Ost und West

Wir hatten vorgehabt, um fünf Uhr dreißig aufzustehen, zu packen und das Lager um acht Uhr zu verlassen. Zur vereinbarten Zeit schälten sich stattdessen drei unleidige Memsahibs aus ihren Schlafsäcken und begannen sich anzuziehen, worauf lange Zeit nichts mehr geschah. Schließlich stolperten Bahu und Ang Droma heraus, er, um einen großen Wasserkrug zu holen und damit zum Bach zu gehen, sie, um das Küchenfeuer zu entzünden. Die Älteren schliefen unter ihren Decken noch eine weitere halbe Stunde ihren Rausch aus, bevor sie langsam einer nach dem anderen bleich und mitgenommen auftauchten. Wir machten jedes Mal einen schnellen Schritt rückwärts, wenn einer von ihnen uns ansprach, um die Rakshi-Fahne, die uns freizügig ins Gesicht wehte, zu meiden. Der Morgen war enttäuschend kalt und wolkig. Betty und ich brannten darauf, so bald wie möglich aufzubrechen, da wir vermuteten, wir würden einige Schwierigkeiten haben, einen Weg von unserem Pass hinunter zum Dorie-Lakpa-Gletscher zu finden. Wir begannen demonstrativ unser Zelt abzubrechen und erkundigten uns gleichzeitig, wann das Frühstück fertig sei. Es dauerte einige Zeit, doch als das Frühstück dann auf dem Tisch stand, war es bemerkenswert reichhaltig - eindeutig darauf ausgerichtet, uns eine Zeit lang ruhig zu stellen. Es bestand aus zwei Spiegeleiern für jeden - aus frischen Eiern, wie wir sie seit Wochen nicht mehr gegessen hatten - und einer großen Portion gekochter Bambussprossen, die wir immer besonders liebten. Wir wussten diese Behandlung sehr zu würdigen und wurden allmählich nachsichtiger gegenüber den verspäteten, aber offensichtlich reumütigen Sherpas. Doch im Laufe des Vormittags erschöpfte sich unsere Geduld wieder. Das Zusammenpacken unserer Ausrüstung ging quälend langsam vonstatten, und die Sherpas verschwanden immer wieder, wahrscheinlich um sich noch schnell einen zu genehmigen. Wir hatten irrtümlicherweise angenommen, der Rakshi sei leer, und waren leicht irritiert, als wir das Gegenteil feststellten. Schließlich beschlossen Betty und ich, ohne die Sherpas loszuziehen, und ich sagte kurz angebunden zu Mingma: »Wir haben keine Lust mehr zu warten. Wir gehen jetzt los.« Er schien etwas betroffen darüber zu sein, doch wir blieben hart und schulterten unsere Rucksäcke. Dann verabschiedeten wir uns von Evelyn und ihrer Gruppe, wünschten ihnen viel Glück und stiegen zusammen die steilen Hänge in Richtung Pass hinauf.
Diesmal lag viel weniger Schnee, und der Weg befand sich in besserem Zustand. Die Felsen auf dem Kamm des Höhenzugs waren fast schnee- und eisfrei, und die Kletterei nach oben machte uns viel Spaß. Als wir dort ankamen, gingen wir langsamer und warteten auf die Sherpas, um ihnen mit ihren Lasten die Felsen hinaufzuhelfen. Es dauerte einige Zeit, bis sie kamen, und wir froren gehörig beim Warten, da die Berge nun in dichtem Nebel lagen und es zu schneien begonnen hatte. Wir konnten den Dorje-Lakpa-Gletscher nicht einmal sehen. Als die Sherpas endlich ankamen und alle sicher auf dem Kamm oben waren, hatten wir daher überhaupt keine Lust auf geselliges Herumgeplänkel und gingen so schnell wie möglich weiter.
                                                             Dach der Welt                  Dach der Welt

Beim Abstieg konnten wir manchmal zwischen den Wolken kurze Ausblicke auf den Gletscher erhaschen und stellten mit Unbehagen fest, dass die Schneehänge auf unserer Seite in steilen, glatten Felswänden endeten, die senkrecht zum Eis des Gletschers abfielen. Wir überlegten uns, ob es nicht besser wäre, in dieser Nacht auf unserer Seite des Gletschers zu lagern und keinen Versuch zu riskieren, vor dem Morgen, wenn das Wetter klarer wäre, zu ihm hinunterzusteigen. Doch gerade als wir darüber diskutierten, erreichten wir eine Rinne, die direkt zum Gletscher zu führen schien, obschon wir uns aufgrund des dichten Nebels nicht ganz sicher sein konnten. Es sah so aus, als ob ihre Steigung vergleichsweise unkompliziert überwunden werden könnte, aber als wir sie querten, fragten Betty und ich uns laut, ob dies wohl wirklich eine gute Route nach unten wäre. Wir konnten ja nicht wissen, wie sie außerhalb unserer Sichtweite weiterging. Nach allem, was wir gesehen hatten, würde sie über die Felswände abfallen oder vollkommen abbrechen. Als wir die Rinne durchquert hatten, stiegen wir vorsichtig ihrem äußeren Rand entlang abwärts, in der Hoffnung, über den Abgrund sehen zu können. Mingma protestierte und sagte, die Rinne würde mit Sicherheit nicht »funktionieren«. Genau in dem Moment lichteten sich die Wolken für einen Augenblick, und wir sahen den ganzen Weg bis zum Gletscher hinunter. Wir hatten Recht, die Rinne würde doch »funktionieren«. Mingma schüttelte düster den Kopf. Das sei viel zu gefährlich, meinte er, und sein Tonfall verriet, dass er jeden für verrückt hielt, der dort hinunterklettern wollte. Wegen der Steigung hatte er keine Bedenken, sondern vielmehr wegen der Tatsache, dass die Rinne mit Steinbrocken übersät war, die von den furchtbar bröckeligen Felswänden herabgefallen waren. Wir pflichteten Mingma bei, dass dies die Attraktivität der Rinne enorm verminderte, doch konnte er uns eine Alternative anbieten? Er konnte es nicht. Die Felswände wurden weiter unten fast unbezwingbar, und es sah ganz so aus, als sei die Rinne unsere einzige Möglichkeit. Betty und ich freuten uns sehr, und während die Sherpas noch zögerten, begannen wir den Abstieg durch die Rinne, wobei wir genau darauf achteten, lose Gesteinsbrocken zu umgehen.
Zu unserer Erleichterung war der Schnee optimal - so gut, dass wir unsere erste Abfahrt* (*Bergsteigerausdruck: »Abfahrt« in gleitenden Schritten einen Schneehang hinunter, wobei man sich mit dem Pickel stützt. (Anm. d. Übers.)) im Himalaya richtig genießen konnten. Als die Sherpas dies sahen, begannen sie uns nachzusteigen, und sofort fielen mehrere große Steinbrocken mit einem dumpfen Geräusch in die Rinne und sausten wie Kanonenkugeln an uns vorbei. Wir hielten an und schrieen zu ihnen hinauf, sie sollten gefälligst warten, bis wir sicher unten angelangt waren. Dann gingen wir weiter, mit einem etwas mulmigen Gefühl, bis die Rinne an der steinigen Moräne endete. Wir überquerten diese und begaben uns geradewegs auf den Gletscher, um nicht mehr in Reichweite des Steinfalls zu sein. Danach signalisierten wir den Sherpas, sie könnten nun nachkommen. Der ebene Abschnitt des Nyakarkar-Gletschers unterschied sich völlig von unserem Phurbi Chyachumbu. Er war schneefrei, so dass man alle Gletscherspalten leicht erkennen konnte, und das Eis hatte eine dreckige graue Farbe. Überall lagen Gesteinsbrocken herum, und die Westseite war mit aufgetürmten Felsblöcken bedeckt. Er erinnerte mich irgendwie an den gewaltigen Zemu-Gletscher im Sikkim-Himalaya, und ich erwähnte das Mingma gegenüber, als er ankam. Beleidigt erwiderte er, dass er dies nicht fände. Der Zemu-Gletscher sei viel größer. Das war unbestritten, deswegen widersprach ich ihm nicht, sondern hoffte, er würde bald wieder bessere Laune haben. Wir überquerten den Gletscher ohne große Schwierigkeiten. Es war seine einzige sichere Stelle: ein ebenes Stück zwischen dem morschen und gefährlichen oberen Eiswasserfall, der mindestens zwei Drittel des gesamten Gletschers ausmachte, und dem unteren Eiswasserfall über der Felsnase, die in der Schlucht des Rakhta Khola endete. Die Moräne sah sehr unsicher aus, und so beschlossen wir, unser Lager direkt auf dem Eis des Gletschers zwischen den Felsen aufzuschlagen, wo wir außer Reichweite des Steinschlags waren. Es war nicht daran zu denken, noch höher hinaufzusteigen, da man nur ein paar Meter weit sehen konnte, außer wenn der Nebel sich für kurze Momente lichtete, und wir hatten keine Ahnung, was uns dahinter erwartete. Am Abend klarte das Wetter etwas auf, und ich ging mit Betty nach draußen, um zuzusehen, wie die Sonne die Wolken um den Dorje Lakpa rot und golden färbte, und um ein wenig zwischen den Felsen herumzuklettern. Uns gefiel dieses Lager, auch wenn es uns zunächst unbehaglich vorgekommen war. Wir empfanden es nun als einen geheimnisvollen Kraftort, der in uns das Bedürfnis weckte, uns nur flüsternd zu unterhalten.
Auf dem Rückweg zu unserem Zelt hörten wir jedoch ein gewaltiges Grollen und sahen, wie sich zwei riesige Eisblöcke, so groß wie Häuser, aus dem Eisfall lösten und nach unten stürzten, wo sie in kleine Stücke zerbarsten und Wolken aus zersplittertem Eis, wie feiner Nebel, aufstiegen. Es war zu weit weg, um eine Gefahr für uns darzustellen, doch nahe genug, um uns ungeheuer zu beeindrucken. Wir blickten uns an. Falls wir noch irgendwelche Zweifel gehegt hatten, ob wir diesen Eiswasserfall hinaufsteigen sollten oder nicht, so waren sie nun hinfällig. Wir gingen zu unseren Zelten zurück und schlüpften in unsere Schlafsäcke, die heiteren Lieder und das Gelächter vermissend, die gewöhnlich vom Zelt der Sherpas zu uns herüberdrangen. An diesem Abend war alles still. Eine tiefe Niedergeschlagenheit, eine Mischung aus Katerstimmung, schlechtem Gewissen und verletztem Stolz, brütete über ihnen und übertrug sich auf uns. Zum ersten Mal kam Mingma nicht zu uns herüber, um uns gute Nacht zu sagen. Als wir aufwachten, war das Wetter so klar, wie wir gehofft hatten. Der Anblick, der sich uns bot, war so atemberaubend, dass wir zu unseren Kameras griffen. Gleich über uns ragten direkt hinter dem Gletscher die drei prächtigen Spitzen des Dorje Lakpa empor. Sie glitzerten in der Sonne, steil und kompromisslos. Der Dorje Lakpa ist ein unglaublicher Gipfel, er scheint direkt aus einem Albtraum eines frühen viktorianischen Künstlers zu stammen und sieht unbezwingbar aus.
Dieselbe Sonne, die so strahlend die oberen Teile des Berges beschien, zeigte keine Anzeichen, so bald am Fuße des Gletschers zu erscheinen. In der Zwischenzeit war es sehr kühl in den blauen Schatten. Wir hatten um sechs Uhr gefrühstückt und brannten darauf loszugehen. Gerade als wir unsere Schlafsäcke zusammenrollten, tauchte niemand anderer als Mingma selbst aus dem Sherpa-Zelt auf. Er grinste von einem Ohr zum anderen und trug zwei Becher mit herrlich heißem Tee. Es bestand kein Zweifel, dass diese Aufmerksamkeit ein Friedensangebot darstellte. Mingmas ganzes Auftreten drückte aus, dass er alles unternehmen wollte, um seine »Fehler« wieder gutzumachen. Seine umgängliche und zugleich übereifrige Art war so auffällig, dass wir undankbarerweise vermuteten, er hätte sich mit dem gestärkt, was ihn gestern umgehauen hatte. Sobald wir den Tee ausgetrunken hatten, erschien er mit neuem und brachte zu unserer großen Verwunderung auch einen brennenden Primuskocher mit. Er stellte diesen auf das Eis zwischen uns, mit der Bemerkung, es sei ein kalter Morgen und wir täten gut daran, unsere Hände aufzuwärmen. Es war wirklich kalt, allerdings nicht kälter als an vielen anderen Tagen dieser Expedition auch, an denen niemand uns den Vorschlag gemacht hatte, wir sollten unsere Hände irgendwo aufwärmen. Wir zeigten unsere Belustigung jedoch nicht, sondern tauten unsere Hände über der Flamme auf. Mingma stürzte nun eilfertig davon, nur um mit einer dampfenden Pfanne zurückzukommen, deren Inhalt unsere Vermutungen bestätigte. Die Pfanne enthielt eine reichliche Portion heißen Rakshi, und er bestand darauf, dass wir ihn trinken sollten, damit uns von innen heraus warm würde. Es wäre sehr unhöflich gewesen abzulehnen, also machten wir gute Miene zum bösen Spiel. Betty trank ihren Anteil pur, und ich gab widerwillig einen Schuss davon in meine zweite Tasse Tee. Zwar wärmte er wahrhaftig vorübergehend unsere Mägen, dafür war uns aber den ganzen restlichen Vormittag über leicht übel.
Durch diese Unterbrechung und die damit verbundene Versöhnung erfreut, packten wir alles zusammen, bestiegen nach einer kurzen Diskussion über die beste Route einen Eiswall und kletterten die Moräne hinauf - eine gehörige Kletterei, da alles unangenehm brüchig war. Oberhalb der Moräne überquerten wir sanft ansteigende Schneefelder, bis wir nach ein paar Stunden eine Art weitläufigen Felsvorsprung erreichten, der sich über den in die Schlucht hinunterfallenden Steilwänden und unter den Felsenkämmen der Südflanke des Dorje Lakpa befand. Es war ein faszinierender Ort. Übersät mit riesigen Felsblöcken und Spuren von Gämsen und Murmeltieren, erinnerte er mich an die Mondlandschaften aus den Science-Fiction-Romanen meiner Kindheit. Betty und ich beschlossen nun, zu einem schmalen Sims, das aus dem Hauptmassiv des Dorje Lakpa herausragte, hinaufzuklettern, um ein paar Fotos vom oberen Teil des Gletschers zu machen. Die Sherpas wollten mitkommen, deswegen ließen wir alle unsere Lasten liegen und machten uns rasch auf den Weg (um schneller als die unvermeidlichen Wolken zu sein). Wir stiegen einen steilen Abhang hinauf und hielten auf einen Pass oberhalb des Vorsprungs zu. Dort angekommen, sahen wir, dass der Pass, den wir ursprünglich von Lager V aus erreichen wollten, tatsächlich ein echter Übergang zwischen dem Ladies-Gletscher und dem Nyakarkarbu beziehungsweise dem Dorje-Lakpa-Gletscher war. Von unserem Standort aus wirkte der Gletscher schwieriger denn je.
Um zu seinem oberen Ende zu gelangen oder den Großen Weißen Gipfel zu besteigen, würde es weitaus besser sein, den Phurbi Chyachumbu und den Ladies-Gletscher hinaufzugehen und von dort den Pass zu überqueren. Der Pass selbst liegt so hoch, dass eine Gruppe auf dieser Route direkt auf den Schneefeldern des Großen Weißen Gipfels landen würde, mehr als ein Viertel des Weges die Südflanke des Berges hinauf. Das heraufziehende Wolkenmeer beendete schließlich unsere Fotosession, und wir stiegen schnell wieder ab. Zuerst fuhren wir mit wildem Geschrei auf dem Schnee abwärts, und als wir dann einen steilen Grashang erreichten, begann Kusung zu rennen. Johlend und kreischend folgten ihm alle und liefen um die Wette, in Hochstimmung, wie sie einfach bei guten Klettertouren, guter Gesundheit und guter Gesellschaft entsteht. Unten angelangt, nahmen wir unsere Lasten wieder auf und gingen weiter, bis wir einen wunderschönen Lagerplatz auf einer flachen schneebedeckten Hochalm fanden. Da es mittlerweile heftig zu schneien angefangen hatte, stellten wir die Zelte so schnell wie möglich auf und krabbelten Schutz suchend hinein. Weil die Sonne den Gletscher erst so langsam erreicht hatte, hatten wir am Morgen schließlich die Geduld verloren und unsere Zelte zusammengepackt, noch bevor der Morgendunst sich vollständig aufgelöst hatte. Jetzt bereuten Betty und ich unsere Eile. Der Schneefall an diesem Nachmittag war schwer und nass. Die Nässe begann durch unser feuchtes Zeltdach zu dringen, zunächst ganz unmerklich in kleinen Tropfen, doch dann in einem regelrechten Sturzbach. Wir ertrugen es, solange wir konnten, und legten unsere Anoraks und Regenhosen über die Schlafsäcke. Doch es wurde bald deutlich, dass solche vorübergehenden Notlösungen nicht ausreichten. In einer der Reisetaschen befand sich ein großer Regenumhang, und als Bahu mit Suppe erschien, baten wir ihn, diesen über unserem Zelt auszubreiten. Trotz guten Willens stellte sich Bahu etwas ungeschickt an und breitete den Umhang so aus, dass es an der einen Zeltseite noch stärker durchtropfte als zuvor und nur die andere Seite geschützt war. Da ich auf der nassen Seite lag, war es an mir, meine Stiefel anzuziehen und in den Schnee hinauszukriechen, um den Umhang gerade zu rücken. Während ich noch damit kämpfte, hörte ich ein unterdrücktes Kichern. Als ich mich umdrehte, entdeckte ich drei grinsende Gesichter, die aus dem Zelt der Sherpas schauten. Unsere Situation entsprach genau ihrem Sinn für Humor, und aus dem vergnügten Gesichtsausdruck schloss ich, dass es in ihrem Zelt beträchtlich trockener als in unserem war. Ich winkte zu ihnen hinüber, auf eine Art, die hoffentlich ausdrückte, dass mir solche Notlagen nichts anhaben konnten, und kroch wieder ins Zelt. Unter den gegebenen Umständen schliefen wir in dieser Nacht trotz allem recht friedlich. Es war warm, und bis zum Morgen trockneten alle Sachen im Zelt.
Um sieben Uhr dreißig machten Betty, Mingma und ich uns so schnell wir konnten auf den Weg, in der Hoffnung, zum Kamm der Südflanke des Dorje Lakpa zu gelangen, bevor Wolken aufzogen. Der Aufstieg war abwechslungsreich und interessant, und wir fanden, dieser Teil des Jugal Himal sei ein bezaubernder Ort voller Überraschungen. Wir wünschten, wir hätten mehr Zeit, dem Rechnung zu tragen und ihn gründlich zu erkunden. Eine lange Rinne und ein letzter Schneehang führten uns zum Höhepunkt des Bergrückens. Auf dem Kamm wandten wir uns nach Norden und kletterten ein paar hundert Meter in Richtung der gewaltigen Türme des Dorje Lakpa, bis wir durch eine tiefe Felsspalte zum Anhalten gezwungen wurden. Es schien ein guter Platz zu sein, um eine Pause zu machen und sich einen Überblick über die Umgebung zu verschaffen. Zu unserer großen Freude konnten wir von hier direkt zum eigentlichen Ursprung des Langtang Khola hinunterschauen, vor uns die kleinen Gipfel und Gletscher am Nordende des von Tilman bestiegenen Höhenzuges um Panch Pokhari und mit einer herrlichen Aussicht auf den unteren Teil der zwei größeren Gletscher im Westen des Dorje Lakpa. Außerdem sahen wir hier offensichtlich einen idealen Höhenweg vom Jugal- zum Langtang-Gebirge vor uns liegen. An unserem Ende erforderte er ein wenig anspruchsvolle Kletterei, doch soweit wir erkennen konnten, war er ohne Zweifel »begehbar«. Wir bereuten es bitter, nicht mehr Essen mit heraufgenommen zu haben. Wäre dies der Fall gewesen, hätten wir unsere Pläne umgehend geändert und ein paar Tage damit verbracht, diese Route auszukundschaften. So aber blieb uns keine andere Wahl, als denselben Weg zurückzugehen, den wir gekommen waren. Wir verwünschten uns heftig, und der Gedanke an diese faszinierende Route verfolgt uns immer noch wie eine Unterlassungssünde. Wir machten Fotos und Messungen, bis die Wolken unsere Aktivitäten verhinderten, und verließen dann den Höhenzug, um zum Lager zurückzukehren. Mingma hatte Kusung und Bahu mit dem durchdringenden Sherpa-Pfiff schon von weitem unsere Ankunft signalisiert, und bei unserer Ankunft pfiff der Teekessel fröhlich zur Antwort. Sie hatten uns ebenfalls ein paar getrocknete Pfirsiche gedünstet. Zuerst fanden wir zwar, dies sei eine etwas exzentrische Kombination zusammen mit Tee, wie sich jedoch herausstellte, war es ein ideales Gericht für müde und durstige Leute und schmeckte uns ausgezeichnet. Wir brachen das Lager ab, da wir zum Gletscher hinuntersteigen wollten, um die Nacht wieder zwischen den Felsblöcken zu verbringen. Der Abstieg verlief jedoch so leicht und angenehm, dass wir viel früher als erwartet dort ankamen. Mittlerweile hatte es zu schneien angefangen, und unser ehemaliger Lagerplatz sah wenig einladend aus. Da die Sherpas auch damit einverstanden waren, beschlossen wir, direkt zum Basislager weiterzugehen.
Der Rückweg zu unserem Pass hinauf war ein scheinbar endlos langer Anstieg, wir gingen ihn jedoch ruhig und stetig an und erreichten die Passhöhe schneller und schmerzloser, als wir befürchtet hatten. Wir ruhten uns dort ein paar Minuten aus, aber da es heftig schneite, gab es keine Veranlassung, länger herumzusitzen. Der Abstieg über die Felsen auf der Ostseite war durch eine Schicht aus nassem Neuschnee schwierig, nachdem wir sie jedoch hinter uns gelassen hatten, verloren wir keine Zeit mehr und stolperten die letzten tausend Meter nach Pomba Serebu hinunter.
Den nächsten Tag verbrachten wir damit, unsere Sachen zu sortieren und zusammenzupacken, Tagebuch zu schreiben und unsere Filme zu überprüfen. Wir waren untröstlich bei dem Gedanken, Pomba Serebu, diesen Ort des Friedens, möglicherweise für immer verlassen zu müssen. Wir waren so glücklich gewesen, und es war so traumhaft schön hier. Wenn man sich vorstellt, die Schweiz ganz für sich allein zu haben, ohne Touristen, der nächste einheimische Bewohner drei Tagesmärsche weit das Tal hinunter entfernt - dann ahnt man, was es heißt, in Pomba Serebu zu sein. Es war »unser« Platz gewesen: Die Blumen hatten uns gehört, und der Bach, der kleine See und die Felsblöcke, deren Formen uns so vertraut geworden waren wie die Bauweise unserer Häuser zu Hause. Der Schrei der »Tillings«, wenn sie über unseren Köpfen kreisten oder auf den Felsen oben saßen und frühmorgens auf uns herunterstarrten, war ein Geräusch, das wir am liebsten unser ganzes Leben lang hören würden. Das seltsame Glucksen und Gurren der Waldschnepfe (oder pamtoktok, wie die Sherpas aus Tempathang sie nannten) im Morgengrauen und in der Abenddämmerung berührte uns immer noch genauso, wie als wir es zum ersten Mal hörten - und wir hatten noch nicht genug davon. Unser Verhalten könnte man als wirklichkeitsfremd und träumerisch bezeichnen. Das war es wahrscheinlich auch. Aber es ist kaum möglich, das Paradies ohne Wehmut zu verlassen, wir waren zumindest nicht dazu fähig, obwohl wir Familien hatten, zu denen wir gern zurückkehrten. Am Nachmittag kam der erste Sherpa aus Tempathang an ein zwergenhafter Mann, der sehr höflich war, jedoch nicht recht zu wissen schien, was er hier überhaupt zu suchen hatte. Wir kamen zu dem Schluss, dass Nima Lama ihn wahrscheinlich im Wald aufgegabelt und ihm geraten hatte, nach Pomba Serebu zu gehen, wo er etwas für ihn »Vorteilhaftes« erfahren würde. Später erschienen die übrigen Träger, die Nima Lama rekrutiert hatte. Nima Lama selbst hatte die in Tempathang zurückgelassenen Lebensmittelkisten zu seiner Yakweide hinaufgebracht, die auf der Strecke nach Panch Pokhari lag. Betty und ich empfingen die Ankömmlinge niedergeschlagen und resigniert, da ihre Ankunft unsere bevorstehende Abreise zu besiegeln schien.
Überall im Lager hörte man ihr lebhaftes Sherpa Geplapper und ihr fröhliches Gelächter. schließlich war der Zauber gebrochen, und Pomba Serebu stellte nicht länger eine Schwelle zum Abenteuer dar, sondern kehrte zu seiner gewohnten und traditionellen Rolle als Sommer-Yakweide zurück. Während dieser Zeit heckte Betty einen verruchten kleinen Plan aus, den sie schließlich enthüllte und für den sie in mir eine bereitwillige Mitstreiterin fand. Über uns erstreckte sich zwischen den Spitzen und Zinnen des Bergmassivs eine prächtige Felskulisse, ideal zum Fotografieren. Am frühen Morgen wäre der Schnee in den Rinnen und Couloirs dort oben noch gut. Zwar würden sie später am Tag normalerweise von herabstürzenden Stein- und Eisbrocken bombardiert, was aber, wenn wir ganz früh, bevor die Sonne eine Chance hatte, hinaufsteigen würden, um eine letzte Klettertour zu machen? Betty fügte unschuldig hinzu, wir würden mit Sicherheit einige wunderschöne Bilder erhalten. Ich war nur allzu bereit, ihr zuzustimmen, dass wir es uns schuldig waren, diese letzte Gelegenheit, mit unseren Kameras noch einen weiteren Anblick des Jugal Himal einzufangen, nicht zu verpassen. Zudem schien es eine gute Entschuldigung für einen letzten Aufstieg, und wir gingen mit dem Gedanken an den nächsten Morgen glücklich ins Bett. Um sechs Uhr waren wir auf den Beinen, nahmen Brühe und Kakao zu uns und waren um sieben Uhr unterwegs. Unsere Rucksäcke ließen wir gepackt zurück. Mingma hatte versprochen, dass bei unserer Rückkehr alles fertig zur Abreise sei, und uns mit einem freundlichen Lächeln viel Glück gewünscht. Wir betrachteten die Hänge über uns und schätzten, dass wir innerhalb von drei Stunden wieder zurück wären. Wir vergaßen es jedoch, die, von unten betrachtet, trügerische Verkürzung der Schneehänge zu berücksichtigen, und nach eineinhalb Stunden Kletterei hatten wir immer noch einen ewig langen Weg vor uns.
Wir befanden uns nun inmitten einer herrlichen Felskulisse, ich war jedoch ehrlich gesagt mehr daran interessiert, die Höhe des Bergrückens über eine anspruchsvolle Schneerinne hinauf zu erreichen, als die schöne Aussicht zu bewundern. Betty schien ebenfalls darauf zu brennen - wir beide spürten einfach ein tiefes Verlangen, von oben einen Abschiedsblick auf den Phurbi Chyachumbu zu werfen. So gingen wir vergnügt weiter, schlugen Stufen in den gefrorenen Schneehang, der recht steil war, und ignorierten unsere innere Stimme, die uns vergeblich zuflüsterte, es sei an der Zeit umzukehren.
Das Vergehen der Zeit war nicht das Einzige, was uns Sorgen machte. Die Sonne brannte jetzt heiß und hatte schon ihr zerstörerisches Werk zwischen den Felsen begonnen. Überall hörten wir das Gerumpel fallender Felsbrocken und das Klirren zerberstender Eiszapfen. Doch wir zuckten nur mit den Schultern und gingen stur weiter. Endlich erreichte ich einen Felsabsatz am Fuß der Rinne und starrte hinauf Es war zweifellos eine äußerst verlockende Kletterpartie, da sie steil und schroff zwischen ihren Felswänden emporführte und hoch über uns in einem senkrechten Abschnitt endete, der sich dunkel gegen den blauen Himmel abhob. Wir verschoben unsere Gewissensbisse auf unbestimmte Zeit. Ich schlug eine schöne Stufe in den wunderbar harten Schnee der Rinne und machte einen Schritt vorwärts. Dann machte ich eilig wieder einen Schritt zurück und kauerte mich gerade noch rechtzeitig hinter den Felsabsatz, als zwei oder drei große Eisblöcke ohne das leiseste Warngeräusch die Rinne hinabsausten. Betty gab reumütig zu, die Rinne sei offensichtlich eine Rutschbahn für herabstürzende Gegenstände und es sei daher verrückt weiterzugehen. Ich pflichtete ihr bei, und wir machten uns unverzüglich an den Abstieg. Die Stimme der Vernunft war endlich erhört worden, und wir stoppten auf unserem Weg nach unten, um die beabsichtigten Fotos zu machen. Betty, die sich - zum Glück für die Expedition - viel mehr als Evelyn oder ich mit dem Fotografieren beschäftigte, war ängstlich darum bemüht, unsere Klettertour hier hinauf durch ein paar wirklich gute Ergebnisse zu rechtfertigen. Wie mir schien, schoss sie unzählige Fotos, und ich musste die ganze Zeit die »Figur im Vordergrund« für sie spielen. Meiner Ansicht nach achtete sie jedoch nicht immer genug auf die Beschaffenheit des jeweiligen Vordergrundes oder darauf, wie gefährdet dieser durch Steinschlag war. Aber ich folgte bereitwillig ihren Anweisungen, bis sie freundlich sagte: »Entschuldige, dass ich dich in solche Schwierigkeiten bringe.« »Nicht in Schwierigkeiten«, erwiderte ich genauso höflich, »nur in Gefahr.« Wir schauten uns an und grinsten. Es war uns völlig klar, dass wir eigentlich schon längst wieder hinuntergehen sollten, doch wir genossen unser Spiel viel zu sehr. Anschließend dachte ich, Betty sei nun an der Reihe, im Vordergrund zu posieren, aber sie protestierte: nur noch ein paar weitere Aufnahmen von diesem schneebedeckten Bogen mit der Zinne, die an seinem oberen Ende thronte. Ob es mir wohl etwas ausmachen würde, diese Rinne dort zu überqueren und auf der anderen Seite zu posieren? Es machte mir etwas aus, und zwar einiges, da dies die Fortsetzung der Rinne war, die wir ursprünglich hinaufklettern wollten und in der immer häufiger tödlich aussehende Geschosse von oben herabflogen. Folgsam ging ich trotzdem näher heran, wenn auch voller Zweifel. Gerade als ich begann, Vertrauen zu schöpfen, schossen mit einem Geräusch, als würde der Himmel einstürzen, zwei Felsblöcke vorbei und warfen mich mit ihrem Fallwind fast um. Ich drehte mich vorwurfsvoll um und fragte anklagend: »Soll ich etwa immer noch hinübergehen?« »Ja«, antwortete sie erbarmungslos. Ich warf ihr einen vernichtenden Blick zu und tat, was man mir sagte. (Fairerweise muss ich hinzufügen, dass ich die Rinne nur überqueren und mich nicht in ihr aufhalten sollte. Es war eigentlich nicht wirklich riskant, blitzschnell hinüberzuspringen, allerdings klingt die Geschichte besser, wenn man so tut, als ob.)
Nach der Fotosession fiel uns kein Grund mehr ein, warum wir noch länger hier oben verweilen sollten. Jedes Mal, wenn wir den Felsen den Rücken zudrehten, überfiel uns in unangenehmer Erwartung ein kalter Schauer, und wir spürten instinktiv, dass es schlau wäre, von hier wegzukommen, solange es noch ging. Glücklicherweise verlief alles gut, und wir hatten eine herrliche Abfahrt den ganzen Weg bis zum Geröll hinunter. Wir kamen sogar so schnell unten an, dass wir trotz der Zeit, die wir oben zwischen den Felszinnen verbracht hatten, doch nicht allzu spät wieder zurück waren und Pomba Serebu etwa um zehn Uhr dreißig erreichten. Dort wurden wir mit fröhlichen Salems, Tee und einem ausgezeichneten Frühstück empfangen, das aus Mingmas speziellen Käseomeletts mit Speck und Bratkartoffeln bestand. Anschließend mussten wir nur noch unsere Rucksäcke aufsetzen, da das Basislager während unserer Abwesenheit abgebrochen und zusammengepackt worden war. Wir warfen Pomba Serebu in melancholischer Stimmung zum Abschied einen liebevollen Handkuss zu und machten uns hinter dem Zug der beladenen Sherpas auf den Weg den Berg hinunter. Wir hatten ganz vergessen, wie lang und steil der Aufstieg gewesen war, und wunderten uns, wie lang der Abstieg nun dauerte. Nach unserer Schätzung betrug er gut 900 Meter. Der Pfad nach unten war geschmückt mit Unmengen von wilden Iris, die im Gras wuchsen. Sie waren so wunderschön, dass ihr Anblick uns unwillkürlich etwas aufmunterte. Schließlich sahen wir weit unten die grüne Hochweide von Pemsal und konnten bald eine Gruppe von Menschen ausmachen: Evelyns Truppe, die dort auf uns wartete. Bei unserem Zusammentreffen wollten wir sofort unsere Neuigkeiten austauschen, und alle redeten gleichzeitig aufeinander ein, bis aufziehende Regenwolken uns dazu brachten, unsere Aufmerksamkeit dem Aufstellen der Zelte zuzuwenden. lm Anschluss daran fanden Betty, Evelyn und ich im Palomine-Zelt vor dem Gewitter Schutz und versuchten anhand der Karte all unsere Eindrücke von der Topografie des Jugal Himal zu ordnen und zu interpretieren.

Hier ist Evelyns Geschichte, die sie uns damals erzählte:
Sie und ihre Gruppe hatten das Basislager bald nach uns verlassen und waren nach Pemsal hinabgestiegen, wo sie eine Pause einlegten, damit die Sherpas Pflanzen sammeln konnten: einige, um sie als Gemüse in der Küche zu verwenden, und einige als Heilmittel. Danach gingen sie wieder weiter, überquerten den Palmutang Khola über eine wackelige Brücke aus einem einzelnen Baumstamm und verbrachten die Nacht mitten im Wald. Am nächsten Tag stiegen sie steil hinauf bis zur Schneegrenze und errichteten die Zelte auf einer kleinen Hochalm in einer Höhe von ungefähr 5000 Metern. Am Morgen des dritten Tages verließ Evelyn, begleitet von Ang Temba, um sieben Uhr das Lager, um zur höchsten Stelle des Höhenzuges hinaufzuklettern. Zuerst folgten sie einem schneebedeckten Rücken direkt über dem Lager, von dem aus sie zu steilen Schneehängen querten. Abwechselnd schlugen sie Stufen auf ihrem Weg nach oben, bis sie einen schmalen Pass auf dem Höhenzug erreichten. Ang Temba führte, als sie sich dem Pass näherten. Er hielt jedoch plötzlich an und bedeutete Evelyn mit einem breiten Grinsen, sie solle vorausgehen und somit die Erste sein, die ihren Fuß auf den Kamm des Höhenzugs setzte. Das war eine großzügige und höfliche Geste, wie sie bei unseren Sherpas selbstverständlich zu sein schien. Auf der anderen Seite des Passes fielen weitere Schneehänge steil zum Nosem Khola hinab. Auf der gegenüberliegenden Talseite lag das Grenzgebirge. Es machte östlich der Phurbi Chyachu einen rechtwinkligen Bogen und verlief ein paar Kilometer in südlicher Richtung, parallel zur Chaksil-Danda-Kette, wo Evelyn und Ang Temba gerade standen. Leider befanden sie sich zu weit südlich, um den Gletscher, der den Nosem Khola speiste, sehen zu können. Um neun Uhr dreißig erreichten sie die Passhöhe und kletterten in nördlicher Richtung weiter, einen felsigen und schneebedeckten Grat zu ihrer Linken hinauf Er führte sie zu einem Gipfel, den Evelyn auf 5500 Meter Höhe schätzte. Sie kam darauf, weil ein Gipfel im gegenüberliegenden Grenzgebirge nicht viel höher aussah und auf der Karte mit einer Höhe von 5600 Metern eingezeichnet war. Um zehn Uhr dreißig standen sie oben und machten Halt, um ihre Position zu bestimmen, einen Steinhügel zu bauen und eine der kleinen orangefarbenen Markierungsflaggen aufzustellen. Sie tauften ihn Bidean Nan Nighean, Berg der Jungfrau.
Bis um elf Uhr war die Sonne vollkommen hinter den Wolken verschwunden, und der Tag war trüb und kalt geworden. Sie kletterten vorsichtig den Grat entlang abwärts, bis sie eine kleine Schneerinne sahen, die zu den offenen Schneefeldern weiter unten führte. Mit größter Aufmerksamkeit stiegen sie über ein paar große Felsbrocken mit einer dünnen Eisschicht, die bei jedem Hieb mit dem Pickel nachzugeben drohte. Sobald sie in der Rinne war, fuhr Evelyn, zu Ang Tembas Vergnügen, abwärts. Obwohl er ein kräftiger und geschickter Kletterer war, besaß er eindeutig wenig Erfahrung und war nie zuvor durch eine Rinne abgefahren. Evelyn wurde das erst bewusst, als sie sah, wie er zögernd folgte, fast das Gleichgewicht verlor und sein Eispickel im Schnee stecken blieb. Er schaffte es, sich aufzufangen, und kletterte zurück, um den Pickel zu holen - und das Ganze begann von vorne. Diesmal ging Evelyn selbst zurück und zeigte Ang Temba, wie man den Pickel korrekterweise beim Abfahren durch eine Rinne benutzt. Als er das Prinzip erst einmal begriffen hatte, fand er Spaß daran, und die beiden sausten fast 300 Meter auf einer idealen Schneedecke hinab, begleitet von spitzen Freudenschreien Ang Tembas. Der Anblick dieser triumphalen Rückkehr erfüllte Lakpa, den Sherpa aus Tempathang, mit Neid. An diesem Abend beobachtete Evelyn, wie er mit einem Stück Karton einen nahe gelegenen Schneehang hinaufstieg. Er setzte sich darauf und begann langsam abwärts zu gleiten. Evelyn machte den Vorschlag, er solle den Deckel des größten dekshi (Kochtopf) nehmen, da er einen besseren Schlitten abgeben würde. Erfreut zog Lakpa mit dem Deckel wieder los. Er glitt wunderbar - schneller als Lakpa erwartet hatte -, und der Sherpa schoss mit einem etwas besorgten Gesichtsausdruck in einer Schneewolke abwärts. Er hielt jedoch durch und unterhielt während der nächsten Stunde die restliche Gruppe in höchstem Maße mit seinen Eskapaden. Am folgenden Tag herrschten miserable Sichtverhältnisse. Da sie fühlte, dass man in der zur Verfügung stehenden Zeit nichts mehr zuwege bringen konnte, beschloss Evelyn, in gemütlichem Tempo zurück nach Pemsal zu gehen, um unsere Gruppe zu erwarten. Sie hatte sich bestens amüsiert, was nicht verwunderlich war bei solchen Begleitern. Die Gesellschaft des immer fröhlichen Ang Temba, der kleinen Ang Droma mit ihrem herzlichen Lachen, dem gutmütigen Murari, dem schlauen Chhepala und von Lakpa, unserem Komödianten Nummer zwei, war allein schon eine Versicherung gegen Einsamkeit. Obwohl sie das einzige nicht asiatische Mitglied der Gruppe war, fühlte sie sich nicht von den anderen getrennt. Sie schienen alle, so erzählte sie uns später, eine einzige große Familie zu sein. Ihr privates Abenteuer war nicht nur erfolgreich, sondern auch sehr lustig verlaufen. Ang Temba übernahm die ihm unvertrauten Rollen des Sirdars und Kochs mit großer Begeisterung und bereitete für Evelyn Mahlzeiten zu, die durch ihren ausgefallenen Geschmack und das ebenfalls etwas ausgefallene Timing denkwürdig ausfielen. Der Höhepunkt waren Rühreier, die mit Zucker anstatt mit Salz gemacht waren. Auch Murari wurde von der vorherrschenden Hochstimmung angesteckt. Er hatte sein etwas affektiertes Benehmen aus der Stadt schon lange verloren, und die Sherpas mochten ihn, auch wenn er oft Gegenstand ihrer Späße war. Wenn sie morgens ihre Lasten aufluden, bestand eines ihrer Lieblingsspiele darin, zu seinem kleinen Rucksack zu gehen und so zu tun, als ob sie große Schwierigkeiten hätten, ihn vom Boden zu heben. Sie schwankten herum und riefen: »Herteri! Der ist aber schwer!« Einmal rannte Lakpa, der immer Muraris große »bistra«, sein Bündel mit Bettzeug, trug, geschäftig zu ihm hin, als wir gerade dabei waren, das Lager zu verlassen. Er schnappte sich Muraris Rucksack, zog ihn auf, zeigte auf das Bündel mit Bettzeug und schrie auf Nepali: »Los, los, nimm deine Last auf, wir dürfen keine Zeit verlieren!« Murari grinste nur und wartete seelenruhig, bis er seinen Rucksack zurückbekam. Er und Lakpa wurden gute Freunde auf dieser Tour mit Evelyn und teilten sich sein winziges Zelt für den Rest der Reise. Lakpa, der wie vierzehn aussah, war in Wirklichkeit achtzehn Jahre alt, verheiratet und ein wohlhabender Mann, obwohl ich sagen muss, dass seine Verpflichtungen nicht allzu schwer auf ihm zu lasten schienen. Die zweite Hälfte des Tages unseres Zusammentreffens in Pemsal verbrachten wir damit, unsere Lebensmittelvorräte mit Mingma auszusortieren. Wir verschenkten viel davon an die Männer, um das Gewicht zu reduzieren. Danach holten wir die Geldkiste hervor, und Evelyn, in ihrer Rolle als Schatzmeisterin, zahlte den Sherpas aus Tempathang ihre Vorschüsse aus.
Das Wetter klarte an diesem Abend auf, es wurde jedoch recht kalt, und wir versammelten uns um das Küchenfeuer. Einige der Männer aus Tempathang gesellten sich zu uns, die anderen waren jedoch in ein äußerst aufregendes Glücksspiel vertieft, dessen Regeln uns ein Rätsel blieben. Wie beim Würfelspiel machten gute Sprüche und Wortgewandtheit auch hier offensichtlich einen großen Anteil aus. Sie spielten um Zigaretten, und wir erkannten die Zigarettenmarke, die wir in Kathmandu für unsere Sherpas gekauft hatten. Keiner von ihnen rauchte, außer Bahu gelegentlich. Indem sie umgehend ihren Anteil an die Männer aus Tempathang verkauft hatten, hatten sie davon profitiert, dass wir ihre persönlichen Gewohnheiten nicht kannten, und den Umstand ausgenutzt, dass es auf allen Expeditionen üblich war, den bergsteigenden Sherpas Zigaretten zu schenken. Wer nicht rauchte, konnte gut daran verdienen.