Feuerschluchten

Unser Leben verlief jetzt in einer eintönigen Routine: Wir standen bei Tagesanbruch, etwa um fünf Uhr morgens, auf und gingen bei Einbruch der Dunkelheit um sieben Uhr abends schlafen. Ich stand beim ersten Sonnenstrahl auf und lief so lange geräuschvoll herum, bis die anderen merkten, dass es Zeit wurde, aus den warmen Schlafsäcken zu kriechen. Auf dieser Expedition stand ich so oft früh auf, dass mir mein Ruf als begeisterte Frühaufsteherin für den Rest meines Bergsteigerinnenlebens erhalten blieb, auch wenn ich mal länger ausschlief. Evelyn ignorierte das morgendliche Treiben immer bis zum letztmöglichen Moment, mit dem Ergebnis, dass eines Morgens die übereifrigen Sherpas bei ihr im Zelt standen und es fast über ihrem Kopf zusammenlegten, während sie noch mit dem widerspenstigen Reißverschluss an ihrer Hose kämpfte. Trotz unserer persönlichen Eigenheiten kamen wir gut miteinander aus. Das war gut so, denn in einem Zelt gibt es nicht viel Platz für Meinungsverschiedenheiten.
Monica war in der jetzigen Umgebung wesentlich entspannter als zu Hause. Ihr Verständnis und ihre Bereitschaft, die Dinge von der lustigen Seite her zu betrachten, machten sie zu einer angenehmen Begleiterin. Evelyn ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Sie war unkompliziert und gelassen und nie beleidigt. Was mich angeht, so kümmere ich mich im Allgemeinen viel zu sehr darum, was andere denken. Doch Im Himalaya bringt es nichts, sich über irgendetwas Sorgen zu machen, schon gar nicht über die alltäglich auftauchenden Probleme. Wir brauchten noch eineinhalb Stunden bis nach Nawalpur, deshalb bereuten wir unsere Entscheidung vom Vorabend nicht. Da Nawalpur das letzte Dorf mit einem Basar auf unserem Weg war, kauften wir Reis, denn es ist unmöglich, vierzig Leute aus der Natur zu ernähren, wo nur eine begrenzte Menge Getreide zur Verfügung steht. Wir überließen Mingma das Handeln, da wir ihm vertrauten und zudem wussten, dass wir den Reis auf diese Weise billiger bekommen würden, als wenn wir ihn selbst besorgten. In der Zwischenzeit hörten wir dem vertrauten Ruf eines Kuckucks zu, der in dieser trockenen Region ein wenig fehl am Platz klang, und einem Vogel, den Monica als grüne Gebirgsstelze identifizierte.
Der Basar bestand aus vielen kleinen Läden mit schön geschnitzten Holzpfosten an ihrer Vorderseite. Die Eigentümer saßen im Schneidersitz auf dem Boden zwischen ihren Waren und hatten alles griffbereit: Chilis und Gewürze lagen neben billigen Zigaretten, Armreife und Plastikhaarspangen in einer Auswahl wie bei einem Schmuckladen. Vor den meisten Geschäften standen Wasserkannen aus Messing mit einem langen Ausguss, damit die Vorbeigehenden ihren Durst löschen konnten. Eine gute Methode, um Kunden anzuziehen. Ein Laden hängte stolz einen Werbekalender von 1950 aus. Auf einigen Fensterläden im Dorf waren die alles sehenden Augen Buddhas aufgemalt. Wir sahen jedoch auch einen Altar für Ganesh, den elefantenköpfigen Gott der Hindus, an einer Kreuzung - ein Zeichen lobenswerter Toleranz oder Ausdruck des Wunsches, alle Gottheiten versöhnlich zu stimmen. Wir mussten den Reis in Nawalpur lassen, bis wir zusätzliche Träger gefunden hatten, denn die Ladung wog 145 Kilogramm. Mingma hatte von einem Sherpa-Dorf namens Okhreni gehört, das ein Stück weiter in den Bergen lag, und meinte, wir würden dort eher jemanden finden als in Nawalpur. »Diese Leute können keine Lasten tragen«, sagte er verächtlich und deutete auf eine Gruppe, die gerade beim Würfelspiel auf einem Stoffspielbrett war. Außerdem schloss diese Aussage wohl auch sämtliche Nicht-Sherpas mit ein.
Dach der Welt
Ein kleines Sherpa-Mädchen aus Okhreni bot an, uns zu einer ebenen Hochweide in der Nähe ihres Dorfes zu führen, wo wir unser Lager errichten konnten. Sie ließ uns vorausgehen und hatte einen riesigen Spaß, wenn wir den falschen Weg nahmen, was ihr Gelegenheit gab, uns auf den richtigen zurückzurufen.
Die Landschaft veränderte sich nun deutlich. Die Abhänge des Nauling-Lekh-Gebirges stiegen direkt vor uns an. Sie waren anfänglich von kleinen gestrüppartigen Bäumen bedeckt, mit kahlen Stellen dazwischen, weiter oben wurden sie von immergrünem Wald bewachsen. Direkt um Okhreni herum gab es einige Mais- und Kartoffelfelder, der Rest war Weideland. Auch die Häuser hier oben waren anders. Sie ähnelten schweizerischen Berghütten, hatten eine Art Dach und waren aus Holz gebaut. Die untere Hälfte war mit Lehm verputzt und weiß gestrichen. Wir befanden uns hier wirklich in einer buddhistischen Gegend und sahen die ersten chorten und eine neu erbaute Gebetsmauer. Die Menschen schienen hier freier und uneingeschränkter zu sein, vor allem die Frauen. Murari wich nicht von unserer Seite. Ob dies zu unserem Schutz geschah - was unnötig war oder aus »Prestigegründen«, wussten wir nicht. Er war sehr gewissenhaft und hatte wahrscheinlich das Gefühl, er sollte besser zur Stelle sein, um all die Sachen einzusammeln, die Monica bei jedem Halt liegen ließ. Er erzählte uns, dass er aus einer siebenköpfigen Familie stamme und dass sein Vater das einzige Reisebüro in Nepal besitze. Da die Nepalesen jedoch vernünftigerweise aus Prinzip zu Hause bleiben, ging sein Geschäft nicht besonders gut, und er tat sich schwer, für seine Familie und die Ausbildung seiner Kinder aufzukommen. Wir bemerkten, dass Murari auf die Frage nach seiner Herkunft immer antwortete »aus Nepal« - als ob wir uns nicht schon in diesem Land befänden. Dieses Verhalten verstärkte unseren Eindruck von Fremdartigkeit noch. Doch Murari erklärte uns, dass das alte Nepal früher das Kathmandu-Tal war. Die Leute hier oben lebten noch mit dieser Vorstellung und bezeichneten sich selbst als paharis oder Bergbewohner.
Wir erreichten die grasbewachsene Hochebene am frühen Nachmittag, nachdem wir eine Strecke von etwa 10 Kilometern hinter uns gebracht hatten. Normalerweise schafften wir 16 Kilometer pro Tag, aber wir konnten nicht weiter, bevor die Angelegenheit mit dem Reis nicht geklärt war. Mingma strengte sich sehr an, und wir hatten das Gefühl, er wollte seinen Fehler vom Vortag wieder gutmachen. Er überredete zwei Sherpas aus Okhreni, als Träger mit uns zu kommen. Zwei weitere sollten später noch dazustoßen. Mit einigen der alten Helfer ging er zweimal den Weg nach Nawalpur und zurück, um den Reis zu holen. Er verteilte so viel wie möglich auf vier Lasten und packte den Rest den Trägern aus Kathmandu auf den Rücken. Von seinem letzten Gang kam er erst tief in der Nacht zurück, und wir vermuteten, dass die drei bei einem Glas chang (das ortsübliche Bier) aufgehalten wurden. Zu unserer großen Enttäuschung stellten wir fest, dass wir weder Chang noch rakshi, einen starken selbstgebrannten Schnaps aus Reis, mochten. Unser Fehler beim Rakshi war, dass wir nur daran nippten. Man muss ihn in einem Zug hinunterkippen. Chang-Bier hingegen schmeckt gar nicht so schlecht, wenn man es mit einem kleinen Bambusrohr aus einem geschlossenen Gefäß schlürft. Ansonsten ist der Anblick zu abstoßend, denn es sieht wie Desinfektionsmittel aus, ist jedoch keineswegs so hygienisch. Wir genossen den Nachmittag auf unserer Hochweide. Sie lag auf einem grasbewachsenen Felsvorsprung unterhalb eines Hügelkamms, war an drei Seiten von Dschungel umgeben und bot an der vierten einen atemberaubenden Ausblick auf die Berge des Jugal und Langtang Himal.
Wir sahen die Nauling-Lekh-Kette, die sanft bis zum Chang Samaphu mit seiner schmalen druckknopfförmigen Spitze anstieg, und der letzte Schnee schmolz vor unseren Augen. Doch wir bemerkten große Bäume, Rhododendron und Nadelbäume, und in unserer allgemeinen Begeisterung kombinierten wir, dass, wo Bäume wachsen, auch Wasser vorhanden sein muss. Um unsere Zweifel bezüglich der weiteren Route zu zerstreuen, brachte Mingma einen jugendlichen aus Okhreni zu der Aussage, er wüsste, wo Wasser entlang dem Nauling-Lekh-Grat zu finden sei. Unsere Träger waren jedoch nicht überzeugt. Am Abend wurde es wunderbar kühl, da wir uns nun auf 2300 Metern Höhe befanden und ein leichter Wind gleichmäßig aus dem ewigen Eis herunterwehte. Wir beschlossen, uns die gute Laune und Zuversicht so lange wie möglich zu erhalten. In der Zwischenzeit wollte ich uns etwas Gutes tun und einen gekochten Pudding zubereiten. Man sagt, dass ein Koch im Himalaya nur wenig Lob erwarten darf.
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Ich bekam überhaupt keines. Meine Freundinnen erklärten, was sie anginge, so würden sie keinen Wert auf weitere Pudding-Überraschungen legen. Den Sherpas machte die ganze Angelegenheit ungeheuren Spaß. Ich vergrub anschließend die Reste, um meinen Fehlschlag nicht einzugestehen. Murari nahm seine Mahlzeiten mit uns gemeinsam ein. Er drehte uns halb den Rücken zu, um uns nicht beim Essen zuzuschauen. Anfangs bediente er sich niemals selbst, und auch wenn ihm das Essen aufgedrängt wurde, aß er nur wenig für sein Alter, vor allem im Vergleich zu Ang Temba, der jedes Mal riesige Teller voll Reis verschlingen konnte. Murari war ein guter Läufer, aber wir fragten uns, wie lange er wohl durchhalten würde bei so einer dürftigen »Diät«. Später an diesem Nachmittag verschwand er in seinem Zelt, um auszuruhen. Kurz darauf sahen wir Mingma, wie er eine immense Portion Reis zu ihm hineinschob. Unsere weiteren Nachforschungen ergaben, dass Murari mehr Kalorien pro Tag zu sich nahm, als irgendein anderer aus unserer Gruppe. Später, als er weniger schüchtern war, machte er kein Geheimnis mehr daraus, dass er sowohl unser Essen als auch das der Sherpas aß. So profitierte er von beiden Welten. Als der Sirdar am nächsten Morgen seinen Rücken gedankenverloren am Feuer wärmte und es Murari und unseren Sherpas überließ, seinen Trägern beim Aufladen ihrer Lasten zu helfen, kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung. Einer der Träger behauptete, seine Last sei ungerechterweise erhöht worden. Ich hatte eine ganze Sammlung von nützlichen Nepali-Worten, aber mir fiel plötzlich auf, dass ich nicht wusste, was »schwer« bedeutet. Murari sagte es mir, und ich benutzte das Wort, ohne auf den Streit zu achten, der nun entbrannte. »Garhun«, sagte ich laut, »garhun«. Ich wiederholte das Wort mehrmals, bis ich es richtig aussprechen konnte. »Ja, Memsahib, garhun«, bestätigte der unzufriedene Träger und drehte sich zu mir um. Es schien ihm zu genügen, dass seine Verärgerung anerkannt wurde, denn er warf sich sein Trageband über die Stirn, stülpte seinen kleinen schwarzen Hut darüber und marschierte los. Nepali zu lernen war nicht einfach, da es noch so viele andere Sprachen in unserer Gruppe gab.
Die Träger verwendeten einen Dialekt, der Tamang genannt wurde, die Sherpas redeten in ihrer eigenen Sprache und die Dorfbewohner, die wir vor unserer Ankunft im Sherpa-Gebiet getroffen hatten, verständigten sich auf Newari, das ganz anders als Nepali klingt. Die meisten unserer Männer konnten ein paar Brocken Hindustani und benutzten Nepali als gemeinsame Sprache. Ich war jedes Mal überglücklich, wenn ich in dem Sprachengewirr um mich herum ein Wort erkannte, und rannte sofort los, um es jemandem zu berichten.
An diesem Tag gingen die Träger sehr langsam und hielten öfter als sonst, um ihre Lasten zurechtzurücken oder mit großer Hingabe auszuspucken. (Das Geräusch, das sie dabei machten, verfolgte uns immer. Ich tröstete mich jedoch mit dem Gedanken, dass ich später einmal, Samstag nachts in einer Glasgower Straßenbahn, mit Heimweh an Nepal denken würde, wenn ich es hörte.) Weder Mingmas anfeuernde Rufe noch die Aufforderung ihres Sirdars brachten sie dazu, sich zu beeilen. Außerdem pfiffen und sangen sie nicht, wie es sonst ihre Art war. Wir schrieen sie niemals an, aber heute ging Evelyn zum Ende unseres Zuges zurück und wartete dort demonstrativ auf diejenigen, die sich zu lange Zeit gelassen hatten. Diese Methode war recht erfolgreich. An diesem Tag erlebten wir nur einmal, wie einer der Träger plötzlich mit seiner Last aktiv wurde, und zwar nicht auf irgendeinen Befehl hin, sondern als Reaktion auf eine kleine witzige Bemerkung Ang Dromas, als sie mit ihrer eigenen Last nach hinten hüpfte. Der Grund für den allgemeinen Widerwillen weiterzugehen lag in der Unsicherheit bezüglich der Nauling-Lekh-Route. Monica und ich gingen mit Murari ein Stück voraus, in der Hoffnung, etwas zu finden, das die Träger ermutigen würde. Auf ungefähr 2400 Metern Höhe hielten wir an, um mit ein paar Bergbewohnern zu sprechen, die den Weg herunterkamen. Sie waren mit Bündeln aus belaubten Zweigen beladen Futter für ihr Vieh. »Ja«, antworteten sie auf unsere Frage, »es gibt eine Quelle weiter oben.« Als sie uns die Entfernung und Höhe beschrieben, wo wir sie antreffen würden, erreichten ihre Stimmen die charakteristische schrille Tonlage, so dass ich es nicht wagte, auch noch den Jugal zur Sprache zu bringen. Ich wollte nicht dafür verantwortlich sein, wenn einer von ihnen einen dauerhaften Kehlkopfschaden davontrug. Wir warteten auf unsere Träger und hofften, die neuesten Informationen würden sie beruhigen. Das Gegenteil war der Fall ... Denn als unsere Informanten die Größe unseres Gefolges sahen, machten sie einen Rückzieher und bedeuteten uns, die Quelle sei zu klein. Um genug Wasser für so viele Leute zu finden, müssten wir drei Tage den Nauling-Lekh-Grat entlangwandern. Falls wir ihre Aussage anzweifelten, sollten wir einfach losziehen und uns selbst überzeugen, fügten sie noch hinzu. Ein allgemeiner Aufschrei erfolgte.
Die Träger umringten Monica, flehend und protestierend. »Wir werden alle dort oben sterben, Memsahib«, sagte einer dramatisch. »Nein, das werdet ihr nicht«, war die nüchterne Antwort. »Falls es weiter oben kein Wasser gibt, gehen wir halt den unteren Weg. So einfach ist das.« Wir waren enttäuscht, vor allem weil wir von hier aus unsere mögliche Alternative sehen konnten: einen Pfad, der an der Westseite des Nauling Lekh unbarmherzig wieder zurück zum Indrawati hinunterführte und sich im Tal endlos durch Moskitoschwärme und Dörfer dahinschlängelte. Zu unserer Überraschung zeigte uns einer der neuen Sherpa-Träger jedoch noch einen anderen Weg, der östlich vom Nauling Lekh zum Balephi Khola hinunterging. Laut unserer Karte endete er wenige Kilometer vor Tempathang, wo der Fluss aus einer tiefen Schlucht auftauchte. Wir hatten diesen Weg niemals in Betracht gezogen, da wir der Meinung waren, wir würden auf unserer Tour mit genug Schluchten konfrontiert werden - kein Grund also, absichtlich und unnötigerweise noch nach weiteren zu suchen. Aber unser Sherpa-Junge versicherte uns, der Weg würde direkt bis nach Tempathang führen. Es klang so, als ob es sich um eine Hauptverkehrsstraße handelte. »Er ist breit genug für ein Yak, Memsahib!«, rief er aus - als ob nun alles gesagt sei. Wir nahmen diesen Weg, und jeder war zufrieden: die Träger, weil sie nicht mehr sterben mussten, Mingma, weil er nun zu ihnen sagen konnte: »Ihr geht jetzt den Weg, den ihr wolltet, also keine Stopps mehr alle fünf Minuten, verstanden?«, und wir Frauen, weil wir keinen frustrierenden Umweg machen mussten, sondern den Fluss entlangwanderten, der direkt aus dem Jugal Himal kam.
Wir marschierten in zügigem Tempo bergab und kamen entlang der bewaldeten Seitenhänge des Nauling Lekh allmählich zum Fluss hinunter. Viele klare Bäche überspülten den Weg, den man wahrhaftig als Straße bezeichnen konnte: Er war gepflastert und lag im Schatten von Rhododendron-Bäumen. Leider waren die roten Blüten schon verwelkt und lagen am Wegrand verstreut wie Dekorationen nach einer Party. Gegen Abend hatten wir einen Felsvorsprung erreicht, der steil zum Balephi Khola hinabfiel. Wir lagerten auf einer breiten Terrasse etwas weiter unten, wo eine scheunenartige Konstruktion, für Reisende geöffnet, unseren Trägern für die Nacht idealen Schutz bot. Unser Ausblick war hier von den schroffen Berghängen begrenzt, die zu beiden Seiten des Flusses steil abfielen und in der tiefen Kluft seines Bettes unten zusammenliefen. Bald würde es unmöglich werden, in diesem wilden Gelände vom Weg abzukommen oder überhaupt weiter voranzukommen - außer durch die Schluchten des Balephi Khola. Hinter diesen Schluchten sahen wir die Berge des Jugal. Wir lagen eine lange Zeit mit unserer Karte, dem Kompass und unseren Ferngläsern da und entdeckten den Dorje Lakpa im Westen und die Phurbi Chyachu im Osten - die einzigen beiden Berge aus dieser Gruppe, die Namen tragen, wahrscheinlich weil sie südlicher als die übrigen liegen und von Kathmandu aus besser sichtbar sind. Unter uns nannten wir sie »George und Phoebe«. Der Dorje Lakpa mit seinen zwei hübschen schmalen Spitzen sah unserer Meinung nach am eindrucksvollsten aus. Wahrscheinlich gab er sogar dem gesamten Gebirge seinen Namen, da »Jugal Himal« auch »Berg mit zwei Gipfeln« bedeuten kann. Wir mussten Tilman widerwillig darin Recht geben, dass er den Jugal Himal kompromisslos nannte. Diese Berge verdanken viel von ihrer Schönheit den scharf gezackten Gipfeln, die in der Sonne leuchten, den fantastischen Überhängen aus Schnee und Eis und den glänzend glatten Hängen, durch die sie völlig uneinnehmbar erscheinen. Zwischen den beiden genannten Bergen sahen wir noch einen weiteren mit einem anmutigen Gipfel, wahrscheinlich höher und sicher auch weiter entfernt. Seine Seitenwände schienen sanfter abzufallen, und auch wenn er im unteren Teil dafür möglicherweise größere Probleme bereiten würde, war er für uns im Moment ein ermutigender Anblick. Als es zu dämmern begann und die Umrisse der Berge zu schwachen, unförmigen Schatten wurden, grau wie Kriegsschiffe, bemerkten wir auf den Hängen um uns herum überall warm und freundlich leuchtende Feuer und gingen zu unserem eigenen zurück.
Mittlerweile waren wir ein gut eingespieltes Team, und es hatte sich eine Art Protokoll entwickelt. So trug der Sirdar auch weiterhin keine Lasten, dafür aber ein Paar schicke Hochgebirgswanderstiefel, die zweifellos von einer Everest-Expedition stammten. Unsere Sherpas gehörten zur Elite der Träger, Männer von Sola Khombu, und hatten es nicht nötig, in modischen Schuhen herumzustolzieren. Außerdem besagen sie richtige Bergrucksäcke (obgleich Chhepala seinen tatsächlich mit einem Stirntrageband trug). Murari kam mit seiner freundlichen, bescheidenen Art gut mit allen aus. Trotzdem unterstrich er seine Position mit einem Wasser abweisenden Tropenhelm und einer dunklen Sonnenbrille, was ihm ein sehr intellektuelles Aussehen verlieh. Wir übergaben ihm die Ferngläser, um sicherzugehen, dass sie nicht verloren gingen. Sie stellten jedoch solche Statussymbole dar, dass Mingma sie sich später schnappte. Gerechtigkeitshalber muss man hinzufügen, dass er sie häufig und zweckmäßig nutzte. Auf unserem Abstieg am nächsten Tag trafen wir immer wieder Männer, manche erst kleine Jungs, auf dem Weg nach Kathmandu. Riesige rechteckige Holzblöcke aus den Wäldern weiter oben waren auf ihren Rücken gebunden. Der Pfad war so schmal und die Hänge so steil abfallend, dass es manchmal ausgesprochen schwer war, aneinander vorbeizukommen. Unser Weg führte zum Balephi hinunter, und obwohl der Pfad am rechten Ufer entlang weiterging, sagte unser Sherpa, wir sollten lieber über eine Hängebrücke zu einem weiteren Weg auf der gegenüberliegenden Seite wechseln. Die Brücke bestand aus zwei Reihen unbehauener schmaler Holzbretter, mehr schlecht als recht zusammengefügt, und zwei Ketten als »Geländer«, die nur notdürftig mit den Brettern verbunden waren. Die ganze Konstruktion schwang bedrohlich etwa 15 Meter über dem schnell fließenden Fluss hin und her und hopste zusätzlich auf und ab, wenn mehr als zwei oder drei Personen gleichzeitig auf ihr gingen.
Der Handgriff meines Regenschirms (den meine Freunde nur »den Regenschirm« nannten) verfing sich dauernd in der Kette, und zwar gewöhnlich dann, wenn ich mich über einem gurgelnden grünen Strudel befand. Einer der Träger bekam Angst und wollte mit seiner Last nicht hinüber. Das Dorf auf der anderen Seite hieß Palam Sanghu. Man sagte uns, ein Lama hätte hier die einzige Schule im Umkreis mehrerer Kilometer aufgebaut. Während die Menschen uns anstarrten und wir aus Selbstschutz zurückstarrten, nutzten unsere Sherpas die Gelegenheit und huschten in Zweier- und Dreiergruppen in die Chang-Kneipe davon, zweifellos um sich selbst zu der gelungenen Überquerung zu beglückwünschen. Mingma schwang zwischen seinen eigenen Abstechern dorthin laute Reden. Chhepala ging zum Fluss hinunter, um sein langes Harr zu waschen und einzufetten. Er ließ es offen, bis es trocken war. Ich bemerkte einige Kinder, die schon herumrannten, aber immer noch von ihren Müttern gestillt wurden. Die Jüngeren waren unbekleidet, außer einem oder zweien, deren T-Shirts so zerrissen waren, dass sie wie Putzlumpen aussahen, die zum Trocknen aufgehängt waren. Eine Mutter schnappte ihren kleinen blähbäuchigen Sohn und rannte davon, als wir ein Foto von ihm machen wollten.
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Diese Reaktion überraschte uns, da die Nepalesen normalerweise liebend gern vor der Kamera posieren. Die Menschen hier waren keine Sherpas - die nie unter 2300 Meter Höhe leben -, und ihr Dorf war zwar malerisch, aber recht schmutzig. Sherpa-Dörfer hingegen sind sauber. Der Weg entlang dem Linksufer des Balephi war uneben, und es war schwer, ihm zu folgen. Mal führte er hoch oben über dem Fluss zu einem Dorf, mal schlängelte er sich nach unten und verlief eine Zeit lang durch den weißen Sand und die Muscheln des Flussbettes. Monica hatte sich das Knie verrenkt, und da sie das Abwärtsgehen mehr schmerzte, war dieses ständige Auf und Ab sehr aufreibend für sie. Ich war erhitzt, obwohl ich meinen verkannten Regenschirm in jeden Bach tunkte und mir dann das Wasser über meinen Kopf tropfen ließ. Infolgedessen reagierten wir beide gereizt, als Evelyn, Chhepalas Beispiel folgend, sich plötzlich entschloss, ihr Haar mitten in einer Furt zu waschen, die gerade von den Trägern überquert wurde. So erwischten sie diese mit einem wundervoll aussehenden Kopf voller Shampoo. »Also wirklich, Evelyn, das hättest du auch woanders machen können«, rügten wir sie scharf Sie versprach uns jedoch in ihrer entwaffnenden Art, das nächste Mal diskreter zu sein. Wir waren besänftigt und beschlossen, unsere Haare bei der nächsten Gelegenheit ebenfalls zu waschen.
In dieser Nacht lagerten wir zwischen einigen Felsbrocken unter einem großen Baum. Die Sterne funkelten durch seine Zweige und sahen aus wie leuchtende Knospen. Den ganzen Nachmittag schon war eine Rauchwolke von den Hängen weiter flussaufwärts herangetrieben worden, der wir allerdings wenig Beachtung geschenkt hatten. Jetzt sahen wir ein Glühen über dem ganzen Himmel, so intensiv, dass es eher von einem Fabrik-Hochofen zu kommen schien als von einem brennenden Berghang. Am folgenden Tag erreichten wir die enge Schlucht, die der Balephi unterhalb von Tempathang gegraben hat. Die Hänge, die abgesehen von einigen kahlen Felswänden bewaldet waren, stürzten zu beiden Seiten in den Fluss. Wir durften unsere Blicke nicht vom Weg wenden, zu den strahlenden Höhen des Dorje Lakpa hinauf, denn ein falscher Schritt wäre zum Verhängnis geworden. Die Hänge querte ein schmaler Pfad, manchmal kaum zu erkennen, manchmal mit bequemen Felsstufen. Ein paar unserer Träger fühlten sich in diesem Gelände unsicher, aber keiner schien umkehren zu wollen. Dafür waren wir sehr dankbar. Doch allmählich fragten wir uns, wie sie es schaffen sollten, dem Oberlauf des Balephi zu folgen. Unserer Karte und dem Bericht Tilmans zufolge durften wir nicht erwarten, überhaupt einen Weg zu finden, und wenn, dann nur spurenhaft. Wahrscheinlich würden wir uns durchs Dickicht schlagen, Felsvorsprünge überqueren und Kliffe erklettern müssen.
Als wir um die nächste Ecke bogen, bot sich uns ein trostloses Bild. Hier hatte das Feuer, dessen Anzeichen wir am Vortag am Himmel gesehen hatten, gewütet und nichts hinterlassen außer verkohlten Baumstümpfen, schwarzen Hängen und einer dicken Schicht Asche. Während wir diesen Abschnitt durchquerten, stürzte ein einzelner Felsbrocken, vom Feuer gelockert, geräuschlos auf uns herab. Er prallte nirgends ab, so dass wir nicht gewarnt waren. Als er zwischen Evelyn und Monica zu Boden fiel, sahen sie noch brennende Grasreste. Es war das erste durch Brand verwüstete Waldstück, an dem wir vorbeikamen. Doch es war keinesfalls das Letzte. Die Einheimischen brennen das Gras unmittelbar vor der Regenzeit ab, damit neues als Futter für ihre Tiere nachwachsen kann. Da dies jedoch in die jährliche Trockenperiode fällt, geraten die Feuer oft außer Kontrolle, kostbarer Wald geht verloren, Erosion an Steilhängen und erhöhte Erdrutschgefahr sind die Folgen. Wir beeilten uns, diesen Platz zu verlassen und kamen zu einem Felsplateau über dem Nosem Khola, einem Bach, der den kleineren südöstlich gelegenen Gletschern des Jugal Himal als Abfluss dient und genau unterhalb von Tempathang auf den Balephi Khola trifft. Der Weg bog hier scharf nach Osten ab und führte hinunter zum Nosem Khola. Doch direkt vor uns blockierte der Waldbrand unsere Route, immer noch lebendig prasselte das Feuer durch die Bäume, begleitet von einer riesigen Rauchwolke. Mingma ging ein Stück hinunter, um sich das Ganze aus der Nähe anzuschauen. Er kam zurück und sagte, wir müssten seiner Meinung nach mindestens eine Stunde warten, bevor wir in Sicherheit weitergehen könnten. Wir konnten also nichts anderes tun, als uns hinzusetzen und Geduld zu üben. »Ich verstehe nicht, warum wir nicht weitergehen sollten«, wandte Monica ein. »Ich kenne Dschungelfeuer aus Südindien: Man kann ohne Bedenken mitten hindurch gehen, wenn man gut aufpasst.« Gerade als sie das sagte, ertönte ein gewaltiges Tosen vom Tal herauf und Rauchwolken stiegen auf Für einen kurzen Moment befürchteten wir, noch ein Feuer würde von unten direkt zu uns heraufkommen, bis wir daran dachten, dass um uns herum ja schon alles verbrannt war.
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Plötzlich sahen wir ein sich schnell ausbreitendes Flammenmeer, das mit dem erschreckenden Tempo einer Lawine den gegenüberliegenden Berghang erfasste. Es erreichte die Route, die wir genommen hätten, wenn wir am rechten Ufer des Balephi geblieben wären. Es hätte kein Entrinnen gegeben ...
Etwas zittrig wandten wir uns wieder dem Feuer vor uns zu. Doch hier bestand der Dschungel aus Laubbäumen und immergrünem Regenwald, ähnlich wie in Südindien, das Monica kannte. Er würde nicht so dramatisch auflodern wie die leicht brennbare Mischung aus trockenen Nadelbäumen und Bambus auf der anderen Seite. Der Wind schien unser Feuer langsam aufwärts zu treiben. Nach einer Stunde lief einer der Sherpa-Jungen aus Okhreni den Weg hinunter, um noch mal nachzuschauen. Als er zurückkam, nahm er wortlos seine Last und marschierte los. Wir folgten ihm alle, so schnell wir konnten. Flammen züngelten immer noch aus dem Unterholz und den Bäumen auf beiden Seiten unseres Weges, und es war unheimlich heiß. Wir hatten Angst um Ang Dromas langen Rock und um die barfüßigen Träger, denn trotz unserer Turnschuhe spürten wir, dass wir bald Brandblasen an unseren Füßen haben würden. Wie würde es erst ihnen ergehen! Doch stattdessen fing Monicas T-Shirt Feuer. Murari bemerkte es Gott sei Dank und löschte es gerade noch rechtzeitig.
Als Mingma und ich die andere Seite der Brandstelle erreichten, versuchten wir, die Ausbreitung des Feuers östlich entlang des Weges zu verhindern, bis alle außer Reichweite waren. Aber sobald wir es an einer Stelle gelöscht hatten, flackerten woanders schon wieder kleine Flammen auf, und wir gaben das Unterfangen bald als aussichtslos auf Inzwischen waren wir schon nahe am Nosem Khola und kamen schließlich dankbar dort an. Wir machten einen perfekten Lagerplatz auf einer nahen Sandbank ausfindig. Die Luft dort roch süß und frisch und ein Vogel sang, den ich als Fliegenschnäpper erkannte. Monica, Evelyn und ich setzten nur kurz unsere Rucksäcke ab und schnappten unsere Seife, bevor wir ein gutes Stück bachaufwärts zu einem abgeschlossenen Bassin gingen und uns den Staub und die Asche des Tages abwuschen. Das Wasser war eisig, und wir tauchten mit spitzen Entsetzensschreien immer nur kurz ein und wieder auf. Während wir unsere Haare wuschen, wurden unsere Köpfe gefühllos vor Kälte.