Konfrontation und Freundschaft

Die Sonne weckte mich; sie blendete, und ich erschrak, bis ich alles wieder begriff. Nach unserem Maulwurfsleben schien es unfaßbar, von der Sonne geweckt zu werden. Mit einem Satz sprang ich aus dem Bett und lief zum Fenster: Was für ein herrlicher Morgen! Es war phantastisch schön zu leben! So schön, daß ich es nicht lange für mich behalten konnte. Ich weckte die arme Colette, die erschrocken fragte:
»Was ist passiert?«
»Nichts«, antwortete ich. »Der Krieg ist vorbei, und die Sonne ist da!«

Spinnen und die Front, die uns unbemerkt überrollt

Die Nacht vom 9. zum 10. Juni 1944 war sehr hell. Der Mond schien. Ein kleines Flugzeug flog vorbei. Das ruhige Schnarren seines Motors klang friedlich und erstarb bald in der Nacht. Warum hatte sich diese kleine Maschine an die Front verirrt? Nach den rasenden Flugzeugen, die wir oft erlebt hatten, wirkte dieses Beinahe-Sportflugzeug erstaunlich beruhigend. Wir schliefen bald ein.

Amerikanische Gefangene und deutsche Soldaten zu Gast

Im Schutzgraben fürchten wir seit einigen Stunden eine neue Gefahr. Seitdem der Kampf sich hörbar nähert, leben wir in der Angst, daß Krieger Amerikaner oder Deutsche an unserem Loch auftauchen und aufs Geratewohl Handgranaten hineinwerfen. Diese Vorstellung plagt uns, umkreist das Gespräch, das wir lebhaft miteinander führen, bis wir endlich auf eine erlösende Idee kommen. Wir entwerfen einen kurzen Text, der deutsch und englisch geschrieben werden soll:
»Zivilisten! Bitte, nicht schießen!«

Es flattern auch harmlose Dinge vom Himmel herunter

Während Michel und ich zum Schutzgraben zurückkehren, passiert etwas sehr Poetisches. Ich finde zumindest, daß es so aussieht. Vom Himmel flattern langsam silberne Streifen herunter. Sie glitzern und drehen sich in der Luft. Ich freue mich, daß wir jetzt draußen sind, um dies zu erleben. Wir trauen uns sogar, frei, ohne Deckung Streifen einzusammeln, denn die Flugzeuge, die sie abwarfen, fliegen, kaum hörbar, sehr hoch. Die Streifen sind ungefähr 20 Zentimeter lang und ein bis zwei Zentimeter breit, auf einer Seite matt, die andere glänzt.

Die Landung und der Beginn unseres Wühlmauslebens

Unmittelbar nach der stotternden Abfahrt des mit Holzkohle angetriebenen Kombiwagens hörten wir Flugzeuge. Schon ballerte irgendwo die Flak. Wir waren nervös. Mama sammelte warme Jacken, Zahnbürsten und dergleichen und füllte damit zwei Koffer. Dann hörten wir Radio. Paris meldete nichts Besonderes. Die satirische Chronik von Jean-Herold Paquy lief planmäßig und endete wie immer mit dem stereotypen Satz: ».. .et l'Angleterre comme Carthage sera detruite« (und England wird zerstört wie Karthago). Militärfahrzeuge fuhren auf der Landstraße. Wir gingen in den Garten.

Unmittelbar vor dem Tag X

Es ist Sonntag. Glücklich, wieder vereint zu sein, sitzen wir zu fünft in dem nach Apfel und Bienenwachs duftenden Eßzimmer von Le Molay. Wir haben den Eindruck, daß von nun an uns niemand mehr etwas anhaben kann. Unsere selbsthergestellten Kerzen brennen hell in dem Leuchter auf dem Tisch. Seit einigen Jahren stehen zwei Bienenhäuser in unserem Garten, weil wir, wie viele, versuchen, mit erlaubten Mitteln Kalorien herzuzaubern; Bienen sind nicht meldepflichtig. Voriges Jahr konnten wir allerdings nur wenig Honig ernten.

Wie man lernt, mit der Angst zu leben

Die Luftangriffe auf die Militärzüge, die an unserer Fabrik vorbeifuhren, häuften sich. Wie hatten wir jemals diese unheilbringende Bahn interessant finden können? Dabei lag das Erlebnis mit den Logenplätzen auf dem Blechdach der Milchannahmestation gar nicht so lange zurück! Die Zeit schien keinen Bestand zu haben. Was gestern galt, konnte morgen blanker Unsinn sein.

1943 - die Atlantikküste, Russen und eine Einquartierung

Was tat sich an unserer normannischen Atlantikküste? Wir fuhren im Sommer 1943 dorthin. Plötzlich hatte uns die Sehnsucht nach dem Meer gepackt. Wir wollten wie früher nach Vierville fahren, bevor man es uns endgültig verbot. Wir besaßen, als Bewohner einer Gemeinde, die sich zur Hälfte in den Sperrbezirk erstreckte, Ausweise, die uns zur Einreise in die Küstensperrzone des Departements Calvados berechtigten. »Erlaß der Feldkommandantur 723 vom 23. Oktober 1941 und vom 22. Mai 1942 TGB Nr. 547741« stand darauf.

Winter 1941/42 Weltnachrichten und Hunger

Zum neuen Schuljahr ging es um die Entscheidung Griechisch oder nicht Griechisch. Während der Ferien hatten wir das Thema nicht einmal erwähnt. Jetzt mußten die Weichen für das Abitur gestellt werden. Latein und Englisch lernten wir bereits. Es gab für uns drei Möglichkeiten: Griechisch, mehr Mathematik oder eine neue Fremdsprache. Colette wählte die mittlere Sektion. Ich wollte Griechisch lernen.

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