Protest gegen die vernachlässigte Mädchenerziehung

Ich hatte eine Menge von Schriften über Erziehung nachgelesen,
das Verhalten der Eltern und die Behandlung in den Schulen beobachtet,
mit dem Resultat der festen überzeugung,
daß eine vernachlässigte Erziehung meiner Mitgeschöpfe
die Hauptquelle des Elendes sei, das ich so beklage.
Mary Wollstonecraft
(Verteidigung der Rechte der Frauen)

Wie Eltern bei der Geburt einer Tochter nicht erschrecken,
wenn sie dieselbe als ein durch ihr Geschlecht zu ewiger
Abhängigkeit und Unterstützung bestimmtes Wesen betrachten,
ist mir immerdar ein Rätsel geblieben
Fanny Lewald (Leidensjahre)

Wie schade, daß das kein Junge ist

[1]Ich war sehr glücklich in der Schule, lernte leicht, kam schnell vorwärts, wurde bei den öffentlichen Schulprüfungen sehr gelobt und gehörte zu den Kindern, welche wir - denn auch die Mädchenschulen erzeugen sich einen Jargon - die Paradepferde nannten. Bei den Prüfungen vor den Eltern, welche etwa alle anderthalb Jahre einmal stattfanden, konnte dem Ehrgeiz des einzelnen aber viel weniger ein Genüge getan werden als bei den Besuchen, welche der in der preußischen Schulgeschichte berühmte Konsistorialrat Dinter ab und zu unserer Anstalt machte. [...]
Ich mußte ihm meine Rechenkünste vormachen, die vortrefflich gelangen, wurde viel in der Geographie befragt, in der ich grade meinen ganz dummen Tag hatte und mir eigensinnig auch von Herrn Ulrich nicht einhelfen ließ, so daß ich schlecht bestand und dann mich erst wieder durch Französisch und Geschichte einigermaßen vor den Augen Dinters zurechtzusetzen hatte. Herr Ulrich war nicht zufrieden mit mir, Dinter aber klopfte mir auf den Kopf und sagte: »Nu! dein Kopf hätt' auch besser auf 'nem Jungen gesessen!« - Dann aber fügte er freundlich hinzu: »Wenn du aber nun mal eine brave Frau wirst, so ist's auch gut!« -
Mit heißen Wangen und höchst aufgeregt kam ich an dem Tage aus der Schule zurück. Ich erzählte alles, was geschehen war, ich klagte mich an, daß ich nichts gewußt hätte, aber ich verweilte doch noch länger auf dem Lobe, das mir erteilt worden war, denn ohne es zu wissen, was er getan, hatte der treffliche Mann einen meiner geheimen Schmerzen berührt ich beneidete es schon lange allen Knaben, daß sie Knaben waren und studieren konnten, und ich hatte eine Art von Geringschätzung gegen die Frauen. So töricht das an einem Kinde von neun Jahren erscheinen mag, und so unberechtigt es in meinem besondern Falle war, lag doch der Ursprung zu diesen Gedanken nicht in mir selbst. Von jeher hatten Fremde, wenn sie meine Fähigkelten lobten, mit einer Art von Bedauern hinzugefügt: »Wie schade, daß das kein Junge ist!«

Stundenzettel für Fanny Marcus

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[2]Fünf Stunden an jedem Tag saß ich in der Wohnstube, an einem bestimmten Platz am Fenster, und erlernte Strümpfe zu stopfen, Wäsche auszubessern und beim Schneidern und andern Arbeiten Hand anzulegen. Zwei Stunden brachte ich am Klavier zu, eine Stunde langweilte ich mich mit dem Inhalt meiner alten Schulbücher, den ich damals von A bis Z auswendig konnte, eine andere Stunde schrieb ich Gedichte zur übung meiner Handschrift ab. Dazwischen ging ich Gänge aus der Küche in die Speisekammer und aus der Wohnstube in die Kinderstube, beaufsichtig,e ab und zu die drei jüngsten Geschwister und hatte am Abende das niederschlagende Gefühl, den Tag über nichts Rechtes getan zu haben, und einen brennenden Neid auf meine Brüder, welche ruhig in ihr Gymnasium gingen, ruhig ihre Lektionen machten und an denen also lange nicht soviel herumerzogen werden konnte als an mir. Ihr ganzes Dasein erschien mir vornehmer als das meine, und mit der Sehnsucht nach der Schule regte sich in mir das Verlangen, womöglich Lehrerin zu werden und so zu einem Lebensberuf zu kommen, bei dem mich nicht immer der Gedanke plagte, daß ich meine Zeit unnütz hinbringen müsse.
Diese Ideen gegen meine Eltern auszusprechen hätte ich aber nicht gewagt, denn sie würden darin eine Bestätigung für die alte Ansicht meiner Mutter gefunden haben, daß mir der rechte weibliche Sinn für die Häuslichkeit und für die Familie fehle, daß ich viel mehr Verstand als Herz hätte und daß meine Neigung für geistige Beschäftigungen ein Unglück für mich wie für sie sei . Hätte sie diese Ansicht nur wirklich festgehalten, so wäre für mich damit fertig zu werden gewesen. Indes wenn sie mir heute diese Vorwürfe gemacht hatte, so bezeigte sie morgen wieder die alte große Freude über meine Begabung und mein Wissen; und wenn mein Vater, der ihrer sonstigen Beobachtungsgabe mit Recht großes Zutrauen schenkte, nun infolge ihres Urteils mich mit seiner etwas gewalttätigen Konsequenz häuslich und weiblich machen wollte, so war es grade im Gegenteil meine Mutter, die, von Mitleid bewegt, mir wieder etwas mehr Freiheit zu verschaffen suchte. Ich war wirklich in diesem Winter sehr übel daran.

Meine Tochter ist noch ein völliges Kind

[3]Ich las, was ich irgend habhaft werden konnte, ich war unersättlich im Aufnehmen, aber glücklicherweise auch im Nachdenken des Aufgenommenen. jeder Pfad des Geistes, der sich vor mir eröffnete, lockte mich, ihn zu verfolgen, jeder Blick in die mir fremden Gebiete des Lebens reizte mich, sie kennenzulernen. Ich hätte alles auf einmal erfassen, alles auf einmal verstehen lernen mögen, ich dachte mich und alle meine Freunde in die wunderbarsten Lebenslagen hinein, ich sann und dichtete unaufhörlich, ohne eine Vorstellung davon zu haben, daß ich dichtete, und ohne zu vermuten, daß ich jemals dahin gelangen würde, dies Dichten ernsthaft zu nehmen und dasjenige auszugestalten, was meine Phantasie ersann. Ich war wie die Bienen, wenn sie an den ersten schönen heißen Tagen des Jahres zu schwärmen beginnen. Sie wissen dann gar nicht, wie schnell sie die Flügel rühren, wie sie hoch genug gen Himmel steigen und wieder schnell genug zu den hervorbrechenden Pflanzen herniederschweben sollen, von denen sie Ausbeute für sich hoffen. Sie schwärmen nach rechts und nach links, vom Grashalm zum Baumeswipfel, und überall finden sie sich in ihrem Element, in Luft und Licht, in Sonnenschein und Wärme; und mitten in dem üppigen Genuß arbeiten sie und tragen sie zusammen, was ihnen frommt und was, freilich nach einem förmlichen Stoffwechsel, durch sie neu gestaltet und fruchtbar werden soll.
Es macht mir dabei einen seltsamen Eindruck, an jenen Exzerpten zu ersehen, aus welch kleinen vereinzelten Bruchstücken sich mein Wissen und meine Einsicht gebildet, aus wie vielen unscheinbaren, und von den verschiedensten Ecken und Enden mühsam herbeigeholten Stiftchen sich mein Lebensmosalk zusammengesetzt und zu einem selbständigen Ganzen abgerundet hat; und es drängt sich mir das alte Bedauern darüber auf, daß man den Frauen auch heute noch jene gründliche, wissenschaftliche Schulbildung, jene Erziehung für ihren Beruf versagt, welche man für die Männer aller Stände und Berufstätigkeiten mehr oder weniger als eine unerläßliche Notwendigkeit betrachtet.
Wäre es nicht so überaus ernsthaft, so könnte man die Zuversicht sehr komisch finden, mit welcher die Männer die Aufsicht ihres Hauses, die teilweise Vertretung ihrer Stellung in der Gesellschaft, die teilweise Verwaltung ihres Erwerbes, die Pflege und Erziehung ihrer Kinder und endlich, ihr eignes Glück und ihre Ehre in die Hände von jungen Personen legen, welche für all diese wichtigen, ja für diese höchsten Leistungen durch nichts befähigt sind als etwa durch ihren guten Willen und den meist sehr blinden Glauben verliebter Männer an den Wert des Mädchens, das ihnen wohlgefällt.
Man nimmt keinen Dienstboten in sein Haus, ohne zu wissen, ob er die dazu nötige Vorbereitung erhalten habe, man verlangt von jedem Lehrling, mag er Handarbeitet oder ein Lehrling auf geistigem Gebiete sein, eine mehrjährige Studienzeit, man erkennt niemand als Meister an, man vertraut keinem Lehrer, keinem Baumeister, keinem Tischler und keinem Professor oder Rat ein Amt an, ohne sich von seiner Tauglichkeit überzeugt zu haben, und man überantwortet die höchste Aufgabe des Lebens, die Gründung und Leitung der Familie, die Erziehung des Menschen, in der Regel den jungen unerfahrenen Geschöpfen, denen man grundsätzlich die Möglichkeit verweigert hat, sich für ihren Beruf gebührend vorzubereiten; ja man scheint offenbar der Ansicht zu sein, daß allein die Frauen untauglich gemacht werden, ihre Pflichten zu erfüllen, wenn man ihnen jene Kenntnisse systematisch zukommen läßt, deren Besitz fast jeder Mann ausdrücklich nachweisen muß, um zu der Ausübung irgendeines geistigen Berufes zugelassen zu werden.
Dies ist eine Geringschätzung der Frauen, ein völliges Verkennen ihrer Stellung und ihrer Aufgabe innerhalb der menschlichen Gesellschaft, von welcher dafür später auch niemand schwerer zu leiden hat als diejenigen, welche sich dieser Sünde gegen die Frauen und gegen das menschliche Geschlecht schuldig machen. Die Zahl der wahrhaft glücklichen Ehen, die Zahl der Frauen und Mütter, welche imstande sind, ihren Männern und Kindern im wahren Sinne des Wortes eine Stütze zu sein, ist daher überall, besonders aber auch in Deutschland, weit geringer, als man es sich eingesteht, ja überaus gering; und es ist sehr häufig weder Glück noch Gedeihen zu finden in einer Masse jener Ehen, in welchen Mann und Frau nur deshalb fr'edlich nebeneinander leben, weil der Mann sich, im richtigen Gefühl seines Verschuldens, bescheidet, von seiner Frau nicht zu fordern, was sie nicht leisten kann; weil er sich beschieden hat, nicht mehr zu erwarten, daß ein unreifes, weder durch wirkliche Kenntnisse noch durch Elnsicht in die Verhältnisse der Menschen und des Lebens auf die Ehe vorbereitetes Geschöpf nicht dadurch reif geworden ist und Urteil gewonnen hat, daß sich ein Mann gefunden, der es zu seinem Weibe machte.
Was von den eigentlichen Kenntnissen gilt, das gilt natürlich in den meisten Fällen auch von der Lektüre der Mädchen, die wenigstens für die geistige Entwickelung und für das Heranreifen derselben etwas leisten und ihnen den Weg bahnen könnte, sehen, denken und urteilen zu lernen. Aber auch mit dieser war es, und ist es jetzt fast noch mehr als früher, schlecht bestellt; denn es gehört zu den abergläubischen Axiomen der gewöhnlichen Erziehung, daß jene Unschuld, welche im Nichtwissen besteht und welche die erste Stunde der Ehe zerstört, die eigentliche Seelenschönheit des Mädchens und seinen höchsten Reiz ausmache, und daß daher jede Lektüre zu vermeiden sei, welche dieses Kleinod des Nichtwissens antasten könnte.
»Meine Tochter ist noch ein völliges Kind!«, das habe ich unzählige Male von Müttern als ein Lob der Tochter aussprechen hören, der man sobald als möglich einen Mann zu geben wünschte oder auf welche vielleicht eben die Wahl eines Mannes gefallen war. Auch Männer selbst haben mir rühmend gesagt: meine Braut, meine Frau ist noch ein völliges Kind!, und es ist mir dann immer förmlich angst geworden über eine solche Verblendung. Welche Früchte solche Unschuld und Unkenntnis tragen, davon hat wohl jeder Beisp'ele genug erlebt, und es wäre wirklich an der Zeit, daß man sich dazu erhöbe, von einem Weibe beim Antritt seiner Ehe neben der Reinheit des Sinnes, die jeder Mensch, so Mann als Weib, in sich zu kultivieren hat, auch einen gesunden und gereiften Verstand und jene ernste Entwicklung zu verlangen, ohne die keine wahre Selbstverleugnung und keine nachhaltige Einwirkung auf das Wohlgedeihen der Familie möglich ist. Man hat kein Recht, große Charaktere und Vaterlandsliebe, hohe Gesinnung und Mannesmut von einem Geschlechte zu verlangen, das zum großen Teil von kindischen Frauen, von unreifen Müttern erzogen worden ist.
Es ist, um gar keinem Zweifel über meine Forderung Raum zu lassen, es ist die Emanzipation der Frau, die ich für uns begehre; jene Emanzipation, die ich für mich selbst erstrebt und errungen habe, die Emanzipation zur Arbeit, zu ernster Arbeit. Und es ist der Arbeit außerhalb und mehr noch innerhalb der Familie überall vollauf für die Frau vorhanden, wenn man sie nur fähig macht, zu begreifen, worin dieselbe besteht, und zu leisten, was sie als ihre Aufgabe erkannt hat. Aber davon später mehr. Ich komme zunächst noch einmal auf den Ausgangspunkt dieser Erörterung, auf die Lektüre der Jugend, zurück.
Die meisten Eltern und Erzieher leben, wie gesagt, der Ansicht, daß die Sittlichkeit der Jugend beider Geschlechter am sichersten durch das Nichtwissen bewahrt werde! Wer aber durch Lektüre verdorben werden kann, der muß nach meiner Überzeugung in sich eine Seite haben, die ihn für jene Verderbnis vorzugsweise empfänglich macht, und es möchte selbst unter den Werken unserer Klassiker nicht viele geben, aus denen sich nicht jene Vorstellungen und Eindrücke schöpfen ließen, die man für so gefährlich hält, wenn ein unreiner Sinn sich ihrer Deutung bemächtigt. Man bildet sich ein, etwas Gutes zu leisten, wenn man, wie mein Vater dies auch getan, die Lektüre der Jugend, namentlich der jungen Mädchen, ängstlich überwacht, und ihnen alles fern hält, was sie über die Leidenschaft der Liebe, über die Beziehungen zwischen Mann und Weib, über die Irrtümer des Herzens, die Verirrung der Sinne und über jene unzähligen Konflikte aufklären könnte, aus denen sich die Zerwürfnisse in der Familie und die traurigen Schicksale der einzelnen entwickeln. Abgesehen davon, daß diese Maßregel nur bei jenen Naturen einigen Erfolg verspricht, bei denen der Gehorsam stärker ist als der Trieb nach freiem Umschauen und die natürliche und berechtigte Wißbegierde, so wird im allgemeinen mit solcher Vorsicht der erstrebte Zweck doch selten einmal erreicht. Es lebt innerhalb unserer Gesellschaft kaum ein Wesen, dem dasienige, was man ihm durch Lektüre nicht nahezubringen wünscht, nicht dennoch früh genug zu Ohren käme. In jedem Orte, in der großen Stadt wie auf dem Dorfe, in den Familien der Vornehmen wie der Geringen, gibt es hie und da leichtfertige Liebeshändel, Verführung, ernste Leldenschaft, unglückliche Ehen, Ehescheidungen, Untreue und Verrat. Hüten die Eltern sich auch noch so sehr, vor dem jungen Mädchen etwas davon verlauten zu lassen, so kommt ein Freund, der unvorsichtig davon spricht, so findet sich eine Bekannte, die davon gehört hat und es achtlos berichtet, so wissen die Dienstboten durch ihre Kollegen davon; und was in der edeln Dichtung verständig und,barmherzig motiviert und zugleich in den meisten Fällen sittlich abgeurteilt wird, so daß es aufklärend und erziehend, Milde fordernd und vor Nachahmung warnend dargeboten wird, das kommt der Jugend aus der Wirklichkeit unvermittelt und hart, ja oft leichtfertig besprochen und gedankenlos beschönigt entgegen. [...]
Es ist der Jugend jedenfalls besser, ihren Geist früh an großen Gedanken und Problernen zu üben, als leer an äußerrn Tand zu hängen. Falsche Gedanken lassen sich berichtigen, und das Leben selbst tritt ihnen berichtigend entgegen; Fadheit aber ist unverbesserlich, und das absichtliche Kindlicherhalten der Mädchen, das man jetzt so vielfach zu erzwingen sucht, hat mit wenig Ausnahmen eine junge Generation herangebildet, deren Oberflächigkeit, Anteillosigkeit und Geistesleere mich erschrecken, wenn ich gelegentlich den Gesprächen junger Mädchen und Frauen zuhöre oder den Unterhaltungen folge, welche die jungen Männer mit ihnen führen. Solche Mädchen und Frauen aber, ich wiederhole es, erziehen keine Männer!

Zum nutzlosen Hinleben in den
Banden der Familie verdammt.

[4]Unbehaglich mußte allen der Gedanke sein, in dem Kreise einer so harmonischen Familie ein Mitglied zu zählen, das sich nicht mehr mit demselben in dem rechten und vollen Einklange befand und es nicht ü * ber sich gewinnen konnte, dasjenige aufzugeben, was sich nicht in den Sinn der Gesamtheit einfügen ließ. Das Axiom von meiner Kälte und Gernütlosigkeit, von meinen freien Ideen und von meiner Unweiblichkeit war allen Frauen des Hauses, von meiner Mutter bis hinab zu den jüngsten Schwestern wundervoll geläufig. Das war nicht zu verwundern, denn der Vater selbst hatte ihnen als ihr weibliches Vorbild immer mit Fug und Recht unsere Mutter und als die höchsten weiblichen Tugenden Demut, Bescheidenheit und alle jene Eigenschaften vorgehalten, welche eine Frau abhängig von ihrem Manne, innerhalb der Grenzen ihres Hauses, ohne Verlangen, Wunsch und Streben nach außen, erhalten. Mich aber hatte er, anfangs vielleicht ohne es bestimmt zu wollen und später meiner Individualität nachgebend, zu einer andern Frau erzogen, und wenn sämthche Schwestern sich auch zutrauensvoll und von meinem guten Willen für sie zweifellos überzeugt, an mich wendeten, sobald etwas sie bedrückte oder betrübte, so konnte es doch unter den obwaltenden Verhältnissen gar nicht fehlen, daß sie alle mich für extravagant und sich im gewissen Sinne für besser als mich halten mußten, besonders da meine Art zu fühlen und zu sein mich nicht glücklich, sondern unglücklich gemacht hatte. [...] Und ich glaube, wenn auch die nächsten Freunde es wußten, daß ich nicht glücklich sei, so hatte doch sicher niemand eine Ahnung davon, wie nicht meine unerwiderte Liebe für meinen Cousin allein, sondern die innersten Elemente unseres Familienlebens mich unglücklich machten, ohne daß ich im entferntesten berechtigt war, irgendeinem einzelnen der Meinen daraus einen Vorwurf zu machen. Wir litten alle, ich direkt und die Meinen indirekt, von der falschen, auch jetzt noch herrschenden Sitte, welche die Töchter der Mittelstände über die Jahre der Kindheit und Jugend hinaus zum nutzlosen Hinleben in den Banden der Farnilie verdammt, auch wenn sie denselben lange entwachsen und in jedem Betrachte für ein selbständiges Leben und Walten reif geworden sind. Als bezahlte Vorsteherin eines fremden Haushalts und einer fremden Familie würde ich sehr nützlich gewesen, würde ich zur Ruhe gekommen und bei meinen etwaigen Besuchen im Vaterhause glücklich und geliebt worden sein, wie ich es ersehnte und wie ich es verdiente. Als die älteste von sechs erwachsenen und zu versorgenden Töchtern war ich für den ganzen Organismus der Familie überflüssig und unnütz wie das fünfte Rad am Wagen, und obenein hinderlich als ein solches fünftes Rad, weil ich für mich eigene und unabhängige Bewegungen machen wollte und machen mußte, um mich zu erhalten. [...]
Ich fing wieder an, Verse aus dem Englischen zu übersetzen, ich besah die Gemälde- und Antikengalerien, ich besuchte Fabriken, wenn sich mir die Gelegenheit dazu bot, ich las und exzerpierte, es häufte sich allerlei Wissen planlos in meinem Kopfe an, weil ich für planmäßiges Lernen und systematisches Arbeiten nicht geschult war, und ich dachte bisweilen: Wozu das alles? - Tüchtig vorgebildet, wie die jungen Männer es durch ihren Gymnasialunterricht in der Regel sind, hätte ich diese Muße anders zu benutzen verstanden und hätte mir neben einer wirklichen Beschäftigung eine Menge gründlicher Kenntnisse erwerben können, die mir später in hohem Grade nützlich gewesen sein würden.

Einige Gedanken über Mädchenerziehung

[5]Erziehung, und besonders Mädchenerziehung, ist ein in unsern Tagen gar häufig besprochener Gegenstand. Nie ist mehr darüber geschrieben und debattiert worden als gerade jetzt, und wir alle fühlen es, daß man es nicht wichtig genug damit nehmen könne; mir will das oft erscheinen wie eine Danaidenarbeit[1] [...].
Wenn wir die Sache ohne Vorurteil betrachten wollen, so müssen wir uns leider gestehen, daß im allgemeinen die Erziehung der Mädchen noch im argen liege, und doch, wie wichtig ist sie, wie gewaltig greift sie nicht nur ins häusliche, sondern auch ins bürgerliche und öffentliche Leben ein! [...]
Es will mir einseitig erscheinen, die Mädchen lediglich fürs Heiraten zu erziehen. Daß es ihr naturgemäßer Beruf sei, wer könnte es leugnen? Es gibt keinen würd"j,ern, keinen schönern, aber ist es ausgemacht, daß je s Mädchen sich verheiraten müsse? Ich will hier nicht allein die geringe Wahrscheinlichkeit anführen, die für unbegüterte Mädchen existiert; nein die Umstände und Lagen des Lebens sind unendlich mannigfaltig und wechselnd, und eine Erörterung darüber könnte ins Unendliche führen. Vor dem Schicksale, allein durch die Welt zu gehen, schützt weder hohe Stellung noch innerer Wert, noch Schönheit, noch selbst Reichtum - es trifft oft gerade die, welche am wenigsten darauf gefaßt waren. Passend soll doch auch eine Heirat sein, und so kommt auch noch die eigne überzeugung oft hindernd ins Spiel, und gegen die läßt sich wenig sagen. Nun setze ich den Fall, ein Mädchen wird fürs Heiraten erzogen - man läßt sie recht wenig lernen, damit ihr das nicht im Wege stehe denn gar oft kommt das in Betracht! - und das Schicksal fügt es, daß sie sich nicht verheiratet. Da wird sie das Leben lang finden, unendlich lang und traurig - das einzige, worauf sie und ihre Eltern ihre Hoffnung setzten, ist nicht geschehen - vielleicht kommen noch äußere Unglücksfälle hinzu - was soll sie anfangen? Sie findet keine Hülfsquellen in sich, um auf eine edle und angenehme Weise ihre Zeit auszufüllen und sich vielleicht andern nützlich zu machen - um noch etwas zu lernen, ist es zu spät, denn der Sinn dafür fehlt. Oder es sei auch, ein Mädchen verheiratet sich - ist es damit ausgemacht, daß sie so glücklich sei, Kinder aufzuziehen? Sie mag nun keine haben oder sie wieder verlieren - sie mag früh Witwe werden oder ihr Glück nicht in der geschlossenen Verbindung finden, wie sie es hoffte - das sind alles Umstände, die das Leben vereinsamen und veröden, und es kann so unendlich traurig für diejenigen werden, deren Erziehung nicht von der Art war, daß sie mit Fassung die Begebenheiten des Lebens hinnehmen können, wie sie kommen, und auf alles vorbereitet sind. Ein gebildeter Geist hilft sich auf auch im Unglück und legt einen tiefen Sinn in alles, was geschieht - nicht für irdisches Glück, nicht für ein besondres Schicksal sind wir erschaffen, sondern unser Lebenszweck ist, besser und vollkommner zu werden, und so muß auch alles zu unsrer Bildung beitragen. Wohl denen, deren Erziehung in diesem Sinn begonnen war - das Leben wird sie auf eine würdige Weise fortsetzen. - Liebe Ilerese, leider sah ich nur zu viele Beispiele vom Gegenteil. Nur zu oft hörte ich von solchen isolierten Wesen, auch selbst von glücklichen! im Vertrauen solche Außerungen: »Ach, hätte ich meine Jugend besser benutzt, wie würde es mir jetzt zustatten kommen! Wie herrlich ist es, etwas gelernt zu haben, man sieht das nur leider erst zu spät ein!« Nun kann ich ferner nicht einsehen, was es schade, etwas gelernt zu haben, wenn es auch später die Umstände erfordern, daß man es liegen läßt. Ich habe manches Mädchen gekannt, das in so glücklicher Lage war, irgendein Lieblingstalent bis zur Künstlerschaft ausbilden zu können, oder die sich ganz nach ihrer Neigung mit wissenschaftlichen Gegenständen beschäftigte sich dann früher oder später verheiratete und eine must'erhafte Gattin, Hausfrau und Mutter wurde. Gerade die, deren Geist recht gediegen gebildet ist, wird sich am leichtesten in alle Verhältnisse schicken; und wenn sie so glücklich ist, mit ihrem Mann recht übereinzustimmen, wird sie ihm unendlich mehr sein können als eine Frau, die nichts als ihre Wlrtschaft versteht, und wird eine ganz andere Einicht bei der Erziehung ihrer Kinder entwickeln, als wenn sie nichts gelernt hätte.

EINE DAME
Plädoyer für bessere Gouvernantenausbildung

[6]Daß ich Dir es kurz gestehe, die jetzige Mädchenerziehung gefällt mir nicht recht. Die Mädchen lernen und lernen, und wenn man die Mehrzahl als Frauen wiedersieht, ist das Gelernte vergessen, nur die Prätention darauf ist geblieben und an wahrer Bildung ist nichts gewonnen.
Alle Welt, mein lieber Neffe! beschäftigt sich jetzt mit inländischen Zuständen und inländischen Interessen; daher wundern Sie sich nicht zu sehr, wenn auch ich darüber nachdenke und Sie frage, woher es wohl kommt, daß die Regierung, oder wem das sonst obliegt, sich nicht um die Bildung und Prüfung von Gouvernanten kümmert? Mindestens die Hälfte der weiblichen Jugend wird von solchen Mädchen erzogen; und während man für die Erziehung alles mögliche tut, denkt daran, wie mir scheint, niemand, und man läßt, wie man so sagt, Gott einen guten Mann sein. Auf dem Schlosse des reichen Grafen und in der bescheidensten Pächterwohnung werden Sie jetzt eine Gouvernante finden; aber unter zehn Mädchen, die diesen Titel führen, oft nicht ein einziges, das ihn verdiente. In den allerseltensten Fällen ist es ein innerer Beruf, der die Damen zu dieser Beschäftigung führt, sondern die drückende Notwendigkeit, für ihren Unterhalt zu sorgen. Töchter von armen Beamten oder andern unbemittelten Leuten, die selbst nur den gewöhnlichsten Unterricht in den Schulen genossen und ein wenig Musik gelernt haben, treten mit sechzehn, siebzehn Jahren, oft ohne alle weitere Vorbereitung, als Lehrerinnen und Erzieherinnen in Familien ein, während sie selbst noch gründlich der Erziehung und des Unterrichtes bedürfen. Nun ist es freilich ein wahrer Jammer, einerseits den Unterricht und anderseits die Leiden dieser armen Gouvernanten zu sehen. Ich, die viel auf dem Lande lebend, mich häufig davon überzeugen konnte, habe mit Lehrerinnen und Lernenden immer gleich tiefes Mitleid empfunden. Was den Unterricht anbetrifft, so ist von einem bestimmten Plane wohl niemals die Rede. Die meisten Gouvernanten haben nach Nösselt [2]oder Bredov.[3] Geographie und Geschichte gelernt, sie besitzen deren Werke für Mädchenschulen;
Hirzels [4]  französische und irgendeine deutsche Grammatik, die sie selbst bisher benutzt haben, und wissen nun nichts Besseres zu tun, als daß sie sich mit ihren Eleven hinsetzen, ihnen diese Bücher von Anfang an vorlesen, sie das Vorgelesene auswendig lernen lassen und es überhören. Von freiem Vortrage, von Weckung irgendeines geistigen Interesse in den Schülern kann dabei die Rede nicht sein, da die Lehrerinnen es selbst nicht empfinden; und doch sind beide Teile in der Regel verpflichtet, drei, auch vier Stunden mit wissenschaftlichem Treiben hinzubringen. Ist nun ein Mädchen von einer solchen Lehrerin eine Reihe von Jahren unterrichtet worden, tritt in das funfzehnte, sechzehnte Jahr, so ist die Erziehung beendet; die Kinder bilden sich ein, etwas zu wissen; sie haben läuten gehört, aber nicht zusammenschlagen, und das ist nichts.
Sie werden mir einwenden, es sei die Sache der Eltern, wenn sie sich mit solchen Gouvernanten begnügen! Aber, lieber Freund! wo finden sie bessere? Als vor Jahren eine entfernte Verwandte von uns, eine höchst gebildete Dame in der Mitte der Zwanziger, sich entschloß, in einem vornehmen Hause Erzieherin zu werden, hatten wir tausend Bedenklichkeiten, ob sie imstande sein würde, den gerechten Anforderungen zu genügen und namentlich ein Examen zu machen, was wir in unsrer Einfalt für unerläßlich hielten. In aller Stille ließen wir uns das Amtsblatt holen, weil wir meinten, dort irgendeine Verordnung darüber zu finden, wo oder wie ein solches Examen gemacht werden müsse - aber davon gab es nichts, und uns war das damals herzlich angenehm. Es fand sich wohl vom 10. Juni 1834 eine Instruktion, die Beaufsichtigung der Privatschulen, Privaterziehungsanstalten und Privatlehrer, Erzieher und Erzieherinnen betreffend, die jedoch nur verlangte, daß Lehrerinnen an Schulen sich einer Prüfung unterwerfen sollen. Von Gouvernanten in Familien war in der Rücksicht nicht die Rede, sondern diese wurden nur »in sittlicher und politischer« Beziehung unter allgemeine polizeiliche Aufsicht gestellt und sollen einen Erlaubnisschein lösen. Das letztere geschieht, soviel ich weiß, nicht; und das erstere klingt, auf junge Damen angewandt, denen man die Erziehung seiner Töchter anvertrauen soll, etwas lächerlich und zweideutig.
Eine wissenschaftliche Befähigung für Gouvernanten scheint man nach dieser Instruktion nicht für nötig angesehen zu haben, was mir um so wahrscheinlicher wird, wenn ich sehe, wie gering die Anforderungen sind, die man in diesem Betracht selbst an die Vorsteherinnen großer Schul- und Pensionsanstalten macht. Einige, die ich kenne, besitzen nur die oberflächlichsten Kenntnisse und wissen zum Teil von unsrer Literatur so viel, als ich vom Spanischen d. h., sie wissen, es existiert eine deutsche Literatur; sie kennen die Namen unsrer klassischen Autoren, aber nicht ihre Schriften. Nun können Frauenzimmer allerdings sehr gut mit diesem Halbwissen für sich bestehen, wenn sie nicht Lehrerinnen sein wollten; und ich komme darauf zurück, es fällt schwer, eine gute Lehrerin zu finden, weil - »es bei uns an Bildungsanstalten für oder zu Lehrerinnen fehlt« - die ebenso dringend nötig wären als Schullehrerseminare es sind.
Sie brauchen eine Gouvernante! Was wollen Sie anders tun, als sich an den Direktor einer Schule wenden oder an einen Geistlichen und ihn fragen, ob er ihnen aus der Zahl seiner Schülerinnen ein paßliches Subjekt empfehlen könne. Dann bekommen Sie gewöhnlich eine junge Dame, die ihre Schulzeit beendet hat, konfirmiert ist und bestenfalls ein gutes, unverdorbenes Kind ist, das seit einem halben Jahre auf den untersten Schulklassen in den Elementarwissenschaften unterrichtet hat. Die Lage eines solchen Mädchens ist natürlich die traurigste von der Welt; und um so trauriger, je mehr Verstand es hat und je früher es seine Unfähigkeit einsehen muß. Da habe ich denn an talentvollen Mädchen oft mit stiller Bewunderung gesehen, was ein riesenmäßiger Fleiß, ein unermüdlicher Wille aus ihnen gemacht hat, freilich nur zu oft auf Kosten ihrer Gesundheit. Nachdem sie den halben Tag Stunden erteilt hatten, haben die armen Kinder die Nächte aufgesessen und gelernt, um ihrer Pflicht zu genügen, sich vor ihren Schülern keine Blöße zu geben. Grade die gescheutesten Mädchen haben sich elend und krank durch solche Anstrengungen gemacht, sich Kopfkrärnpfe und tausend Beschwerden zugezogen, während die selbstgenügsame Dumtnheit in blühender Unwissenheit fortlebte und fortlehrte.
In den Häusern, in denen schon wahre Bildung herrscht, wird sich bald ein Urteil über die Tauglichkeit einer Gouvernante herausstellen und man wird danach seine Maßregeln treffen können. Es gibt aber viele Eltern, die, selbst ganz ungebildet, ihren Kindern eine gute Erzlehung geben möchten. Diese bekommen eine solche Gouvernante ins Haus und glauben an sie wie an das Evangellurn. Sie ist auf der ersten Klasse einer bekannten Schule gewesen und Direktor X. oder Prediger N. haben sie empfohlen als ein gutes, unterrichtetes Mädchen, was sie auch für ihre Person sein mag. Aber zum Lehren, das werden Sie mir eingestehen, muß man viel mehr wissen als das, was man lehren soll. Wenn nun die Schülerin einer so mittelmäßigen Gouvernante selbst wieder Lehrerin wird, was doch vorkommt, so verdünnt sich allmählich die weibliche Gelehrsamkeit; es geht wie mit der Kuhpockenlymphe, sie artet aus und wird unwirksam.
Darum, wie der Staat für neue, gesunde Lymphe sorgt, denke ich, er müßte auch für gesunde Kenntnisse sorgen und Seminare für Lehrerinnen errichten. Man müßte unbescholtene Mädchen aufnehmen, nachdem sie das sechzehnte Jahr zurückgelegt und die gewöhnliche Schulbildung genossen hätten; dann müßten sie in diesen Anstalten drei, vier Jahre lang, ganz auf Kosten der Anstalt, leben und für ihren künftigen Beruf durch Unterricht und Unterricht-Geben ausgebildet werden. Erst dann könnte man sie nach einer sorgfältigen Prüfung entlassen, und die Anstalt würde den Eltern, die Erzieherinnen brauchen, nach ihrem jedesmaligen Bedürfnis tüchtige Lehrerinnen empfehlen können.
Sie mögen mich auslachen, lieber Neffe, daß ich dergleichen Pläne entwerfe und der Regierung gute Lehren gebe; ich aber betrachte eine solche Anstalt als ein notwendiges Ding, als ein Werk der Barmherzigkeit, wie es in Ihrer Provinz die Dinter-Vereine [5]  sind. Es scheint mir in Ihrer korporationslustigen und wirklich wohltätigen Zeit nicht unmöglich, ein Seminar für Lehrerinnen selbst aus Privatfonds zu gründen, wenn es von seiten der Regierung nicht geschehen kann. In Rußland, das man sonst wohl nicht als Beispiel zu nennen pflegt, bieten die Kronserziehungsanstalten für arme Mädchen aus guter Familie etwas der Art. Nach vollendeter Erziehung bleiben sie, wenn sie Neigung dazu haben, noch mehrere Jahre unentgeltlich dort und unterrichten, bis sie in den Anstalten selbst oder anderweitig einen Wirkungskreis finden. Aus diesen Anstalten gehen in Rußland die meisten Gouvernanten hervor, und der verschiedene Grad ihrer Entlassungszeugnisse bestimmt einmal die finanziellen Forderungen, die sie machen können, während er andrerseits den Eltern für die Leistungen einen Haltpunkt gibt.
Bei uns haben wir nichts desgleichen und Schüler und Lehrer leiden dabei. Jene, indem sie nichts lernen, diese weil sie fast immer schon in einem Alter ihr Amt antreten müssen, in dem der weibliche Körper den Anstrengungen nicht gewachsen ist, denen man eine Gouvernante unterwirft; denn in dieser Beziebung sind die Anforderungen bei uns gradezu widersinnig. Täglich vier Stunden wissenschaftliche Gegenstände, zwei Stunden Musik, zwei Stunden weibliche Arbeiten lehren und die ganze übrige Zeit die Kinder um sich haben, das ist eine Forderung, die täglich an junge Gouvernanten gemacht und oft gegen ein Gehalt von sechzig bis achtzig Taler befriedigt wird. Wie? das steht freilich dahin!
Sie, lieber Neffe! haben nun eine Stellung, von der aus Sie einen solchen Vorschlag beurteilen und auch zu dessen Ausführung beitragen können, falls er Ihnen dessen wert scheint. Achten Sie ihn nicht gering, weil ihn nur eine alte Frau macht oder weil er in der Art, die ich mir vorstelle, vielleicht unausführbar ist. Eine Anderung in diesen Verhältnissen tut not. Sie werden das selbst empfinden, da Sie auf dem Punkte stehen, sich nach einer Gouvernante umzutun. Denken Sie also an meinen Entwurf und erhalten Sie mir Ihr Wohlwollen und Ihr Vertrauen. Ich verdiene es, denn ich meine es gut mit Ihnen und mit den Leuten überhaupt. Gott erhalte Sie!

Die deutsche Frau will nicht mehr nur
>drinnen walten<

[7]Den folgenden Winter blieben wir mit meinem Vater vereint in Frankfurt am Main. Wir führten ein stilles Leben, denn mein Vater hatte sich ganz von der größeren Geselligkeit zurückgezogen und lehnte alle Einladungen ab, außer bei zwei oder drei Familien, die alte Bekannte waren. Dieses Leben genügte mir nicht. In unserer Häuslichkeit waren nicht genug Pflichten zu erfüllen, um alle meine Kräfte in Anspruch zu nehmen. Mein Vater beschäftigte sich während des Tags für sich; abends las er uns angenehme und gute Sachen vor, aber nichts, was mir die Seele bewegt und ihr neue Horizonte geöffnet hätte. Die »heilige Unruhe« bemächtigte sich meiner wieder; ich suchte ein hohes Ziel, den Weg des Ideals, der Vollendung. Die Religion hatte mir das Rätsel nicht gelöst; die »große Welt«, wo ich die wahren Höhen der Bildung und der Existenz zu finden gehofft hatte, hatte mir nur kleinliche Eltelkeit und Verderben gezeigt. Ich suchte nun in anderer Richtung. [...]
Ich aber fühlte, daß ich das bloß kontemplative Leben verlassen müsse, um zur Tat zu kommen. Die heiligen Freuden, die ich beim Malen genoß, schienen mir zu egoistisch, wenn ich nicht zugleich mich des Leidens erbarme, das ich überall um mich sah; wenn das Mitleid, das mir die wahre Essenz des Christentums zu sein schien, sich nicht in Taten verwirkliche. Ich beschloß zu versuchen, einen Verein der Arbeit für Arme zu gründen. Ich sprach darüber mit den jungen Damen meiner Bekanntschaft. Man zuckte die Achseln, man zweifelte am Erfolg, aber es gelang mir, eine kleine Anzahl zu vereinigen, und wir fingen mit einer ganz einfachen Organisation an. Man vereinigte sich einmal wöchentlich in den Häusern der Beteiligten, und man legte jedesmal einen so kleinen Betrag in die Vereinskasse, daß es niemand lästig fiel. Diese Beiträge dienten dazu, das Material zur Arbeit zu kaufen; sie wurden durch freiwillige Gaben noch erhöht. An den Vereinstagen arbeitete man so das ganze Jahr hindurch Kleidungsstücke für die Armen und verteilte sie am Weihnachtsabend. [...]
In der Welt, wie sie nun einmal ist, ist es nicht genug, zu fühlen und zu lieben, man muß vor allem denken und handeln, und jede Kraft, die für die große Arbeit des Lebens verloren ist, wird eine Sünde gegen das Gesetz des Fortschritts. [...]
Ich sah ein gewaltigeres Mittel vor mir, dem Ziele meines Lebens zuzuellen, als Religion und Kunst es gewesen waren, nämlich die Teilnahme, durch den Gedanken und die Tat, am Fortschritt der Menschheit. Sobald dieser Gedanke sich in mir zu befestigen begann, milderte sich mein Leiden, die Malerei aufgeben zu müssen. Ich verließ die Spezialität, uni in das Bereich der Fragen auf der ganzen Leiter des menschlichen Daseins einzutreten. Aber wie immer, verlangte ich auch hier, sogleich von der Theorie zu den Konsequenzen derselben überzugehen. Die Rellgion, aus ihrer metaphysischen Region herniedergestiegen, mußte sich in die Ausübung des Mitleids verwandeln und die Gleichheit der Brüderlichkeit unter den Menschen einführen. Die Armen zu besuchen, ihnen zu helfen, sie zu trösten, wurde mir nun zur Notwendigkeit. [...]
Es fiel abermals ein Schleier von meinen Augen. Ich sah ein, daß ich nicht mehr das sanfte, nachgiebige Geschöpf war, das, um niemand zu verletzen, sich allem unterwarf und den Weg, den alle gingen, mit ihnen ging aus Gehorsam und Gefälligkeit. Ich fühlte, daß ich eine Individualität wurde, mit überzeu,~,ungen und mit der Energie, sie zu bekennen. Ich begriff nun, daß dies mein Verbrechen sei. Die allgemeine Anerkennung fing an, ihren Wert für mich zu verlieren, und ich sah ein, daß ich hinfort nur mein Gewissen zur Richtschnur nehmen und nur tun würde, was es mir vorschrieb.
Aber der Kampf wurde alle Tage schwerer. Mein Vater kam wieder während des Sommers, um uns zu sehen. Ach! und auch mit diesem geliebten Vater fühlte ich mich nicht mehr im Einklang über wichtige Lebensfragen. Die Politik hatte einen großen Platz in meinen Gesprächen mit Theodor eingenommen, und die Entwicklung meiner Gedanken zu demokratischen Ansichten war die natürliche Folge davon. Ich hatte oft in den Briefen an meinen Vater Fragen über politische Gegenstände getan, um, wenn es möglich wäre, meine Ideen nach den seinigen zu bilden. Er hatte mich einmal an Guizot [6] und seine Politik verwiesen, die ich beobachten sollte, wenn ich mir richtige Ideen bilden wollte. Meist aber hatte er meine Fragen unbeantwortet gelassen, da er diese Dinge als außerhalb der weiblichen Sphäre liegend betrachtete. Doch erinnere ich mich des Augenblicks, wo ein tiefer Schmerz mein Herz durchzuckte, als eine seiner Außerungen bei einem Gespräch mir plötzlich hell die Kluft beleuchtete, die sich zwischen seinen Ansichten und den meinen aufgetan. Er war von den Veränderungen unterrichtet worden, die man in meiner Art zu denken vorgehen sah und die man nicht als logische Folge meiner geistigen Entwicklung, sondern als einen beklagenswerten Einfluß der »unglücklichen Neigung« für einen Menschen mit exzentrischen und falschen Ansichten betrachtete. Es ist dies ein sehr häufig vorkommender Irrtum der Orthodoxen in Religion und Politik: wenn ein Geist sich von ihren Gesetzen befreit, so schieben sie die Schuld dieser Emanzipation auf irgendeine äußere Ursache, auf eine geistige Verführung, und denken nicht daran, daß es die innere Logik des tiefsten Wesens ist, die nur durch die Umstände an das Tageslicht gefördert wird.
Ich hatte die Bedeutung aller dieser Vorfälle zu wohl verstanden; ich war hinfort im offenen Krieg mit der Welt, in der ich erzogen worden war, und es handelte sich nicht länger mehr um ein persönliches Gefühl, sondern um die Freiheit meiner Oberzeugungen. Ich hatte den Kampf der Freiheit gegen die absolute Autorität begonnen. [...]
Zum erstenmal stieg bei meiner Schwester und mir der Gedanke auf, daß eine von uns gehen und selbst ihr Brot erwerben müsse. Einige der Brüder waren wohl in guten Stellungen, aber es fiel uns nicht ein, von ihnen abhängig werden zu wollen. Wir besprachen schon diesen Punkt, und eine jede von uns war bereit zu dem Opfer. Ich war fest entschlossen, nicht nachzugeben und, wenn es sein müßte, meinen Erbanteil ganz der Mutter zu überlassen und zu gehn. Ich fing ohnehin an zu fühlen, daß ich nicht lange mehr mit denen würde leben können, die meine heiligsten Überzeugungen für falsch hielten. Aber zu gleicher Zeit stand ich betroffen vor der Frage: »Was tun, um mir mein Brot selbst zu erwerben?«
Ich hatte viel gedacht, mehr als die Mehrzahl der Mädchen in meinem Alter; ich hatte viel gelesen. Aber wußte ich eine Sache so gründlich, um darauf meine Unabhäng'gkeit zu stützen? Hatte ich eine Fachkenntnis irgendeiner Art? Ich fühlte das Ungenügende meiner Erziehung mit tiefer Pein. Seit ich die Malerei hatte aufgeben müssen, hatte ich angefangen zu hoffen, daß ich eines Tages etwas würde schreiben können. Ich hatte einige schüchterne Versuche gemacht, kleine Novellen und Aufsätze an Verleger zu schicken, ohne irgend jemand davon zu sprechen. Mehreres wurde gedruckt, aber nicht bezahlt. Ich wußte nicht, wie man dabei verfahren müsse, ich wagte nicht, bei meinen Familienmitgliedern um Rat zu fragen wegen Sachen, die ihnen mißfielen, und so sah ich keine Hoffnung in dieser Richtung. [...]
Das große Recht der Individualität an alles, was ihr nötig ist, um alles zu werden, was sie werden kann, stellte sich mir in bitterer Klarheit dar. Daß es erlaubt sei, jede Autorität zu brechen, um dieses Recht zu erobern, war mir keinem Zweifel mehr unterworfen. Aber leider gehört zu der Erreichung dieser moralischen auch die ökonomische Unabhängigkeit. Bis dahin hatte man die Unabhängigkeit der Frau nur zugestanden, wenn sie Vermögen hatte. Aber die, die keins hatte, was sollte sie tun? Zum erstenmal stellte sich in meinen Gedanken die Notwendigkeit der ökonomischen Unabhängigkeit der Frau durch ihre eignen Anstrengungen fest. [...]
Die Ideen über die Volkserziehung interessierten uns am meisten; wir besprachen sie mit Begeisterung. Die Notwendigkeit, diese Erziehung auch auf die Frauen auszudehnen, wurde mir klar. Dieser Gedanke beschäftigte mich Tag und Nacht. Wie könnte ein Volk sich selbst regenerieren und frei werden, wenn seine eine Hälfte ausgeschlossen wäre von der sorgfältigen, allseitigen Vorbereitung, die die wahre Freiheit für ein Volk ebensowohl wie für die Individuen verlangt? Wie könnte die Frau, in deren Händen die erste Erziehung des künftigen Staatsbürgers liegt, sein Herz und seinen Geist zur Erkenntnis seiner Pflichten heranbilden, wenn sie selbst sie nicht kennt, wenn sie kein Band zwischen sich und dem Leben ihres Volkes fühlt? Wie könnte der Mann je in vollem Umfang seine Pflicht im öffentlichen Leben tun, wenn ihm daheim am häuslichen Herd nicht ein großes Frauenherz zur Seite stünde, das teilnimmt an seinen großen Interessen und bereit ist, ihnen, wenn es sein muß, sogar das persönliche Glück zu opfern? [...]
Diese Studien gaben meinem Leben wieder einigen Reiz. Doch mußte ich immer schwer dafür büßen, denn sie mißfielen meiner Familie im höchsten Grade. Unser Arzt, der zugleich Freund des Hauses und in der Stadt als einer der bedeutendsten Männer angesehen war, fand eines Tages auf meinem Schreibtisch die »Soziale Politik« von Julius Fröbel aufgeschlagen liegen. Er war empört darüber und sagte meiner Mutter, daß er seiner Tochter niemals erlauben werde, ein solches Buch zu lesen. So groß waren noch die Vorurteile und die Beschränktheit der Ansichten damals in den gebildetsten Kreisen in Deutschland! Meine Mutter wußte, daß sie in meiner Lektüre keine Vorschriften mehr geben konnte, denn dazu war ich nicht mehr jung genug, aber es war ihr äußerst peinlich, und sie zeigte es mir offen, w le sehr ihr solche Studien mißfielen. Die anderen Mitglieder der Familie vermieden mich fast und sahen mich wie ein verlorenes Wesen an. Wenn ich abends von meinen Freunden heimkehrte, erwiderte man kaum meinen Gruß, setzte das Gespräch mit doppeltem Eifer fort, um mir nicht die Zeit zum Sprechen zu lassen, oder man schien so vertieft in die Arbeit, daß man meinen Eintritt nicht bemerkte. Ich setzte mich zu den Mahlzeiten und Familienzusammenkünften mit dem bitteren Gefühl nieder, als eine Schuldige angesehen zu werden für Oberzeugungen, die allein mir das Leben noch erträglich machten und ihm einen Wert gaben. Ich kann nicht sagen, was ich litt. [...]
Meine Stellung im Hause wurde täglich unerträglicher. Die Meinigen, trotzdem sie edel und gut waren, waren fast grausam gegen mich, nur weil ich andere Ansichten hatte als die ihren und mit Menschen umging, die ihnen, ihrer Grundsätze wegen, nicht syrnpathisch waren. Es war die Tyrannei der Familie, die sich in diesem Fall noch auf den bedauernswerten Grundsatz stützte, daß die Frau nicht für sich selbst denken, sondern auf dem Platz, den ihr das Schicksal angewiesen hat, bleiben soll, einerlei ob ihre Individualität dabei untergeht oder nicht. Meine Schwester fragte mich eines Tages: »Gibt es denn wirklich etwas, was du mehr liebst als deine Familie?«, und als ich dies bejahte, schüttelte sie traurig den Kopf und sagte: »ja, dann ist alles klar.« Es war eben die alte Geschichte: man muß Vater, Mutter, Geschwister verlassen, um dem Messias zu folgen. Aber trotzdem ich mich in meinem Rechte fühlte, war ich nicht weniger traurig darüber, daß ich sie leiden machte und daß ich die Kluft sich erweitern sah, die unsere gegenseitige Liebe zu verschlingen drohte.
Der philosophische und befreiende Fortschritt, der sich so in mir vollzog, vollendete natürlich auch meine vereinzelte Stellung in der Gesellschaft. Man ließ mich absichtlich Bemerkungen wie die folgende hören, die bei dem Urteil über ein junges Mädchen gemacht wurde: »Welch ein liebenswürdiges Geschöpf: sie maßt sich gar kein eignes Urteil an. Man wollte mir zeigen, wie weit man mich vom rechten Wege abgewichen fände. Aber weit davon entfernt, auf jenen Weg zurückzukommen, beschäftigte ich mich im Gegenteil immer mehr mit den Gedanken an die Emanzipation der Frau, Emanzipation von den Vorurteilen, die sie bisher gefesselt hielten, zur ungehemmten Entwicklung ihrer Fähigkeiten und zur freien Ausübung der Vernunft, wie sie dem Manne seit lange gestattet sind. Trotzdem ich in so engen Verhältnissen lebte, so hörte ich doch von mehr als einer weiblichen Individualität, die vom regenerierenden Hauch, der die Welt durchweht hatte, erwacht war und sich von der dreifachen Tyrannei des Dogmas, der Konvention und der Familie befreien wollte, um nach ihren überzeugungen und durch ihre eignen Anstrengungen zu leben. Die deutsche Frau fing an, noch eine andere Bestimmung in sich zu fühlen, als die, bloß eine gute Hausfrau zu sein - ein Titel, den man ihr stets, nicht ohne Beimischung von Geringschätzung, beigelegt hatte, da es heißen sollte, daß sie außerdem nichts sei. Ich fing an, mit der »Kleinen« Pläne zu machen. Ich wollte mittels brieflichen Verkehrs mich mit den Frauen oder Mädchen, die mit uns gleiche Sympathien hatten, in Verbindung setzen, sie auffordern, andere Gleichgesinnte in ihren Kreisen aufzusuchen und diese zu gleichem Tun zu vermögen. So wollten wir Deutschland wie mit einem Netz einer großen Frauenverbindung überziehen, in der auch die Schwächeren, Zaghaften durch die Gemeinsamkeit Mut fassen sollten. Die bessere Erziehung der Frauen, die Erwerbung verschiedenartiger Kenntnisse zur Erlangung ökonomischer Unabhängigkeit, ein weiteres Feld edler Bestrebungen - das sollte die erste Aufgabe sein, um die Frauen zunächst fähiger zu machen, die Erziehung der Jugend im patriotischen und humanen Sinn in die Hand zu nehmen und sich an dem großen Werk der nationalen Erziehung, das so viele große Männer gepredigt hatten, zu beteiligen. Noch sah ich meinen Weg nicht klar, wußte noch nicht, wie ich verwirklichen sollte, was sich in meinen Gedanken bewegte, aber ich fühlte, daß das Ziel meines Lebens hinfort sein werde, an der Emanzipation der Frau von den engen Grenzen, die die Gesellschaft ihrer Entwicklung gesteckt hat, und von den Kleinlichkeiten und der Unwissenheit, die die Folgen davon waren, arbeiten zu helfen. [...]
Der Winter, den ich nun zu Haus zubrachte, war noch trauriger als alle vorhergehenden. Meine Gesundheit war besser, aber meine Lage wurde immer schlimmer. Ich wurde ganz wie ein schuldiges Wesen behandelt, und jedes Vertrauen zwischen mir und meiner Familie hatte aufgehört. Mein Schwager richtete kaum noch das Wort an mich; selbst meine Nichten, junge, unbefangene Mädchen, waren zurückhaltend und verlegen in meiner Gegenwart.
Zum erstenmal sagte ich es mir ganz klar, daß man sich von der Autorität der Fam le befreien muß, so schmerzlich es auch sein mag, sobald sie zum Tod der Individualität führt und die Freiheit des Gedankens und Gewissens einer bestimmten Form der überzeugung unterwerfen will. Freiheit der individuellen überzeugungen und ein Leben diesen gemäß - ist das erste der Rechte und die erste der Pflichten eines Menschen. Bis dahin hatte man die Frauen von diesem heiligen Rechte und dieser ebenso heiligen Pflicht ausgeschlossen; nur die Kirche und die Ehe hatten das Mädchen berechtigt, den Platz in der Familie, den ihm die Natur angewiesen, zu verlassen. in der katholischen Kirche erlaubte man der Jungfrau, nicht nur die Familie für das Kloster zu vertauschen, sondern man machte ihr ein Verdienst daraus, und durch die Ehe verließ sie ebenfalls die Familie und folgte dem Gatten. Aber auf den anderen Gebieten der menschlichen Tätigkeit hatte man es den Frauen untersagt, eine überzeugung zu haben und ihr gemäß zu handeln. Ich sah ein, daß es Zeit sei, dies Verbot aufzuheben, und ich sagte mir, daß ich mich selbst nicht mehr wiirde achten können, wenn ich nicht den Mut hätte, alles zu verlassen, um meine Überzeugungen durch die Tat zu rechtfertigen. Als mein Entschluß gereift war, dachte ich nur noch an die Ausführung. Ich sah nur ein Mittel vor mir: nach Amerika zu gehn - auf eine junge Erde, wo die Arbeit keine Schmach war wie in Europa, sondern ein Ehrentitel, durch den der Mensch seine Rechte in der Gesellschaft beurkundet. Für meine Existenz zu arbeiten wurde übrigens dann nicht bloß eine Konsequenz meiner Ansichten, sondern auch eine Notwendigkeit, denn mein kleines ererbtes Vermögen hätte höchstens zur Reise und zur ersten Niederlassung dort ausgereicht. Irgendwo in Deutschland als Erzieherin eintreten wäre eine zu große Prüfung für meine Familie gewesen, und man hätte es mir nicht erlaubt. Außerdem hatte ich auch den Wunsch, dieses alte Europa zu verlassen, wo jeder Versuch, die Freiheit zu verwirklichen, mißlang; wo der Despotismus in Staat, Religion und Familie die Völker, die Gedanken und die Individuen unterdrückte.

Jedes menschliche Wesen hat
Anspruch auf eine Erziehung

[8]Ich hatte ja Wort gehalten: ich verdiente mir mein täglich Brot, ich war eine Arbeiterin wie die Töchter des Volks, und ich fand wieder, daß nur so das Geld einen sittlichen Wert hat, indem es Austauschmittel wird zwischen dem, der Dienste verlangt, und dem, der sie leistet. Ich kam durch die Praxis auf meine alten Theorien von der Abschaffung des Erbrechts zurück, und es schien mir von neuem, als ob die Sittlichkeit und die menschliche Würde nur dabei gewinnen könnten. Jedes menschliche Wesen hat Anspruch auf eine Erziehung, die es fähig macht, auf sich selbst zu ruhen; dieses Recht müßte die Gesellschaft ihm sichern, indem sie die Eltern im Fall der Not zwänge, es ihm zu gewähren, oder, bei absolutem Mangel an Mitteln von deren Seite, selber helfend einträte. Jeder Erwachsene aber (ausgenommen die durch Krankheit völlig Unfähigen, für die die Gesellschaft natürlich zu sorgen hätte) sollte sich durch Arbeit sein Leben selbst verdienen. Welch eine tiefe und gesunde Revolution würde das in den Sitten, in den Grundideen des Daseins geben! Die Eltern würden, anstatt Reichtümer für ihre Kinder aufzuhäufen, soviel als möglich für eine gute, nach allen Seiten vollständige Erziehung ausgeben, nur mit dem Unterschied, daß man, anstatt kleine, mittelmäßige Talente oder einen bloßen Gesellschaftsfirnis zu entwickeln, die vorherrschende individuelle Anlage berücksichtigen würde, um eine Spezialität auszubilden, durch die das Individuurn ökonomisch unabhängig würde. So würde nicht nur vor der Notwendigkeit der Arbeit und der Freude an einer mit Erfolg auszuübenden Befähigung der Müßiggang verschwinden, sondern mit ihm noch eine Menge anderer übel, zunächst die falsche, aber so häufige Tendenz der Eltern, an der Erziehung zu sparen, um dem künftigen Wohlleben der Kinder etwas zuzufügen, sowie die Oberflächlichkeit des Vielwissens und der Mangel an tüchtig ausgebildeten Spezialitäten. Welche Wohltat würde es z. B. für die Gesellschaft sein, wenn man es nicht mehr für nötig hielte, jedes junge Mädchen vom Bürgerstande an bis hinauf zur Aristokratie, ob sie Talent habe oder nicht, Klavier lernen zu lassen, um so während mehrerer Stunden des Tages die Ohren und Nerven ihrer Umgebungert zu martern, während vielleicht eine andere Fähigkeit, die sie zu einem höchst nützlichen Mitgliede der Gesellschaft gemacht hätte, unausgebildet bleibt und es ganz andere Mittel gibt, um wirklich musikalische Menschen, mit wahrem Verständnis für Musik, zu bilden. Ähnliche Beispiele ließen sich unzählige auffinden, und es ist kein Zweifel, daß die Gesellschaft nicht nur durch das Wegfallen der falschen Bildung gewinnen würde, sondern auch durch die erhöhte Zahl starker, ausgeprägter Individualitäten, die sich gegenseitig um so mehr interessante Dinge zuzubringen hätten, als ein jeder irgendeine Sache aus dem Grund verstände und jede Sache, die gründlich gewußt ist, eine interessante Seite hat. Es versteht sich von selbst, daß bei der vorherrschenden Entwicklung einer Spezialität die allgemeine Bildung nicht vernachlässigt werden dürfte. Der Unterricht in den nötigsten allgemeinen Gegenständen des Wissens gehört in die erste Jugend, wo alle Anregungen für wissenschaftliche oder künstlerische Richtungen, alle nötigen Elemente gegeben werden müßten für alle. Daraus würde sich dann, durch die vorherrschende Anziehung, die Spezialität herausstellen, die aber immerhin, gerade je tüchtiger sie ergriffen würde, noch Zeit übriglassen würde, um auch für die allgemeinen Dinge einen offenen Sinn und ein teilnehmendes Interesse zu bewahren. Man könnte einwenden, daß dies alles eine so kostspielige Erziehung, so ungeheure Mannigfaltigkeit der Mittel, eine solche verwickelte Organisation der Lehrkräfte erfordern würde, daß es die Kräfte der Gesellschaft überstiege. Darauf braucht man nur einfach zu erwidern - Wenn die Gesellschaft die Mittel findet, den Luxus der Höfe und das ungeheure Budget der stehenden Heere zu bestreiten, so wird es ihr auch wohl möglich sein, die Mittel aufzufinden, durch die sie sich selbst vervollkommnen und aus sich selbst das vernünftig und organisch sich entwickelnde Wesen machen kann, für das zuletzt jene kolossalen Ausgaben von selbst wegfallen, weil für Völker, die sich selbst zu regieren und zu erziehen verstehen, sowohl die Pracht monarchischer Höfe als wie der Hemmschuh des bürgerlichen Lebens, die stehenden Heere, überflüssig werden.

Die Teilnahme der weiblichen Welt
am Staatsleben

[9]Die Zustände in bezug auf Erziehung, Bildung und Stellung der Frauen sind noch ganz dieselben geblieben wie sonst, und wir haben noch keine Gewährung dafür, daß der Anteil, welchen die Frauen jetzt an den Zeitereignissen zu nehmen beginnen, nicht wieder wie der, den sie 1815 nahmen, in sein früheres Nichts zurücksinke, sobald die Zeitereignisse minder gewaltig und weltbewegend sind als jetzt. Es ist noch nichts getan für den Unterricht der weiblichen Jugend, es ist den Frauen noch keine selbständigere Stellung in der Gesellschaft angewiesen als bisher. Noch immer gilt, was schon vor drei Jahren galt: die Erziehung und Bildung der Frauen steht mit unsern staatlichen und sozialen Verhältnissen im Widerspruch.
Es wird in unsern Schulen vielleicht alles gelehrt, was der weibliche Verstand bis in sein vierzehntes Jahr fassen kann - aber dann, in einem Alter, in dem alle Geisteskräfte sich erst recht zu entfalten beginnen, indem wir erst die rechte Liebe zu wissenschaftlichen Interessen fassen, in dem wir erst einsehen können, wie notwendig es sei, sich Kenntnisse zu erwerben, wo wir erst die Fähigkeit gewinnen, nicht alles, was man uns sagt, auf Treu und Glauben blindlings hinzunehmen: - in einem solchen Alter wird die weibliche Bildung für vollendet betrachtet. Da mögen nun die Mädchen hingehen und Gesundheit und reinen harmlosen Sinn den Göttern des Tanzes und sinnlichen Vergnügungen opfern - da mögen sie in der französischen Literatur mit ihren Sprachkenntnissen die Kenntnisse schamloser Verhältnisse erweitern - mögen mit der englischen Aussprache sich abmartern und über dem mechanischen Auswendiglernen in der fremden Sprache mit dem Geist der schönen Muttersprache unbekannt bleiben - mögen am Piano ihren Fingern eine mechanische Geschicklichkeit erwerben und unter diesen Mühen vergessen, was sie in der Schule gelernt - mögen unter mühevoller und künstlerischer Anfertigung ihres Putzes über dem Sirenensange der Eitelkeit die sanfte Sprache des Herzens überhören und keine Zeit finden, den Geist mit nützlichen Kenntnissen zu bereichern mögen es verlorene Zeit nennen, nach den Angelegenheiten des Vaterlandes und der Menschheit zu fragen - das will alles so der Brauch und die Sitte, und was davon abweicht, nennt die Welt. unweiblich. Müßten sich die Mädchen nur ausbilden, um treffliche Hausfrauen zu werden - es möchte noch angehen! - Aber es liegt selten im Plane ihrer Erziehung, sie zu Hausfrauen, sondern vielmehr sie zu Puppen zu erziehen, es wird ihnen nichts um der Sache selbst willen gelehrt, sondern nur, um damit zu glänzen in der Gesellschaft - zu Puppen der Männer werden sie gemacht und sollten doch ihre Gefährtinnen sein. »Die Sucht, bemerkt zu werden« - »liebloses Urteilen über andere« - »Halbwisserei« »Nachbeterei ohne Selbstdenken« - dies wirft Ida Frick in ihrem Buche »Der Frauen Sklaventum und Freiheit«[7] mit Recht den jetzigen deutschen Mädchen und Frauen vor und nennt dies die Ursachen der weiblichen »Sklaverei«. Ja, aber diese vier übel sind nicht die Ursachen unserer Bildung und Stellung, sie sind deren traurige Folgen. Wen man zu einer Puppe ausputzt - ich kann nicht sagen, anzieht - und als solche hinausschickt auf den Markt des Lebens, sich einen Käufer zu suchen, der muß wohl streben, bemerkt zu werden, wenn eben diese Schaustellung Zweck ist - wem man die Interessen für das Allgemeine, Höhere, das große Ganze nimmt, der muß wohl für Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten sich interessieren - wem man es tausendfach erschwert, etwas Ganzes zu lernen, der muß wohl zur Halbwisserei sich flüchten - und wen man niemals denken gelehrt, sondern es stets verwehrt, der kann endlich gar nichts anderes wagen, als - nachzubeten,
So suche man das übel von Grund aus zu heilen und beginne mit einer veränderten Erziehung der weiblichen Jugend. Man lehre in den Töchterschulen die Weltgeschichte nicht als ein totes Lexikon mit systematischer Aufzählung von Herrschern, Schlachten und Jahreszahlen, Abschnitt nach Abschnitt - sondern als ein lebendiges organisches Ganze, an dem Glied mit Glied nach innerer Notwendigkeit verbunden ist, als Geschichte der Völker und der Entwicklung der Staaten. [...]
Eine zweite notwendige Forderung ist aber: daß nicht aller Unterricht mit der Konfirmation abgeschlossen werde. Es ist sehr lächerlich, zu behaupten, daß ein höherer fortgesetzter Unterricht, zu dem es vielleicht nur ein Sechstell der Zeit erfordert, welche früher die Schule in Anspruch nahm, den Mädchen Zeit und Lust, den häuslichen Pflichten obzuliegen, rauben würde. Beides läßt sich recht wohl vereinigen; - auch die Teilnahme für beides ist in der weiblichen Natur so eng verbunden, daß eben nur eine widernatürliche Einrichtung das eine auf Kosten des andern ausbilden kann. Das Haus ist vorzugsweise der weibliche Wirkungskreis - aber sich geistig immer mehr zu vervollkommnen ist die Aufgabe eines jeden Menschen, die heilige Forderung der Natur, ja unserer christlichen Religion, an uns alle. Früher, als es namentlich in den kleineren und mittleren Städten nur mangelhaften Schulunterricht, besonders für Mädchen, gab, pflegten immer diejenigen Familien, welche ihren Kindern einen bessern Unterricht wollten geben lassen, zusammenzutreten und zur Erteilung desselben einen gemeinschaftlichen Lehrer zu halten. Warum vereinigt man sich nicht jetzt auf ähnliche Weise und läßt seinen konfirmierten Töchtern noch einen fortgesetzten höhern Unterricht geben, vielleicht wöchentlich nur an drei Morgen und Nachmittagen? Zeit dazu ist bei den Mädchen gewiß, und an Lehrern würde es ebenfalls nicht fehlen, und diese Stellung würde gewiß vielen Männern, z. B. Jungen Kandidaten, eine sehr annehmbare sein. Man mache doch nur einmal den Versuch! Vielleicht würden auch (namentlich in der Zukunft, wenn bereits die Bildung der Frauen eine minder oberflächliche geworden ist) gebildete Frauen sich finden, welche die erwachsenen Mädchen in verschiedenen Zweigen des Wissens weiterführen könnten, da es ja eben nicht gilt, ihnen gelehrte Sachen vorzutragen, mit denen sie ihr Gedächtnis anfüllen sollen, sondern gerade nur das Interesse an höhern Dingen in ihnen rege zu erhalten, sie zum Selbstdenken und Selbstweiterstreben aufzumuntern. Für die Töchter der Bemittelten gibt es auch jetzt, namentlich in den größern Städten, eine Menge von Anstalten, welche namentlich für Mädchen von dreizehn bis achtzehn Jahren bestimmt sind. Aber wie sind sie beschaffen! Die Mädchen lernen darin nichts als Französisch- und Englischsprechen, Tanzen, Musizieren, Zeichnen und Sticken. Diese Dinge mögen mit zur weiblichen Bildung gehören aber sie sind Nebensache. In unserer jetzigen Erziehungsweise ist aber überall die Nebensache zur Hauptsache gemacht worden. Man gebe diese Anstalten in die Hände vaterländisch gesinnter Frauen, welchen es Ernst ist um wahre Bildung. Man stelle meinetwegen eine Engländerin und Französin dabei an, aber man mache sie nicht zu steten Begleiterinnen der jungen Mädchen. Dazu suche man echt deutsche Frauen, die ihren schönsten Beruf darin finden, echt deutsche Jungfrauen zu erziehen. Man wähle gediegene, mit den Richtungen der Zeit vertraute Männer zu Lehrern, namentlich für Weltgeschichte und Naturwissenschaften, Man lehre unter den oben angeführten Nebensachen auch vor allen das Turnen und mache überhaupt die ganze Anstalt zu einer wahrhaft nationalen, zeitgemäßen, in der vorzugsweise deutscher Sinn und schwesterliche Gleichheit in edler einfacher Sitte walte. Deutsche Männer und Frauen, in deren Herzen Liebe zum Vaterland lebt und die Ihr Euch gewachsen fühlt zu dem heiligen Werk der Erziehung, ich rufe Euch auf im Namen all meiner jüngern vernachlässigten deutschen Schwestern, wem es von Euch die Verhältn'sse gestatten, rufe eine Anstalt ins Leben, in der deutsche Mädchen ihres Vaterlandes und der eigenen weiblichen Würde wert erzogen werden können. Nur erst ein solches Erzichungshaus, aus dem edle deutsche Jungfrauen hervorgehen - und dann werden mehrere nachfolgen, weil jedermann vor dem Beispiel sich schämen wird, seine Töchter neben diesen edlen Jungfrauen als unwissende, leichtsinnige Zierpüppchen zu sehen, und sie also nicht mehr in die bisherigen Anstalten senden wird, aus welchen sie als solche hervorgingen. überhaupt wäre es vielleicht rätlich - sobald es tunlich ist - solche Mädcheninstitute nicht in die großen kostspieligen, zerstreuungsreichen und vergnügungssüchtigen Städte zu verlegen, sondern gerade in kleinere Städte und auf das Land. [...]
Was ich hier gesagt habe, betrifft freilich zunächst nur die höhern und bemittelten Stände. Aber auch bei den untern Ständen tut es not, den vaterländischen Sinn zu wecken, denn dieser sei nicht nur Eigentum bestimmter Klassen, sondern des ganzen Volkes. Unter Volk verstehe ich eben nicht nur, wie viele unserer Liberalen, den sogenannten gebildeten »Bürger- und Bauernstand«, ich rechne auch den sogenannten »Pöbel« dazu. Indem wir uns nicht scheuen, noch das Wort Pöbel in unserem Sprachgebrauch zu haben, bekennen wir damit, daß unser Volk, wie man so oft sagt, wirklich noch nicht mündig ist; denn indem wir dies sagen, wollen wir einen Teil des Volkes, welchen wir mit einem verächtlichen Namen bezeichnen, nicht als gleichberechtigt anerkennen, und solange wir dies nicht wollen, können wir auch nicht von allgemeinen Volksrechten sprechen, wir werden dann immer nur die Rechte eines Teils verfechten, die Rechte der Bourgeoisie, die Rechte der Proletarier aber verleugnen und dadurch ganz in denselben Fehler verfallen, welchen wir an der Partei tadeln, die z. B. nur die Rechte des Adels verficht. Es wird dann eine Zeit notwendig kommen, wo der Proletarier gegen den Bourgeois auftritt, wie dieser jetzt gegen den Baron. Damit eben diese Zeit nicht komme, gilt es, den Pöbel aufzuheben, d. h. durch Volkserziehung unmöglich zu machen, daß wir die eine Klasse unseres Volkes mit einem entehrenden Namen belegen können. Wir müssen also auch gerade vorzugsweise, wenn wir einmal von Erziehung sprechen, auch die Erziehung der untern Klassen berücksichtigen, da diese ihrer am allerbedürftigsten sind. Aber freilich! hier stoßen wir sogleich auf den faulen Fleck unserer gesellschaftlichen Zustände - das Proletariat - in all seinem Elend, seiner Armut und Hilflosigkeit.
Doch weder in unfruchtbaren, oft gehörten Klagen noch in hohlen Theorien will ich mich ergehen - dazu ist hier nicht der Ort; nur einige kleine Andeutungen will ich geben, die wohl nicht ganz unpraktisch sind. Auf dem Lande finden sonntags nachmittag Examina in der Kirche statt, auch für die Mädchen. Darauf, meine ich, wäre besondere Aufmerksamkeit von seiten der Geistlichen zu verwenden. Es läßt sich hier gewiß viel Gutes wirken. Auch könnte da, wo die Mädchen, wie es an vielen Orten geschieht, zum Spinnen, Klöppeln usw. zusammenkommen, zuweilen auch der Geistliche und Schullehrer - wenn dieser nicht schon zu sehr belastet ist - und die Frauen von beiden - vorausgesetzt, daß sie die nötige Bildung haben - sich mit einfinden und durch ein Leiten der Unterhaltung auf passende Gegenstände, ohne die Arbeit der Mädchen Zu unterbrechen, unendlich viel Gutes wirken. Oft trifft man es, daß diese Mädchen zu ihren Arbeiten singen oder sich Märchen erzählen. Nun so lehre man ihnen vorher vaterländische und sittlich reine Lieder, damit sie an ihren Gesängen reine Freude und wahre Erhebung zugleich finden. In den Städten ließe sich mit den Töchtern der ärmeren Bürger auch ähnliches einrichten; sowohl dieselben Examina wie auf dem Lande als auch gleiche Zusammenkünfte. Als Beispiel führe ich an, wie in einer kleinen Stadt diese Mädchen von da an, wo sie die Schule verlassen haben, wöchentlich einen Nachmittag in der Wohnung ihres Lehrers zusammenkommen. Er wählt ihnen nützliche Bücher aus, aus denen sie sich abwechselnd vorlesen und dazu fleißig stricken in der Gegenwart der Frau des Lehrers. Dieser selbst, wenn er gerade Zeit hat, findet sich auch ein Stündchen ein und spricht dann mit ihnen über das Gelesene. - Sonntagsschulen, wie sie für das männliche Geschlecht bestehen, ließen sich auch - natürlich wieder mit andern Gegenständen für das weibliche einrichten.
Aber jetzt fragt man wohl bedenklich, was soll den Mädchen der niedern Stände eine höhere Bildung? Nun diese fordere ich nicht, ich fordere nur, daß sie einen innern festen moralischen Halt bekommen, der sie aufrecht halte in den Gefahren des Lebens, und daß ihnen auch Gelegenheit gegeben werde, sich Geschicklichkeiten und Kenntnisse zu erwerben, durch welche sie sich ihr Brot verdienen können. Denn wo diese den armen Mädchen fehlt, da heiraten sie entweder den ersten besten, der wohl auch arm ist, und wo dann beide, nur um ihre Kinder zu ernähren, im Elend moralisch versinken, oder diese armen Mädchen, wenn sie keinen Ausweg sehen, ihr Leben auf ehrliche Welse vor dem Elend zu schützen, werfen sich der Schande in die Arme - und sind nun erst sicher, nicht zu verhungern. Freilich sind Hunger und Unwissenheit nicht die einzigen Ursachen der Prostitution! sie sind es wohl in den niedrigsten Ständen aber auch in den andern holt sie ihre Opfer, und da klaget die an, welche von frühester Jugend an dem Weibe nur immer vorgeredet haben, es sei nur für den Mann geschaffen und habe keinen andern Zweck im Leben. Doch man erlasse mir die weitere Ausführung dieses Themas!

Verkrüppelte Mädchenfüße -
verkrüppelte Mädchencharaktere

[10]Laßt uns doch ja nicht klug und ironisch über die närrische Sitte der Chinesen lächeln, nach welcher diese ihren Mädchen die Füße zusammenschnüren und verkrüppeln lassen, daß diese dann kaum noch darauf stehen und nie anders als schwankend gehen können ihnen sind kleine Füße unerläßlich bei weiblicher Schönheit - und die Begriffe über Schönheit sind hier einmal immer sehr relativ - bei uns schnürt man den Mädchen den Charakter zusammen, daß er so unentwickelt bleibt, daß bei ihm nie vom Selbststehen und Fortschreiten die Rede sein kann - was bei uns die Schönheit der Weiblichkeit heißt, ist meist eine solche Verkrüppelung geistiger freier Anlagen.

Die Erziehung des Weibes muß
eine andere werden

[11]Gegen alle diese Einrichtungen und Vorurteile zu kämpfen, bis auch die letzten derselben in allen Menschen überwunden, zu kämpfen im Dienste der Humanität und mit den Waffen, die sie gefeit, ist die Aufgabe meines Lebens, es wird auch meine Aufgabe in diesen Blättern sein.
Oder wäre es Täuschung und bedürfte es dieses Kampfes nicht? Ein Blick nur in das Leben gibt darauf Antwort! Und noch ein Blick tiefer hinein in das weibliche Leben, wie es die Gegenwart zeigt, muß uns antreiben, einen neuen heiligen Kreuzzug zu predigen gegen die Barbarei, welche uns das Betreten der heiligen Stätten verweigert, an denen die Welterlösung das göttliche Werk der Freiheit und Gleichheit begann! - Es sind in der letzten Zeit große Taten geschehen in Deutschland, aber noch größere sind zu tun übrig [...] lasset uns an das denken, woran die Männer zu denken vergessen, an das Frauenrecht, lasset uns nicht kleinmütig in einer großen Zeit, in der ganze Völker, sich selbst helfend, ein unwürdiges Joch abwerfen, nach einem Retter umschauen und müßig stehen bleiben, bis er komme. Vertreten wir unsere Rechte selbst! Vertreten wir sie im Sinne der Humanität und in ihrem Dienste, appellieren wir auch an keinen anderen Richterstuhl als an den der Humanität.
Ja, im Namen der Humanität fordere ich, daß das Los der Frauen in Deutschland ein anderes werde, als es jetzt im allgemeinen ist. (Ausnahmen gibt es auch schon jetzt, aber eben darin, daß eine vorzugsweise gebildete Frau oder eine, die neben ihrem besondern Beruf auch dem Allgemeinen dient usw., als Ausnahme betrachtet wird, ist die Verkehrtheit unserer gesellschaftlichen Zustände und die Verletzung der Humanität ausgesprochen.) Ich habe meine Forderungen in diesem Programm nur kurz anzudeuten - mein ganzes Leben, mein Wirken und Schreiben geschieht in ihrem Dienst - und so behalte ich mir weitere Ausführungen der angegebenen Punkte vor. [...]
Die Erziehung des Weibes muß eine andere werden. Der Unterricht darf nicht da enden, wo die eigentliche Denkfähigkeit erst beginnt. Nicht gelehrter Wust soll dem Weibe aufgebürdet werden, aber man muß es wecken aus dem dumpfen Geistesschlummer, in den es die jetzige Erziehung einhüllt, damit es bis zum sozialen Bewußtsein, vorn Besonderen zum Allgemeinen, zum Ganzen gelange, es muß zu der Begeisterung für hohe Ideen, für das heilige Streben der Volksbeglückung erweckt werden, damit es selbst in diesem Sinne wirke oder die ihm anvertrauten Kinder so wirken lehre.

Wider das verkochte und verbügelte
Leben der Frauen

[12]Wie der Geist aus allen Verhältnissen entschwunden und in ein mechanisches Getändel ausgelaufen ist, zeigen alle unsere Beschäftigungen, vor allem die der Frauen und des häuslichen Lebens. Das raffinierte Häkeln, Stricken und Sticken der Frauen ist dieselbe geistlose Ausartung der häuslichen Beschäftigungen wie das raffinierte mechanische Getändel der Klavier- und Violinvirtuosen, der Bravoursänger usw. Es fehlt überall die innere Notwendigkeit, die schöpferische Triebkraft. [...]
Zu was treibt sich die ganze eine Hälfte der Menschheit in dieser Tretrniihle herum? Um die weibliche Bestimmung zu erfüllen, d. h. den Kulminationspunkt des geschäftigen Nichtstuns zu erreichen, um die Zwecklosigkeit und Zweckwidrigkeit aller Privattätigkeit auf die Spitze zu treiben.
Zur Führung eines Haushaltes gehört dreierlei, erstens daß man einen Haushalt besitzt, zweitens die Notwendigkeit und drittens die Geschicklichkeit, ihn zu führen. Aber wir fragen-. besitzen alle einen Haushalt, und verstehen alle einen solchen zu führen? Ist es vernünftig, den Menschen zu einem bestimmten Zweck zu erziehen, den er vielleicht nie erreicht, oder wenn dies, selten in der Weise, wie das Verhältnis, worin und wozu er erzogen wurde? Wir fragen ferner, ist es jeder Eigentümlichkeit entsprechend, ihren Neigungen und Fähigkeiten gemäß einen Haushalt zu führen? Wir sind weit entfernt, diejenigen gering zu schätzen, die mit Vorliebe dergleichen Geschäfte verrichten; wir tadeln nicht die Geschäfte des Hauswesens, sondern den Privathaushalt mit seinen zahllosen Inkonvenienzen. (*Inkonvenienzen: Umständlichkeiten, Ungelegenheiten)
Da wir sehen, daß weder das Hauswesen für die Frauen noch die Frauen für das Hauswesen ausreichen, da sie auch zu anderen Dingen befähigt und geneigt sind, würde es nicht ersprießlicher sein, sie auch zu anderen Dingen zu erziehen, ihrer Tätigkeit teils einen größeren, teils einen entsprechenderen Wirkungskreis zu erschaffen? Aber nichts für sie zu errichten und dann sagen, >es gibt nichts weiter für sie<, sie zu nichts weiter zu erziehen und dann zu sagen, >das ist ihre Bestimmung<, heißt dies nicht vorausbestimmen?
Die Hausfrau ist in den meisten Fällen nichts als eine vornehme Magd, und der Mann das Lasttier, das mit der Ehe einen Berg von Sorgen auf sich lädt. [...]
Betrachten wir doch diese gepriesene Häuslichkeit etwas näher. Das verkochte und verbügelte Leben der Frauen ließe, wie Jean Paul sagt, daran zweifeln, ob die Frauen eine Seele hätten, wenn sie nicht liebten. Aber hat denn diese Liebe nicht auch eine verkochte, verwaschene und verbügelte Seele oder schlimmer noch eine roman- und teeverwässerte? Sollte man an die Gedanken und Erfindungen des 19. Jahrhunderts glauben beim Anblick aller der häuslichen Plackerelen, dieses spindelhaften Umdrehens um sich selbst, gebannt in den engsten Kreis. Und wie heute, so morgen. Kann bei diesem zeittötenden Einerlei ein erhebender Gedanke die Seele durchdringen; bleibt für das Interesse der Gesarntheit, für die Erreichung höherer Zwecke, für die Kultur des Herzens, für die Entwicklung der Seelenkräfte noch Zeit, Neigung und Gelegenheit; erschöpfen sich nicht alle Kräfte in der Befriedigung der steten Anforderungen und Bedürfnisse des Augenblicks?
Die Frau müßte ein Genie sein, um halbwegs den Anforderungen zu entsprechen, die ihre seltsame Stellung an sie macht. Ihre Stellung ist zusammengesetzt aus mittelalterlichen Spinnrädern und modernen Nippestischchen. Sie soll haushälterisch sein und die liebenswürdige Wirtin machen, die Dienstboten beaufsichtigen und die Gesellschaft besuchen, die Kinder waschen und den Gatten unterhalten, die Kinder erziehen und die Kinder bekommen, kurz sie muß das Ideal einer Gattin, Mutter, Hausfrau und Gesellschafterin sein, alles können und nichts wollen, alles leisten und nichts brauchen; tugendhaft, liebenswürdig, gebildet, bescheiden, einfach usw. sein, ein Genie in Leistungen und ein Automat im Willen. Denn wenn ihr eine dieser Eigenschaften fehlt, ist es ein ernpfindlicher Fehler, der notwendig zu Zwiespalt und Mißstand führen muß. Ihre abhängige Lage und die ebenso beengte und bedrückte Stellung des Mannes erfordert in der Tat gebieterisch alle diese Eigenschaften. Und nun urteile man, was von einem häuslichen Glück, vom Familienleben zu erwarten ist, das diese Bedingungen stellt.
Man will die sittliche Natur fördern, und man verdammt eine Hälfte der Menschheit zur Dienerin der sinnlichen Natur. Was ist diese Häuslichkeit anderes als ein stetes Abmühen für die niedersten Bedürfnisse? [...]
Die Beschränkung der weiblichen Tätigkeit auf den Haushalt hemmt die Entwicklung des Lebens im höchsten Grade. Welche Kenntnisse würden sich die Frauen in allen Fächern aneignen können, wenn sie statt am eignen Herd, wie heute, so morgen, zu sieden und zu braten, an großen gemeinschaftlichen Anstalten sich beteiligten, wo alles mit Kunst und wissenschaftlichen Hilfsmitteln betrieben würde. Und würden sich hierbei nicht die verschiedensten Fähigkeiten beteiligen und zugleich ihre ökonomische Unabhängigkeit sichern können? Solche Anstalten werden die Notwendigkeit und die Kulturmittel in nächster Zeit herbeiführen. Aber nicht eher wird die Notwendigkeit und ihr Gewinn allgemein anerkannt werden, bis sie der Zufall, d. h. die Not hervorrief. Und nicht eher wird man das jetzige Hauswesen verdammen, nicht eher die Bestimmung der Frau von dieser Tretmühle freisprechen, nicht eher eine wahre Häuslichkeit, d. h. eine behagliche Existenz zu Hause und ein gemütliches Familienleben erreichen, bis diese weibliche Galeerensträflingsanstalt als Folge freibeweglicher, gesellschaftlicher Einrichtungen verbannt ist.