Die Arbeit am Ich

Zu den Besonderheiten der populären Diaristik

Das Tagebuch hat markante Eigentümlichkeiten im Vergleich zu literarischen Gattungen im traditionellen Sinn. Die Arbeitsteilung zwischen Schreibenden und Lesenden, Produzierenden und Rezipierenden existiert nicht. Das Tagebuch setzt ebensowenig ein Publikum wie eine(n) Schriftstellerin voraus: Jede(r) kann es schreiben, niemand muß es lesen. Eine ungefähre Kenntnis, was unter einem Tagebuch zu verstehen ist, reicht neben der Schreibkompetenz aus, um ein Tagebuch zu verfassen, wenn auch literarische und psychologische Bildung die diaristische Produktion fördert.

Vom Privatjournal zum literarischen Bekenntnis

Zu den Anfängen der Tagebuchkultur

Die Popularisierung des Tagebuchs im 18. Jahrhundert ist Teil einer umfassenderen Tendenz im Kontext der Aufklärung, in der die Beschäftigung mit der eigenen Person einen erheblichen Bedeutungszuwachs erfährt. Das Selbst wird, wie der amerikanische Soziologe Richard Sennett bemerkt, »zum Grundprinzip der Gesellschaft« (1987, 462). Auch wenn die Tagebuchverfasserinnen mit sich allein und auf sich selbst bezogen sind, ist die Diaristik eine »wahrhaft gesellschaftliche Praxis« und Teil eines »Rede- und Schreibbetriebes« (Foucault 1991, 71).

Konzeptionalisierungen des Ich

Das Tagebuch als Quelle psychologischer und historischer Forschung

Mit der Entstehung der Entwicklungspsychologie werden die Selbstzeugnisse von Jugendlichen als psychologische Quelle entdeckt. Tagebuchaufzeichnungen Jugendlicher geraten so in den 20er und 30er Jahren kurzfristig ins Zentrum wissenschaftlichen Interesses und werden editionswürdig. Wegweisend wurden hier die Arbeiten von Charlotte Bühler, die den »Trieb« zum Tagebuchschreiben aus dem Isolationsbedürfnis problematisch Pubertierender erklärte und die Texte als authentische Selbstaussagen dieser Entwicklungsphase interpretierte (1922).

Alltag im Ausnahmezustand

Titel und Bild
Frauentagebücher im zerstörten Deutschland 1943 bis 1945

Mit ihrem charakteristischen interdisziplinären Ansatz, ihren experimentierfreudigen Methoden und Überlegungen hat Frauenforschung in Berlin ein beachtenswertes Innovationspotential aufzuweisen. Die Reihe »Der andere Blick. Frauenstudien in Wissenschaft und Kunst« stellt besonders interessante Ergebnisse vor. Die einzelnen Bände sind inhaltlich in sich abgeschlossen; ihre unterschiedlichen Themen sind ein Spiegel des breiten Spektrums der Forschung von Frauen.

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zur Nieden Susanne

Susanne zur Nieden studierte in Berlin Germanistik und Geschichte und hat über das Thema Tagebücher von Frauen promoviert. Seit mehreren Jahren sammelt sie autobiographische Texte aus der Zeit des Nationalsozialismus und hat 1992 zusammen mit Ingrid Hammer die kommentierte Dokumentation Sehr selten habe ich geweint. Briefe und Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg von Menschen aus Berlin herausgegeben.

Nachname

zur Nieden

Vorname

Susanne

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