Beruf - Familie - Emanzipation 2

Reform der Hauswirthschaft
(1901)

(...)

Wir haben gesehen, daß die verheirathete Hand- und Kopfarbeiterin unter der Last doppelter Pflichten seufzt. Sie ist nicht im Stande, beide in vollem Umfange zu erfüllen. Weder der vorhandene noch der angestrebte Arbeiterschutz kann die Arbeiterin vollkommen entlasten. Ohne über große Mittel zu verfügen, kann auch die bürgerliche Frau ihrem Beruf nicht nachgehen. Es gilt daher Einrichtungen zu schaffen, die es Beiden ermöglichen.
Solch eine Einrichtung ist die Wirthschaftsgenossenschaft. Ich stelle mir ihr äußeres Bild folgendermaßen vor: In einem Häuserkomplex, das einen großen, hübsch bepflanzten Garten umschließt, befinden sich etwa 5o bis 6o Wohnungen, von denen keine eine Küche enthält; nur in einem kleinen Raum befindet sich ein Gaskocher, der für Krankheitszwecke oder zur Wartung kleiner Kinder benutzt werden kann. An Stelle der 5o-6o Küchen, in denen eine gleiche Zahl der Frauen zu wirthschaften pflegt, tritt eine im Erdgeschoß befindliche Zentralküche, die mit allen modernen arbeitsparenden Maschinen ausgestattet ist.
Giebt es doch schon Abwaschmaschinen, die in drei Minuten zwanzig Dutzend Teller und Schüsseln reinigen und abtrocknen! Vorrathsraum und Waschküche, die gleichfalls selbstthätige Waschmaschinen enthält, liegen in der Nähe; ebenso ein großer Eßsaal, der zu gleicher Zeit Versammlungsraum und Tags über Spielzimmer der Kinder sein kann.
Ein kleineres Lesezimmer schließt sich ihm an. Die ganze Hauswirthschaft steht unter einer erfahrenen Wirthschafterin, deren Beruf die Haushaltung ist; ein oder zwei Küchenmädchen stehen unter ihrer Aufsicht. Die Wohnung dieser Haushaltungsbeamten sind im selben Stock, wie die Wirthschaftsräume, sie umfassen auch noch. das Zimmer der Kinderwärterin, die ebenso wie die Anderen von allen Bewohnern gemeinsam angestellt ist.
Die Mahlzeiten werden, je nach Wunsch und Neigung, im gemeinsamen Eßsaal eingenommen oder durch besondere Speiseaufzüge in alle Stockwerke befördert. Die Erwärmung der Wohnungen erfolgt durch Zetralheizung, so daß auch hier 50 Ofen durch einen ersetzt werden. Während der Arbeitszeit der Mütter spielen die Kinder, sei es im Saal, sei es im Garten, wo Turngeräthe und Sandhaufen allen Altersklassen Beschäftigung bieten, unter Aufsicht der Wärterin. Abends, wenn die Mutter sie schlafen gelegt hat und die Eltern mit Freunden plaudern oder lesen wollen, gehen sie hinunter in die gemeinsamen Räume, wo sie sich die Unterhaltung nicht durch Alkoholgenuß zu erkaufen brauchen, wenn sie kein Bedürfniß danach haben.
Dieser Plan läßt sich nach den verschiedensten Richtungen modifizieren oder ausbauen. Um ihn zu vereinfachen, könnten die Aufzüge und das Lesezimmer z. B. wegfallen; die Frauen müßten sich dann das Essen an der Ausgabestelle holen gehen. Erweitern ließe er sich, sobald etwa auch das Reinigen der Wohnungen zentralisirt sein sollte. Dann müßte eine Anzahl Zimmermädchen dafür angestellt werden. Durch Einführung von elektrischem Licht, durch Einrichtung geschmackvoller Räume für gesellige Zwecke, Anlegung von Kegelbahnen u. dergl. mehr ließe er sich noch reicher ausgestalten. Das Alles würde sich ganz von selbst nach den Bedürfnissen der Bewohner richten, die- das ist eine nothwendige Voraussetzung alle auf einer annähernd gleichen Einkommensstufe stehen müßten. Eine schematisch gleiche wäre schon deshalb nicht nöthig, weil es keine Schwierigkeit machen würde, wenn etwa minder Begüterte eine kleinere Wohnung und um ein Gericht verkürzte Mahlzeiten haben wollten.
Dieser ganze Plan ist durchaus nicht so vollkommen neu, als es den Anschein hat. Ansätze dazu finden sich vielfach. So leben in Amerika schon viele Familien in Folge des Dienstbotenmangels in Pensionen oder Hotels, wo sie sich verköstigen lassen. In einem Vorort Chicagos haben sogar eine Anzahl Familien sich zu gemeinsamer Hauswirthschaft zusammengethan; in England ist vielfach für Ähnliches agitirt worden; neuerdings wurde in Manchester eine Gesellschaft gegründet, die an verschiedenen Stellen der Stadt große Küchen einrichten will, von denen aus alle Familien mit gutem warmen Essen versorgt werden können. Auch hier ist es der Mangel an Privatköchinnen, der den Anlaß dazu bildete. Häuser, in denen alleinstehende erwerbsthätige Frauen zusammen wohnen und ernährt werden, giebt es, besonders in England, schon vielfach und auch in Berlin ist so etwas im Entstehen begriffen. Alle diese Einrichtungen gehen aber fast durchweg von bürgerlichen Kreisen aus und sind für sie bestimmt. Es scheint ja auch auf den ersten Blick fast unmöglich, daß Arbeiter bei ihren beschränkten Mitteln eine Wirthschaftsgenossenschaft bilden und erhalten könnten. Sie, die nie im Stande waren, irgend eine Hilfskraft anzustellen, sollten plötzlich im Stande sein, Wirthschafterin, Kinderwärterin u. s. w. zu besolden?! Und doch liegt das keineswegs außerhalb des Bereichs der Möglichkeit, denn nicht nur, daß diese Ausgaben sich auf 5o bis 6o Familien verthelien würden, sie würden durch die Vortheile des Einkaufs im Großen, der Ersparniß an Feuerung und der rationelleren Wirthschaftsführung reichlich wieder eingebracht werden. Nehmen wir z. B. an, daß 5o Familien 3 Personen mit 125 Mk. monatlich besolden, veranschlagen wir Wohnung und Beköstigung mit 156 Mark für sie (Beköstigung 1140 Mk., Wohnung 10 Mk. pro Person), so würde jede Familie 5,62 mk. im Monat Ausgaben haben, die mit Leichtigkeit durch die Ersparnisse gedeckt werden könnten. Da die einzelnen Wohnungen keine Küche haben würden, so würde auch die Miethe für die Zentralküche und die übrigen Räume leicht aufgebracht werden können.
Das Alles ist die geringste Schwierigkeit. Die größere besteht in der Frage, auf welchem Wege die Wirthschaftsgenossenschaft sich praktisch verwirklichen läßt. Die vorhandenen Miethskasernen sind dafür ungeeignet. Sie sind durchweg auf Bewohner von den verschiedensten Vermögensverhältnissen eingerichtet, sie weisen dem Arbeiter irgend eine elende dunkle Hinterwohnung an, und auch diese ist er oft kaum im Stande, zu bezahlen. Viele sehr wichtige Einrichtungen würden hier unmöglich sein und das Ganze dadurch leicht zum Scheitern kommen. Vielleicht aber, daß die Bauspekulation sich des praktischen Gedankens annehmen und Häuser für Wirthschaftsgenossenschaften auf ihr Risiko errichten würde? Das würde, aus Gründen, die ich noch auseinandersetzen werde, für bürgerliche Kreise gar nicht von der Hand zu weisen sein, das Proletariat aber sollte einen anderen Weg einschlagen. Er bietet sich ihm in den Baugenossenschaften, deren Ziel es ist, Häuser nicht zum Eigenerwerb, sondern auf der Grundlage gemeinsamen Besitzes und gemeinsamer Verwaltung zu errichten. Abgesehen von der Reform der Hauswirthschaft, die sich in neuen, auf sie berechneten Häusern allein verwirklichen läßt, würden die Baugenossenschaften denjenigen Arbeitern, die zu ihrer Bildung im Stande sind, den Vortheil bieten, der Wohnungsnoth zu entgehen. In den Bau- und Sparvereinen, die an vielen Orten, auch in großen Städten wie Berlin, Hamburg, Altona, Hannover, Kassel und anderswo eine ersprießliche Wirksamkeit entfalten konnten, genießen die Genossen fast alle Vortheile, die ein eigenes Haus bietet, ohne die damit verknüpften, dem modernen Industriearbeiter doppelt empfindlichen Nachtheile. Die Wohnungen in den Häusern dieser Baugenossenschaften sind den Bedürfnissen und Einkommensverhältnissen der Arbeiter angepaßt. Obwohl sie hygienischen und anderen Anforderungen besser entsprechen, sind sie regelmäßig wohlfeiler als die ortsüblichen Wohnungen gleicher Kategorie in Miethshäusern. Aber als ein noch schwerer wiegender Vortheil kann gelten, daß einem Angehörigen der Genossenschaft, wenn er seine Verpflichtungen erfüllt, nicht gekündigt werden kann, er dagegen seinerseits frei ist, die Wohnung zu verlassen. Er ist als Miteigenthümer des Genossenschaftshauses im sicheren Besitz der Wohnung, wie wenn er alleiniger Eigenthümer wäre, ist aber darum doch nicht an die Scholle gefesselt, sondern kann ihr unbehindert den Rücken kehren, wenn etwa ein Wechsel der Arbeitsgelegenheit es nöthig macht. Miethssteigerungen, die den Einzelnen auf das Härteste tref f en und der Arbeiterklasse die mit den größten Anstrengungen durchgesetzten Lohnerhöhungen zum guten Theil wieder rauben, kennt das im Hause seiner Genossenschaft wohnende Mitglied nicht. Gegen solche Gefahr geschützt, gesichert und unabhängig, ist er Herr in seinen vier Wänden und hat dabei das erhebende Bewußtsein, diese Vortheile sich und seinen Kameraden zu verdanken.
(...)

Die Wirkungen der hauswirthschaftlichen Reform

Die Resultate der Reform der Hauswirthschaft, wie ich sie im Auge habe, wären ganz bedeutende. jenem schädlichen Dilettantismus in der Küche - in nichts Anderem besteht die mit so viel Aufwand an Sentimentalität festgehaltene Thätigkeit der Hausfrau oder der Köchin - würde ein Ende bereitet, statt daß man ihn noch weiter auf einem so wichtigen Gebiet, wie die Ernährung des Menschen es ist, Unheil stiften läßt. Für die Kinder, selbst für die kleinsten, wäre das genossenschaftliche Leben von unberechenbarem Vortheil. Nicht nur, daß sie beschützt wären vom Einfluß der Straße und der traurigen Frühreife der Stadtkinder, sie würden auch zeitig den Geist der Brüderlichkeit in sich entwickeln lernen. Für die Frauen aber bedeutet die Wirthschaftsgenossenschaft eine der Grundlagen ihrer Befreiung. »Die Frau befreien heißt nicht ihr die Pforten der Universität, des Gerichtshofs, des Parlaments öffnen«, sagt Peter Krapotkin, »es heißt vielmehr, sie von dem Kochherd und dem Waschfaß befreien, heißt solche Einrichtungen treffen, die ihr gestatten, ihre Kinder zu erziehen und am sozialen Leben Theil zu nehmen.« Den Emanzipationskampf, den die Frau heute kämpft, wird sie niemals siegreich zu Ende führen können, wenn sie sich nicht vorher Zeit und Ruhe erobert hat und ihr Leben in Harmonie brachte zu ihren Bestrebungen. Erst, wenn die Frau nicht mehr unter doppelten Berufspflichten zu seufzen hat, bei denen sie sich körperlich und geistig auf reibt, wird sich auch ihre Arbeitsfähigkeit beurtheilen lassen. Wie die Dinge heute liegen, muß die verheirathete Arbeiterin immer hinter dem Mann zurückstehen, weil sie nicht wie er die Möglichkeit hat, in Stunden der Ruhe neue Kräfte zu sammeln. Für die geistige Arbeiterin gilt das ganz ebenso. Ihr Kopf, der angefüllt ist mit tausend kleinen Wirthschaftssorgen, kann nicht daneben noch klare über den engsten Interessenkreis hinausreichende Gedanken reifen lassen.
Aber auch noch eine Reihe anderer wichtiger Reformen würden durch die Umgestaltung der Hauswirthschaft befördert werden. So kann meines Erachtens eine Lösung der Dienstbotenfrage, solange die jetzigen Privathaushaltungen bestehen, nicht erwartet werden. Erst wenn die Dienstboten aus dem persönlichen Verhältniß zu ihrem Dienstherrn heraustreten und sich der Stellung der Fabrikarbeiterin annähern, wird davon die Rede sein können. Und das ist nur in Wirthschaftsgenossenschaften möglich, wo neben höherem Lohn und besserer Wohnung eine Regelung der Arbeitszeit durchführbar ist und die Kontrolle über das Thun und Lassen der Dienstboten seitens der einzelnen Hausfrauen wegfällt.
Eine andere Frage, deren Erörterung bisher nicht über das erste Anfangsstadium herausgediehen ist, dürfte gleichfalls - allerdings nur in der Folge sehr starker Ausbreitung von Wirthschaftsgenossenschaften - eine energische Förderung erfahren. Ich meine die Frage der Hausindustrie. Sobald die Sorge um Kinder und Haushalt die Frauen nicht mehr dauernd an das Haus zu fesseln braucht und dieser Vorwand auch von Denen nicht mehr aufrecht erhalten werden kann, die jetzt noch in jedem gesetzlichen Eingriff in die »vier Wände« ein Sakrilegium erblicken, sobald wird es auch erst möglich sein, mit aller Entschiedenheit gegen diesen Krebsschaden einzuschreiten.
Bedeutet das nun Alles »Umsturz«, »Auflösung der Familie« und wie die schönen Schlagworte noch alle heißen, mit denen man Philister zum Gruseln bringt?
Wir haben gesehen, wie die Hauswirthschaft unter dem Einfluß wirthschaftlicher Verhältnisse und technischer Fortschritte einer steten Umwandlung unterworfen war, bis sie zu dem jetzigen Rest zusammenschrumpfte. Wenn jetzt an Stelle des innerlich schon überwundenen Einzelhaushalts der genossenschaftliche Haushalt tritt, so liegt das im nothwendigen Gang der Entwickelung. Die Küche gewissermaßen zur Grundlage der Familie zu machen, indem man erklärt, daß sie mit ihr steht oder fällt, heißt den Begriff der Familie entweihen. Wäre es thatsächlich nichts als der Herd, der sie zusammenhält, so wäre sie werth, zu Grunde zu gehen. In Wirklichkeit liegt die Sache so: die äußere Form der Familie hat sich dauernd verändert. Das Feststehende im Wechsel ist das Verhältniß zwischen Mann, Weib und Kind. Seine Tiefe und Innigkeit entwickelt sich um so mehr, je mehr es losgelöst ist von äußeren Bedingungen. Im Alterthum war das Weib des Mannes unterwürfige Sklavin, die erste Verwalterin seines Eigenthums. In der Neuzeit hat er zumeist in ihr seine Haushälterin geachtet, die ihm, nach mehr oder weniger stürmischer Jugend, ein behagliches Zuhause schaffte. In Zukunft wird sie ihm Geliebte und Freundin zugleich sein, mit der er Freuden und Leiden theilt, bei der er volles Verständniß findet. Den Kindern aber, denen sie einst nur Pflegerin der Säuglingsjahre war, soll sie Erzieherin und Freundin werden.
Ist das Auflösung der Familie? Löst sich nicht vielmehr der jetzige Zustand auf, der die erwerbthätige Frau zwingt, sich körperlich und geistig zu Grunde zu richten, der den Mann in die Kneipe, die Kinder auf die Straße treibt?
Es sind jedoch nicht nur die Feinde der Frauenemanzipation, die auch unsere Gegner sind. Selbst aus den Reihen der Freunde tönen Bedenken aller Art hervor. Die Frauen der Genossenschafter, so heißt es, werden sich unter einander nicht vertragen; Zank und Streit und Klatsch wird der Sache ein klägliches Ende bereiten. Ich verkenne die Berechtigung dieses Einwands durchaus nicht. Es ist selbstverständlich, daß die Frauen, die in Folge ihrer schlechten Erziehung und ihrer Überlastung gar nicht die Möglichkeit hatten, für ernste Fragen des Lebens Interesse zu gewinnen, sich mit dem Thun und Lassen des Nachbarn beschäftigen, und eine Wirthschaftsgenossenschaft kann sie natürlich nicht mit einem Schlage ändern. Wohl aber wird sie sehr vielen Anlaß zu Klatsch und Streit aus dem Wege räumen, indem sie verhindert, daß der Eine die Wirthschaftsführung des Andern bemäkelt und ihm gewissermaßen in die Töpfe guckt. Sie wird auch nach und nach gerade nach dieser Richtung hin einen wichtigen erzieherischen Einfluß üben. Diejenigen freilich, die die ersten Wirthschaftsgenossenschaften ins Leben rufen und ein Vorbild schaffen wollen für Andere, sollten sich von vorn herein des Ernstes der Sache und der Verantwortlichkeit, die sie übernehmen, bewußt werden und sie nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Bei allen ähnlichen Bestrebungen in der Arbeiterschaft, sowohl den gewerkschaftlichen als den genossenschaftlichen, hat es sich bisher gezeigt, daß die Theilnehmer wohl im Stande waren, der Bedeutung der Sache auch durch ihr Benehmen volle Rechnung zu tragen. Es giebt thatsächlich wenig Empfindungen, die auf das sittliche Verhalten des Menschen von größerem Einfluß sind als das Verantwortlichkeitsgefühl; diese Erfahrung würde sich auch in unserem Fall nicht als trügerisch erweisen. Die schwankenden Einkommensverhältnisse der Arbeiter sind gleichfalls gegen die Idee der Wirthschaftsgenossenschaft geltend gemacht worden und gewiß nicht ganz mit Unrecht. Demgegenüber muß betont werden, daß zunächst nur etwas besser gestellte Arbeiter Genossenschafter werden können, daß aber auch die für sie immer bestehende Gefahr der Arbeitslosigkeit inmitten der Genossenschaft weniger drohend ist als außerhalb ihrer. Sie wird nicht nur leichter die Miethe stunden als irgend ein Hauswirth, sie wird auch ihr Mitglied dadurch vor dem schlimmsten Elend bewahren können, daß sie es nicht hungern läßt. Gerade dabei kann sich der genossenschaftliche Geist besonders lebenskräftig erweisen.
Wenn fernerhin von Seiten mancher Männer gesagt wird: »Was soll die Frau denn thun, wenn sie nicht kocht?!«, und manche Frauen selbst mit wahrer Zärtlichkeit an ihrer Küche hängen, so möchte ich nur bemerken, daß die Wirthschaftsgenossenschaft ja hauptsächlich solche Familien vereinigen soll, deren weibliche Glieder einem selbständigen Beruf nachgehen und Niemand, der sich von der Privatküche nicht trennen mag, dazu gezwungen werden kann.
Damit sind aber die Einwendungen gegen die Wirthschaftsgenossenschaften noch nicht erschöpft. Dieselben, die gegen jede genossenschaftliche Bewegung gerade aus den Reihen der fortgeschrittenen Arbeiter erhoben werden, machen sich auch hier geltend. Die Arbeiter werden, so heißt es, dadurch von ihrem Hauptziel abgelenkt; es werden Kräfte in Anspruch genommen, die der politischen Bewegung gehören sollten, und die Gefahr besteht, daß die Genossenschafter mit ihren eigenen Verhältnissen so zufrieden werden, daß sie an die Noth der Anderen vergessen und die Solidarität inmitten kleiner Gemeinschaften auf Kosten der Solidarität des gesammten Proletariats genährt wird.
Diese Gründe brauchen uns nicht zu schrecken, denn sie sind durch die Entwickelung widerlegt worden. Die hemmenden Elemente in der Arbeiterbewegung sind immer Diejenigen, die im Elend stumpf geworden sind. Die besser gestellten Arbeiter dagegen, die höhere Bedürfnisse in sich entwickeln konnten, sind stets die Bahnbrecher gewesen. Dabei sollte nicht übersehen werden, daß die Arbeiterbewegung desto verschiedenartigere Aufgaben stellt, je umfassender sie wird. Wie die gewerkschaftliche so ist auch die genossenschaftliche Bewegung nichts als eins ihrer Glieder, das in dem großen Befreiungskampf des Proletariats nothwendige Funktionen erfüllt.
Auch der Einwurf, daß es eine Kraftvergeudung ist, wenn man Reformen durchzusetzen sucht, die nur einem kleinen Kreis von Menschen zu Gute kommen, scheint mir hinfällig zu sein. Alle Reformen, auch die größten, haben klein angefangen und wer die natürlichen Entwickelungsgesetze des sozialen Lebens anerkennt, der muß ohne Weiteres zugeben, daß selbst große Umwälzungen mit fast unscheinbaren Bewegungen einsetzten: so ist z. B. aus dem kleinen Kramladen der armen Arbeiter von Rochdale die riesige englische Konsumgenossenschaftsbewegung herausgewachsen.
»Die kleine Privatküche«, sagt August Bebel in seinem Buch: Die Frau und der Sozialismus, »ist genau wie die Werkstatt des Kleinmeisters ein überwundener Standpunkt, eine Einrichtung, bei der Zeit, Kraft und Material in unsinnigster Weise vergeudet und verschleudert werden.« Er schildert dann eine Küche, die auf der Weltausstellung von Chikago im Jahre 1893 zu sehen war und in der durch Elektrizität geheizt, gekocht, gebraten und gespült wurde; »unsere Frauen«, so meint er, »greifen mit beiden Händen zu, wenn diese Küche der Zukunft gegen die jetzige eingetauscht wird«; er verlegt aber die gesellschaftliche Einrichtung der Nahrungsmittelbereitung, wie es z. B. Bellamy auch gethan hat, in die »Gesellschaft der Zukunft.« Nun ist es zwar auch meine Ansicht, daß der entgiltige Sieg der Wirthschaftsgenossenschaft über den Privathaushalt erst dann erfolgen kann, wenn an Stelle der kapitalistischen Wirthschaftsordnung die sozialistische getreten ist; aber ebenso wie die eine nicht plötzlich verschwinden und die andere nicht plötzlich entstehen wird, sondern die zukünftige sich vielmehr, wie der Schmetterling in der Puppe, allmälig entwickelt, bis sie, reif geworden, der absterbenden Hülle entschlüpft, ebenso wird die Ablösung des Privathaushalts durch die Wirthschaftsgenossenschaft nur nach und nach vor sich gehen können. Natürlich wird durch den ersten Schritt nicht gleich das ganze Land erobert werden, man muß ihn aber thun, wenn man es überhaupt erobern will.
Die männliche Arbeiterschaft sollte dabei auch mehr als bisher bedenken, daß die Gewinnung der Frauen für ihre Ideale eine Lebensfrage für sie sein kann. Der Augenblick könnte kommen, wo sie die, wie wir gesehen haben, rasch zunehmende Masse der weiblichen Arbeiter mit all ihrer geistigen Rückständigkeit wie eine Kette an ihrem Fuß empfinden werden. Um das zu verhindern, um die Frauen aus dem bleiernen Schlaf zu erwecken, der auf ihnen lastet, gilt es, sie auch von der Sklaverei des Hauses zu befreien.
Daß es mit dieser Befreiung allein nicht gethan ist, versteht sich von selbst. Nur Kurpfuscher pflegen dem Kranken Mittel zu verschreiben, die alle Gebrechen des Körpers heilen sollen.
Die Wirthschaftsgenossenschaft soll jenen Geist der Brüderlichkeit zur Herrschaft bringen helfen, ohne den eine Entwicklung zu besseren Zuständen nicht denkbar ist. Sie soll nur einen Stein jenes stolzen Zukunftsbaues bilden, den einst eine glücklichere Menschheit bewohnen wird.

Das Mutterschaftsproblem
[1906]

 

Aus allen Diskussionen über das Frauenproblem in Gegenwart und Zukunft schälte sich uns als innerster Kern immer reiner die Frage heraus: Wie weit vermag sich die Mutterschaft mit der Berufsarbeit des Weibes zu verschmelzen,? Ist die gesellschaftliche Stellung der Frau wie deren Widerspiegelung in den Beziehungen der Geschlechter in jeder anderen Hinsicht vorwiegend sozial bedingt und deshalb in Epochen heftiger wirtschaftlicher Umwälzungen, wie der unseren, starken Wandlungen unterworfen, so bleibt dagegen rein naturgeschaffen und somit anscheinend unwandelbar eine tiefe Gebundenheit des Weibes durch die Mutterschaft.
Hier muß man nun - meiner Anschauung nach - von vornherein einräumen, daß  die Perioden jeder Schwangerschaft und der Pflege des Kindes bis zum zweiten oder dritten Lebensjahre einer eigentlichen Berufsarbeit der Frau in weitesten Grenzen verloren gehen müssen. In weitesten Grenzen, wenn auch nicht absolut. Von entscheidender Bedeutung ist zunächst die Art der beruflichen Tätigkeit. Liegt sie auf geistigem, wissenschaftlichem oder künstlerischem Gebiete, so brauchen die weiblichen Kräfte auch während dieser Jahre mindestens nicht völlig brach zu liegen. Hier wäre eine gewisse Anpassung an die umgrenzte und unregelmäßige Arbeitszeit, wie an die schwächere physische Leistungskraft wohl möglich. Die Künstlerin, die Journalistin, die Lehrerin könnte in eingeschränktem Maße innerhalb der eignen Häuslichkeit auch in diesen Zeiten ihre Tätigkeit üben; die praktisch wissenschaftliche Arbeiterin dürfte jene Perioden beruflicher Muße zur Vertiefung und Erweiterung ihrer Studien, zur geistigen Sammlung nutzen. Immerhin bliebe dies alles - darüber müssen wir uns durchaus klar sein - nur Kompromiß. Für jeden an Arbeitskraft nicht mehr als durchschnittsbegabten Menschen wird eine starke Kraftausgabe nach einer Richtung hin, wie sie die Mutterschaft darstellt, notwendig einen Ausgleich nach anderen Seiten suchen, das heißt, die sonstige Schafensmöglichkeit verringern.
In jeder nichtsozialistischen Gesellschaft scheitert die soziale Befreiung der Frau unweigerlich an diesem Punkte, der sie dem Manne gegenüber konkurrenzunfähig erscheinen läßt. Wo dagegen die Mutterschaft als soziale Leistung bewertet wird, liegt für das Weib, rein materiell betrachtet, hier gar kein Problem.[1] Wohl aber bestände nach wie vor ein solches Problem für das Einzelindividuum vom geistig-psychologischen ebenso, wie für die Gesamtgesellschaft vom soziologischen Standpunkt. Denn hier erwächst naturgemäß die Frage nach dem Einschlag der Frauenarbeit in das Totalgewebe menschlicher Kultur.
Es ist ohne weiteres klar, daß die Lösung dieser Frage sehr abhängig ist von unseren Anschauungen über die mutmaßliche Steigerung oder Minderung der durchschnittlichen Kinderzahl unter dem Zusammenwirken der so vielf ach gewandelten Lebensbedingungen des modernen Weibes. Ich muß es mir versagen, hier näher auf das Problem des Neomalthusianismus einzugehen, den ich allerdings in irgendeiner Form für die unabwendbare Konsequenz sowohl jeder sozialistischen Gesellschaftsorganisation, wie jeder vollen Persönlichkeitsentf altung des Weibes halte; indes, auch ohnedies wird die Mehrzahl der Sozialisten, wie der modernen Frauen aus den verschiedensten Gründen meiner Ansicht zuneigen, daß die durchschnittliche Zahl der Mutterschaften in der Zukunft keine allzu hohe sein dürfte. Zu dieser Annahme berechtigt - ganz abgesehen von aller Theorie die einfache Lebenserfahrung, die fast überall mit einer Erhöhung des individuellen und sozialen Kulturniveaus der Frauen eine starke Verringerung der Kinderzahl aufweist.[2]
Ausgehend von dieser Grundlage, können wir wohl ohne allzugroße Willkür eine Zeit von etwa io bis 12 Jahren als die durchschnittliche Gesamtdauer der)enigen Lebensepoche des Weibes voraussetzen, die vorwiegend oder ausschließlich von der Mutterschaft erfüllt sein dürfte. Im Verhältnis zu der voll leistungskräftigen Periode des ganzen Menschenlebens scheint dieser Abzug nicht allzu hoch. Aber es ist dabei zu berücksichtigen, daß es sich gerade um diejenigen Jahre handelt, in denen körperlich und geistig, der Mensch in reifster Kraft und Fülle steht, die deshalb für sein Schaffen und Streben wahrscheinlich die reichsten Früchte tragen. Für den Wert und die Höhe der weiblichen Leistungen auf rein geistigen Gebieten scheint dadurch die Mutterschaft bis zu gewissem Grade ein nie zu besiegendes Minderungsmoment. Unabwendbar ist damit die Schlußfolgerung gegeben, daß schon aus dieser Ursache heraus im Vergleich zur Qualität männlichen Schaffens auf völlig gleichem Felde die Frauenarbeit niemals die volle Ebenbürtigkeit erlangen dürfte. Dieser für die Frauen recht traurigen Erkenntnis steht aber einschränkend eine andere Erwägung entgegen.
Je weiter die Frauenarbeit unsere geistige Kultur durchdringt, je tiefer sie in Praxis und Wissenschaft ihre Furchen zieht, desto klarer beginnen wir die intimen Wesensverschiedenheiten männlichen und weiblichen Wirkens zu begreifen. Desto klarer erkennen wir, daß Männer- und Frauendenken, wie Männer- und Frauenarbeit nicht ohne weiteres an einander meßbar sind, daß vielmehr die Bedeutung der Mitwirkung des Frauengeistes an dem Anschauungs- und Erkenntnisbesitz der Menschheit gerade auf dessen spezifischer Eigenart beruht. Heute vermöchten wir allerdings nur sehr andeutungsweise diese Besonderheiten herauszuschälen, den Kern der geistigen Geschlechtscharaktere aus dem historisch Gewordenen zu lösen; mit der immer freieren geistigen Entfaltung des Weibes jedoch werden die geistigen Triebe von selbst immer stärker in die ihnen wesensgemäßen Bahnen drängen und damit die der weiblichen Natur hervorragend angepaßten geistigen Lebensformen mehr und mehr herausentwickeln. Für unser gegenwärtiges Problem bedeutet dies: Trotz der Hemmungen der vollen Kraftentfaltung, die mit der Mutterschaft für die Frau gegeben sind und ewig gegeben sein werden, kann kraft der Besonderheit des weiblichen Wesens und Denkens die allgemeine Mitarbeit der Frau an der Menschheitskultur der Gesellschaft dennoch eine bisher nicht geahnte Fülle fruchttragender Entwicklungskeime bringen. Rein individuell betrachtet, bleibt dagegen eine starke Herabminderung der persönlichen Leistungsfähigkeit durch die Mutterschaft bestehen, eine Herabminderung, die umso intensiver hervortreten muß, je mehr geistige Elemente der Beruf in sich schließt. Für die große Mehrzahl aller Fälle indessen, in denen die Beruf sarbeit eine mehr oder minder rein physische bleibt, kann wenn die nötige Fertigkeit vorher einmal erlangt ist - auch eine längere Unterbrechung kaum eine allzu schwere berufliche Störung darstellen. Soweit also nur die Schwangerschaft und die Pflege des Kindes in den allerersten Lebensjahren in Betracht kommen, werden zwar vielfach neue Anpassungsformen der weiblichen Arbeit an die Mutterschaftsforderungen entwickelt werden müssen: die Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit allgemeiner beruflicher Tätigkeit der Frau aber ist dadurch kaum gehemmt. Absolut entscheidend für das Frauenberufsproblem sind dagegen unsere Anschauungen über die weitere Erziehungsgestaltung, das heißt die Frage, ob wie so vielfach behauptet wird - die Mutter nicht in der Tat die unersetzliche, gleichsam von der Natur bestellte Pflegerin und Erzieherin des Kindes auch nach dessen allerersten Lebensjahren bleibt. Mit der Beantwortung dieser Frage im bejahenden oder verneinenden Sinne fällt oder steht naturgemäß das Berufsproblem der Frau.
An diesem Punkte verläßt nun notgedrungen unsre Untersuchung ihren bisherigen Weg und wendet sich nach einer anderen Seite. Denn die Richtungslinien zukünftiger jugenderziehung werden nicht bestimmt durch die schwankenden, sentimentalethischen Wünsche der Menschen von heute; sie werden nicht bestimmt durch individuelle Gefühle, wie etwa die Sehnsucht der Mutter nach einem dauernden Zusammensein mit ihren Kindern; sie sind vielmehr einzig gegeben durch die allgemeinen sozialen Triebkräfte, die sich in unseren Erziehungsidealen und -forderungen, wie in allen anderen Kulturideen bewußten Ausdruck schaffen. Das heißt: das Ausschlaggebende ist hier nicht das Interesse der Frauen, sondern das der Kinder. Das Interesse der Kinder, das sich ergibt und emporwächst aus dem modernen Ideal des Menschentums, aus dem allgemeinen sozialen Ideal. Es gilt also, den Anfängen einer wirklich modernen Erziehungslehre nachzuspüren, die herausgeboren ist aus den Entwicklungsbedürfnissen der reifenden höheren Organisationsform der menschlichen Gesellschaft.
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Jedem, der überhaupt einmal versucht, die Seele des Kindes zu studieren, der Art seines Denkens, seinem inneren Leben nachzugehen, jedem, der je Kinder beobachtethat, ihren Bewegungs- und Betätigungsdrang, ihre natürliche Neigung zu konkretem Sehen, zum Anschauen von Tier- und Pflanzenleben, zum Auf gehen in der Natur, drängt sich immer von neuem der krasse Widersinn unserer Erziehungsmethode, die ganze Unnatur des Lebens der Jugend in Schulund Häusermauern auf. Ich schweige völlig von der Volksschule, wie von dem unsäglich traurigen Dasein städtischer Proletarierkinder in engen Stuben und schmutzigen, sonnenlosen Gassen. Ich spreche nur von den Kindern der Besitzenden, mit deren sogenannter »Erziehung« in Worten und Theorien gerade jetzt beinahe ein Kultus getrieben wird. Wie sieht diese Erziehung aber in praxi aus! Welche Sinnlosigkeit liegt in dem nie endenden Lernzwang, dem ewig unfreien, einseitig überhasteten, naturentfremdeten Aufwachsen der Kinder in den Städten! Das ist nicht Entfaltung; es ist fortgesetzte Unterdrückung aller physischen und geistigen Lebenstriebe. Wie anders wäre das Bild einer organisch aufbauenden Erziehung! Wo der kindliche Geist nur mit Zwang und Widerwillen verstandesmäßiges Wissen, blutleere Formeln und Abstraktionen in sich aufnimmt, wo der jugendliche Körper nur unter stetem Widerstreben Jahr um Jahr auf der Schulbank festgehalten werden kann, da würde aus den tausend Beobachtungen draußen in freier Natur, in Wald und Feld, der natürliche Erkenntnisdrang immer neue Nahrung saugen, der Geist sich Wissens- und Anschauungsformen in eigener organischer Tätigkeit angliedern; da könnte selbständiges geistiges Leben und individuelle Begabung zu ihrem Rechte kommen, und das Lernen würde wieder zu einem schrittweisen, sokratischen Selbstentwickeln. Und wie die Geisteskräfte, so würden Muskeln und Nerven sich draußen in gesunder Arbeit, in Wind und Wetter, stählen, der Jugend in fröhlichem Wettkampf auch physische Tüchtigkeit, vor allem aber Ehrfurcht vor der Arbeit und das Bewußtsein der Arbeitsverpflichtung erwachsen.
Um sich den Zielen einer solchen Sozialerziehung zu nähern, um nicht zu lehren, sondern, der Selbstentwicklung nachgehend, langsam zu bilden, dazu bedürfte es aber eines weitgehenden Erziehungseinflusses hervorragender Lehrerpersönlichkeiten, dazu bedürfte es der Zeit, um Arbeit und Unterricht, Sport und Wanderungen zu vereinen, dazu bedürfte es vor allem des Miteinanderlebens der Jugend, des Aufgehens in einem zusammenhängenden sozialen Organismus. Das heißt also: dies alles forderte einen Erziehungsplan, der das Leben des heranwachsenden Kindes in weit ausgedehnterem Maße beherrscht und erfüllt, als unsere heutige Schule, der damit den Zentralpunkt des Kindeslebens aus dem elterlichen Hause hinaus in den großen Kreis der Jugendgenossen verlegt.
Und damit sind wir zu unserm eigentlichen Ausgangspunkt zurückgelangt. Allerdings bedeutet all das noch nicht die Notwendigkeit oder auch nur Wahrscheinlichkeit einer völligen Trennung des heranwachsenden Kindes von der Mutter. Immer noch könnte ein Teil des Tages, insbesondere die Abend- und Ruhestunden, die einzelnen wieder in die mütterliche Häuslichkeit führen. Immer noch könnte unter den mannigfachsten Formen den Eltern Anteilnahme und Einfluß an der Erziehung gesichert sein, so daß dennoch ein dauerndes und inniges Zusammenleben Eltern und Kinder vereinte. Aber es ist klar - und das ist der springende Punkt für unser Problem -  ein so weit gedehnter Beschäftigungskreis der Jugend in öffentlichen Erziehungsheimen, wie wir ihn als Grundlage der Zukunftserziehung annehmen, müßte der Mutter rein zeitlich außerordentlich viel von ihrem Wirkungskreis entziehen und einen bedeutenden Teil ihrer Kraft für eine berufliche Tätigkeit freisetzen.
Nun ist allerdings dieses Endresultat, wie unsere ganze Beweisführung, hinfällig für den, der an die hier vorausgesetzte Entwicklungsrichtung der pädagogischen Anschauungen nicht glaubt. Vor allem werden die Fanatiker der mütterlichen Erziehung uns sofort entgegenhalten, daß kein noch so großer Fortschritt der pädagogischen Methoden, keine Steigerung er physischen Kräfte des Kindes, ja selbst keine Erhöhung seiner Freiheit und Ungebundenheit je imstande sein können, das Wirken der Mutter, ihr Eingehen auf die kindliche Seele und Eigenart, zu ersetzen. Sie werden zum hundertsten Male behaupten, daß dennoch das beste jugendglück der Kinder ertötet, ihre seelische Entwicklung gehemmt werden muß, sobald man ihnen die stete, liebevoll sorgende Gegenwart der Mutter entzieht. Steht man auf diesem Standpunkt, glaubt man durchaus an die unfehlbare pädagogische Weisheit jeder Mutter, an die naturgeborene Vollendung ihrer psychologischen Fähigkeiten, sobald sie im Dienste des eigenen Kindes stehen - dann allerdings muß notwendig auch die gesellschaftliche Schätzung der Frauenberufsarbeit eine andere sein. Dann wird keine sonstige Tätigkeit des Weibes - und schüfe sie für die Gesellschaft noch so hohe Werte - an sozialer Bedeutung der mütterlichen Erziehungsaufgabe zu gleichen scheinen. Dann wäre folgerichtig auch zu wünschen, daß selbst nach Aufhebung der Einzelehe als der alleinigen Grundform des Gesellschaftsbaues der Hauptberuf jeder Frau während der längsten Periode ihres Lebens die Pflege und Erziehung ihrer Kinder bliebe, und zwar natürlich als eine jeder andern gleich gewertete und gleich entlohnte Leistung.
In dieser Frage steht sich nun Anschauung und Anschauung gegenüber, ohne daß es im Grunde irgend ein Mittel gäbe, sie anders, als durch spekulative Betrachtungen zu klären. Denn hier ist es tatsächlich noch weit schwieriger, als bei rein wirtschaftlichen Gebilden, unanfechtbare Erfahrungsresultate aus den schon bestehenden Keimbildungen für spätere Organisationsformen zu gewinnen. Deshalb schwieriger, weil hier mehr noch, als dort, solchen Keimbildungen gesunde Entfaltungsmöglichkeiten mangeln, und die ihrem Organisationsprinzip feindliche Umwelt ihre Wirkungskraft von allen Seiten lahmlegt. So hat es eine irgendwie maßgebende Erfahrung für eine soziale Erziehung in dem geschilderten Sinne kaum je bisher gegeben. Wo leise Anfänge existieren, da sind sie viel zu wenig ausgedehnt, viel zu abhängig von heutigen staatlichen und gesellschaftlichen Forderungen aller Art, als daß ihre Bedeutung zu voller Geltung kommen könnte. Vor allem aber könnte ihr erzieherischer Einfluß erst dann vollendet hervortreten, wenn ihre innerste Grundlage, der Geist des Gemeinsinns und sozialen Pflichtbewußtseins, im Einklang wäre mit dem Gesamtleben der Gesellschaft. Auf der anderen Seite stehen wir so sehr unter dem Druck des Jahrhunderte lang genährten Gewohnheitsgef ühls, sobald an den uralten Fetischismus von Mutterliebe und Mutterkraft auch nur gerührt wird, daß selbst dem objektivsten Beobachter in diesem Punkte meist ein verschwommener Gefühlsnebel die Klarheit des Blickes trübt. Und die durch diesen rosenroten Nebel hindurch die wahren Linien des Bildes nüchterner zu sehen glauben, trifft dann allzu leicht der Vorwurf, unnatürlich oder degeneriert zu empfinden. Genauer betrachtet, gibt es indessen für uns Kulturmenschen, wie oft richtig bemerkt worden ist, gar kein natürliches oder unnatürliches, sondern nur ein historisch gewordenes Empfinden. Wir können also nicht fragen: Entspricht es den natürlichen menschlichen Instinkten, daß die Eltern, respektive die Mutter, mit den Kindern bis zu deren Reife dauernd zusammen leben? Als vielmehr: Ist für unsere heutigen Lebensformen, für das Glück unserer Kinder, wie für unser Weib- und Muttergefühl ein solches Zusammensein durchaus notwendig?
Und ich muß gestehen: Unter diesem Gesichtswinkel erscheinen mir die sentimental fanatischen Lobpreisungen des mütterlichen Einflusses mindestens sehr im Widerspruch mit den wirklichen Tatsachen. Schon Oda Olbergs Behauptung, das Hegen und Pflegen der kleinen Kinder sei ein unbedingtes »Lebensbedürfnis« jedes Weibes, halte ich für außerordentlich anfechtbar. Wenigstens möchte ich demgegenüber fragen, weshalb denn beinahe ausnahmslos jede wohlhabendere Frau sich schleunigst bezahlte Kräfte zur Pflege ihrer Kinder engagiert und das Selbsthegen und -pflegen höchst entsagungsvoll auf ein gelegentliches Küssen und Verzärteln der Kleinen beschränkt. Was man auch sonst von der Lebensführung der reichen Bourgeoisdamen denken möge, es ist doch schließlich nicht anzunehmen, daß sie sämtlich in ihren Welbinstinkten so völlig degeneriert sein sollten, um die allgemeinsten mütterlichen Gefühle nicht mehr zu empfinden. Die Neigung zum Hegen und Pflegen der Kinder ist eben, genauer besehen, eigentlich nur die spielerische Neigung zum Hätscheln der anschmiegenden, zärtlichkeitsbedürftigen Geschöpfchen, die noch so gar keine Regungen zu unbequemem Selbständigkeitsdrang bekunden. Das ist wohl auch der eigentliche Grund, weshalb die Mütter »nur mit stillem Herzeleid die Kinder ihrer Pflege entwachsen« und groß werden sehen. Herangewachsene Kinder sind sehr viel anspruchsvoller. Sie wollen nicht mehr bloß geliebt und um der lieben Eitelkeit willen geistig und physisch herausstaffiert sein. Sie stellen - und zwar ganz abgesehen von den Erziehungszwecken, die der Erwachsene ja in ihr Leben erst hineinträgt - an ihre Umgebung selbst gewisse Forderungen. Sie verlangen persönliches Verständnis, Anteilnahme an ihrem krausen, für den weltreifen Menschen höchst seltsamen Innenleben oder auch ruhiges, passives Gewährenlassen.
Sind es nun diese Eigenwünsche der Jugend, denen gerade nur die Mütter volle Gewährung verheißen? Die Antwort geben uns die Erfahrungen des Lebens. Sind es wirklich die Mütter, die die Seelenkämpfe ihrer jungen Töchter und Söhne mit ihnen durchkämpfen? Gibt es eine so große Zahl., wenigstens unter den gebildeten und nicht arbeitsüberlasteten Frauen, die auch nur ahnen, was in den Seelen ihrer Kinder vorgeht, die mit ihnen wachsen, die die gärenden Kräfte, die vage und irrende Sehnsucht der Jugend begreifend und bewußt in feste Bahnen zu lenken suchen? Oder machen sich allzuviele dieser naturgeborenen Erzieherinnen auch nur jemals die Grenzen und Möglichkeiten bewußter Erziehung klar?
Die geistige Entfaltung ist, wie das körperliche Reifen, ein Wachsen und Werden, ein langsames Sicherschließen der Seelen- und Geistestriebe, deren Keime von Geburt an in uns schlummern. Im Tummeln und Spielen, im Sinnen und Träumen, in all den losen Phantasien, die uns Erwachsenen oft so zusammenhanglos und närrisch dünken, erblüht das geistige Leben des Kindes, und wessen es bedarf, das ist auch in geistiger Hinsicht in erster Reihe: Freiheit, Licht und Sonnenschein. Heißer, als der bewußt ringende reife Mensch, begehrt das Kind Heiterkeit und sorgenlose Stille, die es braucht, um die heranstürmenden Eindrücke der Außenwelt in sich aufzunehmen. Nun mag sicherlich manchem Schoßkind des Geschicks solch wolkenlos heiterer Sonnenglanz die Jugend im Elternhause vergoldet haben. Aber daß das Familienheim an sich, das stete Miteinandersein von Eltern und Kindern sonderlich geeignete Bedingungen schüfe, Ruhe und Frohsinn um das Kind zu breiten, wird schwerlich irgendwer behaupten wollen. Gerade, weil das Kind mit unlöslichen Gefühlsbanden an Eltern und Geschwister gekettet ist, muß es alle Sorgen und Kümmernisse, allen Schmerz und alles Seelenleid der Angehörigen mittragen helfen, und die Liebe zu ihnen wird deshalb den allermeisten Menschen weit weniger zu einer Quelle des Glückes, als zu einem unversiegbaren Born des Leidens und der inneren Unfreiheit. Ich bestreite gewiß nicht, was Hartwig in einem Frauenpolemikartikel behauptet, daß die Zärtlichkeit und die innige Zuneigung der Mutter dem Kinde auch ein tiefer Glücksbesitz ist und in manchen Momenten der Hingebung ein Gefühl der Geborgenheit auslöst, das kaum durch etwas anderes ersetzbar wäre[3] ja, ich füge hinzu: wahrscheinlich ist sogar das Glücksempfinden der Mutter in Gegenwart eines geliebten Kindes ein noch viel intensiveres, und könnte oder wollte man es ihr rauben, man würde die Menschheit um eine ihrer herrlichsten Empfindungen verkürzen. Aber Hartwig irrt vollkommen, wenn er wirklich glaubt, um diese Liebe wachzurufen, bedürfe es des unaufhörlichen Beisammenseins, oder dies Aneinanderhocken wirke etwa stets vertiefend auf das kindliche Gefühl. Sehr viel eher wirkt es verweichlichend. Das Kind, mit überzärtlichen Worten von der Mutter über jeden leisen Schmerz getröstet, verlernt, sich den Härten des Lebens, wie den Pflichten gegen andere anzupassen und wird in der lauen Zärtlichkeitsatmosphäre leicht zum Schwächling und Egoisten. Die Mutter umgekehrt wird durch das stete Zusammensein, durch die ewige Unruhe und Inanspruchnahme, die ihr kaum jemals Zeit zur Selbstbesinnung läßt, naturgemäß oft nervös und ungeduldig. Und ihre überreizung wird nicht, wie man vielleicht denken sollte, gemindert, sondern erhöht durch die scheinbare Unabhängigkeit in ihrer Beschäftigung. Eine Unabhängigkeit, die in Wahrheit nur Unregullertheit und Ziellosigkeit ist und darum das unschätzbare psychische Äquivalent jeder noch so schweren beruflichen Anstrengung, das befreiende Gefühl methodisch kraftvoller Tätigkeit, durchaus vermissen läßt. Deshalb wäre es ganz und gar nicht, wie Fischer meint, unbedingt unerquicklicher für jede Frau, eine größere Zahl fremder Kinder während so und so vieler Stunden des Tages zu pflegen und zu beschäftigen, als ununterbrochen die eigenen zu hüten4. jedenfalls wirkt die »Nervosität« der Mütter, die ohne anderweitige Entlastung den ganzen Tag um ihre Kinder sein müssen, auch auf diese selbst nicht eben erquicklich. Sie prägt sich zuweilen in unmotivierten Heftigkeits-, wie in ebenso unmotivierten Zärtlichkeitsausbrüchen aus, läßt die Kinder unter dauernd wechselnden Stimmungen leiden oder fordert von ihnen um der Ruhe der Mutter willen Unterdrückung ihrer lärmenden Fröhlichkeit und Bewegungslust. Ganz besonders weiß die häusliche Erziehung gar nichts Rechtes mit den noch nicht schulpflichtigen Kleinen anzufangen, die gewöhnlich das ganze Haus tyrannisieren, überall stören, überall unnütze Arbeit bereiten, alle Zärtlichkeit oft mit unwilliger und störrischer Laune erwidern, weil sie ganz anderer Dinge bedürfen, als sie ihnen das Famillenheim zu bieten vermag. Mit Altersgenossen in weiten Gärten und Spielplätzen vereinigt, wo es sich tummeln, Tiere und Blumen beobachten könnte, würde auch das 3- bis 7jährige Kind für viele Stunden des Tages sehr gern die Mutter entbehren. Beglückt es doch bekanntlich anfangs sogar die meisten Kleinen, wenn sie aus der Langeweile des Hauses in die Schule entrinnen dürfen, obgleich vorläufig dort wirklich nur öde und Zwang ihrer harrt.
So, scheint mir, vereint sich vollkommen das Interesse der Mutter mit dem des Kindes, wenn nach dessen allerersten Lebensjahren die rein mütterliche Pflege in weitem Umf ange zu gunsten anderer gesellschaftlicher Institutionen zurücktritt, die in vollkommenerer Weise, als das Haus, dem Kindesleben angepaßte Entwicklungsbedingungen schaffen könnten. Die Frau aber gewänne volle Muße zu einer Berufstätigkeit, die allerdings nicht, wie heute, ein wahnsinniges und ruheloses Hetzen bedeuten kann, und - weit entfernt, daß dadurch die naturgegebene Zärtlichkeit zwischen Mutter und Kind ertötet werden müßte, würde die Liebe zwischen ihnen in den selteneren Stunden des Miteinanderseins, den Feststunden des Lebens, nur umso voller erblühen.Undebensowenigbrauchte dadurchdereinflußdermütterlichen Persönlichkeit auf die geistige und seelische Entwicklung des Kindes geringer zu werden. Wo die Natur sie entsprechend begabt hat, das heißt, wo gleich gerichtete Individualitäten auf einander treffen, da bedarf es bei dem natürlichen Liebesinstinkt zwischen Eltern und Kindern durchaus nicht des steten Beisammenlebens, um sie in persönlichem Mitempfinden zu verknüpfen, wie trotz eines schweren Berufes auch heute oft genug der Vater den Kindern seelisch weit näher steht als die Mutter.
Die Entwicklung der ganzen Frauenberufs-, wie der Ehe- und Hauswirtschaftsfrage, stellt jedenfalls ein vorzügliches Beispiel dafür dar, wie infolge des Wirkens gewisser wirtschaftlicher Kräfte soziale und psychische Strömungen zugleich von den verschiedensten Seiten her in einen Punkt zusammenzufließen pflegen, um mit vereinter Gewalt die Gesellschaft nach einer bestimmten Richtung vorwärts zu drängen.
Und dennoch, so klar für unsere Anschauungsweise dies alles sich darzustellen scheint: welch tiefe Meinungsdifferenzen auch im Lager der Sozialisten in dem Erfassen des Frauenproblems! In Wahrheit tiefere noch, als sie nach außen in Erscheinung treten. Der innere Grund dieses zögernden Mitgehens auch revolutionär denkender Köpfe gerade in dieser Frage liegt wohl in der heftigen Gefühlshemmung, die alle Vorstellungen einer starken Veränderung der persönlichen Beziehungen der Menschen begleitet. Denn sicherlich, so manche tiefe Empfindungswandlung würde das psychische Bild des Weibes in seinen Linien verändern, wenn wirklich die soziale Entwicklung in Bezug auf Eheund Familiengemeinschaft die Bahn verfolgt, die wir vorauszusehen glauben. Und mit dem psychischen Bild des Weibes wird das Geistes- und Seelenleben des Mannes eine Umprägung erfahren. So vollzieht sich, gewaltiger fast, als die wirtschaftliche Revolution, in der wir stehen, um und mit uns langsam eine Auflösung tausendjähriger Gefühlstraditionen, und aus den Tiefen des sozialen Lebens tauchen, verhüllt noch und verschwommen, die Umrisse einer neuen Welt.

Die proletarische Frau und die Berufstätigkeit
(1905)

 

In gewissen Perioden menschlichen Fortschritts treten stets Erscheinungen auf, die auch die)enigen, die mit ihrem Sein und Denken in dem Kampf um höhere Gesellschaftsformen aufgehen, zeitweilig als Gegner jenes Fortschrittes erscheinen lassen. So ist die Tatsache nicht abzuleugnen, dass auch Sozialdemokraten, trotz programmatischer Bestimmungen und theoretischer Lehren über die Gleichberechtigung der Frauen, leider nur zu oft zu Darlegungen kommen, die sie anscheinend zu Gegnern der Gleichberechtigung der Geschlechter im wirtschaftlichen und politischen Leben machen. Das Verhalten weiter Kreise von Anhängern der sozialdemokratischen Partei - über deren theoretische Anschauung in Sachen des gleichen Rechtes für Mann und Weib kein Zweifel bestehen kann -bei dem leisesten Versuch der praktischen Durchführung dieses Grundsatzes, auch innerhalb der bescheidenen Grenzen, in denen dies heute möglich ist, zeigt uns die gleiche Rückständigkeit, wie sie eigentlich sonst nur bei reaktionär Empfindenden anzutreffen sein dürfte.
Ein derartig Rückständiger aus dem eigenen Lager, Genosse Edmund Fischer, bietet uns durch seine Ausführungen in dieser Zeitschrift die willkommene Gelegenheit, auch einmal die Ansicht der proletarischen Frau über die Emanzipationsbestrebungen des weiblichen Geschlec,its zum Ausdruck zu bringen. Noch immer plagt nämlich manche Gemüter der Zweifel, ob es zulässig sei, dass auch die verheiratete Frau Berufsarbeit leiste, oder ob es nicht im Interesse der Gesamtheit geboten sei, diese Möglichkeit so viel als möglich einzuschränken, gerade so wie die Kinderarbeit, und die Frau und Mutter lediglich auf ihren Naturberuf zu verweisen. Bei diesen, scheinbar dem Interesse für das Fortbestehen der heutigen Famillenform sich ergebenden Bedenken treten dem Unbefangenen sofort verschiedene Widersprüche entgegen.
Zuvörderst ist doch die verheiratete Frau ein erwachsener und, allen antiquierten, sie rechtlos machenden Gesetzen zum Trotz, selbständiger Mensch, dem man es überlassen sollte, in eigener Sache selbst zu urteilen. Dann sind Frauenberufsarbeit und Kinderarbeit zwei an sich so verschiedenartige Dinge, dass ein denkender, vorgeschrittener Mensch keine Parallele zwischen beiden ziehen sollte. Die Kinderarbeit ist durch gesetzliche Verbote unbedingt auszumerzen; sie ist nicht nur eines jener vielen Übel unserer kapitalistischen Gesellschaft, sondern sie ist eine Barbarei an sich und ein Hindernis und Hemmnis für die Regelung der Arbeitsbedingungen im Interesse der Arbeiter. Die Beruf stätigkeit der Frauen ist jedoch eine wirtschaftlich notwendige Vorbedingung für deren persönliche Selbständigkeit, deren volle Menschwerdung.
Man erhebt nun den Einwand, dass auch nur die Beruf sarbeit der verheirateten Frau als Missstand anzusehen sei, weil diese die Hausfrau und Mutter der Familie entziehe und allmählich zur Auflösung der Familie führen müsse. Und nur die äusserste Not, ein zu geringer Erwerb des Mannes, könne als Entschuldigung für die Erwerbsarbeit der Frau dienen; das Ziel aller Sozialdemokraten müsse sein, die Frau der Familie wiederzugeben. Es wäre demnach die Frage aufzuwerfen: Ist die Frau bei den heutigen Lebens- und Arbeitsbedingungen, durch Aufgabe jeder Berufsarbeit und mit Aufopferung aller ihrer geistigen und körperlichen Kräfte nur für den Haushalt, in der Lage, ein ideales Familienleben herzustellen? Ich sage: Nein, denn Vorbedingung dafür ist nicht nur das Schalten und Walten der Frau im Hause, sondern das Zusammenwirken aller Kräfte, vor allem auch des Mannes, ganz speziell bei der Erziehung der Kinder. Hierbei empfindet gerade die Frau des Arbeiters so häufig die zu lange Abwesenheit des Mannes vom Hause als einen übelstand, durch den die gemeinsame Beratung über wichtige Erziehungsfragen und ähnliches zur Unmöglichkeit wird.
Wer da behauptet, dass innerhalb der Arbeiterinnenbewegung der Emanzipationsgedanke nicht lebendig sei oder doch nicht vorherrsche, der hat sich noch nicht klar gemacht, welche Umstände es waren, die die Bewe£run£r überhaupt hervorriefen. Nichts anderes war es, als der le~haite Wunsch der Arbeiterinnen, zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit und politischen Gleichberechtigung zu 2elaneen. Niemand bemisst heute den Wert der Hausfrauenarbeit für den Einzelhaushalt so hoch, wie den auch der einfachsten und schlechtestbezahlten Beruf sarbeit. Das ist sicher einer der Faktoren, welche die Frauen mehr und mehr veranlasst, sich neben der Hausarbeit nach Erwerbsarbeit umzusehen. Dem Manne aller Schichten dünkt in der Regel diese eintönige, sich täglich wiederholende Hausarbeit unnütz und auch wohl ein wenig verächtlich: Was habt ihr Frauen denn auch gross zu arbeiten? Das ist die landläufige Antwort des Mannes auf die Klage der durch Hausarbeit übermüdeten Frau. Und welche Empörung ruft es bei ihm hervor, wird ihm einmal eine dieser gering geschätzten Arbeiten zugemutet! Es sind wirklich nicht die schlechtesten Elemente unter den proletarischen Frauen, denen es auf die Dauer nicht genügt, nur das gute Haustierchen zu sein, das lediglich dem Wohlbehagen des Hausgenossen dienen will, ohne selbst einen Anteil an höheren, grösseren Aufgaben bei dem Vorwärtsstreben der Menschheit zu haben.
Die Mitarbeit der Frauen, und speziell auch der verheirateten an der industriellen Entwicklung Deutschlands ist bereits ein beträchtlicher, die Zahl der erwachsenen arbeitenden Frauen ist im fortwährenden Steigen begriffen, wie die offizielle Statistik für das Deutsche Reich nachweist. 1899 betrug die Zahl der erwachsenen Arbeiterinnen 501021, 1900 522578, 1901 537175, 1902 68o goo. Und wer noch daran zweifeln wollte, dass unter diesen erwachsenen Arbeiterinnen der Prozentsatz der Verheirateten ebenfalls stetig ansteigt, der brauchte nur in einem einzigen Textilarbeiterbezirk Umschau zu halten, um sich von dieser Tatsache zu überzeugen. Im Geraer Bezirk sind 40% der Arbeiterinnen verheiratet. Einem Volksvertreter eines industriellen Kreises sind diese Dinge schwerlich fremd. Zur Genüge bekannt ist aber auch, dass ganze Industriezweige auf die leichte Hand und die Fingerfertigkeit der Frauen angewiesen sind, dass diese bei einer ganzen Anzahl industrieller Arbeiten unentbehrlich geworden sind und die weitere Entwicklung dieser Gewerbe direkt gehemmt würde, sollten gerade die geübtesten, die älteren Arbeiterinnen keine Beruf sarbeit mehr leisten dürfen. Wie bei so eklatanten Beweisen noch jemand mit der Behauptung kommen kann, es ginge die Entwicklung der Frauenarbeit nicht vorwärts, sondern zurück in den häuslichen Schmollwinkel, das ist schwer zu begreifen.
Wie nun richten sich die 40% der Geraer und ein Teil der Lausitzer Arbeiterinnen ein, deren erste Aufgabe es ist, ihre Beruf sarbeit zu tun? Es sind bekanntlich gerade unter den Textilarbeitern nicht immer und überall die Arbeiterinnen, welche die niedrigsten Löhne erhalten; sondern bei bestimmten Arbeiten stellt sich das Verhältnis so, dass der Mann 8 bis 12, die Frau dagegen 12 bis 18 Mark verdient. Hieraus ergibt sich von selbst die Erklärung dafür, daß die Frau, die besser entlohnte, ihre Arbeit auch nach der Verheiratung beibehält. Eine Anzahl dieser Verheirateten tut sich zusammen, für die dann ein älteres Ehepaar das Essen bereitet und wohl auch die nötigen Auf räumearbeiten im Heim der jungen Leute besorgt. Und ebenso werden dann älteren Frauen, die ihren Erwerb in der Fabrik nicht mehr finden können, die Kinder zur Pflege übergeben. Alle Teile stehen sich leidlich gut bei dieser, allerdings sehr unvollkommenen Form eines genossenschaftlichen Haushalts, der nur eines verständigen Ausbaues bedürfte, um zu erweisen, dass die hauswirtschaftliche Genossenschaft kein »utopistischer Traum« ist, »der an der psychologischen Beschaffenheit des Menschen  - allezeit scheitern wird«. Es zeigen diese Dinge aber auch, dass die heutige Familie durchaus nicht den Einzelhaushalt bedingt. Widerlegt ist damit auch jene Behauptung, es zögen neun Zehntel aller Frauen die Knechtschaft des Hauses der Berufsarbeit vor. Sie wählen jene Arbeit, welche am höchsten bewertet wird, das ist in den meisten Fällen die Berufsarbeit, und sie entgehen bei dieser Wahl jener Qual, jener doppelten und dreifachen Arbeitslast, welche die im eigenen Heim, in der Hausindustrie arbeitende Frau zu tragen hat. Hier sind wir bei dem Kern der Sache angelangt: Was erstrebt werden soll und muss, ist die Befreiung der Proletarterin von der Überarbeit. Die Frau der Zukunft wird sich einen Beruf wählen, und zwar ganz nach ihren Fähigkeiten und Neigungen, sie wird entweder Beruf sarbeiterin oder Kinderer~zieherin oder Haushälterin sein, nicht aber alles zugleich sein müssen, wie die heutige Proletarierfrau. Nur hierin, in der dreifachen Arbeitslast, liegt die Schwierigkeit, die heute den meisten Menschen so unüberwindlich scheint. Wie aber die heutige Hausfrau nicht mehr, gleich unseren Grossmüttern, Hausindustrielle für den Hausbedarf zu sein braucht, weil die Grossindustrie alle Bedarfsartikel billiger und besser liefert, so wird man auch allmählich erkennen lernen, dass es eine Kräfte- und Materialvergeudung ist, Einzelhaushalte zu führen. Die untüchtigste Hausfrau wird vielleicht auf einem anderen Arbeitsgebiete das Beste zu leisten vermögen.
Wer da meint, es werde, wenn die Hausarbeit berufliche Regelung erfahre, diese doch wieder den Frauen zufallen, der übersieht, dass, soweit sich die Teilung bereits vollzogen hat, es nicht mehr als selbstverständlich angesehen wird, dass wiederum jede, auch die schwerste Hausarbeit, wie Waschen, Plätten, Fensterputzen u. s. w., den Frauen zufällt. In unseren Grossstädten werden von den Reinigungsinstituten ausschliesslich Männer als Fensterputzer angestellt; die Wäschereinigung entwickelt sich ebenfalls zur Berufsarbeit welche von Männern geleistet wird, soweit sie Fabrikarbeit mit Maschinenbetrieb ist. In Amerika aber wird der Plättereiberuf vorwiegend von Männern ausgeübt. Diese Dinge haben sich ganz allmählich so entwickelt; es haben bisher auch die ärgsten Eigenhaushaltsfanatiker sich nicht dagegen gewandt, dass der Waschmeister das Reinigen der Wäsche an Stelle der Hausfrau überwacht. Und auch bei der Fensterreinigung hat bisher niemand die hausfrauliche Hand vermisst. So wird sicher allmählich auch die Einbildung verschwinden, dass unter allen Umständen der eigene Herd Goldes wert sei. Denn, ob jene intelligente Textilarbeiterin, welche mit ihrer Berufsarbeit um ein Drittel mehr, als der Mann, erwirbt, auch eine gleich tüchtige und so sparsame Hausfrau sein würde, die mit der alleinigen Einnahme des Mannes von 8 bis 12 Mark im stande sein würde, der Familie ein angenehmes Heim zu bereiten, ein gutes kräftiges Essen herzustellen, das darf wohl mit Recht angezweifelt werden; bei so geringer Einnahme ist auch ein Spargenie ausser stande, Grosses zu leisten. Der oben zitierte Genosse Fischer glaubt einen Haupttrumpf auszuspielen, wenn er ausführt: sobald man am Tage nach der sozialen Revolution den Arbeitslohn auf das Doppelte und Dreifache erhöhen würde, »geht keine verheiratete Frau mehr in die Fabrik oder ist sonst beruflich tätig«.[4] Mit Verlaub: werden die Arbeitslöhne erhöht, so werden sie es doch für alle Arbeiter, mithin auch für die weiblichen! Dann aber ist der Schluss doch zu nahe liegend, dass der weitaus grösste Teil der Frauen sich nicht danach sehnen dürfte, Haussklavin im heutigen Sinne zu werden, ganz abgesehen davon, dass die wirtschaftliche und industrielle Entwicklung bis dahin so weit fortgeschritten ist, dass kaum etwas von der alten, heut gewohnten Art der Wirtschaftsführung übrig geblieben sein dürfte, es sei denn, dass einzelne Sonderlinge, vom Geschmack des Genossen Fischer, sich einspinnen, umgeben von den Überbleibseln einer vergangenen Zeit.
Ob die heutige Form der Familie - die nach Fischer die einzige ist, welche der Natur des Menschen entspricht - bei diesen grundlegenden Umwandlungsprozessen bestehen bleiben wird, das können wir getrost der Zukunft überlassen; die Form ist doch lediglich eine Folge der gesellschaftlichen Entwickelung, und gerade wir Sozialdemokraten hatten bisher immer die mehr und mehr hervortretenden Mängel dieser Form, die oft genug ohne jeden Inhalt ist, als unzeitgemäss scharf kritisiert. Wenn Fischer als Beweis für seine Theorie über die heutige Eheform auch Stuart Mill anzieht, so scheint er gerade den Ausspruch Mills übersehen zu haben, der da lautet: »Die Ehe ist die einzige wirkliche Leibeigenschaft, welche das Gesetz kennt.«
Zweifellos ist trotzdem heute die Anzahl jener Frauen nicht gering, welche den Fortbestand dieser Art Leibeigenschaft als den einzig richtigen und normalen Zustand ansehen. Naturen, die, wenn auch nicht denkunfähig, so doch denkfaul sind und das Dienen der persönlichen Freiheit vorziehen, weil letztere Selbständigkeit des Handelns und Denkens von ihnen erfordert, wird es immer geben. Am wenigsten wird man solchen im Proletariat begegnen, bei der eigentlichen Arbeiterin. Die Mehrzahl von i i durch die eigene Arbeit an wirtschaftliche Selbständigkeit von Jugend auf gewöhnt, und darum empfinden gerade sie die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Manne sehr schwer. Und weil sie diese Abhängigkeit schwer empfinden, sind den Arbeiterinnen Emanzipationsbestrebungen nicht gegen die weibliche Natur, sondern ein natürliches Bedürfnis, ihre Unabhängigkeit zu erkämpfen. Nur die guten, aber beschränkten Haustierchen unter den Frauen sind es, die abseits stehen und noch immer nicht begreifen können, dass es auch für den weiblichen Menschen noch andere Lebensauf gaben gibt, als Kindergebärerin und Dienerin des Mannes zu sein.
Während unsere Epoche die Sentimentalität eines vergangenen Zeitalters mehr und mehr abstreift, können wir beobachten, dass diese an einer Stelle wieder aufzutauchen scheint: bei den mütterlichen Gefühlen. Bei Fischer finden wir, gerade wie bei vielen Schriftstellerinnen unserer Tage, ein mit gewisser Absichtlichkeit wiederkehrendes Hervorheben des Mutterberufs, der Mütterlichkeit; es ist dies fast zur krankhaften Manie ausgeartet. Selbst einer so klaren und entschlossenen Denkerin, wie Oda Olberg, muss man widersprechen, wenn sie behauptet, die Entziehung der Kinder sei eine Verstümmlung des Weibes, die Pflege der selben ein Lebensbedürfnis der Mutter.[5] Ich meine: nicht jeder Mutter! Mutter Sein hat keineswegs zur Voraussetzung, dass eine Mutter unter allen Umständen besonderes Verständnis für die Kinderseele habe oder natürliche Talente, das nötige Wissen und Können, das zur Kinderpflege und -erziehung doch in weit höherem Masse vorhanden sein muss, als für irgend einen anderen Beruf. Ich möchte direkt sagen: die meisten Mütter haben weder das eine, noch das andere. Sie finden sich allmählich in diese Art der Pflichterfüllung hinein, wie in eine andere Aufgabe der Hausfrau, die sie als solche zu erfüllen haben, ohne darauf im geringsten vorbereitet zu sein. Und nicht )ede Mutter sieht mit Herzeleid die Kinder ihrer Pflege entwachsen. Der beschäftigten Proletarierin ist es eine Lasterleichterung, die sie mit Freude erfüllt, sieht sie, wie mehr und mehr das Kleine ihrer Pflege entwächst, indem es zu laufen, sich selbst zu beschäftigen beginnt. Der vernünftigen Arbeiterfrau wird es keine Qual sein, ihr Kind für einige Stunden des Tages, ihre Arbeitsstunden, einem gut geleiteten Kindergarten zur Aufsicht und Pflege anzuvertrauen. Wer sich diese Einrichtungen genauer angesehen hat, der wird nur wünschen können, dass man endlich daran gehen möge, nicht nur so kleine derartige Institute einzurichten, wie die bisher durch Privatwohltätigkeit geschaffenen, welche nur einige Dutzend Pfleglinge aufzunehmen vermögen, sondern dass Staat und Gemeinde sich vereinigen und im allgemeinen Interesse für ausreichende Stätten sorgen, in denen die Kinder aller Mütter weit besser und richtiger gehegt und gepflegt werden, als im eigenen Heim. Die Mutter, welche dem Broterwerb nachgeht, hat keine Zeit, sich um die Pflege und Erziehung des Kindes zu kümmern, die körperliche Versorgung ist alles, was sie ihm angedeihen lassen kann. Und die Mutter in den besitzenden Klassen überlässt ihre Kinder und deren Pflege ihren Dienstboten, die gerade so wenig geschult dafür sind, wie die Mutter selbst! Warum aber eine Freundin oder Nachbarin zuverlässiger bei der Beaufsichtigung sein sollte, als die gewissenhafte und geschulte Kinderpflegerin, ist nicht einzusehen. Bei der Kindergärtnerin darf man doch voraussetzen, dass sie ihren Beruf wählte gerade aus Liebe zu den Kindern. Aber auch die Unkosten, wenigstens den grössten Teil derselben, tragen die Kinderpflegeinstitute, auch diese Einrichtung ist schon heute keine Utopie mehr.
Ein gewaltiger Irrtum liegt in der Annahme, das erste und höchste in der Natur der Frau begründete Lebensziel sei es, Mutter zu sein, der Pflege und Erziehung der Kinder zu leben. Mutter Sein ist so wenig ein Lebensziel wie Vater Sein. Der Züricher Arzt Brubpacher meint mit Recht: »Stelle man sich einen Mann vor, stündlich dem Fortpflanzungsgeschäft sich widmend, in seiner Gesamtheit in ihm aufgehend!«[6] Unnatürlich und lächerlich zugleich. Lebensziele findet auch die Frau nur auf den allgemeinen Arbeitsgebieten oder bei Lösung sozialer Aufgaben, die im Interesse aller liegen. So kann zum Beispiel die Vervollkommnung der Pflege und Erziehung des Kindes das Lebensziel eines Berufspädagogen sein, nicht aber das aller Frauen, die Mutter wurden.
Mit der Mutterschaft tritt eine Verschiedenartigkeit des Geisteslebens, der geistigen Fähigkeiten zwischen beiden Geschlechtern auf, sagt Fischer. Er schreibt diese Verschiedenartigkeit den Störungen zu, welche das Geschlechtsleben im Gefolge habe. Hier ist Fischer zu einem Trugschluss gekommen. Die sonst normale und gesunde Frau wird durch das in vernünftigen Grenzen gehaltene Geschlechtsleben weder geistig, noch körperlich beeinträchtigt. Immer und überall wird darauf hingewiesen, dass dieses für die normale Entwickelung des Weibes sogar eine Notwendigkeit ist, also nicht verkümmernd wirken kann. Ein Einschlummern des Geisteslebens muß aber allmählich eintreten, wenn die Frau nur auf die einseitigste Beschäftigung verwiesen bleibt, auf das tägliche Einerlei des Hauses, ohne dass ihr eine geistige Anregung von aussen wird. Der müde von der Arbeit heimkehrende Mann bringt ihr keine Abwechslung, nur neue Arbeit; auch er verlangt, gepflegt zu werden, von der Mis~re des Hauses mag er nichts wissen, er will die kurze Ruhepause geniessen können. Mit den kleinlichen Tagessorgen muss die Frau sich allein abfinden, und schliesslich nehmen diese sie so ganz in Anspruch, dass von geistigen Interessen nichts mehr übrig bleibt.
Damit diese geistige öde verhütet werde, bedarf auch die Frau eines Berufs, der sie unabhängig macht von jeder Art der Bevormundung. Und auch, wenn sie nur die Wahl hätte, täglich fünf Stunden an einer Spinnmaschine stehen oder im engen Heim, das vom Kindergeschrei erfüllt ist, bleiben zu müssen, die meisten wählten das erstere und würden diese schwere Arbeit selbst unter den heutigen ungunstigen Arbeitsbedingungen für das kleinere Übel halten. Die Proletarierin erstrebt nicht nur ihre Befreiung aus demjochdes Kapitalismus, sie muss gleichzeitig kämpfen für eine Befreiung von den Famillenf esseln: dahin gehen ihre Emanzipationsbestrebungen. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass durch die immer umfanzreicher werdende Berufsarbeit der Frauen und die damit verbundene Selbständigmachung einer grösseren Zahl von Proletarierinnen sich die nämliche Fortentwickelung bei dem weiblichen Geschlecht zeigen wird, wie sie bei den Männern beobachtet werden kann, die aus den patriarchalischen Verhältnissen der Landwirtschaft in die Städte kommen und dort aus willenlosen, demütigen Knechten zu selbstbewussten, sich selbst achtenden Menschen werden. Aber wenn man auch diese Entwicklung nicht in dem gleichen Masse gelten lassen, sondern nur von dem ausgehen will, was heute schon ist, so kann man ohne weiteres sagen, dass es durchaus wünschenswert und durchführbar ist, die Frauen aus dem engen Kreis der Hausarbeit in den erweiterten Kreis der Berufsarbeit hineinzuziehen. Schon innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft könnte bei vernünftiger Regelung der Hauswirtschaft die Arbeitskraft auch der verheirateten Frau in der Industrie Verwendung finden, ohne dass dadurch die Natur des Weibes beeinträchtigt, die Neigungen zum Familienleben unterdrückt werden müssten.
Es hiesse daran verzweifeln, dass der Sozialismus allen Menschen - und zu diesen sind doch schliesslich auch die Frauen zu zählen sichere und bessere Daseinsbedingungen geben wird, wollte man anders denken. Das, was heute in Anfängen sich zeigt, für manchen nicht ein Fortschritt zu sein scheint, wird in erhöhter und veredelter Form im sozialistischen Gemeinwesen allgemeine Geltung haben. Völlige ökonomische Freiheit, nicht nur für einen, und zwar den kleineren Teil des Menschengeschlechts, sondern für alle Menschen, das soll und das wird der Sozialismus bringen. Und daher muss der Sozialist auch heute sclion fordern, dass die Frau als gleichberechtigt, und infolgedessen auch gleichverpflichtet, im Dienste der sozialen Gemeinschaft an dem Platze Verwendung findet, an den ihre Fähigkeiten sie weisen.

Die »neue« Familie
(1906)

(...)

Das alte bürgerliche Familienverhältnis ist seinem Wesen nach darauf gegründet, daß der Mann als Erhalter und Ernährer der Familie gilt und der Herr der Familie ist, während die Frau in seinem Privatdienste innerhalb der Familie wirkt und unter dem Manne steht. Dadurch aber, daß infolge der Umwälzung im Produktionsleben die Frau als Berufsarbeiterin ökonomisch auf eigene Füße gestellt wird, stehen sich beide Gatten als gleichberechtigt gegenüber. Auf dieser Gleichberechtigung bauen sich die neuen sittlichen Beziehungen zwischen Mann und Weib in der Familie auf. Auf dieser Grundlage erwachsen aber auch die Bedingungen, unter denen Mann und Weib in der proletarischen Familie als Eltern walten, denn auch betreffs der Pflege und Erziehung der Kinder liegen die Verhältnisse anders als in den bürgerlichen Kreisen. Wenn die Bourgeoisdame aus irgendwelchem Grunde ihre Kinder nicht selbst erziehen kann oder will, so wird deshalb noch lange nicht an ihrer Stelle der Mann als Pfleger und Erzieher einspringen.
Wenn dagegen im Proletariat die Frau durch ihre Einbeziehung in das Heer der Industriearbeiterinnen ganz oder zum großen Teil außer stande gesetzt wird, ihren Pflichten als Erzieherin der Kinder so nachzugehen, wie es in Rücksicht auf das Erziehungsresultat der Fall sein sollte, dann bedingen es die Umstände ganz von selbst, daß nicht bezahlte Mietlinge nur Pflichten übernehmen, sondern daß der Mann ohne Rücksicht auf männliche und weibliche Arbeit ihr helfend zur Seite tritt. (Sehr richtig!) Wir haben in dem Umstand, daß die Not den Mann hierzu zwingt, einen Fortschritt zu begrüßen, der planmäßig und bewußt weiter geführt werden muß.

Es ist ein Ansatz dazu, daß der Mann seine Aufgabe als Genosse der Frau bei dem verantwortungsreichen Erziehungswerk zu übernehmen beginnt. Diese Entwickelung der Dinge, die darauf abzielt, allmählich den Mann wieder in das Heim zur Erziehung der Kinder zurückzuführen, tritt auf als eine Begleiterscheinung des Hinausschreitens des Weibes als Berufsarbeiterin in die Gesellschaft. Sie ist die Vorbedingung dafür, daß das Weib in der Gesellschaft als gleichberechtigte Genossin des Mannes auf allen Gebieten produktiver, gesellschaftlich notwendiger Arbeit tritt. Aber wir dürfen den Umgestaltungsprozeß nicht nur begrüßen im Hinblick auf die Entlastung der Frau, wir müssen ihn auch fordern im Hinblick vollkommener Erziehungsresultate in der Familie.
Mann und Weib sind ihrer geistigen und sittlichen Eigenart nach so wenig völlig gleich, als sie ihrer körperlichen Art nach gleich sind. Und in dieser Verschiedenheit liegt ein äußerst wichtiges und wertvolles Moment für die Erziehung der Kinder. Wie Mann und Weib zusammengehören als Zeugende, so gehören sie auch zusammen als Erzieher des Kindes, denn die Erziehung ist eine zweite Schöpfung des Kindes und in vielfacher Beziehung oft genug die wichtigste Schöpfung, darum ist es notwendig, daß bei der Erziehung die geistige und sittliche Kraft, welche der Mann auf der einen Seite und das Weib auf der andern Seite einzusetzen haben, sich in freier Entfaltung harmonisch zusammenfügen. Wir erklären deshalb grundsätzlich, daß das Erziehungswerk nicht einseitig Mutterwerk sein soll, sondern daß es gemeinsames Elternwerk sein muß. Eine ganze Reihe hervorragender Pädagogen hat jederzeit mit aller Schärfe betont, wie notwendig und wichtig es ist, daß der Vater vollen Anteil an dem Werk der Erziehung der Kinder nimmt. Wir können es nur beklagen, wenn durch die berufliche Tätigkeit, durch den Kampf um die Existenz draußen auf dem Wirtschaftsmarkt der Gesellschaft, die Kraft des Mannes so aufgesaugt wird, daß er die Erziehung des Kindes vollständig der Frau überlassen muß. Diese Einseitigkeit liegt nicht im Interesse einer gedeihlichen Erziehung. Wir müssen deshalb darauf hinwirken, daß der Mann immer besser seinen Aufgaben als Miterzieher der Kinder genügen kann.
Die Erziehung des Hauses, die das gemeinschaftliche Werk der Eltern sein soll, steht unseres Erachtens nicht im Gegensatz zur öffentlichen Erziehung: Sie muß vielmehr ergänzend und vervollständigend neben die öffentliche Erziehung treten. Welches sind die Gründe, die uns bestimmen, mit großem Nachdruck nicht nur die jetzige öffentliche Aufrechterhaltung der Erziehung zu fordern, sondern ihre Ausdehnung zu befürworten? Wenn es nur der Hinblick wäre auf die Schäden, die heutzutage im Proletariat infolge der Erziehungsunfähigkeit seitens vieler Familien hervortreten, so müßten wir für die Zukunft darauf hinarbeiten, alle diese Schäden zu beseitigen, die Frau dem Hause zurückzugeben und die Erziehung einzig und allein das Werk des Hauses sein zu lassen.
Aber das Ziel der Erziehung soll nicht bloß das sein, die Persönlichkeit zu erziehen, sondern die Persönlichkeit im Bewußtsein ihres Zusammenhanges mit der Allgemeinheit zu erziehen; sie im Bewußtsein dessen zu erziehen, was sie der Gemeinschaft dankt, und was sie ihr schuldet. Wir bedürfen der öffentlichen Erziehung, damit in der Brust des Kindes von zartester Jugend an alle jene Gefühle entwickelt werden, weiche Wurzeln der sozialen Tugenden sind, der die Gesellschaft bedarf. Aber während die öffentliche Erziehung immer den Schwerpunkt des Wirkens der körperlichen, geistigen und sittlichen Ausbildung der Individualität im Hinblick auf die Gemeinschaft findet, während in der öffentlichen Erziehung die Berücksichtigung der individuellen Eigenart zurücktreten muß, da ist es Aufgabe der Familie, der Individualität ihr Recht werden zu lassen. Die Berechtigung und Bedeutsamkeit dieser Aufgabe erhellt aus den Ergebnissen der Psychologie, welche notwendig bedingt zu einer Grundlage der Pädagogie geworden ist. Die Psychologie weist mit aller Schärfe nach, wie bedeutsam es ist für das höchstmögliche Erziehungsresultat, daß die individuelle Veranlagung die weitgehendste Berücksichtigung findet. Wenn wir die öffentliche Erziehung brauchen, um Bürger zu erziehen, so bedürfen wir der häuslichen Erziehung, um starke Persönlichkeiten zu erziehen. Das liegt im letzten Grunde im Interesse der Gemeinschaft selbst, in die wir die Jugend geistig und sittlich hineinerziehen wollen.
Was der einzelne der Gemeinschaft zu geben hat, das wird um so wertvoller, um so reicher sein, je reicher und kraftvoller er seine Persönlichkeit ausgestaltet hat. Aber, werte Anwesende, wenn wir von diesem Gesichtspunkte aus die Erziehung zur Individualität ins Auge fassen, so muß das immer geschehen, getragen von der Überzeugung, daß die Individualität sich nicht im luftleeren Raume entwickelt, daß sie im innigsten Zusammenhange mit der Gemeinschaft steht, daß sie aus ihr kommt und daß sie für sie erzogen werden soll. Pestalozzi, der der Erziehung zur Individualität die größte Bedeutung beigemessen hat, erachtet gerade die Familie als die Gemeinschaft, welche die Verbindung zwischen der einzelnen Persönlichkeit und der Gesellschaft vermittelt.
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In diesem Zusammenhang möchte ich ganz besonders auf die Pflicht der Eltern aufmerksam machen, ihre Knaben und Mädchen nicht in den Vorurteilen aufzuziehen, daß es Arbeiten gibt, die des Mannes unwürdig sind, die aber dem Weibe geziemen. Knaben und Mädchen sollen alle Vorrichtungen, die das häusliche Leben mit sich bringt, mit gleich großer Geschicklichkeit und Freudigkeit verrichten können.
Ich will dadurch keineswegs die Teilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern beseitigt wissen, soweit dieselbe sozial notwendig ist, und im Hinblick auf das Ergebnis der Arbeit durch vererbte Disposition und Geschicklichkeit geboten erscheint, mag auch an dem vererbten das unter sozialen Einflüssen geschichtlich Gewordene ein gut Teil haben. Ich will nur dem alten Vorurteil von höherwertiger Männerarbeit und minderwertiger Frauenarbeit entgegen zu wirken suchen. Was bedeutet denn im letzten Grunde diese Scheidung zwischen höherwertiger Männerarbeit und minderwertiger Frauenarbeit. Dieser Unterschied ist im letzten Grunde weiter nichts als ein Reflex der verschiedenen sozialen Bewertung von Kopf- und Handarbeit. Gehen Sie den Dingen auf den Grund, so werden Sie finden, daß, den bürgerlichen Vorurteilen entsprechend, Männerarbeit, und mag sie auch noch so mechanisch sein, der Frauenarbeit gegenüber noch als eine höhere, als eine qualifiziertere Art der Arbeit, als Kopfarbeit gilt. Um diesen Vorurteilen entgegenzuwirken, soll man Knaben und Mädchen ohne Unterschied gewöhnen, allen häuslichen Verrichtungen ohne Vorurteil nachzugehen. Wenn Sie das befolgen, so werden Sie sehr viel dazu beitragen, die Vorurteile zwischen den Geschlechtern zu beseitigen. Der Knabe wird mit einer gerechten spezialen Wertung des Weibes und seiner Leistungen in das Leben hinausgehen. Dem Weibe aber, der Mutter, dem Mädchen, wird in der Familie wie draußen in der Gesellschaft eine reichere Lebensmöglichkeit, eine reichere Entwicklungsmöglichkeit geschaffen. Der Mann wird von seiner Ungeschicklichkeit und seiner Unbehülflichkeit in seinen sogenannten weiblichen Verrichtungen emanzipiert, und das Vorurteil von dem verschiedenen sozialen Wert der Hand- und Kopfarbeit wird zerstört.
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