Warum ändert sich eigentlich nichts?

Familiensozialisation - Das Private ist politisch

»Wenn Du Dich in sieben Monaten als ein Mädchen
erweisen solltest, würden die Feen Dich reicher
als irgendeine Deiner Ahninnen beschenken: mit jenem Sinn
für Macht, dessen allgemeiner Gebrauch mich so beunruhigt ...
Stell Dir diese neuen, weiblichen Horden mal vor!
Sie werden jedes Erbsündegefühl verloren haben,
ein Gefühl, das Jahrhunderte religiöser Erziehung ihren Müttern
eingeredet hatte. Früher waren die Frauen immer schuldig.
Heute ziehen sie ungeniert durch die Wall Street, um gegen
ihre Lebensbedingungen in der amerikanischen Überflussgesellschaft
zu protestieren, und zwischen Kopenhagen und Hollywood schlafen
sie unverhohlen mit Partnern, die ihnen belieben,
sogar mit ihren Söhnen oder ihren Freundinnen.
In allen Breiten sind die Frauen außer Rand und Band.
Was für eine Revanche«
Louise Weiss
An die Ungeborenen

Wenn also die Unterdrückung und Missachtung nicht nur aktuell und akut festzustellen ist, sondern bereits eine so lange Tradition hat, drängt sich die Frage auf, warum ändert sich eigentlich nichts? Ich glaube, die schlichte Antwort ist in dem Satz zu finden: »Das Private ist politisch.« Wir alle, Männer wie Frauen, sind in Familien sozialisiert, und hier erfahren wir die entscheidende Prägung, wie wir uns als Erwachsene verhalten, wenn wir die Rolle von Vater oder Mutter, Wahlbürger oder -Bürgerin, Nachbar oder Nachbarin, Vereinsmitglied oder Politiker übernehmen. Wir Frauen sind alle Töchter von Müttern und Vätern, Schwestern von Brüdern, sind Freundinnen und Geliebte von, Männern und sind Ehefrauen und selbst wieder Mütter. Der erste Mann in unserem Leben war unser Vater. Was bedeutet das? Natürlich höchst Unterschiedliches: Für die einen ist er der liebevolle, zärtliche, verspielte Daddy, der die niedliche Kleine verwöhnt und ihr jeden Wunsch von den Augen abliest - auch als Backfisch - und dem es gar nicht recht ist, daß diese seine hübsche, ihn verjüngende Tochter nun konkurrierende Männer kennen lernt und das Elternhaus verlässt, um zu heiraten und eine eigene Familie zu gründen. Für die anderen ist er der strenge Haushaltsvorstand, das Familienoberhaupt, das auf Tochter und Sohn höchst unterschiedliche Maßstäbe anwendet und mit der Tochter nichts Rechtes anfangen kann. Für die dritten ist er der geistreiche, anregende, sich selbst konkurrenzlos hoch einschätzende Mann, der die ganze Familie zu seinen Bewunderern macht und äußerst ungemütlich wird, wenn Familienmitglieder etwa eigenen Willen zeigen, der dem seinen entgegensteht. Für die vierte Gruppe von uns Frauen ist der Vater »der Mann, der meine Mutter unterdrückte«, und viele Töchter solidarisieren sich rasch oder nach geraumer Zeit mit ihren Müttern, um diesen beizustehen und selbst nicht die Gefahr eines ähnlichen Schicksals zu laufen. Väter üben Macht aus, setzen Normen auch und sogar dann, wenn ihnen an ihren Töchtern eigentlich nichts liegt. Ich darf wohl meine Erfahrungen mit meinem Vater an dieser Stelle nicht aussparen, denn sie haben mein Leben entscheidend bestimmt - in einer Weise, die sicherlich typisch ist auch für viele meiner »Mitschwestern«. Ich war längst über dreißig, als ich endlich anfing, mich damit auseinanderzusetzen, was mein Vater für mich und mein Leben bedeutet hatte. Bis dahin war er als moralische Instanz, als Bezugsperson für meine Leistungen und Fehlleistungen so übermächtig, daß ich mich an eine geistige und psychische Auseinandersetzung mit ihm nicht heran traute. Es wäre zu gefährlich für meine eigene Identität gewesen, und deshalb hatte ich unbewußt Angst vor dieser Auseinandersetzung. Dafür konnte er aber nur wenig. Es stand für mich immer außer Frage, daß mein Vater es gut mit mir meint und daß er eine moralische Autorität ist, nach der ich mich wohl richten sollte. Er war mir wichtig. Ich hatte aber auch. Angst vor seiner Strenge, und beides führte dazu, daß ich seinem Leistungsanspruch nachzukommen suchte und mich ungeheuer anstrengte, um es ihm recht zu machen. Da er mit Lob geizte, lebte ich aber trotz aller Anstrengungen in dem Gefühl, seinen Ansprüchen nicht zu genügen. Dieser Leistungsanspruch hatte natürlich auch seine positive Seite: Mein Leistungsvermögen und damit mein Selbstvertrauen wuchsen, und ich war erfolgreich. Ich habe bis zu einer Lebenskrise, als ich Anfang Dreißig war, immer geglaubt, daß dieses bedeutende Vaterbild mich als Tochter viel weniger - um nicht zu sagen: gar nicht - betraf als meine Brüder, die sich mit der Konkurrenz zu ihm in ihrer Pubertätszeit und danach weidlich plagen mussten. daß mein Vater, der noch dazu fast sieben Jahre meiner frühen Kindheit als Soldat äußerst selten zu Hause anwesend war, meiner Schwestern und mein Leben so stark prägen würde, wie er es tat, blieb mir lange Zeit verborgen. Natürlich tat mein Vater ein Weiteres: Er prägte mein Männerbild. Heute weiß ich, daß meine Tanzstundenliebe, die ich später heiratete, für alle Augen sichtbar ein »Anti-Vater« war: Ein viel weicherer, weit weniger leistungsorientierter, liebevoller Mann, von dem ich unbewußt spürte, daß ich keinen Machtkampf würde führen müssen, um mich stark zu fühlen. Später dann, als ich gedanklich und psychisch den Kampf mit dem »Übervater« aufnehmen konnte, wurden mir sehr rasch die Konstruktionsmängel der Partnerschaft, in der ich lebte, bewußt. Meinem Mann und mir gelang es aber nicht, sie zu beheben. Unsere Ehe scheiterte. Ich ging eine neue Bindung ein, voller Leidenschaft und Selbstsicherheit, daß ich - erstarkt die Überlegenheit des neuen Partners wohl aushalten würde, dessen psychische Struktur der meines Vaters viel ähnlicher war. Unversehens fand ich mich in meine Kinder- und Jugendzeit zurückversetzt: Wieder war da jemand, dem ich mich unterordnete und dessen Liebe ich mir durch äußerste Zuwendungsbereitschaft und Anpassung erhalten wollte. Und noch etwas Wichtiges habe ich durch meinen Vater in der familiären Situation erfahren: Ich erlebte mich zeitweise als Konkurrentin meiner Mutter um seine Gunst. Wenn ich an bestimmte Gesprächssituationen zurückdenke, bei denen jedenfalls in meiner Erinnerung - mein Vater und ich uns verbündeten und gemeinsam meine Mutter scheinbar liebevoll hänselten, schäme ich mich noch heute, denn ich spürte, daß es nicht recht war, mir intellektuelle Anerkennung auf ihre Kosten zu verschaffen. Auch als Hausfrau habe ich sie in bezug auf meinen Vater zu übertrumpfen versucht. Das ist mir zwar vermutlich nicht gelungen, aber daß ich es versuchte, war mir klar, und daß dieser Versuch falsch war, ebenso. Das Moment der Unsolidarität ist es, das mich an diesen Erinnerungen quält, denn im Vergleich mit meiner Mutter war mir immer bewußt, daß mein Frauenleben Chancen der Eigenentwicklung hatte, die ihr durch äußerst frühe Heirat und mehrere Kinder in jungen Jahren, dazu die schwere Kriegs- und Nachkriegszeit, vorenthalten geblieben waren. Hinsichtlich unserer Väter erleben wir Frauen also in den Familien meistens eine spürbare Konditionierung unserer Aktivitäten und Neigungen. Wobei eine besondere Schwierigkeit darin liegt, daß uns die zugewiesene Rolle meist erst klar wird, wenn wir als längst Erwachsene eigene Beziehungen aufgenommen haben. Aber selbst wenn die Väter nicht die Patriarchen oder Schlimmeres sind, ist ihre Machtsituation institutionalisiert und wird von den Töchtern auch so wahrgenommen. Witzeleien wie »Der Mann ist das Haupt der Familie, die Frau ist der Hut darauf« sollten nicht darüber hinwegtäuschen, daß Väter in doppelter Funktion Macht ausüben: als Mann in der auf ihn zugeschnittenen Gesellschaft, in die wir hineinwachsen, und als Vater als der machtvollen Instanz in der Familie. Eines aber ist wohl unbestreitbar, daß die meisten Frauen als Töchter in den Familien männliche Gutwilligkeit erfahren: bewußt klein halten wollen die Väter uns meistens nicht, und auch mit den Brüdern sind Arrangements möglich - auf der praktischen Seite genauso wie in Fällen seelischer Not. So erinnere ich mich deutlich, daß meine Brüder mir beim Fahrrad flicken halfen, während ich hin und wieder das Bügeln für sie übernahm. Sie ließen mich in Ruhe Klavier üben, wenn eigentlich Gartenarbeit angeordnet war. Dafür versuchte ich den strengen Eltern zu erklären, daß ihre Methode, lateinische Vokabeln abzufragen, doch bei weitem zu autoritär und deshalb nicht erfolgversprechend sei. Auf der familiären Ebene war es also durchaus möglich, Liebe und Sympathie auszudrücken. Hier ging es normalerweise nicht darum, wer die Macht hat, denn das war ohnehin klar: der Vater. Nicht er musste sich beweisen, sondern die Familie bestätigte durch ihr Verhalten diese Rangordnung. Weshalb ich so lange glaubte, daß die Dominanz des Vaters in meiner Familie für mich als Tochter nicht so bedeutsam sei, lag daran, daß ich mir immer bewußt war: So wie dieser Mann kann und muss ich nicht werden. Bei meiner Mutter lag die Sache anders. Für die Töchter liefern ihre Mütter das Vorbild, ob sie es nun wollen oder nicht. Ein arroganter Männerscherz kennzeichnet das Problem: »Willst du die Tochter heiraten, schau dir die Alte an!« - Simple Haushaltstechniken schauen wir Töchter unseren Müttern ab, unsere Telefonstimmen sind meistens ähnlich, es gibt Ähnlichkeiten im Mienenspiel, in den Bewegungen, der Art, Witze zu erzählen, und vieles mehr. Für das Leben als erwachsene Frau haben uns unsere Mütter ein Vorbild gegeben, das es uns oft schwer macht, eine eigene Person zu werden. Ihre Bereitschaft zur Zuwendung zum Ehemann und zu den Kindern war oft schier grenzenlos, und ihr Wunsch, es jedem recht zu machen, grenzte an Selbstverleugnung. Unsere Mütter haben eigene Wünsche so intensiv hintan gestellt, bis am Ende ihres Lebens oft keine mehr vorhanden sind; sie, waren. auf Ausgleich bedacht und haben ihren eigenen Lebensbereich dafür bewußt beschränkt; Anpassung und Unterordnung an die Wünsche des Ehemannes waren mit Eigenleben nicht in Übereinstimmung zu bringen. »Einer muss die Kompromisse halt machen«, seufzen die Frauen. Im Regelfall ist es dann eine. Wir Töchter, die wir in unseren Familien von Mann und Kindern ähnlich gebraucht und geliebt werden wollen, befolgen meist lange das von den Müttern übernommene Verhaltensmuster, häufig eher unbewußt. Irgendwann aber meist knapp jenseits der Vierzig lässt die Frage sich nicht mehr zurückdrängen, wo sich denn der mütterliche Kraftquell auftanken darf. Was hat denn das Leben für mich als Person - nicht als Ehefrau und nicht als Mutter - an Dingen parat, die mir und nur mir gehören, Die Frauen meiner Generation stellen sich solche Fragen aus einer Vielzahl von Gründen offener als unsere Mütter. Spätestens zu diesem Zeitpunkt zündet der Funke an der Zündschnur, die den bis dahin an der Oberfläche glatten Familienfrieden zerstören kann. Spätestens zu diesem Zeitpunkt stellt sich die Machtfrage. Als Junge auf die Welt zu kommen ist offenbar schwieriger als als Mädchen. jedenfalls ist wissenschaftlich erwiesen, daß männliche Föten aus einer besonderen Anstrengung während der Schwangerschaft entstehen, ursprünglich ist »der« Fötus weiblich angelegt. Auch ist die Zahl der geistig behinderten männlichen Neugeborenen höher als die der weiblichen. Schließlich weiß man, daß männliche Kleinkinder gesundheitlich gefährdeter sind als weibliche, dies vielleicht ein später Ausfluss der vorgeburtlichen Anstrengungen, die biologisch zu überwinden waren. Aber die Biologie ist nicht unser Thema, wenngleich diese wissenschaftlichen Erkenntnisse doch gewisse Neubewertungen zur Folge hatten. Noch für Freud und seine Zeitgenossen stand außer Frage, daß vom Zeitpunkt der Zeugung an. das männliche Prinzip das überlegene war. Ein. ursprünglich weiblicher Fötus hätte zur Theorie vom »Penisneid« schließlich nicht im geringsten gepasst! In Altbayern gibt es noch heute den Brauch, das Geburtshaus eines neugeborenen Mädchens zu verspotten, indem im ganzen Dorf Hinweisschilder aufgestellt werden »Zur Büchsenmacherei«. Das bedeutet, daß jeder Dorfbewohner, der dazu Lust hat, unter Mitnahme von irgendwelchen scheppernden Gerätschaften, meistens Blechbüchsen, das Geburtshaus ansteuert und dort Lärm erzeugt: Blamage für den Vater, der nur eine Tochter zustande gebracht hat! Ich denke, den meisten Eltern ist heute bewußt, daß es für die Geschlechtsbestimmung eines Babys auf den Chromosomensatz der Samenzelle, also die väterliche Mitgift, ankommt. Und ebenfalls ist den meisten Eltern das Geschlecht ihres Kindes, wenn es denn gesund und kräftig auf die Welt gekommen ist, zunächst gleichgültig. Die Gelehrten streiten sich darüber, ob den männlichen und weiblichen Neugeborenen von seiten der Mutter vom ersten Tage an die gleiche Aufmerksamkeit und Liebe zuteil wird. daß aber die Zuwendung der Mutter für die Identitätsentwicklung des Neugeborenen von eminenter Bedeutung ist, bestreitet kein Psychologe. Die Meinungen gehen auseinander, ob die Mutter auf Grund ihrer eigenen Vorgeschichte einen Sohn oder eine Tochter unterschiedlich behandelt. Von seiten des Babys ist die Sache klar: Es hat das legitime und nur auf sich bezogene narzisstische Bedürfnis, von der Mutter gesehen, verstanden, ernst genommen und respektiert zu werden. Immer. Ob nachts oder am Tage, alle Stunde oder alle fünf Minuten. Es ist darauf angewiesen, in den ersten Lebenswochen und -Monaten frei über die Mutter verfügen zu können, sie zu gebrauchen, von ihr gespiegelt zu werden... »Die Mutter schaut das Baby an, das sie im Arm hält, das Baby schaut in das Antlitz der Mutter und findet sich selbst darin«, [1] schreibt Alice Miller in ihrem Bestseller Das Drama des begabten Kindes. Manche Psychologen meinen, daß Mütter sich dem männlichen Neugeborenen in anderer Weise zuwenden als dem neugeborenen Mädchen. Durch besonders zärtliche Pflege des winzigen männlichen Geschlechtsorgans und durch die Mobilisierung von Gefühlen gegenüber der »Miniausgabe« des geliebten Vaters werde die männliche Identität von Anfang an durch die Mutter erheblich stärker gefördert als die weibliche Identität bei einer Tochter. Ich habe große Zweifel, ob solche Theorien zutreffen. Aber ich weiß, daß ich nicht mehr einzubringen habe als meinen gesunden Menschenverstand und meine Erfahrung als Mutter von zwei Söhnen und einer Tochter. Ich habe keine Psychoanalyse hinter mir und bin mit der Entwicklung meiner Persönlichkeit sicherlich noch nicht am Ende. Phasen meiner eigenen Identitätsentwicklung in früher Jugend sind ohne Frage nicht gründlich genug »aufgearbeitet«. Aber wenn ich mich zurück erinnere an die Geburtsumstände und die unmittelbare Zeit danach bei meinen drei Kindern, so erinnere ich zwar die Geburten und auch meine Gefühle dabei als sehr unterschiedlich. Aber das Glücksgefühl, eine Tochter geboren zu haben, war um kein Quäntchen- geringer als das Glücksgefühl bei den Söhnen. Im Gegenteil: Da ich nur mit Brüdern groß wurde und in meiner Familie ebenso wie in der Familie des Vaters meiner Kinder mehr jungen als Mädchen geboren wurden, hatte ich gar nicht daran geglaubt, daß ich eine Tochter bekommen könnte, und war deshalb besonders glücklich. Ich denke auch, daß ich von Anbeginn an nicht nur rational, sondern besonders stark emotional darauf bedacht war, dieser Tochter besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Kompensation vielleicht. Nach meiner empirischen Beobachtung trifft dies auf viele Mütter von Töchtern in meiner Generation zu. Wir alle haben in unserer Kindheit und Jugend Missachtung und Unterdrückung unserer Wünsche erfahren und wollten keinesfalls, daß unseren Töchtern ähnliches widerfährt. Es mag ja sein, daß Alice Miller trotzdem recht hat, wenn sie zeigt, daß erfahrene narzisstische Kränkungen an die eigenen Kinder weitergegeben werden. Denkbar wäre aber doch durchaus, daß diese Weitergabe sich stärker auf die Jungen als auf die Mädchen auswirkt. Ich bin in meiner Generation jedenfalls sicherlich kein Einzelfall, wenn ich behaupte, daß ich bemüht war, das Selbstgefühl gerade meiner Tochter zu stärken und sie schon als kleines Mädchen stolz darauf zu machen, daß sie eine Frau werden wird. Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson hat die Identitätsentwicklung beim Kleinkind in einer Stufenabfolge dargestellt, die mir immer eingeleuchtet hat - gerade bei der Beobachtung der eigenen Kinder. [2] Er hält für die Herausbildung jenes Urvertrauens, das gewissermaßen das Mistbeet für späteres gesundes seelisches Wachstum abgibt, die quasi symbiotische Beziehung zwischen Mutter und Kleinstand für bedeutsam und kennzeichnet diese Stufe vom Kind aus - mit der Grundhaltung: »Ich bin, was man mir gibt.« Erikson macht auf dieser ersten Stufe der Identitätsentwicklung keinen Unterschied aus zwischen jungen und Mädchen. Auch die zweite Stufe, die Herausbildung eines autonomen Willens, gilt sicherlich für beide Geschlechter in gleicher Weise. jungen wie Mädchen sind in dieser Phase ausgefüllt von einer »ursprünglichen naiven Selbstliebe« und einem Allmachtsgefühl: »Ich bin, was ich will.« Während und nach dieser Phase setzt aber sicherlich sowohl durch die Familie als auch durch die weitere Umwelt eine Unterscheidung ein, Je nachdem ob es sich bei dem heranwachsenden Kleinkind um einen jungen oder um ein Mädchen handelt. Ich bin jedenfalls überzeugt davon, daß die dritte Stufe, bei der es darum geht, eigene Initiative zu entfalten, schon sehr stark durch das geprägt ist, was die Umwelt einem zutraut. Erikson nennt diese Phase: »Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen kann.« Ich denke, daß diese Vorstellungskraft entscheidend von den Identifikationsmustern geprägt ist, die Elternhaus und Umwelt bereitstellen. Hier wird das Mädchen allmählich zum Mädchen gemacht, es stuft sich niedriger ein als den jungen und kann sich nur mehr eingeschränkte, bestimmte Aktions- und Berufsfelder vorstellen. Ich erinnere mich an ein Erlebnis mit meiner vielleicht fünfjährigen kleinen Tochter. Sie fragte mich eines Tages: Anke, weißt du, was ich werden will? - Ich: Nein, keine Ahnung. Vielleicht Pilot? - Sie darauf-. Du spinnst doch, das ist ein Männerberuf. - Und ich erinnere, daß sie noch nicht in die Schule ging, als sie mir eines Tages eröffnete: »Am besten werde ich Krankenschwester. Dann mache ich immer Nachtdienst, und tagsüber versorge ich meine Familie.« Darauf der zwei Jahre ältere Bruder: »Und wann willst du schlafen?« - Darüber hatte sie nicht nachgedacht, sondern sich nur überlegt, wie sie es schaffen könnte, Beruf und Familie »unter einen Hut zu bekommen«. Darüber war ich sehr betroffen, denn das Bewußtsein davon, daß Beruf und Familie getrennte Sphären sind, konnte nur von mir herrühren. Die psychologische Forschung hat in den vergangenen Jahren herausgearbeitet, daß die erste Liebe jedes Menschen - sei es ein Junge oder sei es ein Mädchen - die Mutter ist. Diese Liebe wird mit allen Fasern des Körpers und der Seele überströmt und eingefordert, und die Art und Weise, wie die Mutter sie beantwortet, speist Ur-Vertrauen oder Ur-Misstrauen des heranwachsenden Kindes und prägt damit alle emotionalen. Beziehungen seiner Zukunft. Die primäre Identifikation mit der Mutter muß im Zuge der Identitätsentwicklung aufgegeben werden, das narzisstische Allmachtsgefühl der ersten beiden Lebensjahre erfährt seine Grenzen, wobei die Aggression, mit der der kleine Mensch diese Grenzen erprobt, nach Ansicht mancher Psychologen bei jungen und Mädchen unterschiedlich stark ausgeprägt ist, in jedem Fall aber von Mutter und Vater und von der Umwelt unterschiedlich beantwortet wird. In dem notwendigen und für jeden Menschen unumgänglichen Ablösungsprozess von der Mutter ergeben sich für kleine Jungen und kleine Mädchen fundamental unterschiedliche Folgen. Jungen und Mädchen erleben die Mutter in ihrer Kleinstkinderzeit als »allmächtig und allgewaltig«, der Vergleich mit göttlicher Macht ist sicherlich zutreffend. Wenn der kleine Junge nun aus dieser Liebesbeziehung »heraus wächst« oder vielleicht heraus gestoßen wird, weil die Mutter ein weiteres Kind bekommt, bleibt dennoch. dieses Gefühl der mütterlichen Allmacht. Es ist allerdings hinfort einerseits mit Sehnsucht nach einer Wiederherstellung der erlebten symbiotischen Einheit verknüpft, andererseits mit Angst, aber auch Wut und Zorn gegenüber der mütterlichen Allgewalt, die den kleinen Jungen aus dieser symbiotischen Nähe entließ oder entfernte. Um den Schmerz dieses frühkindlichen Erlebnisses zu bewältigen, wird die angebotene Identifikationsmöglichkeit des kleinen Jungen mit dem Vater (oder dein Männlichen schlechthin) um so eindrücklicher ergriffen. Für Männer, so schreibt Margarete Mitscherlich, [3] gilt ihr ganzes Leben über »Trennungsfähigkeit als notwendige menschliche Tugend«. Die - aus der Sicht des kleinen Jungen - ihm abgezwungene Trennung von der Mutter und die Identifikation mit dein Vater als dem »ganz anderen« bedeutet eine Zäsur, einen radikalen Bruch in der Identitätsentwicklung, der es Männern ihr ganzes Leben über ziemlich leicht macht, Distanzen zu achten und die Ich-Identität in der Distanz zu anderen Menschen zu bewahren. Gleichzeitig aber ist damit eine Angst vor zu großer Nähe und einem Verlust der Distanz verbunden - aus der frühkindlichen Erfahrung heraus, daß die symbiotische Nähe zur Mutter nicht Bestand hat und daß aus einer so innigen Verbindung verstoßen worden zu sein, mit großen Schmerzen verbunden ist, die das Ich nur mit Mühe überlebt. Welche Folgen diese narzisstische Kränkung für das Machtstreben des erwachsenen Mannes hat, will ich später darstellen. Was bedeutet die Loslösung von der mütterlichen Allmacht nun für das kleine Mädchen? Der Schmerz über das Entlassen werden aus der innigen mütterlichen Nähe ist derselbe, und auch das Gefühl der Kränkung wird mit derselben Intensität erlebt. Nur steht nicht der Vater oder eine andere männliche Identifikationsfigur als die, »ganz andere« Möglichkeit parat, sich psychisch mit dem erlittenen Verlust zu arrangieren. Das bedeutet, daß der Loslösungsprozess von der Mutter für Töchter besonders »riskant« wird. Denn lehnen sie sich total gegen die Mutter auf, berauben sie sich möglicherweise der Gunst des einzigen Menschen, auf den sie erfahrungsgemäß bauen können. Deshalb ist dieser Loslösungsprozess für Töchter äußerst ambivalent: Einerseits entwickelt sich ihre Ich-Identität durch Aggression und Initiative gegen das Bild der Mutter, andererseits fürchten sie diese Loslösung, fürchten damit Aggression und Initiative, um die Liebe nicht zu verlieren, ohne die ihr Selbstwertgefühl nicht auskommt. Auch das kleine Mädchen sucht einen engeren Anschluß an den Vater und bemüht sich, seine Liebe zu gewinnen. Da der Vater aber der Mutter »gehört«, ist dies mit Schuldgefühlen der Mutter gegenüber verbunden, so daß sie die subjektiv empfundene Abwendung der Mutter gewissermaßen auch als »gerechte Strafe« empfindet. jedenfalls gelingt dem kleinen Mädchen die Loslösung von der Mutter nur unvollkommen, und sie bleibt immer, gewissermaßen, eine »Verlängerung des mütterlichen Ichs«. Viele Psychologen sprechen daher von einem schon aus früher Kindheit herrührenden »gestörten Selbstwertgefühl der Frau«. Manche glauben deshalb, daß die Frau narzisstischer sei als der Mann, um durch die immer wieder und immer neu eingeforderte Bestätigung, geliebt zu werden und schön und anerkannt zu sein, das auszugleichen, was dem Ich an Stabilität mangelt. »Für Frauen dagegen gilt nach wie vor Bindungs- und Beziehungsfähigkeit als höchster Wert«, so formuliert Margarete Mitscherlich den Gegensatz zur Trennungsfähigkeit, die der Mann als menschliche Tugend erlebt. [4] Schon sehr früh übernimmt das kleine Mädchen die Wertkategorien der Umwelt hinsichtlich der Bedeutung und Anerkennung des weiblichen Geschlechtes und erlebt sich in ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten als zweitrangig. ja schlimmer noch: Die »Unterdrückte« übernimmt das Bild der Unterdrücker von sich. [5] 
Zieht man dann noch in Betracht, daß die Eltern auf ihre eigenen Kinder ja nicht sich selbst, sondern ihr »Über-Ich«, das heißt ihre in vielen Generationen gewachsenen Wertkategorien, Vorurteile und ihre Gruppenidentität projizieren und weitergeben, dann entstehen für das heranwachsende weibliche Kind Einengungen hinsichtlich der »freien Entfaltung der Persönlichkeit«, die nur sehr schwer im Erwachsenenleben aufgebrochen werden können. Denn eine Veränderung des weiblichen Verhaltens gegen diese Prägungen der frühen Jugend sieht sich immer wieder mit der Schwierigkeit konfrontiert, das objektiv falsche Verhalten positiv rückgekoppelt zu erleben. Die friedfertige, anpassungsfähige, sich selbst verleugnende, den Mann bewundernde Frau und Mutter ist die gesellschaftlich anerkannte Norm. Sie garantiert Liebe und den Erhalt der Partnerschaft (meinen die Frauen jedenfalls sehr lange, bis sie vom Gegenteil überzeugt werden), und ein Aufbegehren gegen diese Rollenzuschreibung wird mit Liebesverlust geahndet. Auch deshalb scheuen Frauen vor der Macht zurück. An diesem Punkt der Überlegungen - auch über meine eigene Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung - frage ich mich erneut und heftiger: Wie soll eigentlich weibliches Selbstbewußtsein möglich werden angesichts der Erkenntnis, daß die Identifikation mit dem weiblichen Vorbild auch für die Zukunft keine rosigen Zeiten bedeutet, sondern immer eine minder starke gesellschaftliche Position? Es liegt nahe, Identifikationsfiguren unter den Männern zu suchen oder, wie die Feministin Carol Gilligan es formuliert, die »Fremdsprache Mann« möglichst perfekt zu lernen, um in der männlich geprägten Welt zu reüssieren. Die Identifikation kann dabei so weit gehen, daß die eigene Sprache vergessen wird. Für diese Beobachtung spricht, daß die Politikerinnen in machtvollen Positionen weltweit - Golda Meir ebenso wie Indira Gandhi oder Margaret Thatcher - als Mannweiber diffamiert, aber eben auch gefürchtet werden. Sie werden oft als die »einzigen wirklichen Männer im Staat« bezeichnet, so wie schon Rosa Luxemburg und Clara Zetkin von August Bebel als die beiden einzigen Männer der Sozialdemokratie bezeichnet wurden. Folgt man Gilligan, so sind diese Frauen die besten Beispiele dafür, daß sie auf dem Weg an. die Macht ihre Identität als Frau aufgegeben haben, ja aufgeben mußten: Anders war der Weg nicht zurückzulegen. Am Ziel angekommen, werden sie aber immer noch als Frauen wahrgenommen. Neben der »normalen« Diffamierung kommt dann erschwerend hinzu, daß sie völlig isolierte Einzelkämpferinnen. sind: Keine Schwester in Sicht, meilenweit. Das heißt: Zum Druck der perfekten, Mimikry kommt der Identifikationsdruck der Außergewöhnlichkeit. Vor allem letzterer wird oft besonders stark verdrängt. Allzu oft höre ich das Argument: Ich habe es geschafft, also kann es jede schaffen. Die Literatur nennt dies das »Bienenkönigin Syndrom«. Immer nur eine von ihnen ist möglich. Das sollte diese eine aber wissen. Ein viel versprechender Weg ist dies also nicht, scheint mir. Ich jedenfalls will nicht zum perfekten Mann werden, ich will mit meiner eigenen Sprache und mit meinen, besonderen Fähigkeiten als Frau wirken.

Texttyp

politischer Essay