evelyn hingegen sortierte verschiedene Lebensmittel auf verschiedene kleine Haufen, Sardinen hier, Zucker dort, und beschwerte sich anschließend, es sei nicht genug von dem da, was sie mochte. Sie schlich sich sogar mit meiner Lebensmittelliste davon und ließ mir keine Ruhe, wenn sie irgendeine Leckerei in einer Kiste entdeckt hatte, die normalerweise erst in drei oder vier Wochen geöffnet werden sollte, bis sie zum Beispiel einen Vorschuss an Nüssen oder gekochtem Schinken bekam.
Wir überprüften noch einmal die gesamte Bergausrüstung, zündeten die höhentauglichen Primuskocher im Freien an und bauten die Zelte auf Eines davon, das wir geliehen hatten, war besonders schwierig aufzustellen. Die Zeltstangen mussten durch Schlitze in der Augenhaut der dicken Zeltplane gesteckt werden, und es war fast unmöglich, dies zu schaffen, während sie gleichzeitig verbunden blieben. Mitten in einem Schneesturm wäre das mit Sicherheit sehr aufreibend. Mingma entwickelte eine heftige Abneigung gegen dieses Zelt und fragte, ob er stattdessen das Palomine-Zelt für die Sherpas nehmen dürfte. Das Palomine-Zelt würde starken Winden zwar nicht standhalten, aber es hatte ein Überzelt, und so beschlossen wir, es zu versuchen. Nachts benutzten wir mittlerweile schon zwei Schlafsäcke: unseren üblichen, den wir auch auf unseren Wochenendtouren dabei hatten, mit Tuch warm gefüttert, und darüber einen speziellen Polarschlafsack mit Daunenkapuze, in der Werbung etwas taktlos als »Sarg-Typ« bezeichnet. Wir holten unsere Netzhemden hervor, die einen Luftraum zwischen Haut und wollener Unterwäsche frei ließen und damit für einen idealen Wärmeausgleich sorgten, so dass der Körper weder zu warm noch zu kalt wurde. Monica war von dem ihren so begeistert, dass sie erklärte, sie werde nie mehr ohne es fortgehen. Wir gaben Mingma eine Uhr, und er demonstrierte den anderen sofort, dass er mit ihrer Funktionsweise bestens vertraut war. Er war zwar gut in der Lage, die Zeit nach dem Sonnenstand zu bestimmen, aber der Besitz einer Uhr hatte den beabsichtigten Nebeneffekt, ihn dazu zu bringen, die Sherpas beizeiten zum Aufbruch zum Gletscher zu bewegen.
Am nächsten Morgen, dem 24. April, erreichten wir den oberen Rand des grasigen Vorsprungs, den Evelyn mit Mingma umrundet hatte. Weit unten sahen wir die Moräne des PhurbiChyachumbu-Gletschers, ein Haufen schneebedeckter Steinbrocken am Rande von zerborstenem Eis. Keines von beidem erschien uns besonders einladend, und außerdem war es bestimmt nicht halb so leicht, diesen unwirtlichen Ort zu erreichen, wie es nach Evelyns Aussagen geklungen hatte. Beim Abstieg würden wir uns links halten müssen und zwei tiefe, mit Schnee gefüllte Schluchten überqueren, die jedoch auf beiden Seiten von Schlamm und Geröll, wie Schlackenhalden, begrenzt waren.
In der ersten entdeckten wir Unheil verkündende braune Streifen im Schnee - Spuren herabstürzender Felsbrocken. In der Mitte hatte eine kleine Lawine einen Hang mit gefrorenem Schlamm freigelegt, einige Felsbrocken steckten darin, genauso vergänglich wie Rosinen in einem Knödel. Wir benutzten diese Felsen zum Durchqueren der Schlucht und kickten lockeres Geröll weg. Ang Droma hatte Schwierigkeiten mit einem nachlässig verschnürten Bündel Feuerholz, das sie unterwegs gesammelt hatte. Evelyn musste sie, selbst rückwärts gehend, an der Hand führen, damit sie die Steine überqueren konnte. Murari hingegen war sehr schnell und trittsicher und nahm nur meinen schwarzen Regenschirm als Stütze.
Daher überraschte es uns, als er ankündigte, er würde zurückkehren - umso mehr, da er an diesem Morgen so begierig gewesen war, uns zu begleiten. Wir sagten ihm, er solle an Ort und Stelle bleiben, bis Ang Droma und die Träger zurück wären. Zur selben Zeit fing es an zu schneien, früher als am Vortag. Wir bemerkten noch nicht, dass eine monsunbedingte Luftströmung eingesetzt hatte, die nachmittags regelmäßig Wolken und Schnee mit sich brachte. Auf unserem Marsch hatten wir die Gipfel den ganzen Tag über klar sehen können. Jetzt mussten wir froh sein, wenn es bis um ein Uhr mittags wolkenlos blieb. Meistens zogen sie jedoch schon um die Mittagszeit auf und kamen überhaupt jeden Tag früher, je mehr Zeit verging. Das behinderte unsere Erkundungstouren mehr als einmal. Allein zurückgelassen erkältete sich Murari, außerdem konnte er, in der Stadt aufgewachsen, die Einsamkeit im Nebel nicht lange aushalten. Schließlich kam er bis zum Lager an der Moräne mit. Die raue Kälte und der hässliche Gletscherbruch sagten ihm jedoch so wenig zu, dass er nicht mehr mit wollte. Das war in Ordnung, trotzdem machte es uns traurig. Er besaß einen empfindsamen, abenteuerlustigen Geist und eine gewisse Behändigkeit, allesamt Eigenschaften eines guten Bergsteigers, und wir sahen es nicht gern, dass diese nicht zum Einsatz gelangen würden. Die Träger waren barfuß über den Schnee marschiert und trugen keine Handschuhe. Nima Lama zog die langen wollenen Ärmel seines Hemdes herunter, aber Lakpa, der charmant war und ein guter Schauspieler, hatte es geschafft, von Evelyn ein Paar Handschuhe geliehen zu bekommen. Jetzt wollte sie sie zurückhaben. Ein ungläubiger Ausdruck kam in seine Augen, und kurz darauf schwammen sie in Tränen. Er blies theatralisch auf die Finger, die schon aus den Handschuhen hervorschauten, und Evelyn brachte es nicht übers Herz, auf ihrer Forderung zu bestehen. Zudem fiel ihr ein, dass sie ja ein Paar Ersatzhandschuhe in ihrem Rucksack hatte. Anscheinend existierte das Wort »leihen« bei den Sherpas nicht. Wir schickten Nima Lama und Lakpa zusammen mit Bahu weg und gaben ihnen noch ein paar Zigaretten als Bakschisch mit. Murari wollte auch eine, zur Stärkung für den gemeinsamen Rückweg mit Ang Droma.
Anschließend machten wir uns daran, unser neues Quartier zu untersuchen. Gletschermoränen sind niemals von bemerkenswerter landschaftlicher Schönheit. Diese hier erinnerte mich an eine Bahnhofstoilette. Das Eis ähnelte ungewaschenen Kacheln, das Rumpeln der herabstürzenden Steine und Lawinen erinnerte an den Klang von Zügen, die willkürlich kommen und gehen. Die Séracs und Eisblöcke oberhalb bildeten obszöne Formen, die sich über den Betrachter lustig zu machen schienen. Wir befanden uns auf einer kleinen Anhöhe, geschützt vor herabstürzenden Eisbrocken und Steinschlag. Da es unser erstes richtiges Himalaya-Lager war - von dem niemand behauptet hatte, es würde romantisch oder gar bequem sein -, richteten wir uns ohne Klagen ein. Im großen und Ganzen waren unsere Hochlager weit komfortabler als manch andere, die ich unter den arktischen Bedingungen eines schottischen Winters schon aushalten musste und in denen ich weniger gut ausgerüstet war und niemand mein Abendessen zubereitete. Wir drei Frauen besaßen zwei kleine Bergzelte für uns: zwei Memsahibs in einem, eine allein im anderen. Wir wechselten uns ab, um unsere Beziehungen zu schonen. Manchmal empfand ich es wirklich als Erleichterung, ein Zeit für mich allein zu haben, es nach meinen Vorstellungen zu gestalten (was nicht unbedingt aufgeräumt und ordentlich bedeutete) und die Unterwäsche wechseln oder die Nase schnäuzen zu können, ohne dass sich jemand dadurch gestört fühlte. (Die anderen behaupteten, meine Nase würde beim Schnäuzen wie eine Trompete klingen, und sie könnten daran die Zeit zum Aufstehen oder Ins-Bett-Gehen ersehen - was ich stark übertrieben finde.) Zu anderen Zeiten hätte ich aber auch gern gewusst, worüber die anderen lachten und sich unterhielten.
Zum Essen trafen wir uns gewöhnlich im Zweierzelt, wo dann ein Zustand mittleren Chaos herrschte: Töpfe, die unsicher auf Rucksäcken wackelten, und Marmelade, die langsam in einen Schlafsack tropfte. Die Aufgabe, Kekse zu verteilen und Getränke zuzubereiten, fiel derjenigen zu, die zu langsam gewesen war und infolgedessen mit dem übrig gebliebenen Platz in der Nähe des Eingangs vorlieb nehmen musste. Am nächsten Morgen schneite es immer noch, leise und stetig. Der Schnee bedeckte unsere Zelte, unsere Spuren und die Gletscherspalten, als wenn er alles unter einer formlosen weißen Decke verbergen wollte. Ich war unverkennbar krank und konnte meinen Kopf kaum heben. Er fühlte sich an wie in einer Schraubklemme. Ich konnte mir das nicht erklären, da wir nicht viel höher als im Basislager waren, wo ich keine Symptome von Sauerstoffmangel hatte. Seltsamerweise war dies das einzige Mal, dass ich je an Höhenkrankheit litt. Die Akklimatisierung schien für mich wie das Durchbrechen einer Schallmauer zu sein. War die kritische Höhe erst einmal überwunden, hatte ich keine großen Probleme mehr, abgesehen von geringem Appetit und natürlich Kurzatmigkeit. Monica nannte es »Akklimatisieren mit einem Klick«, als wenn man einen Schalter umlegt - in ihrem Fall auf dem harten Anstieg zum Basislager.
Ich stellte mit Erleichterung fest, dass die Höhenkrankheit keine rein psychische Reaktion oder das Ergebnis einer bestimmten mentalen Verfassung ist. Monica hatte eher verharmlosend darüber gesprochen, um mir Mut zu machen. »Ich denke, jeder ist im Allgemeinen in der Lage, die Höhenkrankheit zu überwinden, wenn er entschlossen genug ist«, sagte sie. »Die meisten Menschen hätten nur halb so viele Schwierigkeiten damit, wenn sie noch nie davon gehört hätten. Die beste Methode ist, so zu tun, als ob es sie gar nicht gibt.« Als ich das hörte, wurde ich noch ängstlicher und war mir sicher, mein akutes und besonders langes Leiden sei ein eindeutiger Beweis meiner fehlenden Willenskraft und meiner Neigung, mir alles Mögliche (und Unmögliche) vorzustellen. Trotzdem ging die Krankheit schnell vorbei, und ich hatte von da an keine Probleme mehr mit dem Essen. Evelyn hingegen hatte vernünftigerweise keinen Gedanken an das Thema verschwendet. Doch jetzt litt sie mehr als ich, manchmal sogar mehrere Tage hintereinander, obschon sie sicher auf angenehmere Weise höher gekommen wäre, wenn wir mehr Zeit in den Bergen verbracht hätten. Wir beschlossen, uns angesichts der schlechten Wetterverhältnisse nicht in unbekanntes Territorium zu wagen, doch am Nachmittag besserte die Lage sich etwas. Da Monica die fitteste von uns dreien war - Evelyn fühlte sich auch ein wenig flau in dieser Höhe -, zog sie mit Mingma und Ang Temba los, um eine Route durch den Eiswasserfall oberhalb des Lagers ausfindig zu machen. Wir beobachteten sie besorgt bei ihrem Aufstieg durch den enger werdenden Korridor des Bergschrunds, der auf halber Strecke an einem Gewirr von Séracs und Eiszinnen vorbei und hinauf zum oberen Teil des Gletschers führte. Dieser Korridor war durch Steinschlag sehr gefährlich und unsicher, und wir hatten ihn als Durchstiegsroute schon verworfen. Am Nachmittag klang es nach einem offenen Kampf, als einige Felsbrocken ganz in der Nähe des Lagers herabstürzten und alles auf ihrem Weg niederwalzten, wie um ihrer Wut über den unfreiwilligen Ortswechsel Luft zu machen. Evelyn und ich waren erleichtert, als wir sahen, dass die anderen sich aufs Eis in Sicherheit gebracht hatten. Wir entdeckten sie anschließend nur noch ab und zu, wenn sie über riesige schneebedeckte Blöcke kraxelten oder auf Eistürmen thronten. Monica musste dieser Erkundungsgang wie ein topografisches Labyrinth-Spiel vorgekommen sein, gespielt in vollem Ernst. Mal waren sie auf einer falschen Spur in einer Sackgasse, wo ein riesiges schwarzes Eisloch als Strafe für jede falsche Bewegung wartete. Mal fanden sie den richtigen Weg und wurden durch eine strahlende aufwärts führende Brücke belohnt, die sie ins nächste Verwirrspiel führte. Mingma schlug mit Kraft und Elan Tritte ins Eis - in solchen Situationen war er in seinem Element -, und Monica folgte und schlug Zwischenstufen.
Das Ergebnis passte genau für ihre Schrittlänge. Doch trotz der Séracs, die weiter oben drohend aufragten, und der Gletscherspalten, die unten lauerten, wollte Mingma nicht am Seil gehen. Diese Abneigung gegen das Anseilen war das einzige Problem mit unseren Sherpas. Sie richteten sich nach unseren Wünschen, respektierten unser Urteil, und obschon Mingma hervorragende Routenvorschläge einbrachte, überließ er uns immer die letztendliche Entscheidung. Mingma und Ang Temba zeigten beim Klettern mehr Initiative als die anderen, und Mingma, ein kompetenter und erfahrener Bergsteiger, war besonders gern der Führer. Wir hinderten sie nicht, denn es war besser, die harte Arbeit beim Spuren und Tritte-Schlagen mit den Sherpas zu teilen; sie besaßen sichtlich mehr Kraft als wir. Als zusätzliches positives Ergebnis identifizierten sie sich mehr mit unserem Vorhaben. Sie fanden es nicht merkwürdig, dass Frauen so ein Unternehmen anpackten, da ihre eigenen Frauen zäh und abenteuerlustig sind, auch wenn sie nicht in Schnee und Eis klettern. Sherpas werden jedoch nicht von ihren Frauen bestimmt, und wenn wir taktlos die Führung übernommen hätten, wären die Folgen katastrophal gewesen. Wir waren froh, dass Mingma und Ang Temba eine Art echten Bergsteigergeist besaßen und Abenteuer liebten - auch wenn diese Eigenschaften mit einer unbekümmerten Missachtung objektiver Gefahr einhergingen (mit Ausnahme von Steinschlag, den sie mit großem Respekt behandelten). Bis jetzt haben wenige Sherpas um ihrer selbst willen Berge bestiegen, und keiner plante eine Expedition für sich selbst. Tenzing bildet eine bemerkenswerte Ausnahme, und andere werden ihm folgen. Möglicherweise werden die Sherpas schließlich Bergführer und Expeditionsleiter, vergleichbar mit schweizerischen Führern, die besser klettern als Amateure und deren Vorfahren schweizerische Bergbauern des mittleren 19. Jahrhunderts waren. Noch wissen die Sherpas wenig über den Umgang mit Karte und Kompass oder über Bergrettung, aber es gibt schon eine Bergführer-Schule für sie in Darjeeling. Das Seil wurde angelegt, und Mingma zeigte Ang Temba flüchtig, wie man sich sicherte. Ang Temba hieb seinen Pickel vier bis fünf Zentimeter in den Schnee, was im Fall eines Sturzes keinen ausreichenden Halt bieten würde. Im Gegenteil: Dann wurde das Seil eher zur Gefahr als zum Lebensretter.
Monica musste mehrere Male auf einer besseren Sicherung bestehen. »Thik hai, Memsahib«, antwortete Ang Temba fröhlich, was so viel hieß wie: alles in Ordnung. Das einzige Heilmittel für ihn war unserer Meinung nach ein Sturz direkt in eine Gletscherspalte - aber wir hofften, dass dies nicht im Verlauf unserer Expedition geschehen würde. Vor ihrer Rückkehr erreichten sie den fast ebenen Teil des Gletschers ganz oben. Monica kam zurück zum Zelt und überschüttete uns mit ihrem Enthusiasmus und Schnee. »Es gibt einen ganz ausgezeichneten Weg durch den Eisfall«, sagte sie. »Wir können geradewegs den Gletscher hinaufsteigen.« Mingma stand draußen herum, um auch Anteil an der Übermittlung der guten Neuigkeiten zu haben. Alles, was wir von ihm sehen konnten, war sein breites Grinsen - wie ein Honigkuchenpferd. Der folgende Tag war klar und schön, und ich fühlte mich wieder gut. Ich war so glücklich, dass ich vor fünf Uhr aufstand. Die anderen fanden meine Lebensfreude um diese Zeit unpassend, und die Sherpas, die auf dem Marsch solche Frühaufsteher gewesen waren, waren nicht so einfach aus ihren Überlebensanzügen auf den Gletscher zu bekommen. Der Morgen war bitterkalt, und die Sonne wollte erst ganz zuletzt auf unseren Lagerplatz scheinen. Der Schnee war blau und eisenhart, man sah kaum unsere Fußspuren, und meine Finger wurden sofort gefühllos. Schließlich standen Evelyn und Monica auf und saßen in sämtlichen Kleidern, die sie besaßen, auf den Luftmatratzen. Frierend und mit vorwurfsvollem Blick warteten sie, dass die Sonne uns erreichte. Endlich schien sie auf unser unbewegliches Lager und brachte - wie der Kuss, der die schlafende Schönheit erweckt - Leben und Glitzern in den Schnee, die Sherpas und uns selbst. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, wir hätten während dieser Zeit auch nur im Mindesten hübsch ausgesehen. Das Waschen hatten wir bald aufgegeben in diesem Lager, da wir unseren gesamten Wasserbedarf durch Schneeschmelzen decken mussten. Wir befanden uns in einer sauberen Welt, und es war eh viel zu kalt ... Unser Haar wurde kraftlos und strähnig, obschon wir es hin und wieder kämmten. Ich verbarg meines abwechselnd unter einer gelben Kappe oder der Kapuzenmütze, die wie eine Perücke aussah. Monicas bleichte aus und wurde sehr trocken, da sie vor der Abreise eine zu starke Dauerwelle hatte machen lassen, außerdem begann es auszufallen. Sie öffnete eine unserer Rizinusöl-Kapseln und massierte den Inhalt in ihr Haar. Entgegen einiger weit verbreiteter Behauptungen in der indischen Presse verwendeten wir kein Make-up oder Lippenstift auf unseren Klettertouren, geschweige denn in 7000 Metern Höhe. Das wäre sogar extrem gefährlich gewesen.
Auch unter einer dicken Schutzschicht Gletschercreme, die wie ein Theater-Make-up für eine unangenehme Charakterrolle wirkte, wurden wir durch die aggressive ultraviolette Sonnenstrahlung auf dieser Höhe, noch verstärkt durch die Reflexion vom Schnee, verbrannt. Meine Lippen, die ich nach Atem ringend immer geöffnet hatte, erlitten innen schwere Verbrennungen an den Stellen, wo die Creme weggeleckt war. Der Genuss von Orangensaft wurde dadurch zu einer speziellen Qual für mich. Jedes Mal, wenn wir das Lager verlegten, mussten wir all unsere Sachen mitnehmen - wie Zigeuner. Manchmal versteckten wir einen Teil der Lebensmittel, wir konnten es uns jedoch nicht leisten, die Zelte in »Nebenlagern« zurückzulassen. Es dauerte oft lange, alles in der Kälte zusammenzupacken, wenn auch die Sherpas mit der Zeit immer mehr Übung bekamen. Normalerweise mussten wir warten, bis die Sonne die Zelte erreichte, den glitzernden Eisüberzug darauf wegschmolz und man die am schneebedeckten Boden festgefrorenen Zeltplanen überhaupt lösen konnte. Es war schon weit nach acht Uhr am ersten Morgen, als wir den weitläufigen Irrgarten des Eiswasserfalls endlich betraten. Mingma ging mit seiner Last früher als die anderen los. Er befreite die Eisstufen vom Neuschnee und hatte die Hälfte der ersten Steigung schon hinter sich, bevor wir ihn erreichten. Wir hatten keine andere Wahl, als uns - in verkrampfter Haltung anzuseilen. Mingma führte die erste Seilschaft, Evelyn die zweite. Ich ging hinter Mingma, da ich eher in der Lage war, ihn bei einem Sturz zu halten, als Monica, die klein und leichtgewichtig ist. Es war etwas nervenaufreibend, da er durch seine kopflastige Traglast sehr in Bedrängnis geriet und deswegen bei jeder wichtigen Bewegung die gleichen kleinen Panikschreie ausstieg wie beim Glücksspiel. Glücklicherweise folgte dann auch jedes Mal ein Triumphschrei wie nach einem gelungenen Wurf mit dem Würfel. Einmal mussten wir eine schmale Brücke aus Eis überqueren. Ein anderes Mal erkletterten wir eine Eiswand, die in einer messerscharfen Kante endete, und mussten über eine unerwartete Gletscherspalte dahinter springen. Wir waren so konzentriert, dass wir die aufziehenden Wolken erst bemerkten, als wir von ihnen verschlungen wurden.
Als wir den ebenen Teil des Gletschers oben erreichten, immer noch mitgenommen vom Kreuz und quer der Gletscherspalten, konnten wir die Auswüchse einer langen schneebedeckten Hauptmoräne sehen, die nach oben in den Nebel führte: das Rückgrat des Gletschers sozusagen. Dieses Stück peilten wir mit dem Kompass an - 15 Grad -, bevor der Nebel sich ausbreitete, und folgten der Richtung über eine Stunde lang nach oben. Da wir uns auf einfacherem Gelände befanden, nutzten wir vorher noch die Gelegenheit und hielten an, um die Plätze am Seil zu wechseln. Monica übernahm anstelle von Mingma die Führung, weil wir unsere eigene Route bestimmen wollten. Sie erklärte ihm, dass sie, sollte sie plötzlich in eine unvorhergesehene Gletscherspalte stürzen, bei dieser Marschfolge ohne Schwierigkeiten wieder herausgezogen werden könnte. Sie wäre wie eine Erbse an einem Bindfaden im Vergleich zu der Masse von Mingma und seiner Ladung. Das zeigte sich wenig später, als sie tatsächlich in eine versteckte Gletscherspalte rutschte - allerdings nur in Hüfthöhe. Sie sagte, es sei wie durch ein Dachfenster zu brechen, das Eis klirrte weit unten wie Glas. Die Wolken rissen nur selten und wenig auf. Der Gletscher schien immer schmaler zu werden, und von links mündete ein neuer Eiswasserfall ein. Wir beschlossen, hier unser Lager zu errichten, solange wir noch vor Lawinen sicher waren. Wir entdeckten eine ebene Stelle, und Mingma stapfte mit Ang Temba auf und ab, um den Schnee niederzutrampeln und einen Standplatz für die Zelte zu bekommen. Diese regelmäßige Aufführung nannten wir den »Zelt-Tanz«. Inzwischen trampelten wir selbst auch einen Pfad über zwei Gletscherspalten zur anderen Seite des Gletscherrückens, wo wir in Deckung waren und nicht gesehen werden konnten. Die Sherpas beobachteten immer genau, welchen Felsblock oder welche Vertiefung wir wählten und suchten sich darin ruhig einen anderen Platz, meistens weniger leicht erreichbar. Wenn sie eine von uns beim Zurückkommen von der Toilette trafen, taten sie so, als ob sie uns überhaupt nicht bemerkten, und im Fall, dass es die erste Begegnung am Morgen war, begrüßten sie uns erst beim nächsten Treffen. Dieser Nachmittag verlief nach dem gleichen Schema wie viele andere. Wir saßen in den Zelten, einen Schlafsack u m unsere Füße oder Schultern gewickelt, und hörten auf das harte Prasseln oder sanfte Fallen des Schnees, der auf dem Zeltdach erst gefror, dann in Eisplatten zerbrach und zu Boden rutschte. Ang Temba brachte uns grünen Tee oder ein Gebräu namens ovocha, was auf dieser Höhe eher genießbar war, und dazu Sardinen und Kräcker. Oft sang er ein kleines Lied, das er gerade erfunden hatte, um einen bestimmten Vorfall im Lager zu besingen. Eines, das er anlässlich des neu gelernten Wortes »Rosine« komponierte, lautete folgendermaßen:
Gudrun, Rosine,
gudrun, Rosine; gudrun,
Rosine, gudrun, Rosine.
Er brachte uns auch unser Abendessen, und wenn die Sherpas sich etwas Besonderes ausgedacht hatten, zum Beispiel Lachs, erschien Kusung ebenfalls, streckte seinen Kopf durch den Eingang und rief »Salaam, Memsahib«. Dabei grinste er vielsagend, wie um zu zeigen, das Ganze sei seine Idee gewesen, und lehnte sich dann zurück, um die erwünschte Wirkung zu beobachten. Wir lasen oder schrieben bis abends, am liebsten hatten wir Bücher mit einem wirklichkeitsnahen, realen Thema. Man hatte uns geraten, uns geistig zu beschäftigen, und dies war wahrhaftig wichtig, obwohl Evelyn meinte, ihr Studium der »Angewandten Physiologie« ginge zu weit. Ich las am liebsten Die graue Eminenz, dessen Inhalt ich bei oberflächlichem Überfliegen nicht verstehen konnte. Monica verbrachte einen Großteil ihrer Zeit mit den Bekenntnissen von Rousseau. Mit der Zeit wurden seine Ausführungen allerdings ein wenig langweilig und Die Brüder Karamazov erregten mehr Interesse - bis sie entdeckte, dass ich vergessen hatte, Teil II auf die Expedition mitzunehmen. Monica verbrachte viel Zeit mit der Planung einer neuen Garderobe, Evelyn und ich widmeten uns dagegen eher der Zusammenstellung herzhafter, um nicht zu sagen erlesener Mahlzeiten. Manchmal hatte ich ein starkes Bedürfnis nach guter Musik, auch wenn ich zu Hause eher selten Musik höre. Nach dem Abendessen krochen wir in unsere doppelten Schlafsäcke. Unsere nassen Socken und Handschuhe legten wir zwischen die zwei Daunenschichten, damit sie trockneten. Auch unsere Stiefel mussten wir hineinnehmen: Sie lagen die ganze Nacht an unseren Füßen wie eine kalte chapati im Magen.
Trotzdem waren sie am nächsten Morgen oft steif gefroren. Das Einzige, was mich nachts wirklich störte, war, dass ich mit dem Kopf nicht ganz im Schlafsack schlafen konnte, wie ich es zu Hause unter der Decke tat. Wenn ich es versuchte, wachte ich jedes Mal verzweifelt nach Luft ringend auf und mein Gesicht berührte den eiskalten Reißverschluss. Es war schlimm genug, mit dem Kopf draußen zu schlafen, denn wenn ich mich umdrehte - oder auch nur daran dachte und mich dann wieder anders besann, erwachte ich keuchend wie nach einer großen Anstrengung. Am nächsten Morgen wölbten sich die Zeltwände unter dem Gewicht des Neuschnees nach innen. Ein oder zwei Schläge dagegen erledigten das Problem, und die Sonne schien ins Zeltinnere. Ich kämpfte mich völlig verschlafen aus meinem Schlafsack und hatte keine Ahnung, was mich erwartete. Die eindrucksvolle Szenerie und die eiskalte Luft draußen brachten mich jedoch sofort zu Bewusstsein. Am oberen Ende des Gletschers ragte ein Gipfel empor, den ich vorher niemals gesehen hatte, schön geformt mit herrlichen Zinnen. Er glühte förmlich im warmen gelben Licht der frühen Morgensonne. Vor dem strahlend blauen Himmel stach er buchstäblich hervor. Ich fühlte mich, als ob ein plötzlicher zauberhafter Musikakkord den Himmel erklingen ließe, und hätte am liebsten laut aufgeschrieen. Das tat ich dann auch: Ich schrie, worauf die anderen aufschauten und jegliches Gemurmel sofort verstummte.
Jeder Morgen in unseren Hochlagern barg das gleiche Gefühl von Erregung; ein Gefühl, das uns nicht unbedingt aus unseren Schlafsäcken trieb, aber - und das war das Besondere daran das man im Voraus und in aller Ruhe genießen konnte. Wir wussten nie, was uns erwartete, wenn wir morgens hinausschauten; welche neuen unbestiegenen namenlosen Berge aus dem Nebel des vorhergegangenen Tages aufgetaucht waren, welche neuen und vielleicht erschreckenden Seiten der Berge, die wir schon gesehen hatten, jetzt erschienen, um uns aufzurütteln und etwas bescheidener zu machen. Hätte ich jemals mit dem Gedanken gespielt, mich in diesen Bergen beweisen zu müssen, so ließ ich ihn jetzt für immer ziehen. Die Sonne erreichte uns an diesem Morgen früher, und die weite glatte Schneefläche um uns herum glitzerte und funkelte im Morgenlicht. Wir kamen gut voran, obwohl Evelyn sich einmal plötzlich in den Schnee übergeben musste. Die Sherpas murmelten mitfühlende Worte und wandten sich höflich ab, ohne viel Aufhebens zu machen. Das Schlimmste war, dass es ihr danach nicht besser ging. Sie ging trotzdem weiter, langsam und tapfer, hielt dabei oft an, um ihre beschlagene Schutzbrille zu putzen, und putzte ebenso oft ihre Schutzbrille, um anhalten zu können. Auch wenn ich mit ihr mitfühlte, konnte ich doch meine Erregung nicht verbergen. Wir überquerten einen schmalen Steg am oberen Rand des unteren Gletscherabschnitts, der anschließend in ein riesiges weißes Hufeisen führte, umgeben von atemberaubenden Gipfeln und ihren zugehörigen Gletschern, die sich endlos über den Hauptgletscher erhoben. Wir waren die Ersten, die hier waren und dies alles sahen! Für die meisten Menschen ist es unmöglich, solch intensive Gefühle, wie wir sie nun erlebten, lange zu ertragen. Und so nahmen nüchterne, triviale Dinge viel von unserer Zeit und Aufmerksamkeit in diesem großartigen Hufeisen in Anspruch, das durch nichts in unserer Vorstellung übertroffen wurde. Wenn ich jetzt an diese trivialen Dinge zurückdenke wie Ang Tembas Art, seinen Pickel verkehrt herum zu tragen und zum Spaß lustige Muster im Schnee zu hinterlassen -, dann erlebe ich in einem Moment die ganze Großartigkeit unserer Situation wieder, unser Staunen und das unbeschreibliche Glück, das wir dort empfanden. Als wir schließlich wohlbehalten oben in diesem neuen Kessel angelangt waren, beschlossen wir, dort zu lagern. Der Nebel zog sich schon zusammen, löschte die prachtvolle Arena um uns herum aus und umgab uns stattdessen mit grauen, undefinierbaren Wänden. Trotzdem hatten wir noch gesehen, dass der Rand unseres Beckens, der im Norden und Osten das Grenzgebirge zwischen Nepal und Tibet bildete, zwischen der Phurbi Chyachu und dem wohlgeformten Gipfel, den wir vom oberen Teil unseres Gletschers aus entdeckt hatten, abfiel.
Wir konnten diesen Abhang möglicherweise über einen steilen Vorsprung oberhalb des Lagers erreichen und von dort einen Blick nach Tibet werfen. Außerdem wollten wir eine bessere Sicht auf die Nordflanke der Phurbi Chyachu haben, deren Gipfelhang zuerst steil anstieg, dann jedoch flacher wurde. Dieser Hang ist an manchen Stellen nicht fester als eine dünne Eisplatte, doch noch wurden wir durch seine geringe Steigung zu der Annahme verleitet, wir könnten eine Route dort entlang finden. Gleichzeitig wollten wir den schönen Gipfel im Norden des Abhangs untersuchen, der uns sehr faszinierte.
Wir nannten ihn mittlerweile Ladies-Peak (»Damen-Gipfel«) - etwas vorschnell, wie wir bald erkennen sollten. Seine Westseite stieg im unteren Teil steil an, unsere unerfahrenen Augen entdeckten jedoch eine breite Zinne, die wir vielleicht erklettern konnten. Als wir Halt machten, sank Evelyn sofort auf einer großen Reisetasche in sich zusammen, und Ang Temba und Chhepala legten sie so bald in ihr Zelt, dass es schien, als hätten sie es um sie herum aufgeschlagen. Chhepala hatte schnell unseren Schlafturnus in den Zelten begriffen und ordnete unsere Taschen und Schlafsäcke immer entsprechend richtig zu. Kusung jedoch konnte es sich nicht merken und schaute jedes Mal bestürzt, als ob er sagen wollte: »Sie werden doch nicht schon wieder gewechselt haben?« Am nächsten Morgen erwartete uns eine weitere Überraschung. Wir entdeckten westlich von uns einen Doppelgipfel, dessen felsige und eisige Flanken im warmen Sonnenlicht erstrahlten. Einer war etwas höher als der andere, und sie glichen dem Berg, den wir aus der Ferne als Dorje Lakpa identifiziert hatten. Es dauerte nicht lange, um von dieser Feststellung zu der Überzeugung zu kommen, dass der Berg vor uns tatsächlich der Dorje Lakpa war.
Und da wir uns frei fühlten, der Landkarte keinen Glauben mehr zu schenken, entwickelten wir die hübsche Theorie, es gäbe nicht zwei Hauptgletscher Im Jugal Himal, sondern nur einen. »Jedenfalls«, so argumentierten wir in unserer Unschuld, »kann es im Jugal-Gebirge nicht zwei so große Gletscher geben wie den, den wir gerade erforschen.« Die Bergkette oberhalb unseres Basislagers trennte uns nur von den kleinen Gletschern des westlichen Tals, so dachten wir, und sämtliche Hauptgipfel des Jugal-Hufeisens lagen nun in einem einzigen prachtvollen Bogen über uns. Evelyn fühlte sich besser und beschloss, mit uns zu dem Abhang am Gipfelrand zwischen dem Ladies-Peak und der Phurbi Chyachu zu klettern. Der steile Hang im Osten, der zu der Stelle hinaufführte, schimmerte seidig-blau - ein Zeichen dafür, dass Eis unter der Schneeschicht verborgen war. Es gab dort keine Gletscherspalten, außer ganz oben, allerdings konnte er leicht zu einer gigantischen und rasanten Rutschbahn werden. Nach kurzer Überlegung zog ich meine Steigeisen an. Ich war an der Reihe, eine Seilschaft zu führen, Mingma übernahm die andere. Ohne seine Traglast schoss er jetzt in einem solchen Tempo voran, dass Evelyn regelrecht hinterhergezogen wurde und alle 50 Meter eine Pause verlangen musste. Wäre sie in ihrer Geschwindigkeit gegangen, hätte sie ohne Schwierigkeiten durchlaufen können. Ich selbst hatte nichts gegen die Stopps und stellte mich mit meiner Gruppe jedes Mal zu den anderen. Monica allerdings war sehr fit und schritt schwungvoll voran. Sie und Mingma hätten sich von uns anderen trennen sollen und vorauseilen, da die Wolken sich schon über uns zusammenzogen. Doch daran dachten wir nicht rechtzeitig. Monicas gute Kondition lag nicht nur daran, dass sie im Sikkim schon auf 6000 Metern Höhe geklettert war und sich daher beim zweiten Mal leichter akklimatisierte. In niedrigen Höhen ist sie sowohl in der Ebene als auch bergauf eine schnelle Läuferin. Als kleines Kind und als Jugendliche verbrachte sie viel Zeit in den Dschungelgebieten Südindiens in dem Versuch, ihrem schnell vorauslaufenden, zerstreuten Vater nachzukommen - auf der Spur nach dem großen Abenteuer. Monica ist nur 1,55 Meter groß. Es gibt zwar keine Idealgröße für einen Mann beim Bergsteigen im Himalaya - das beweisen die vielen unterschiedlichen Everest- und Kangchenjunga-Teams. Es könnte jedoch sein, dass kleine Frauen in großen Höhen Vorteile haben, vorausgesetzt sie sind widerstandsfähig und beherzt. Claude Kogan, die höher als jede andere Frau auf der Welt war, erreicht ohne Schuhe eine Größe von knapp 1,52 Metern. Meiner Meinung nach wird die erste Frau, die je auf dem Everest-Gipfel steht, zartgliedrig und zierlich sein.
Irgendwie haftete die Schneeschicht am darunter liegenden Eis, so dass wir Stufen hineintreten konnten. Wir stiegen die linke Seite eines langen weißen Vorsprungs hinauf, der dem Gipfel zu immer steiler wurde. Das Eis glitzerte trügerisch. Wir hielten alle gleichzeitig an, um unsere Steigeisen anzuziehen bis auf Ang Temba, der sie nicht mitgenommen hatte, weil er der Meinung war, seine seien zu groß. Er bedauerte als Einziges, dass nun alle um den Spaß kamen, ihn in seinen Steigeisen herumschlittern zu sehen. Ich stellte fest, dass meine angeblich narrensicheren Steigeisenverschlüsse, die in Kathmandu so einfach und elegant zu funktionieren schienen, jetzt an den Schnallen durch Eis blockiert waren. Ang Temba bog sich um den einen Stiefel, Chhepala um den anderen, jedoch ohne Erfolg. Die Dinger waren nicht zuzukriegen. Kusung bot mir ein Stück Schnur an, glücklich, endlich eine Idee zu haben, aber nach ein paar Schritten zerriss sie. Also beschloss ich, Stufen ins Eis zu schlagen - was wir für Ang Temba eh machen mussten. Weder die dünne Schneedecke noch das unnachgiebige Eis würden einen gut geführten Pickel davon abhalten, ihm als Sicherung zu dienen. Ich überschritt den Gipfelpunkt und fühlte mich, als würde ich eine riesige umgedrehte Puddingschüssel hinaufkraxeln. Ang Temba zockelte hinter mir her. Wir kamen zu einer kleinen Bodensenke am oberen Ende des Vorsprungs, etwa 150 Meter unterhalb des Grenzgebirgsrückens. Feuchter Nebel sammelte sich schnell in dieser Senke, und es gab keine Hoffnung, dass er sich heute wieder auflösen würde. Wir konnten von oben überhaupt nichts erkennen. Es war also unmöglich weiterzugehen. Wir trösteten uns mit dem Gedanken, dass dieser Aufstieg gut für die Akklimatisierung war wir erreichten wahrscheinlich eine Höhe von 5600 Metern, auch wenn wir zu dieser Zeit davon überzeugt waren, uns auf 6000 Metern zu befinden und machten uns auf den Rückweg nach unten. Als wir bei meinen Eisstufen ankamen, bat ich Kusung und Ang Temba, vorsichtig zu gehen. Ich wollte ihnen begreiflich machen, dass ich sie hier nicht genügend sichern konnte. Doch sie schlitterten recht unbekümmert herum, hieben mir zuliebe größere Stufen ins Eis, die jedoch mit den schon vorhandenen überhaupt nicht übereinstimmten. Rückblickend erscheint mir dieser Moment haarsträubend, doch zu dieser Zeit war ich einfach nur verärgert.
Die Höhe machte uns anscheinend weniger ängstlich, sogar etwas weniger verantwortungsvoll als auf Bergtouren in niedrigeren Lagen. Die Berge vor uns waren dagegen nicht weniger Furcht einflößend als in unseren Vorstellungen, und wir bewegten uns dementsprechend überlegt und umsichtig zwischen ihnen. Der erste Anblick einer entsetzlichen Gletscherspalte - wie das Tor zur Unterwelt, das sich zu Persephones Füßen öffnete hinterließ einen unauslöschlichen Eindruck, und wir werden uns immer mit Ehrfurcht daran erinnern. Doch nun betrachteten wir sie aus einer gewissen sachlichen Distanz. Paradoxerweise fühlte ich mich zu Hause oder in den Alpen vor einem neuen Expeditionstag immer viel aufgewühlter und ängstlicher. Das war einer der Punkte, in denen sich das Bergsteigen im Himalaya von meinen bisherigen Erfahrungen unterschied und in gewisser Weise auch vergnüglicher war - zumindest bis wir eine Höhe von rund 6000 Metern erreichten, wo jeder Schritt so viel Anstrengung kostet, dass er nur noch schmerzvoll ist. Anscheinend trafen wir Vorsichtsmaßnahmen eher aus Gewohnheit und aufgrund unseres Trainings als aus irgendeinem Angstgefühl heraus. Schon allein aus diesem Grund hielten wir es für die meisten Mitglieder einer Himalaya-Expedition für sehr wichtig, frühere Bergsteigererfahrung in Schnee und Eis zu besitzen. Dieser Verlust an Ängstlichkeit, manchmal bis hin zu völliger Gelassenheit, in Verbindung mit einem konstanten Bewusstsein unserer Umgebung hatte eine unerwartete Wirkung auf unsere Beziehungen untereinander. Entgegen aller Erwartungen waren sie immer gut in den Bergen. Die meisten Bergsteiger mit Himalaya-Erfahrung behaupten, die besten Gefährten von Wochenendtouren könnten sich in den hoch gelegenen Lagern plötzlich nicht mehr ausstehen, jede Schwäche käme überdeutlich zum Ausdruck, jede Eigenheit würde zum untragbaren Ärgernis. W. H. Murray geht gar so weit zu sagen: »Ich hätte jeden meiner Begleiter in regelmäßigen Abständen mit Vergnügen erschlagen, wären da nicht die lästigen Erklärungen gegenüber den Angehörigen gewesen.« Daher zählt bei der Auswahl der Mitglieder großer Expeditionen ein ausgeglichenes Temperament genauso viel wie bergsteigerische Fähigkeiten. Einige dieser Himalaya-Bergsteiger sind der Meinung, die Höhe sei für die genannten Schwierigkeiten nicht verantwortlich, zumindest nicht bis zu einer Höhe von 6000 Metern, sondern es läge vielmehr am Zusammenleben in Zelten über einen langen Zeitraum, in Unbequemlichkeit und Langeweile. Das konnten wir aus unserer Erfahrung nur bestätigen. Wir waren versucht zu folgern, Frauen könnten diese Unannehmlichkeiten besser aushalten und sich während der langen Stunden in den Basislagern sinnvoller beschäftigen. Jedenfalls war der einzige Effekt, den die Höhe auf unsere Beziehung hatte, dass wir freundlicher miteinander umgingen. Evelyn verlor zwar zeitweilig ihre gewohnte Lebhaftigkeit, dafür erlangte sie jedoch eine neue Würde und zeigte sich sehr selbstlos und besorgt, dass sie uns aufhalten könnte - was sie nicht tat. Sie entwickelte eine wunderbare, bis dahin nicht gekannte Art. Im indischen Flachland, wo wir der Hitze, dem Staub und der dauernden Unsicherheit, die richtigen Dinge zu Reportern und Zollbeamten zu sagen, ausgesetzt waren und Listen, Zeitungsüberschriften und Artikel in Zügen und Warteräumen tippen mussten, hatten wir uns gestritten.
Zu dieser Zeit hatten wir die kleinen Unstimmigkeiten und Zankereien, die man uns für die Berge vorausgesagt hatte. Eigentlich wollten wir am nächsten Tag in einem schnellen Aufstieg zum Grenzgebirge hinaufkommen, aber die Gelegenheit war vorbei. Es war ein verdrießlicher Morgen, und eisengraue Wolken umhüllten schon jetzt die Bergspitzen. Unsere Lebensmittel gingen bald zu Ende, und wir mussten am selben Tag wieder zum Basislager zurückkehren. Also taten wir dies schnell und entschlossen, denn wir wollten unbedingt wiederkommen, um den Gletscher so bald wie möglich genauer zu untersuchen. Eine Zeit lang gingen wir ohne Seil auf einer festen Schneeunterlage. Zwei Lämmergeier, die bärtigen Himalaya-Geier, glitten über unsere Köpfe hinweg. Sie bewegten kaum ihre Flügel, und wir stellten uns vor, wie sie uns mit gesenkten Augenlidern musterten. Bei diesem Wink auf unsere Sterblichkeit hielten wir an und bestanden darauf, uns anzuseilen, obwohl wir noch weit oberhalb des Eisfalls waren und Mingma das Ganze kleinlich fand. Nicht lange danach sank er selbst kurz hintereinander in zwei oder drei Gletscherspalten, auch wenn er durch seine Traglast oben gehalten wurde, die sich in dem durch seinen Körper entstandenen Loch verklemmte. Beim zweiten Mal eilte ihm Ang Temba zu Hilfe und begab sich selbst auf den Schnee, der sich als unsicher erwiesen hatte, anstatt ihn von einem festen Standort aus zu sichern. Evelyn und ich riefen ihm gleichzeitig nach, verwendeten in unserer Aufregung jedoch den falschen Namen.
»Kusung! Zurück, Kusung!«, schrieen wir. Der arme alte Kusung drehte sich um, als wollte er sagen »Wer? Ich?«, während Ang Temba weiterhin so herumturnte, dass er selbst und Mingma jeden Augenblick in die Tiefe stürzen konnten. Im Nebel hatten wir Schwierigkeiten, den Anfang unserer Route den Eiswasserfall hinunter zu finden. Der Schnee hatte unsere Spuren völlig fortgewischt, wie eine penible Hausfrau, die sauber macht, noch bevor die Gäste Zeit hatten zu gehen. Die Wolken waren von einem Sturm herangetrieben worden, der nun immer stärker wurde. Die Düsterkeit wurde durch kurze Blitze und den sanft fallenden Schnee etwas erhellt, immer wieder vom Donnergrollen unterbrochen. Unsere Schneebrillen waren völlig verschneit, was besonders für Monica schlimm war, da in ihrer Brille die Gläser eingesetzt waren, die sie normalerweise als Sehhilfe trug. Sie konnte nun weder mit noch ohne sie sehen. Außerdem behauptete sie, sie könne ohne ihre Brille auch nicht hören.
Wir nahmen diese Aussage nicht so wörtlich, bis wir bemerkten, dass sie jedes Mal nach ihrer Brille griff, wenn die Unterhaltung interessant wurde. Mingma hatte solche Angst, auf dem letzten kurzen Stück durch den Bergschrund in Steinschlag zu geraten, dass er einfach hindurchrannte. Dabei zog er Monica über die Stufen im Eis hinter sich her, so dass sie sich ihr Knie wieder aufschlug. Als wir uns dem Lager näherten, hörten wir plötzlich einen Schrei und ein Krachen, das Bahu ankündigte. Mingma hatte ihm aufgetragen, täglich ab dem fünften Tag unseres Aufbruchs am Fuß des Eisfalles nach uns Ausschau zu halten. Er schien sehr froh, uns zu sehen - zweifellos weil er nun nicht mehr jeden Tag heraufkommen musste, um uns zu treffen und brachte warme Yak-Milch in einer Thermoskanne mit, ein Geschenk der Sherpas von Tempathang. Wir fanden, sie hatte einen strengen Geschmack, vermutlich infolge unsauberer Melkmethoden, was sich in allem niederschlug, für das sie verwendet wurde: Kakao, Haferbrei oder Vanillepudding. Nach einer kurzen Pause gingen wir das letzte Stück zurück zum Basislager. Die Träger und Ang Droma begrüßten uns mit Salem, und Murari sagte recht selbstbewusst »Na, wie geht's?«.
Doch das Lager entsprach nicht dem warmen, heiteren Hafen, den wir uns ausgemalt hatten. Die Zelte waren von Schneematsch umgeben und sahen zugig aus, das Feuer qualmte, und der Sturm tobte immer noch. Sollte dieses Wetter anhalten, würden wir niemals zum Grenzgebirge zurückgehen können und mehr zu sehen bekommen. Niedergeschlagen und wortlos schliefen wir ein.
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